Wertewandel

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Wertewandel

Der Autor (Prof. Dr.) Hans-Hermann Höhmann

ist nach langer Lehrtätigkeit an den Universitäten Köln und Bremen als freier wissenschaftlicher Publizist auf den Gebieten Cultural Studies und Freimaurerforschung tätig und veröffentlicht regelmäßig auf diesen Gebieten.

In der Freimaurerei war er in vielen Leitungsämtern auf Logen- und Großlogenebene tätig. Gegenwärtig ist er Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats der Forschungsloge Quatuor Coronati und Redner der Großloge AFuAM von Deutschland.

Freimaurer im Wertediskurs

Quelle: Magazin "Humanität"

Werte sind im Gespräch – auf der einen Seite ist von Wertewandel, wenn nicht gar von Werteverfall, die Rede; auf der anderen Seite wird die Notwendigkeit betont, alte Wertesysteme zu beleben, sie erneut verbindlich zu machen oder gar neue Wertesysteme zu entwickeln.

DER GESELLSCHAFTLICHE WERTEWANDEL UND DIE FREIMAUREREI

(Prof. Dr.) Hans-Hermann Höhmann

Im Vordergrund des Wertediskurses steht die auf viele Beobachtungen gestützte Befürchtung, dass im politisch-gesellschaftlichen wie im privaten Leben der Gegenwart viele Wertehaltungen fehlen, unzureichend vorhanden sind oder einen unverbindlich- rhetorischen Charakter angenommen haben, die das Verhalten der Menschen bisher geregelt haben. In zunehmenden Maße vermisst werden Einstellungen, die unmittelbar öffentlich bedeutsam sind wie soziale Verantwortung, Sorge um die Zukunft der Gemeinschaft, Offenheit für den Mitmenschen, Redlichkeit im Umgang miteinander sowie Maßhalten im Vertreten von ideologischen Standpunkten und materiellen Interessen. Vermisst werden aber auch Einstellungen, die der tagtäglichen Alltagspraxis zuzurechnen sind wie Rücksichtnahme, Respekt und Höflichkeit im Umgang miteinander.

Auch die Freimaurer stehen im Wertediskurs. Denn die Frage nach Werten, Tugenden und moralischen Verhaltensweisen hat im Freimaurerbund eine lange, in die Zeit seiner Gründung im frühen 18. Jahrhundert zurückreichende Tradition. Ja, man kann die Freimaurerei geradezu als Bund definieren, der sich um ethische Orientierungen herum entwickelt hat und in dem der Wertediskurs von Anbeginn an eine zentrale Rolle spielte. Auch die gegenwärtige Wertproblematik ist für die Freimaurer von großer Bedeutung, und es ist eine Herausforderung für sie, den Wertewandel der Gegenwart mit ihrer Ideenwelt zu konfrontieren, nach der heutigen Relevanz ihrer Ideenwelt zu fragen und über die Tragfähigkeit ihres eigenen Beitrags zum Wertediskurs nachzudenken. Worin bestehen die Beziehungen zwischen Wertewandel und Freimaurerei?

Fünf Gesichtspunkte sind von besonderer Bedeutung

  • Erstens: Freimaurer sind aufgrund ihrer Tradition mit der Entwicklung ethischer Werte verbunden und aufgrund dieser Tradition auch an der Umsetzung von Werten in der Lebenspraxis der Gegenwart interessiert. Werteerziehung gehört daher zu den wichtigsten Aufgaben der Loge.
  • Zweitens: Freimaurer gehen davon aus, dass Werteerziehung scheitern muss, wenn sie nicht im Verhalten der einzelnen Menschen innerhalb der Gesellschaft eingeübt und verankert wird. Deshalb versteht sich die Ethik der Freimaurer in erster Linie als eine Ethik der Einübung.
  • Drittens: Freimaurer sind der Auffassung, dass die Gruppe das leistungsfähigste Medium der Werteerziehung und der Einübung wertebezogener Verhaltensweisen ist. Dies gilt für die Familie, den Kindergarten, die Schule und die Kirchengruppe ebenso wie für die Logen der Freimaurer.
  • Viertens: Freimaurer sind davon überzeugt, dass in der Freimaurerei geeignete Methoden zur Einübung von Werten vorhanden sind, und sie sehen diese in der sozialen, der diskursethischen und der rituellen Praxis der Loge.
  • Fünftens: Freimaurer wissen, dass sie in der Praxis der Einübung und der alltäglichen Umsetzung von Werten immer wieder scheitern können, und sie haben dafür ein anschauliches Symbol, den rauhen, unbehauenen Stein des eigenen Selbst, den sie immer wieder bearbeiten müssen.

Die Werte, die der modernen Gesellschaft als ideelle Grundlage dienen, entstammen den großen Werteerzählungen der Aufklärungszeit, die ja nicht zuletzt freimaurerische Werteerzählungen und vor allem Manifestationen historischer Hoffnungen gewesen sind.

Es war die Hoffnung auf Aufklärung, auf „Unterscheidungsfähigkeit zwischen Hell und Dunkel, Licht und Finsternis“, so die Definition des Weimarer Freimaurers [[Christoph Martin Wieland]]; es war die Erwartung einer durch Offenheit und Freiheit geprägten politisch-sozialen Zukunft, und es war das Erlebnis menschlicher Gleichheit jenseits aller Schranken von Stand, Nation und Bekenntnis.

Es hat das Bewusstsein der Gründer des Freimaurerbundes geprägt. Und es war die Freude über eine neue Entdeckung des Menschen, ebenso waren es immer wieder diese neuentdeckten Menschen selbst, die im Zentrum von Freimaurerei und Loge standen, es war das Bekenntnis zur Humanität als Inbegriff von „Menschheit, Menschlichkeit, Menschenrechten, Menschenpflichten, Menschenwürde und Menschenliebe“, wie der Freimaurer Johann Gottfried Herder sie mit dieser Reihung fast schon hymnisch bestimmt hat. Nicht um den Menschen als Träger nationaler, sozialer und religiöser Rollen ging es dabei. Um das Menschliche, vor allem aber um den Einzelmenschen war es zu tun: Der einzelne Mensch stand – und steht bis heute – im Mittelpunkt der freimaurerischen Initiation, der feierlichen Aufnahme in den Bund, und der Einzelmensch bildete und blieb auch das Zentrum der freimaurerischen Idee.

Die politisch-soziale Systematik zum Vorrang des Einzelmenschen findet sich dann in einem der ersten großen Wertediskurse der Freimaurerei, in Lessings programmatischer Schrift „Ernst und Falk. Gespräche für Freimäurer“ aus dem Jahre 1780. „Die Staaten“ – so heißt es dort – „vereinigen Menschen, damit durch diese und in dieser Vereinigung jeder einzelne Mensch seinen Teil von Glückseligkeit desto besser und sicherer genießen könne. Das Totale der einzelnen Glückseligkeiten aller Glieder ist die Glückseligkeit des Staates. Außer dieser gibt es gar keine. Jede andere Glückseligkeit des Staates, bei welcher auch noch so wenig einzelne Glieder leiden und leiden ist Bemäntelung der Tyrannei. Anders nicht.“

Dieses Recht auf Streben nach Glückseligkeit hatten die amerikanischen Freimaurer um George Washington kurz zuvor in die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten geschrieben. Dort heißt es: „Alle Menschen sind von ihrem Schöpfer mit bestimmten unverzichtbaren Rechten ausgestattet, unter ihnen das Recht auf Leben, Freiheit und Streben nach Glück“.

Zu den tradierten freimaurerischen Wertvorstellungen gehört nicht zuletzt die Toleranz. Seit dem 18. Jahrhundert waren es Vertreter des Freimaurerbundes, die sich für einen toleranten Umgang der Menschen miteinander über nationale, religiöse und soziale Grenzen eingesetzt haben. Die Frage nach der Toleranz wird gelegentlich als weniger wichtig ausgegeben, da Toleranz kaum ein Wert an sich sei, eine Art „Übergangshaltung“ (Goethe) auf dem Weg zur Anerkennung darstelle und oft nicht mehr repräsentiere als Bündel formaler Regeln. Dennoch ist Toleranz von entscheidender Bedeutung für eine funktionierende Werteordnung. Denn die zentralen Fragen nach Menschlichkeit, Gerechtigkeit und Frieden können im Prozess ihrer Realisierung nur anhand von Maßstäben entschieden werden, die im toleranten Miteinander, im Ethos des Diskurses gewonnen werden.

Freimaurerische Werteerziehung heute

Wie erfolgt die Einübung des Freimaurers in Werteorientierung heute? Die Loge verfügt über drei bewährte Formen der Einübungspraxis für ein wertegebundenes Verhalten: die soziale Praxis der Freimaurerei, bei der unterschiedliche Menschen in der Loge zusammengeführt werden; die Praxis ethisch orientierter Diskurse, bei denen es um ein Ausloten der Spannungen zwischen Wertevorstellungen und gesellschaftlichen Realitäten geht sowie die rituelle Praxis, die darauf beruht, Symbole und symbolische Handlungen auf die Logengruppe einwirken zu lassen.

Damit versucht die Freimaurerei, den Menschen, so wie er ist, ernst zu nehmen in seiner dreifachen Eigenschaft als einer sozialen, moralischen und emotionalen Person, die in jeder dieser Eigenschaften ganz spezifische Bedürfnisse hat, und sie bemüht sich in den Logen darum, diesen Bedürfnissen gleichzeitig zu entsprechen. Wie kann dies geschehen? Ganz einfach durch den besonderen, gleichsam auf drei Säulen ruhenden Charakter des Freimaurerbundes: als Gemeinschaft brüderlich verbundener Menschen, als ethisch-moralisch ausgerichteter Bund, der sich an bleibend gültigen Werten und Überzeugungen orientiert, und schließlich – aber nicht zuletzt – als Initiationsgemeinschaft und symbolischer Werkbund, der sein überliefertes Brauchtum, seine Symbole und seine symbolhaften Handlungen zur gefühlsmäßigen, erlebnishaften Vertiefung seiner Überzeugungen nutzt.

Als Gemeinschaft brüderlich verbundener Menschen wollen die Freimaurerlogen der Gefahr einer Isolierung des Einzelmenschen in der modernen Konsum- und Industriegesellschaft entgegenwirken. Sie folgen damit ihrer speziellen Tradition, Trennendes zu überwinden, Gegensätze abzubauen, Verständigung und Verständnis zu fördern sowie Menschen zu verbinden, die sich nach Herkunft und Interessenlage sonst nicht begegnen würden. Gerade in der heutigen Zeit sind durch Spezialisierung und Funktionsteilung der modernen Berufs- und Arbeitswelt, durch die Aufspaltung der Gesellschaft in Menschen, die Arbeit haben, und solche, die arbeitslos sind, sowie durch die Ausdifferenzierung des Konsum- und Freizeitverhaltens neue Schranken zwischen den Menschen entstanden.

Demgegenüber sollen die auf Freundschaft gegründeten Logen Stätten menschlicher Begegnung über alle sozialen und politischen Schranken hinweg sein. Logen und die Menschen in ihnen wollen sich miteinander und mit anderen Menschen vernetzen, denn nur durch eine solche Vernetzung von Mensch zu Mensch können in modernen komplexen Gesellschaften mit ihrer Tendenz zu diffuser Anonymität und Aggressivität übersichtliche und humane Lebenswelten geschaffen und erhalten werden.

Als Mitglieder eines ethisch orientierten Bundes bekennen sich die Freimaurer den Traditionen der europäischen Aufklärung folgend zu ethischen Werten und Überzeugungen. Der Freimaurerbund entwickelt zwar kein eigenes ethisches System und versucht schon gar nicht, ethische Überzeugungen in politische Programme zu übertragen. Dennoch gibt die Freimaurerei mit ihren Wertepositionen Humanität, Brüderlichkeit, Freiheit, Gerechtigkeit, Friedensliebe und Toleranz Orientierungen und Maßstäbe für das Denken und Handeln ihrer Mitglieder vor. Im Vergleichen von Realität und Wertemaßstab, im gemeinsamen Nachdenken und in kritischer Selbstaufklärung sollen Verhaltensweisen und Umgangsstile eingeübt werden, die ein Umsetzen ethischer Überzeugungen in die moralische Lebenspraxis des einzelnen Freimaurers bewirken.

Werteerziehung im Ritual

Schließlich trägt die Freimaurerei auch als Initiationsgemeinschaft durch ihre Symbole und Rituale zur ethischen Orientierung des Menschen und zur Einübung eines moralisch-werteorientierten Verhaltens bei. Schon eine alte englische Definition weist auf diesen Zusammenhang hin, wenn sie Freimaurerei als peculiar system of morality, veiled in allegory and illustratetd by symbols beschreibt. Die Ritualpraxis soll Empfinden und Bewusstsein des Freimaurers für ein erweitertes Blickfeld öffnen, zu dem sehr wesentlich das moralische Verhalten des Menschen gehört.

Viele Symbole des Bundes sind Maßstäbe kritischer Prüfung: der rechte Winkel als Maß richtigen, gerechten Handelns, der vierundzwanzigzöllige Maßstab als Mahnung sinnvoller Zeiteinteilung, der Hammer als Symbol produktiven Schaffens, die Kette als erlebter Auftrag zur Brüderlichkeit. Werte und Werteerziehung haben großen Anteil an den drei Sinnbild-Komplexen des freimaurerischen Rituals: der Symbolik des Bauens, der Symbolik des Wanderns und der Symbolik des Lichts.

Inhalte und Ziele der freimaurerischen Arbeit werden vor allem durch die Bilderwelt des Bauens symbolisiert: Freimaurer bauen am Tempel der Humanität. Sie verstehen Sein und Zeit als sinnvoll zu gestaltende Bauwerke. Sie gehen dabei davon aus, dass dem masonischen Bauen eine wertegebundene Bauidee zugrunde liegt, die sie ohne jede inhaltliche Bestimmung mit dem Symbol eines universellen Großen Baumeisters umschreiben.

Freimaurer bemühen sich darum, eine Heimat für Menschen zu bauen, eine Heimat, die nicht nur am großen Entwurf des Tempelbaus orientiert ist, die vielmehr vor allem im tagtäglichen Bemühen um menschenwürdige Wohnverhältnisse in den Alltagsgehäusen unserer Mitmenschen ihren Ausdruck zu finden hat. Wie die Bausymbolik, so hat die Symbolik des Wanderns ebenfalls moralische Bedeutung: Der Mensch ist unterwegs, er muss aufbrechen, er verändert sich, er hat Altes hinter sich zu lassen, und selbst, wenn er zum Ausgangspunkt zurückkehrt, ist er verändert und hat die Chance, die Veränderung produktiv an sich selbst zu erleben.

Rilke hat dieses „Zurückkehren, aber doch Verändertsein“ bekanntlich in das schöne Bild vom „Leben in wachsenden Ringen“ gefasst:

„Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn,
ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.“

Schließlich dient auch die Lichtsymbolik des freimaurerischen Rituals der ethischen Einübung. Sie steht für Aufklärung, für den menschlichen Akt der Wahrheitserkenntnis, dafür, dass der Maurer sich vor Lehren hüten soll, die das Licht der Vernunft nicht aushalten. In der Sprache des Rituals: „Was das Licht für die Augen, das ist die Wahrheit für den Geist des Menschen. Unwissenheit und Vorurteil verhalten sich zur Wahrheit wie Finsternis und Dunkel zum hellen Tag“. Wenn man abschließend nach einer Formel sucht, die Gemeinschaft, Ethik und Ritual in der Freimaurerei zusammenfasst, so lässt sich sagen:

Freimaurerei ist eine Lebenskunst, die menschliches Miteinander und ethische Lebensorientierung durch Symbole und rituelle Handlungen in der Gemeinschaft der Loge darstellbar, erlebbar und erlernbar macht. Hierin besteht ihr Beitrag zur Beantwortung der Frage nach den Wertegrundlagen der Gesellschaft unserer Tage. Es mag ein kleiner Beitrag sein. Aber die Zeit der großen utopischen Gesellschaftsentwürfe ist ohnehin vorbei, und nur das Zusammenwirken kleiner Gruppen verantwortungsbewusster Menschen bietet die Chance, die Wertegrundlagen unserer Gesellschaft zu verbreitern und zu stabilisieren.

Siehe auch