Julius Tandler: Unterschied zwischen den Versionen

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[[Bild:tandler-onb.jpg|thumb|350px|Julius Tandler, 1931 beim rituellen Ankick zur Eröffnung des großen Fussballstadions. Quelle: [[Freimaurer-Ausstellung Wien 2017]] der Österreichischen Nationalbibliothek. - Foto: Lothar Rübelt]]
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In Wien gibt es im 9. Bezirk seit 1949 einen Julius-Tandler-Platz. In den Jahren nach 2000 begann man sich zunehmend mit Straßennamen zu beschäftigen, die auf historisch belastete Persönlichkeiten Bezug nehmen. Eine Forschungsgruppe der Universität Wien und im Auftrag der Stadt Wien ordnete den Julius-Tandler-Platz (so wie eine Reihe weiterer Straßennamen) als "Fall mit Diskussionsbedarf" ein. Dies hängt mit Julius Tandlers eugenischen Positionen zusammen.
 
In Wien gibt es im 9. Bezirk seit 1949 einen Julius-Tandler-Platz. In den Jahren nach 2000 begann man sich zunehmend mit Straßennamen zu beschäftigen, die auf historisch belastete Persönlichkeiten Bezug nehmen. Eine Forschungsgruppe der Universität Wien und im Auftrag der Stadt Wien ordnete den Julius-Tandler-Platz (so wie eine Reihe weiterer Straßennamen) als "Fall mit Diskussionsbedarf" ein. Dies hängt mit Julius Tandlers eugenischen Positionen zusammen.
[[Bild:Tandler-Sablik-Cover.jpg|thumb|250px|Über Julius Tandler wurde schon eine Reihe von Büchern geschrieben. Dieses vom österreichischen Autor Karl Sablik kam 2010 heraus. Auf drei von 370 Seiten beschäftigt sich der Autor auch mit dem Thema "Julius Tandler als Sozialist und Freimaurer“. Mit Genehmigung Karl Sabliks dürfen wir dieses Kapitels hier abbilden.]]
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In Aufsätzen und Vorträgen vertrat Tandler immer wieder die Vorstellung vom bevölkerungspolitisch „unwerten Leben“. So schrieb er 1924 in der „Wiener Medizinischen Wochenschrift“ (Nr. 4‐6, S. 17) zu ‚Ehe und Bevölkerungspolitik’: ''„Welchen Aufwand übrigens die Staaten für völlig lebensunwertes Leben leisten müssen, ist zum Beispiel daraus zu ersehen, daß die 30.000 Vollidioten Deutschlands diesem Staat zwei Milliarden Friedensmark kosten. Bei der Kenntnis solcher Zahlen gewinnt das Problem der Vernichtung lebensunwerten Lebens an Aktualität und Bedeutung. Gewiß, es sind ethische, es sind humanitäre oder fälschlich humanitäre Gründe, welche dagegen sprechen, aber schließlich und endlich wird auch die Idee, daß man lebensunwertes Leben opfern müsse, um lebenswertes zu erhalten, immer mehr und mehr ins Volksbewußtsein dringen.“''
 
In Aufsätzen und Vorträgen vertrat Tandler immer wieder die Vorstellung vom bevölkerungspolitisch „unwerten Leben“. So schrieb er 1924 in der „Wiener Medizinischen Wochenschrift“ (Nr. 4‐6, S. 17) zu ‚Ehe und Bevölkerungspolitik’: ''„Welchen Aufwand übrigens die Staaten für völlig lebensunwertes Leben leisten müssen, ist zum Beispiel daraus zu ersehen, daß die 30.000 Vollidioten Deutschlands diesem Staat zwei Milliarden Friedensmark kosten. Bei der Kenntnis solcher Zahlen gewinnt das Problem der Vernichtung lebensunwerten Lebens an Aktualität und Bedeutung. Gewiß, es sind ethische, es sind humanitäre oder fälschlich humanitäre Gründe, welche dagegen sprechen, aber schließlich und endlich wird auch die Idee, daß man lebensunwertes Leben opfern müsse, um lebenswertes zu erhalten, immer mehr und mehr ins Volksbewußtsein dringen.“''
  
 
Diese Sprache wirkte für die Menschen jener Zeit kaum oder gar nicht extremistisch oder jedenfalls viel weniger als für die Generationen ab dem späten zwanzigsten Jahrhundert. Sie weist Tandler als einen Anhänger der damaligen sozialistischen Eugenik aus. Diese verstand sich als sogenannte "positive Eugenik", also Aufklärung und Beeinflussung der Bevölkerung via Ehe- und Familienberatung. Im Gegensatz dazu radikalisierte sich die damals von anderen Bevölkerungspolitikern vertretene "negative Eugenik" (Zwangsmaßnahmen, wie zum Beispiel Sterilisierung) immer weiter bis hin zu den Euthanasiemorden der Nazis. Dass Julius Tandler die "negative Eugenik" fern lag, geht zum Beispiel daraus hervor, dass er 1924 im selben Aufsatz in einem gewissen Widerspruch zum oben Zitierten auch schrieb: ''„Es gibt lebensunwertes Leben vom Standpunkt des Individuums aber auch vom Standpunkt der Bevölkerungspolitik, und auch hier geraten Individuum und Allgemeinheit oft in Konflikt. Die Einschätzung des Wertes des eigenen Lebens ist und bleibt ein Teil der persönlichen Freiheit; es gibt nicht nur ein Recht auf Leben, sondern auch eine Pflicht zu leben und die Abschätzung zwischen Pflicht zu bleiben und Recht zu gehen, ist Angelegenheit des Individuums.“''
 
Diese Sprache wirkte für die Menschen jener Zeit kaum oder gar nicht extremistisch oder jedenfalls viel weniger als für die Generationen ab dem späten zwanzigsten Jahrhundert. Sie weist Tandler als einen Anhänger der damaligen sozialistischen Eugenik aus. Diese verstand sich als sogenannte "positive Eugenik", also Aufklärung und Beeinflussung der Bevölkerung via Ehe- und Familienberatung. Im Gegensatz dazu radikalisierte sich die damals von anderen Bevölkerungspolitikern vertretene "negative Eugenik" (Zwangsmaßnahmen, wie zum Beispiel Sterilisierung) immer weiter bis hin zu den Euthanasiemorden der Nazis. Dass Julius Tandler die "negative Eugenik" fern lag, geht zum Beispiel daraus hervor, dass er 1924 im selben Aufsatz in einem gewissen Widerspruch zum oben Zitierten auch schrieb: ''„Es gibt lebensunwertes Leben vom Standpunkt des Individuums aber auch vom Standpunkt der Bevölkerungspolitik, und auch hier geraten Individuum und Allgemeinheit oft in Konflikt. Die Einschätzung des Wertes des eigenen Lebens ist und bleibt ein Teil der persönlichen Freiheit; es gibt nicht nur ein Recht auf Leben, sondern auch eine Pflicht zu leben und die Abschätzung zwischen Pflicht zu bleiben und Recht zu gehen, ist Angelegenheit des Individuums.“''
  
Im pränatalen Bereich gibt es das Thema weiterhin: etwa in der anhaltenden Diskussion über die Zulässigkeit von Präimplantationsdiagnostik, also der genetische Untersuchung der befruchteten Eizelle vor der Einsetzung in die Gebärmutter. Oder in der Kritik an Abtreibungen, die vorgenommen werden, wenn bei einer Untersuchung des Fötus das Down-Syndrom festgestellt wird. Beide Diagnoseverfahren waren ja zu Tandlers Zeiten noch nicht möglich.  
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Im pränatalen Bereich gibt es das Thema weiterhin: etwa in der anhaltenden Diskussion über die Zulässigkeit von Präimplantationsdiagnostik, also der genetische Untersuchung der befruchteten Eizelle vor der Einsetzung in die Gebärmutter. Oder in der Kritik an Abtreibungen, die vorgenommen werden, wenn bei einer Untersuchung des Fötus das Down-Syndrom festgestellt wird. Beide Diagnoseverfahren waren ja zu Tandlers Zeiten noch nicht möglich.
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Über Julius Tandler wurde schon eine Reihe von Büchern geschrieben. Das Buch rechts vom österreichischen Autor Karl Sablik kam 2010 heraus. Auf drei von 370 Seiten beschäftigt sich der Autor auch mit dem Thema "Julius Tandler als Sozialist und Freimaurer“. Mit Genehmigung Karl Sabliks dürfen wir dieses Kapitel hier abbilden.
  
 
==Karl Sablik: "Julius Tandler als Sozialist und Freimaurer“==
 
==Karl Sablik: "Julius Tandler als Sozialist und Freimaurer“==
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==Siehe auch==
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==Links==
 
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Version vom 28. Juni 2017, 17:11 Uhr

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Julius Tandler, 1931 beim rituellen Ankick zur Eröffnung des großen Fussballstadions. Quelle: Freimaurer-Ausstellung Wien 2017 der Österreichischen Nationalbibliothek. - Foto: Lothar Rübelt
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Julius Tandler

Österreichischer Sozialdemokrat und Gesundheitspolitiker nach dem Ersten Weltkrieg. Von Rudi Rabe.

Masonisches

Aufgenommen 1920 in die Wiener Loge ‚Lessing Zu den drei Ringen’, eine ehemalige Grenzloge; gegründet 1897. Ferdinand Hanusch war sein Bürge. 1927 deckte er (= trat er aus der Loge aus). Offenbar wegen seiner exponierten politischen Position verwendete Julius Tandler in seiner Loge den Decknamen ‚Retland’; laut Günter Kodek vermutlich nach dem Pseudonym ‚Florus Retland’ des Prager Dichters Joseph von Tandler.

Leben

Geboren 1869 in Iglau in Mähren (heute tschechisch: Jihlava); gestorben 1936 in Moskau. Ab 1910 Universitätsprofessor für Anatomie in Wien. Ab 1919 sozialdemokratischer Politiker zuerst in der Bundesregierung der 1918 gegründeten Republik Österreich und dann von 1920 bis 1933 in Wien Stadtrat (= Mitglied der Stadtregierung). In dieser Zeit initiierte er viele Gesundheits- und Fürsorgeeinrichtungen für Familien, Mütter, Kinder, Jugendliche und Arbeiter. Zitate: „Die Gesellschaft ist verpflichtet, allen Hilfsbedürftigen Hilfe zu gewähren.“ Oder: „Wer Kindern Paläste baut, reißt Kerkermauern nieder.“ Beides waren damals durchaus neue Gedanken: im ersten Satz durch die Verpflichtung der Gesellschaft und im zweiten durch die Idee, dass man sich Gefängnisse erspare, wenn man der Jugend ins Leben hilft.

Schon ab Ende der zwanziger Jahre sah sich Julius Tandler an der Universität wegen seiner jüdischen Abstammung antisemitischer Agitation ausgesetzt. Und als der rechtskatholische Politiker Engelbert Dollfuß im Frühjahr 1933 die Republik durch einen Staatsstreich beseitigte und die austrofaschistische Diktatur („Ständestaat“) errichtete, ging auch Tandlers politische Zeit zu Ende. Er wurde kurzzeitig verhaftet, verlor seine Professur und wurde zwangspensioniert.

Schließlich konnte Julius Tandler Österreich verlassen. Über Shanghai reiste er nach Moskau in die kommunistische Sowjetunion, wo er als medizinischer Berater eingesetzt wurde. 1936 starb er. Die Sowjetunion finanzierte die Überführung seines Leichnams nach Wien.

Widersprüche

In Wien gibt es im 9. Bezirk seit 1949 einen Julius-Tandler-Platz. In den Jahren nach 2000 begann man sich zunehmend mit Straßennamen zu beschäftigen, die auf historisch belastete Persönlichkeiten Bezug nehmen. Eine Forschungsgruppe der Universität Wien und im Auftrag der Stadt Wien ordnete den Julius-Tandler-Platz (so wie eine Reihe weiterer Straßennamen) als "Fall mit Diskussionsbedarf" ein. Dies hängt mit Julius Tandlers eugenischen Positionen zusammen.

In Aufsätzen und Vorträgen vertrat Tandler immer wieder die Vorstellung vom bevölkerungspolitisch „unwerten Leben“. So schrieb er 1924 in der „Wiener Medizinischen Wochenschrift“ (Nr. 4‐6, S. 17) zu ‚Ehe und Bevölkerungspolitik’: „Welchen Aufwand übrigens die Staaten für völlig lebensunwertes Leben leisten müssen, ist zum Beispiel daraus zu ersehen, daß die 30.000 Vollidioten Deutschlands diesem Staat zwei Milliarden Friedensmark kosten. Bei der Kenntnis solcher Zahlen gewinnt das Problem der Vernichtung lebensunwerten Lebens an Aktualität und Bedeutung. Gewiß, es sind ethische, es sind humanitäre oder fälschlich humanitäre Gründe, welche dagegen sprechen, aber schließlich und endlich wird auch die Idee, daß man lebensunwertes Leben opfern müsse, um lebenswertes zu erhalten, immer mehr und mehr ins Volksbewußtsein dringen.“

Diese Sprache wirkte für die Menschen jener Zeit kaum oder gar nicht extremistisch oder jedenfalls viel weniger als für die Generationen ab dem späten zwanzigsten Jahrhundert. Sie weist Tandler als einen Anhänger der damaligen sozialistischen Eugenik aus. Diese verstand sich als sogenannte "positive Eugenik", also Aufklärung und Beeinflussung der Bevölkerung via Ehe- und Familienberatung. Im Gegensatz dazu radikalisierte sich die damals von anderen Bevölkerungspolitikern vertretene "negative Eugenik" (Zwangsmaßnahmen, wie zum Beispiel Sterilisierung) immer weiter bis hin zu den Euthanasiemorden der Nazis. Dass Julius Tandler die "negative Eugenik" fern lag, geht zum Beispiel daraus hervor, dass er 1924 im selben Aufsatz in einem gewissen Widerspruch zum oben Zitierten auch schrieb: „Es gibt lebensunwertes Leben vom Standpunkt des Individuums aber auch vom Standpunkt der Bevölkerungspolitik, und auch hier geraten Individuum und Allgemeinheit oft in Konflikt. Die Einschätzung des Wertes des eigenen Lebens ist und bleibt ein Teil der persönlichen Freiheit; es gibt nicht nur ein Recht auf Leben, sondern auch eine Pflicht zu leben und die Abschätzung zwischen Pflicht zu bleiben und Recht zu gehen, ist Angelegenheit des Individuums.“

Im pränatalen Bereich gibt es das Thema weiterhin: etwa in der anhaltenden Diskussion über die Zulässigkeit von Präimplantationsdiagnostik, also der genetische Untersuchung der befruchteten Eizelle vor der Einsetzung in die Gebärmutter. Oder in der Kritik an Abtreibungen, die vorgenommen werden, wenn bei einer Untersuchung des Fötus das Down-Syndrom festgestellt wird. Beide Diagnoseverfahren waren ja zu Tandlers Zeiten noch nicht möglich.




Über Julius Tandler wurde schon eine Reihe von Büchern geschrieben. Das Buch rechts vom österreichischen Autor Karl Sablik kam 2010 heraus. Auf drei von 370 Seiten beschäftigt sich der Autor auch mit dem Thema "Julius Tandler als Sozialist und Freimaurer“. Mit Genehmigung Karl Sabliks dürfen wir dieses Kapitel hier abbilden.

Karl Sablik: "Julius Tandler als Sozialist und Freimaurer“

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Siehe auch

Links

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