Traktat: Der Kuss im freimaurerischen Ritual

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Der Kuss im freimaurerischen Ritual

Kleine Betrachtung, 5.12.2007

von Roland Müller

Es begann mit einem Schock! Vor ein paar Wochen fragte mich unser Ehrwürdiger Meister vom Stuhl unvermittelt, ob ich eine kleine Betrachtung über den Weihe- und Bruderkuss in unserem Ritual schreiben könne. Es gebe einige Brüder, die mit diesem Vorgang Mühe hätten.

Nach kurzem Zögern sagte ich zu. Ich muss gestehen, dass ich mich noch nie in meinem Leben mit diesem Thema befasst habe.

Der Kuss im allgemeinen

In den letzten 10 Jahren sind über ein Dutzend Bücher über den Kuss in der Weltgeschichte herausgekommen. Ich habe einige in der Bibliothek bestellt – aber gar nicht gelesen. Ich muss mich ja kurz halten. Es gibt auch viele Seiten im Internet. Auf einer - www.gekuesst.de - wurden einst etwa 40 Arten von Küssen unterschieden. Aber gerade der Weihe- und Bruderkuss kommt nicht vor. Vielfach ist der Kuss mit anderen Körperbewegungen verbunden, z. B. Umarmungen, Berührung der Wangen oder Nasen, Streicheln, usw.

Wir haben oft einen viel zu engen Horizont betreffs Küssen. Beileibe nicht jeder Kuss ist erotisch oder sexuell. Es gibt mindestens drei weiter grosse Gruppe von Küssen, bei denen vielleicht Leidenschaft, aber nicht Sexualität im Spiel ist, z. B.

  • Begrüssungs- und Abschiedsküsse, im Extremfall als Handkuss einerseits, als heftige Umarmung anderseits
  • Küsse auf Gegenstände, wie Siegespokale und -figuren, die Bibel, das Kreuz, den Boden, die Füsse, ja sogar Tiere, usw.
  • Viele weitere Arten wie Küsse von Eltern, von Geschwistern, von Freunden, aber auch Hochzeitskuss, Verehrungskuss, Friedenskuss, Salbungskuss, Judaskuss, Todeskuss

Ihr wärt sicher enttäuscht, wenn ich nicht darauf hinweisen würde, dass der Kuss ein wichtiger Bestandteil der menschlichen Kultur ist und dass bereits die Höhlenbewohner einander küssten, vermutlich auf die vielen verschieden Arten, die wir heute noch ausführen.

Der älteste dokumentierte Kuss stammt aus dem Alten Ägypten. Vor vierzig Jahren wurde in einem Grab in Sakkara eine bildhafte Darstellung gefunden und zwar von zwei Männern, die einander küssten. Aus den übrigen Malereien ging hervor, dass beide verheiratet waren. Vor etwa zwei Jahren gab es darüber eine riesige Diskussion. War das der erste Schwulenkuss? Die Gelehrten streiten sich.

Auch in Mesopotamien begann man vor 5000 Jahren zu Küssen. Der amerikanische Zahnpastahersteller Colgate-Palmolive verbreitet diese Erkenntnisse in seiner Werbung für Mundhygiene-Artikel. Wie die alten Vedischen Texte in Sanskrit berichten, wurde auch im alten Indien geküsst.

In der Bibel werden viele Arten von Küssen erwähnt. In einem sehr alten Text des Alten Testaments, hören wir sogar von einem Kuss zwischen Männern. König David küsste Jonathan und die beiden weinten (1. Samuel 4 –vor 600 v. Chr.). Doch auch das muss aus der Zeit verstanden werden. Küssen war damals völlig normal im gesellschaftlichen Umgang. Wenn man den Text genau liest, handelt es sich um einen blossen Abschiedskuss. Das hebräische Wort für diesen Kuss bedeutet nicht sexuelle Liebe, sondern etwas Höheres: Bruderliebe. David nennt Jonathan tatsächlich in diesem Zusammenhang „Bruder“.

Der Kuss im freimaurerischen Ritual

Es ist bemerkenswert: In manchen Freimaurerischen Lexika kommt weder der Weihe- noch der Bruderkuss vor. Auch nicht im bekannten Internationalen Freimaurer-Lexikon von Lennhoff/ Posner (1932). Erst in der Neuausgabe durch Dieter Binder (2000), gibt es einen kleinen Hinweis.

Ferner findet man im Internet in verschiedene Ausgaben von Albert G. Mackeys Büchern über die Freimaurerei einige Hinweise. Und sogar in „Buch des Lehrlings“ von Gottlieb Imhof (S. 156 – zuerst Basel 1955) ist der Bruderkuss erwähnt.

Ich fasse kurz zusammen: Ob ein Weihe- oder Bruderkuss in den frühen Ritualen praktiziert wurde, wissen wir nicht. Wir sind ja überhaupt über die ersten Rituale nur indirekt – nämlich über Verräterschriften - informiert.

Gemäss Imhof wurde der Bruderkuss bereits in der Strikten Observanz, also etwa seit 1770, praktiziert. Die meisten Informationen seit dieser Zeit behaupten, dass dieser Kuss nur in Europa, hauptsächlich in Deutschland und Frankreich praktiziert wurde – was offenbar nicht stimmt. Der Kuss soll am Ende der Arbeit der Arbeit, und zwar von jedem Bruder seinem Nachbarn zur Linken und zur Rechten gegeben worden sein. Interessanterweise wird diese Art von Bruderkuss auch in Amerika, und zwar von den Prince Hall Logen, also den Logen der schwarzen Brüder, heute noch gepflegt.

Der Bruderkuss soll auch in den Hochgraden, und zwar bei den Grünen (RER) wie bei den Roten (AASR) vorkommen. Dieter Binder erwähnt die sogenannte Accolade, den “Ritterschlag auf die Schulter verbunden mit Umarmung und Kuss”. Martin Müller hat sogar ein Buch geschrieben mit dem Titel: Bruderkuss, ein Symbol des 18° (Heerbrugg 1995; betrifft den AASR).

In unserer Loge erhält der neu aufgenommene Bruder den Weihekuss vom Meister vom Stuhl. Von den Paten erhält er den Bruderkuss. Was ist dieser Weihekuss? Er gehört am ehesten in den Bereich der Begrüssung. Der Neophyt wird als neues Mitglied im Kreis der Lehrlinge begrüsst, willkommen geheissen, aufgenommen. Später im Kreis der Gesellen, und zuletzt in der Loge der Meister.

Immer wieder haben Brüder unsere Rituale als verstaubt und veraltet betrachtet. Oft hat man versucht, Rituale zu verbessern, zu modernisieren oder zu “reinigen”. So hat eine Zürcher Loge 1995 eine grossangelegte Revision unternommen. Erstaunlicherweise kommt der Kuss immer noch vor, allerdings nur im 1. Grad:
Der Meister vom Stuhl gibt ihn - als “Bruderkuss” - dem Neophyten auf die Stirn.
Aber es war dem federführenden Ritualreformer nicht so wohl dabei, denn er schreibt dazu als Erläuterung:

“Der Bruderkuss wäre eigentlich ein Kuss auf die Wange. Der Kuss auf die Stirne ist der Kuss des Vaters oder des väterlichen Freundes, soll hier aber auch als Ausdruck der Brüderlichkeit gelten.”

Gute Links

http://people.howstuffworks.com/kissing1.htm

http://en.wikipedia.org/wiki/Kiss

http://en.wikipedia.org/wiki/Kissing_Traditions


Literatur

Charles C. Bombaugh
The Literature of Kissing, Gleaned From History, Poetry, Fiction and Anecdote. Philadelphia: Lippincott 1876.
Kristoffer Nyrop
The Kiss and Its History. London: Sands 1901; reprinted Detroit, Mich.: Singing Tree Press 1968.
Hugh Morris
The Art of Kissing. New York: Padell Bokk 1936.
Nicholas James Perella
The Kiss Sacred and Profane. An Interpretative History of Kiss Symbolism and Related Religio-Erotic Themes. Berkeley, Cailf.: University of California Press 1969.
Miriam Friedman
The Kiss. Picture Research. New York: Universe Books 1976.
Adam Phillips
On Kissing, Tickling and Being Bored. Psychoanalytic Essays on the Unexamined Life. Cambridge: Harvard University Press/ London. Faber and Faber 1993;
dt.: Vom Küssen, Kitzeln und Gelangweiltsein. Göttingen: Steidl 1997.
Adrianne Blue
On Kissing. From the Metaphysical to the Erotic. London: Gollancz 1996; London: Indigo/ New York: Kodansha International 1997;
dt.: Vom Küssen oder warum wir nicht voneinander lassen können. München: Deutscher Taschenbuch-Verlag 1997.
Otto F. Best
Der Kuss. Eine Biographie. Frankfurt am Main: S. Fischer 1998 (400 Seiten).
Otto F. Best
Die Sprache der Küsse. Eine Spurensuche. München: Koehler & Amelang 2001.
Ingelore Ebberfeld
Küss mich. Eine unterhaltsame Geschichte der wollüstigen Küsse. 2001. München: Piper 2004.
Otto F. Best
Vom Küssen. Ein sinnliches Lexikon. Leipzig: Reclam 2003.
Kiril Petkov
The Kiss of Peace. Ritual, Self and Society in the High and Late Medieval West. Leiden: Brill 2003.
Julie Enfield
Kiss and Tell. An Intimate History of Kissing. Toronto: HarperCollins 2004;
dt.: Am Anfang war der Kuss. Liebenswertes rund um die innigste Nebensache der Welt. Frankfurt am Main: mvg-Verlag 2004.
Sylvia Harst
Der Kuss in den Religionen der alten Welt. Ca. 3000 v. Chr. – 381 n. Chr. Diss. Univ. Bonn 2004; Münster: LIT 2004.
Alain Montandon (Hrsg.)
Les baisers des lumières (1680-1790). Clermont-Ferrand: Presses Universitaires Blaise Pascal 2004.
Karen Harvey (Hrsg.)
The Kiss in History. Manchester: Manchester University Press 2005.
Alain Montandon
Le Baiser. Le corps au bord des lèvres. Paris: Autrement 2005;
dt.: Der Kuss. Eine kleine Kulturgeschichte. Berlin: Wagenbach 2006

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