Traktat: Die Mitte des Tempels

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Die Mitte des Tempels

von Br. Alfried Lehner, Rudersberg


Die uns vertraute Einteilung des Kreises in 360 Grad geht auf die alten Sumerer und Babylonier zurück; sie ist also mindestens fünftausend Jahre alt. Im Verlauf eines Jahres beschreibt die Sonne einen scheinbaren Kreis am Himmel. Jeden Tag bezieht sie eine andere Position zu den Fixsternen, und zwar etwa um ein Grad von jener des Vortages nach links versetzt. Natürlich steht sie zur gleichen Tageszeit jeweils in derselben Himmelsrichtung; aber die Fixsterne um sie herum (wenn wir sie am Tage sehen könnten) sind um ein Grad nach rechts „gewandert“. Nach 360 Tagen hat sie wieder annähernd dieselbe Position inne, steht also im selben Sternbild. Erst die alten Ägypter erkannten, daß das Jahr etwa fünf Tage länger dauert. In der Symbolik blieb jedoch der Kreis mit 360 Teilen das Symbol für den Sonnenlauf durch das Jahr und damit für das Weltganze; denn wenn die höchste Gottheit von ihrer Reise zurückkehrt, hat sie nach altem Glauben das All durchwandert.

Entsprechend dem Mondzyklus, der etwa 30 Tage dauert, wurde das Jahr in zwölf „Monde“ eingeteilt, und der Sonnenkreis erhielt zwölf Festpunkte. So erhielten zwölf Sternbilder der Sonnenbahn eine besondere Bedeutung für die Bestimmung der Jahreszeiten. In manchen Mythen begeht der Sonnengott zur Zeit des dreitägigen Neumondes die Heilige Hochzeit mit der Mondgöttin, die dann, schwanger geworden, zur Zeit des Vollmondes gebiert, um danach wieder abzunehmen. Der Tag wurde als „Mini-Jahr“ aufgefaßt und somit in zwölf (Doppel)stunden eingeteilt, ein Verfahren, das sich im Zifferblatt unserer Uhr erhalten hat. Noch heute gibt es Uhren – besonders an Kirchtürmen – bei denen das Zifferblatt als Tierkreis dargestellt ist.

Die zwölfknotige Schnur

Die Ägypter fertigten das Symbol des Weltganzen in Form einer zwölfknotigen Schnur an. Als Kreis aufgelegt, könnte sie zu kultischen Handlungen gedient haben. Man kennt Siedlungsformen archaischer Völker, bei denen um einen „Weltenbaum“ jeweils zwölf runde Hütten angeordnet sind.

Der Mensch wollte seit Urzeiten in Harmonie mit der Schöpfung leben und ahmte daher ihre Struktur nach. Auch runde Stadtgründungen sind aus späteren Zeiten belegt. Nach dem griechischen Geschichtsschreiber Diodorus Siculus soll die Ringmauer von Babylon 365 Stadien umfaßt haben. Auch wenn der Historiker etwa hier spätere Erkenntnisse einfließen ließ, zeugt diese Aussage von der Denkart jener Zeit. Man schließt auf runde Siedlungen der ältesten Römerzeit u. a. aus der Tatsache, daß das lateinische Wort für Stadt – urbs – etymologisch mit orbis – Kreis – zusammenhängt.

In jener Zwölfknotenschnur war aber auch der rechte Winkel angelegt, da ein Dreieck mit den Seitenlängen 3 : 4 : 5 (= 12) immer einen solchen enthält. Somit ist im rechten Winkel ebenfalls das Prinzip der Weltordnung enthalten: die Zwölf. Das „Himmlische Jerusalem“ der Offenbarung des Johannes ist viereckig; aber die Stadtmauer ist mit zwölf Toren ausgestattet. In der Symbolforschung werden Kreis und Quadrat häufig auf dieselben Ursprünge, die Sonnenbahn, zurückgeführt. Bereits in einem der ältesten Symbole der Sonnenbahn, dem Radkreuz, ist durch die Heraushebung der Sonnwendpunkte und der Tagundnachtgleichen das Quadrat angelegt. Man braucht diese vier Weltecken, wie sie auch genannt werden, ja nur miteinander zu verbinden.

Keilschrift

Auch die Entwicklung der Keilschrift begünstigte die Identität von Kreis und Quadrat. Das sumerische Zahlzeichen für 1 Schar (Saros) = 3.600 (!) wurde ursprünglich als großer Kreis, in der späteren Keilschrift als Quadrat geschrieben. Labyrinthe waren einst spiralförmige Kultstätten, die dazu dienten, in Tanzformen den „Einweihungsweg“ der Sonne im Jahreslauf nachzuvollziehen. Auch diese wurden häufig quadratisch angelegt. Die Tanz-, Kult- und Versammlungsplätze der Megalithkultur sind gekennzeichnet durch den steten Wechsel von Kreisform und Quadrat. Wir dürfen sicher sein, daß die uns so selbstverständlich und zweckmäßig erscheinende rechtwinklige Grundform der Gebäude kultischen Ursprungs ist.

Im Sonnenlauf

Wenn wir Freimaurer die Mitte unseres Tempels im Sonnenlauf und rechtwinklig umschreiten, so knüpfen wir an älteste Kultformen an, die, ebenfalls wechselnd zwischen Kreis und Quadrat, bei Opferhandlungen, bei Stadtgründungen und eben im kultischen Einweihungstanz gepflegt wurden.

Die Symbolik jenes aus der Knotenschnur gebildeten Dreiecks ist jedoch noch vielfältiger: So enthält es z. B. die göttliche oder Sonnenzahl Drei, die irdische oder Mondzahl Vier und die Fünf, welche dem dritthellsten Gestirn, der Venus – gewissermaßen dem Kind von Sonne und Mond – zugeordnet wird. In dieser Symbolik ist Venus das erste Geschöpf aus der Polarität von Sonne und Mond, und die Darstellung jener drei Gestirne, wie sie auf zahlreichen freimaurerischen Arbeitstafeln zu finden ist, verkörpert das Schöpfungsgeschehen als Urprinzip, „das Werdende, das ewig wirkt und lebt“ . Jenem ersten göttlichen Geschöpf hat sich der Mensch anzunähern. Diese sowie die jüdisch-christliche Auffassung vom Menschen als Ebenbild Gottes führte dazu, daß man in das Pentagramm einen menschlichen Körper hineinzeichnete.

Unsere drei Säulen in der Mitte des Tempels, welche die drei kleinen Lichter der Freimaurerei tragen, stehen in vielen Lehrarten in dem aus der Knotenschnur gewonnenen Dreieck; und so wundern wir uns nicht, wenn wir seit alters in Freimaurerkatechismen lesen, daß die drei kleinen Lichter der Sonne, dem Mond und dem Meister zugeordnet werden.

360 Grad

Kehren wir zurück zu unserem Kreis von 360 Grad, so finden wir in einem ägyptischen Mythos Aussagen, die einerseits auf die Entdeckung der weiteren fünf Tage des Jahres hinweisen, zum anderen aber Zusammenhänge aufdecken, die für unsere freimaurerische Symbolik von großer Bedeutung sind. Manfred Lurker schreibt hierzu folgendes:

„Als der Sonnengott Re von der heimlichen Verbindung der Himmelsgöttin Nut mit dem Erdgott Geb erfuhr, verfluchte er seine untreue Gattin, so daß sie weder unter seiner noch unter des Mondes Strahlen die aus dem Ehebruch hervorkommenden Kinder gebären könne. Da half ihr der kluge Thot, indem er beim Spiel dem Mond von jedem Tag ein Zweiundsiebzigstel abgewann; daraus erschuf Thot, der Gott der Zeitrechnung, fünf ganze Tage, die er dem Jahr von ursprünglich 360 Tagen (zwölf Monate zu je dreißig Tagen) hinzufügte. Nut benützte die fünf Tage, von denen der Sonnengott nichts wußte, um ihre Kinder Osiris, Haroeris, Seth, Isis und Nephthys zu gebären. Von seinem Vater Geb erhielt Osiris die Königswürde, aber der ihm neidische Seth verbündete sich mit 72 Komplizen, ermordete ihn und warf die vierzehn Teile des zerstückelten Leichnams in den Nil; möglicherweise sind mit der Vierzehn die Tage des abnehmenden Mondes gemeint. Isis brachte ihrem Gatten einen nachgeborenen Sohn zur Welt, es war Horus, der später seinen Onkel Seth zum Kampf herausforderte; dabei riß ihm Seth ein Auge aus und zerstückelte es in sechs Teile, die von Thot wieder zusammengefügt wurden. Die einzelnen Teile dieses Auges, das nunmehr »das Heile« (uzat) genannt wurde, entsprechen bestimmten Bruchzahlen, die zusammengezählt 63/64 ergeben; das fehlende Vierundsechzigstel hat Thot angeblich verschwinden lassen. Nun findet sich die 64 im asiatischen Raum als Zahl der Vollkommenheit (8 mal 8): die 64 Hexagramme des chinesischen Weisheitsbuches I Ging sind Ausdruck der Welterfahrung wie auch der Vielfalt menschlichen Schicksals; ähnliche Bedeutung dürfte ursprünglich auch das aus Indien stammende Schachspiel mit seinen 64 Feldern gehabt haben.“

Schachspiel als Weltganzes

Lurkers Vermutung vom Schachspiel als Abbild des Weltganzen findet ihre Bestätigung in der Symbolforschung. Der Historiker Titus Burckhardt bemerkt dazu:

„Der Kampf der beiden auf dem Schachbrett aufgestellten Heere [...] hat zum Vorbild den Kampf der Devas und Asuras, der Götter und Dämonen. [...] Das Schachbrett ist je nach Daseinsstufe, auf die man es bezieht, ein Schlachtfeld, die Erde oder das ganze Weltall.“

Das „Schachbrett“ dient als Grundriß indischer Tempel. Es ist dort als Mandala gedacht, als ein Bild, das zur Meditation dient. Für das Mandala gilt ebenfalls der Wechsel zwischen Kreisform und Quadrat. Burckhardt verweist auch noch auf eine besondere, von Indien bis in das mittelalterliche Europa gelangte Abart des Schachspiels, die zugleich mit dem kosmischen Kampfe auch die in jenem Mandala enthaltene Formel des kosmischen Kreislaufs zum Ausdruck bringt; es ist das „Spiel der Jahreszeiten“, bei dem viermal acht Schachfiguren von den vier Ecken des Brettes aus im Kreis herum einander bekämpfen. In einer eingehenden Untersuchung zu diesem Symbol stellt Julius Schwabe fest, daß die vier Ecken des Schachbretts den „Weltecken“, d. h. den vier Hauptpunkten des Sonnenjahres zugeordnet werden können und folgert: „Das Schachbrett als Symbol des Weltganzen läßt sich dann ohne weiteres mit dem Sehnenquadrat der Sonnenbahn vergleichen und damit zur Deckung bringen.“

Musivisches Pflaster

Damit ist erwiesen, daß unser musivisches Pflaster weit älteren Ursprungs ist als der Meßgrund der Steinmetzen. Der Tempel gilt in allen Kultformen als Symbol der Welt. So liegt es nahe, daß ein gleiches Symbol seinen Grund ausfüllte, ein Symbol, welches sich auf Grund seiner Struktur auch als Meßgrund eignete. Das musivische Pflaster prägt auch heute noch die Mitte vieler Freimaurertempel; zumindest wird es mit dem Arbeitsteppich aufgelegt.

Machen wir uns einmal bewußt, was die Mitte unseres Tempels bedeutet, was dort in unserem Ritual geschieht, bzw. mit uns geschehen kann, wenn wir unsere Seele öffnen für das Geheimnis: Wir betreten den Tempel im Sonnenlauf. Im Verlauf der Arbeit umschreiten wir so einmal die Mitte; wir „mitten uns ein“ – ein Weg, unsere eigene Mitte zu finden. Dabei gehen wir den Weg der Sonne, der uns ein stetes Stirb und Werde verkündet. Wir nehmen Platz und meditieren über das musivische Pflaster als Abbild der Welt mit ihren hellen und dunklen Stunden, die alle einer höheren Ordnung entspringen, wie jene hellen und dunklen Steine wohlgeordnet sind. Dann wird das Licht aus dem Osten hineingetragen in den Raum, der wiederum ein Symbol der Welt ist und wir gedenken der tröstlichen Worte, die sinngemäß in den meisten Religionen wiederkehren: „Das Licht scheint in der Finsternis“. Ein Lichterdreieck ist es, das nun erstrahlt. Es enthält in seinen Proportionen die Wesenheit der Schöpfung: Aus polarer Spannung, dem männlichen und weiblichen Prinzip, entsteht Neues, entsteht Welt, die evolutionär als Entwicklung vom Materiellen zum Geistigen angelegt ist: über die anorganische Materie, zum Pflanzenreich, zum Tierreich und schließlich zu einem Geschöpf, das über diese ewigen Gesetzmäßigkeiten nachzudenken vermag – Geschöpfe mit immer mehr Geist.

Ein Schöpfungsplan aus Geist und Licht

Ein Schöpfungsplan aus Geist und Licht? Dann sind den Dummheiten und Dunkelheiten um uns her Grenzen gesetzt. Wann auch immer. Weltzeit ist nicht unsere Zeit. – Der Teppich wird enthüllt und unser Blick fällt auf die Dreiheit der Transzendenz, jener Urpolarität von Sonne und Mond, von Zeugen und Empfangen, von Geben und Nehmen, woraus allein Neues entsteht: verkörpert im Flammenden Stern. Was soeben als Mysterienspiel mit dem Entzünden der drei kleinen Lichter geschah, wird nun für die Dauer von Hochmittag bis Hochmitternacht im Bilde festgehalten. Das erlaubt uns, jenes Geheimnis weiterhin auf unser Gemüt einwirken zu lassen. Es kann dann wie folgt zu uns sprechen: „Auch in dir ist Helles und Dunkles in stetem Wechsel: in deiner Gemütsverfassung, aber auch in deinen Anlagen und Gedanken. Aus dieser Spannung kann sich Fruchtbares entwickeln. Es ist alles »in Ordnung«, weil es Teil der Schöpfungsordnung ist. Auch du als Mikrokosmos bist auf den Weg zum Geistigen gestellt, den Weg über das musivische Pflaster. Es ist ein Weg mit vorgegebenen Gesetzmäßigkeiten; nicht mit grenzenloser Freiheit, aber in seiner polaren Spannung mit dem Ansatz zum Schöpferischen, zum Werdenden.“

Holde Schranken

Wir erinnern uns der Worte Goethes: „Das Werdende, das ewig wirkt und lebt, umfaß euch mit der Liebe holden Schranken“. Ist es das? Holde Schranken sind es, die uns einengen, die unseren Weg bestimmen. Ihr Wesen ist Liebe... Wir beenden unsere Gedanken, da nun die Zeichnung folgt. Aber ein Nachklang erfüllt uns noch lange nach der Tempelarbeit. Er besteht aus harmonischen Akkorden, die etwas ahnen lassen vom Sinn der Schöpfung und damit auch unseres Lebens.

Siehe auch