Die österreichische Grenzlogenzeit von 1898 bis 1918: Unterschied zwischen den Versionen

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===Wie stand der Wiener Bürgermeister Lueger zu den Freimaurern?===
 
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Es wird berichtet, dass Lueger zu Beginn der Siebzigerjahre um Aufnahme in die Loge „Sokrates“ ansuchte, jedoch abgelehnt wurde. Bald wurden die Freimaurer von Lueger als Feindbild definiert. Der Kaiser, der zweimal die Bestätigung der Ernennung Luegers zum Bürgermeister verweigerte, zog den politischen Liberalen und Freimaurer [[Eduard Uhl]] (Stuhlmeister der Loge „Humanitas“ und Bürgermeister von 1882 bis 1889) für das Amt gegenüber dem ungestümen Christlichsozialen Lueger vor.  
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Es wird berichtet, dass Lueger zu Beginn der Siebzigerjahre um Aufnahme in die Loge „Sokrates“ ansuchte, jedoch abgelehnt wurde. Bald wurden die Freimaurer von Lueger als Feindbild definiert. Der Kaiser, der zweimal die Bestätigung der Ernennung Luegers zum Bürgermeister verweigerte, zog den politischen Liberalen und Freimaurer Eduard Uhl (Stuhlmeister der Loge „Humanitas“ und Bürgermeister von 1882 bis 1889) für das Amt gegenüber dem ungestümen Christlichsozialen Lueger vor.  
  
 
Die Einführung der Zivilehe in Ungarn war für Lueger der Anlass, den christlichsozialen Antisemitismus zu aktivieren und gleichzeitig gegen die Freimaurer zu hetzen:  
 
Die Einführung der Zivilehe in Ungarn war für Lueger der Anlass, den christlichsozialen Antisemitismus zu aktivieren und gleichzeitig gegen die Freimaurer zu hetzen:  

Version vom 17. Juli 2019, 15:33 Uhr

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Rüdiger Wolf: Die österreichische Grenzlogenzeit von 1898 bis 1918

Rüdiger Wolf ists ein österreichischer Freimaurer und Freimaurerforscher.

Über die Entstehung der Grenzlogen ab 1871

Hintergrund von Rudi Rabe:
Das österreichisch-ungarische Vielvölkerreich der Habsburger im Jahr 1910: acht Jahre vor seinem Ende als unmittelbare Folge des von den Mittelmächten verlorenen Ersten Weltkriegs. Diese multiethnische Doppelmonarchie zählte 1910 51 Millionen Einwohner: 24% sprachen Deutsch, 20% Ungarisch, 13% Tschechisch, 10% Polnisch, 9% Kroatisch-serbisch, 8% Ukrainisch, 6% Rumänisch, 4% Slowakisch und je 2% Slowenisch und Italienisch.

Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, als das Imperium von Maria Theresia und dann von ihrem Sohn Joseph II. regiert wurde, kam immer wieder einmal ein Stück Land dazu und ein anderes weg: Tendenziell verschob sich das Reich nach Osten. Freimaurerlogen gab es zwischen 1742 bis 1795, mit unterschiedlich durchgesetzten Verboten in den ersten Jahren, doch danach eine kurze Hochblüte. 1795 wurden sie von Kaiser Franz I./II. jedoch verboten: als Folge des französischen Revolutionsterrors, der von den alten Mächten den Freimaurern und den anderen Modernisierungsbewegungen angehängt wurde. Dies dauerte bis 1867 als aus dem Einheitsstaat eine Doppelmonarchie wurde.

Was die Freimaurerei betrifft galt nun auf der ungarischen Seite (damals in Wien "Transleithanien" genannt = Ungarn inklusive das damalige Oberungarn, also die heutige Slowakei; Siebenbürgen; Kroatien-Slawonien; Banat) ein liberales Vereinsgesetz; es wurden Logen gegründet. Auf der österreichischen Seite (damals "Cisleithanien", bestehend aus vielen kleinen Teilen von Dalmatien über Triest, Wien und Prag bis in die heutige Westukraine) war die Freimaurerei jetzt in sogenannten Grenzlogen möglich; das waren Logen, die von Wien aus über der nur wenige Kilometer entfernten österreichisch-ungarischen Binnengrenze gegründet wurden. Dieser Zustand dauerte bis zum Ende des Vielvölkerreichs 1918. Die neue Republik Österreich schrumpfte dann auf ein Achtel der bisherigen Staatsfläche. Sie gab sich ein demokratisches Vereinsrecht: Der Weg war frei, die Grenzlogen übersiedelten sofort nach Wien und gründeten die Großloge von Wien.

Seit Gründung der ersten Freimaurerloge in Wien im Jahr 1742 befand sich die Freimaurerei in Österreich in einem Experimentierkasten der jeweiligen Herrschaftssysteme: vorerst geduldet, dann doch erlaubt, um wieder für lange Zeit verboten zu werden. So kam es, dass in Wien während 123 Jahren (1795-1918) Freimaurerlogen nicht erlaubt waren.

Doch nach 1867 kam der Freimaurerei der Ausgang Österreichs aus dem Deutschen Bund und die Entstehung der Österreichisch-Ungarischen Monarchie unerwartet zu Hilfe. Der sogenannte „Ausgleich“ ermöglichte den Ungarn innerhalb der Monarchie ein selbständiges Staatsgebilde, in welchem auch ein neues Vereinsgesetz entstand, das den Freimaurern gestattete, Logen zu bilden, was in Cisleithanien - wie man in Wien damals den nicht-ungarischen Teil der Doppelmonarchie nannte - nicht gewünscht war. Und so ergab es sich, dass Franz-Joseph als König von Ungarn den Freimaurern die Arbeit gestattete, während er als Kaiser von Österreich in den Erbländern Österreich, Böhmen, Mähren u.a. mit allerlei Spitzfindigkeiten jedes Ansinnen der Freimaurer, Logen zu gründen, verhinderte.

So kam es zu einem skurrilen Austriakum: zur Grenzlogenzeit (1871 – 1918). Brüder Freimaurer meldeten in Wien „unpolitische Vereine“ an, und die Mitglieder dieser Vereine gründeten in Transleithanien - also auf der von Wien nicht weit entfernten ungarischen Seite auf der anderen Seite des Flusses Leitha - in Grenznähe (Preßburg, Ödenburg, Neudörfl) Freimaurerlogen.

In einem Geheimbericht über die Freimaurerei im Privatarchiv des Kaisers Franz Joseph wurde die Situation so geschildert:

„So hatte man de facto alles erreicht, was man brauchte: ein Organ zur Einführung der Freimaurerei in Österreich, das für alle Brüder des Weltenbundes eine Loge und für die k.k. Behörden doch keine Loge war. Ihre Eigenschaft als „nicht-politischer Verein“ enthob die Loge auch den Verpflichtungen zur Vorlage eines Mitgliederverzeichnisses, sodass das vorgeschriebene Geheimnis der Bruderlisten vollkommen gewahrt blieb.“

Natürlich wurde, vermutlich von den Brüdern selbst, das „Geheimnis der Bruderlisten“ nicht vollkommen gewahrt, denn es wurde dem Geheimbericht eine detaillierte Namensliste aller Logenbeamten der Jahre 1902 bis 1903 beigefügt.

Nach dem System „nichtpolitischer Verein in Wien/Logen in Ungarn“ bildeten sich von 1871 bis 1900 zehn dieser Grenzlogen und versammelten knapp 1000 Brüder Freimaurer in ihren Reihen.

Von Beginn bis in die Mitte der Neunzigerjahre verlief die Bildung von Logen nach dem bekannten Schema: Neugründung, Logenspaltungen, Sammlung Unzufriedener. Die erste Grenzloge „Humanitas“ war bekannt betulich, behäbig, ritualtreu. Schon bald lösten sich davon Brüder, die reformerisch, aktivistisch arbeiten wollten: Gründung der Loge „Zukunft“.

Die beiden Varianten – konservativ, esoterisch, Ritual pflegend und aktivistisch, reformfreudig, ohne Bezugnahme auf etwas Transzendentes wie den sogenannten Großer Baumeister aller Welten – zogen sich bis zum Ende der Grenzlogenzeit 1918 durch: Es waren dann 14 Logen.

Gegen 1900 wandelten sich die gesellschaftlichen Bedingungen

Politisch-gesellschaftliche Massenbewegungen wie Christlichsoziale und Sozialdemokraten kamen auf, die Bevölkerung Wiens verdreifachte sich zwischen 1870 und 1910 in nur vier Jahrzehnten auf mehr als zwei Millionen. Nachdem der Kaiser zwei Mal die Unterschrift verweigert hatte, um Karl Lueger zum Bürgermeister von Wien zu bestellen, war es dann 1897 so weit: Der „schöne Karl“ hatte eine Zweidrittelmehrheit, und dazu noch den Segen von Papst Leo XIII. In den dreizehn Jahren der Amtszeit Luegers wurde Wien zur Weltstadt. Er war eine Führerfigur der antiliberalen, antikapitalistischen, antisemitischen Handwerker und kleiner Gewerbetriebe. Lueger wurde vom Volk geliebt, der Kaiser wurde verehrt.

Was bedeutete die „fröhliche Apokalypse“, der „Tanz am Abgrund“, die politischen, gesellschaftlichen Entwicklungen um 1900 für die rund tausend Freimaurer in der Metropole?

Angriffe der Katholischen Kirche gegen die Freimaurerei

Seit etwa 1895 sahen sich die Freimaurer heftigen Attacken der Katholischen Kirche ausgesetzt. Es galt der Fluch: „Die Freimaurerei ist der Anschlag auf Thron und Altar“.

Im Jahre 1896 versammelten sich 36 Bischöfe und 700 Geistliche in Trient zu einem „Antimasonischen Kongress“. Wien wollte da nicht fern bleiben, und so organisierte der ehemalige Freimaurer Karl Koller im Wiener Musikverein im März/April 1897 ebenfalls einen antimasonischen Kongress unter Leitung des Wiener Kardinals Gruscha und vieler Klerikaler aus dem Hochadel, zum Beispiel Schönborn und Liechtenstein. Im Schlusswort der Wiener Antimasonischen Tagung 1897 positionierte Kardinal Gruscha die Kirche:

„Angesichts eines internationalen, über die ganze menschliche Gesellschaft so weit ausgebreiteten Geheimbundes besitzen wir ja die einzig wirksame internationale Großmacht und Gegenmacht in der für alle Völker und Zeiten göttlich gestifteten „Einen heiligen katholischen Kirche“. Die ernste entscheidende Frage: Kann ein gläubiger Christ Freimaurer sein? Die Antwort lautet wohl ebenso kurz wie entschieden: Nein!“

Am „2. Österreichischen Katholikentag“ in Wien im April 1889 meldete sich auch der spätere Bürgermeister Karl Lueger zu Wort:

„Heute ist Österreich von einer großen Gefahr bedroht, aber nicht durch Türken und Heiden, sondern durch einen viel gefährlicheren inneren Feind – durch die Freimaurer, deren Devise lautet ‘delenda est Austria’ (zerstört Österreich).“

Es wurde ein Antrag gestellt:

„Die von den Männern der Loge mit wahrhaft fanatischem Eifer und mit Aufwand namhafter Geldmittel verbreiteten Druckschriften sind geeignet, das religiöse und patriotische Gefühl der zumeist christlichen Bevölkerung auf das Empfindlichste zu verletzen.“

Als Gegenwehr schlug man die Gründung katholischer Pressvereine vor. So bemühte sich die katholisch-konservative Zeitung „Vaterland“ mit der Feststellung:

„Die Loge ist und bleibt eine Feindin Österreichs und seiner katholischen habsburgischen Dynastie.“

Wie stand der Wiener Bürgermeister Lueger zu den Freimaurern?

Es wird berichtet, dass Lueger zu Beginn der Siebzigerjahre um Aufnahme in die Loge „Sokrates“ ansuchte, jedoch abgelehnt wurde. Bald wurden die Freimaurer von Lueger als Feindbild definiert. Der Kaiser, der zweimal die Bestätigung der Ernennung Luegers zum Bürgermeister verweigerte, zog den politischen Liberalen und Freimaurer Eduard Uhl (Stuhlmeister der Loge „Humanitas“ und Bürgermeister von 1882 bis 1889) für das Amt gegenüber dem ungestümen Christlichsozialen Lueger vor.

Die Einführung der Zivilehe in Ungarn war für Lueger der Anlass, den christlichsozialen Antisemitismus zu aktivieren und gleichzeitig gegen die Freimaurer zu hetzen:

„Die Bösen sind die Judäomagyaren unter dem Einfluss der Freimaurerei und der in Ungarn arbeitenden österreichischen Freimaurer.“

In Verfolgung seiner Feindbildstrategie gegen Juden, Liberale und Freimaurer scheute sich Lueger 1888 auch nicht, im Abgeordnetenhaus Georg Ritter von Schönerer gegen „jüdische Verfolgungswut“ zu verteidigen.
Im Gemeinderat stellte Lueger klar:

„Ich werde für Freimaurer nicht stimmen, weil diese dem Staat Österreich und insbesondere der Dynastie feindlich gesinnt sind.“

Trotzdem war Luegers Vorvorgänger Eduard Uhl, obwohl Freimaurer, dem Kaiser lieber als Karl Lueger.

Nach 1900 ein bös-kritischer amtlicher Geheimbericht

Wie stellte sich die Freimaurerei um 1900 dar, wie reagierten die rund tausend Brüder in dieser Aufbruchszeit auf die großen gesellschaftlichen Veränderungen?

Dazu eine interessante Quelle: "Die Freimaurer in Wien (1902 - 1903), zu Handen Seiner Exzellenz Herrn Sektionschef Grafen von Lützow" (HHStA Privatarchiv/Interna, Sign. PA XL, Karton 266b, Notizen über Freimaurer, Berichte). In diesem Geheimbericht, erstellt für den Leiter des Außenministeriums Heinrich Graf von Lützow, wird festgestellt:

„Cliquen-Wesen und vordringliche Vereinsmeierei, Mangel an idealem Streben, dafür aber umso mehr persönliche Streberei – das sind im wesentlichen Eigenschaften, mit denen die innere Tätigkeit der Wiener Freimaurer-Logen charakterisiert werden.“

Und weiter heißt es:

„Die spezifische Entartungsform der Wiener Logen ist nun die des geschäftsmäßigen Cliquen-Wesens zur Erreichung persönlicher Vorteile.“

Ironisch wird festgestellt, dass den Freimaurern nicht die Lust an politischen Aktionen abgehe, aber was ihnen fehle, um in politischen Dingen eine Rolle zu spielen, das seien die nötigen Persönlichkeiten.

Um die Jahrhundertwende gründeten sich zwei Logen, die sehr wohl die Zeichen der Zeit erkannten: die Logen „Lessing“ und „Pionier“. Sie waren reformfreudig und unterstützten sicher die schon lange wirkende Reformloge „Sokrates“.

Im Bericht wird analysiert:

„Gegen die Dekadenz des Wiener Logenlebens sind im Laufe der letzten Jahre wiederholt in hiesigen maurerischen Kreisen Reformbestrebungen aufgetaucht. Einem derartigen Impuls verdankt die Loge „Pionier“ ihr Entstehen. Sie wurde speziell zu dem Zwecke gegründet, um ihre Arbeit sozial-politischen Zielen zuzuwenden und die Erreichung derselben mit radikalen Mitteln anzustreben.“

Selbstkritik aber auch von innen

Dieser Befund steht ja nicht im Gegensatz zur Gründungserklärung der Loge „Pionier“ (1889):

„In tatkräftiger Arbeit Licht und Aufklärung in den breiten Massen des Volkes zu verbreiten, soziale Reformen anzuregen und zu propagieren.“

Auch von den Brüdern der Loge „Sokrates“ wurde eine Reform der Gegenwartsfreimaurerei gefordert, diese sei „Vereinsmeierei in ihrer schlechtesten Form“. Die Loge sah das Ritual eher als Ballast, als „kindlichen Symbolismus“. Gefordert wurde auch die bedingungslose Einbindung der Frauen in die Freimaurerei.

Die prononciert aktivistischen Logen „Sokrates“, „Lessing“ und „Pionier“ prägten ab 1900 das Bild der Logen. Natürlich gab es im Kreis der Brüder Befürworter und Gegner des Aktivismus. Dies führte nicht zu Brüchen, die Spannungen blieben jedoch und sind nach 1918 auch in den Logen der neu gegründeten „Großloge von Wien“ thematisiert worden.

Die geistige Ausrichtung der Loge „Sokrates“ spiegelt sich wider in den Sozialstrukturen der Mitglieder. Neben dem Großindustriellen Philipp von Schoeller waren es Brüder wie der sozialdemokratische Arbeiterführer Franz Schuhmeier (ermordet 1913) und Alfred Hermann Fried, welche der „Sokrates“ ein eigenes Leitbild gaben.

Es waren auch die Logen „Pionier“ und „Lessing“, welche 1905 wieder einen Versuch starteten, in Wien eine Loge zu gründen und den seit mehr als dreißig Jahren währenden Status „Grenzlogen“ zu beenden. Sie reichten bei der Statthalterei einen Statutenentwurf für eine „Große Freimaurerloge Austria“ ein. Sofort wurde dieser Entwurf abgelehnt, ebenso Änderungen verworfen, Beschwerden abgewiesen. Allein der Begriff „Freimaurer“ an sich definierte etwas Verbotenes. Der Wille des Kaisers, im Kaisertum Österreich Freimaurerei nicht zu wollen, wurde durchgezogen. Jegliche juristisch begründete Argumentation für eine Erlaubnis war letztlich erfolglos.

Weiteres aus dem amtlichen Geheimbericht von 1902/03

Es gibt in diesem Bericht auch andere interessante Befunde. Etwa:

„So sind – ganz im Gegensatz beispielsweise zu Ungarn – die Beamtenschaft und der Richterstand in der Wiener Freimaurerei gar nicht, das Parlament und der Gemeinderat in kaum nennenswerter Weise vertreten: im Ganzen sind die Leute an den Fingern abzuzählen, die ihrer Stellung nach in der Lage wären, im öffentlichen Leben einen unmittelbaren Einfluss auszuüben.
Hinzu kommt noch ein weiterer spezifischer Umstand. Von den Wiener Logenmitgliedern gehören heute fast 90 Prozent dem Judentum an … sodass der Augenblick nicht mehr ferne erscheint, wo das Wiener Freimaurertum einen ganz ausschließlich konfessionellen Charakter haben wird.“

Und dann kommen Schlussfolgerungen, wie sich der hohe Anteil von Juden auf die öffentliche Meinung und im Logenleben auswirkt:

„Bei der antisemitischen Gesinnung, die heute so weite Kreise beherrscht, bildet dieser Umstand allein schon ein starkes Hindernis für eine einflussreiche Stellungnahme der Wiener Brüder in unseren öffentlichen Leben.
Das Überwiegen des jüdischen Elementes in den Wiener Logen wirkt übrigens auch auf seine Stellung in der allgemeinen Freimaurer-Gemeinde nachteilig zurück. Unter den Freimaurern selbst ist nämlich seit einiger Zeit eine antisemitische Strömung aufgetaucht …“

Nachdem die - wie es damals hieß - „Verjudung“ der Wiener Freimaurer festgestellt wurde, kam man zu folgendem Schluss:

„Die Wiener Brüder haben infolgedessen nur einen beschränkten Anteil an der internationalen freimaurerischen Solidarität, welch eben eines der hauptsächlichen Machtmittel des „Weltbundes“ bildet.
Das Renommee der Wiener Logen ist übrigens an und für sich in der maurerischen Welt seit langem kein großes.“

In den „Notizen“ über die Freimaurer wird mit Missbehagen bemerkt, dass die Freimaurer sich einen möglichst intensiven Einfluss auf die Herausbildung der Jugend verschaffen und auch selbst bahnbrechend auf dem Gebiet des Volksunterrichtes vorgehen. Als praktischer Vorstoß in diese Richtung hin wurde die „Freie Schule“ der Loge „Pionier“ gewertet, welche 1902 die Genehmigung des Schulrates erhielt und bereits in der Gründungsphase rund 250 Mitglieder anwerben konnte. Gegen das Projekt „Freie Schule“ agierte auch heftig die Katholische Kirche. Die Aufnahme von Lehrern in den Bund forcierte man, die Brüder Lehrer wurden von der Zahlung der Logen-Taxen dispensiert.

Anhand der lückenlos vorliegenden Mitgliederlisten wurden Bewertungen von Berufsgruppen vorgenommen:

„Ärzte und Advokaten sind eine schwere Menge vorhanden. Es ist niemand Hervorragender vorhanden.
Auf dem künstlerischen Gebiet mehr als auf jeden anderen feiert das Wiener Freimaurertum seine schönsten geschäftlichen Triumphe.
Stark vertreten auf den Wiener Listen sind die Assekuranz-Gesellschaften.
Von aktiven Staatsbeamten gehört niemand einer Loge an. Von Gemeindebeamten sind einige wenige Freimaurer. Leider aber ein Dutzend Lehrer.
Das markanteste Element der Wiener Logen sind die zahlreich vorhandenen Vertreter der Presse.
Ernste politische Arbeit leisten die Wiener Logen in ihrer heutigen Zusammensetzung nur auf dem Gebiet der Journalistik.“

Die starke Präsenz der Wiener Freimaurer in der Presse irritierte die Verfasser des Geheimberichts sehr:

„Die Wiener Brüder-Journalisten stehen in so inniger Verbindung mit der liberalen Presse-Clique im allgemeinen, und letztere lehnt sich wieder ihrerseits so verständnisvoll an die Freimaurer an, dass es schwer ist, zwischen beiden eine Grenzlinie zu ziehen.“

Am Schluss des Berichtes über die Freimaurer zog man ein Resümee:

„Schwer kontrollierbar, aber kaum minder gefährlich ist die versteckte Stimmungsmache, die dabei von Mund zu Mund gemacht wird, und für die sich die Eigenart der freimaurerischen Organisation so gut eignet. Das kleine Häuflein von 1000 Freimaurern, das in der Millionenstadt heimlich in allen Winkeln sitzt, spielt ganz die Rolle einer geschickt verteilten Theater-Claque. Dank ihrem Zusammenwirken gelingt es ihr neunmal unter zehn, nach Belieben Applaus zu machen oder die Leute auszuziehen. Namentlich das Letztere.“

Die zwei Perioden der fünf Jahrzehnte währenden Grenzlogenzeit

Dieser Artikel erschien 2019 in der Schriftenreihe der Freimaurer-Akademie der Großloge von Österreich. Das Freimaurer-Wiki dankt der Großloge von Österreich für die Genehmigung, Rüdiger Wolfs Beitrag hier wiedergeben zu dürfen.

Man kann dieses halbe Jahrhunderte so einteilen: Ab der Gründung der Logen 1871 bis etwa 1900 sammelten sich rund tausend Brüder in zehn Logen. Es war die Zeit der Konsolidierung und des großen Engagements auf dem Gebiet der sozialen Fürsorge: Wohltätigkeit im weitesten Sinn. Die gesellschaftlichen Veränderungen und Massenbewegungen wie Sozialdemokratie und Christlichsoziale rückten die „soziale Frage“ in den Fokus. Auch die Freimaurer erkannten, dass die soziale Frage nicht durch Wohltätigkeit Einzelner gelöst werden kann, sondern nur durch gesellschaftliche Veränderung.

Um 1900 gründeten sich dann die zwei Logen „Lessing“ und „Pionier“, die mit dem Leitbild der reformfreudigen Loge „Sokrates“ übereinstimmten. Es begann die zweite Periode der Grenzlogenzeit, in der ein prononciert aktivistischer Kurs gefahren wurde. Man begann sich mit dem Sozialismus zu beschäftigen, ein Symbol dafür war die Aufnahme des Hilfsarbeiters und prominenten Arbeiterführers Franz Schuhmeier. Die politischen Neuerer schrammten oftmals entlang der Tagespolitik.

Nicht allen Brüdern gefiel diese Aufbruchsphase. So verließen im Jahr 1907 21 Brüder die Loge „Sokrates“, die ihnen zu links war, und gründeten die Loge „Kosmos“.

Die sogenannten Reformlogen konnten auch der Ritualistik wenig abgewinnen, eine Distanziertheit, die sich bis in die Gründung der „Großloge von Wien“ zeigte. Erst 1923 wurde als ‘Buch des Heiligen Gesetzes’ symbolisch die Bibel aufgelegt. Die Beschäftigung mit der „Frauenfrage“ begann schon früh in der Loge „Sokrates“ ernsthaft besprochen zu werden.

Der alte Zopf aus der sogenannten „goldenen Zeit“ im Wien des 18. Jahrhunderts war abgeschnitten. Man wandte sich mehrheitlich radikal-liberalem Aktivismus zu, man erkannte, dass die „soziale Frage“ nicht von oben gelöst werden kann und zu Veränderungen in der Gesellschaft führen muss.

Mit Respekt und Verwunderung können wir heute ermessen, dass die Brüder 1918, im Selbstbewusstsein die neue Zeit mitgestalten zu können, ohne Zögern an die Gründung der „Großloge von Wien“ schritten.


Siehe auch

Weitere Forschungsarbeiten von Rüdiger Wolf mit masonischem Bezug: