Freimaurerei in Deutschland: Ein Überblick im Kontext von Geschichte, internationalen Entwicklungen und freimaurerischen Konzeptionen

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Freimaurerei in Deutschland: Ein Überblick im Kontext von Geschichte, internationalen Entwicklungen und freimaurerischen Konzeptionen

»Sieh, Konstant, so steht es mit dem Orden, dessen Geheimnis Du ergründen willst; über den Verfolgung und Spott, Unwissenheit und Verrat nichts vermögen. So wie man zuweilen im Spaß gesagt hat: Das größte Geheimnis der Freimaurer ist, dass sie keins haben; so kann man mit Recht sagen: das offenbarste und dennoch geheimste Geheimnis der Freimaurer ist, dass sie sind und fortdauern. Denn – was ist es doch, was kann es doch sein, das alle Menschen von der verschiedensten Denkart, Lebensweise und Bildung zusammen verbindet und unter tausend Schwierigkeiten, in dieser Zeit der Erleuchtung und Erkaltung, beieinander erhält?«

Johann Gottlieb Fichte: Philosophie der Maurerei. Briefe an Konstant


Vorbemerkung

Freimaurerei ist ein weltweiter Freundschaftsbund, und gilt – so die Internetseiten vieler USamerikanischer Großlogen – als »the largest and oldest fraternity in the world«.1 Freimaurerei stellt aber auch eine spezifische symbolisch-rituelle Lehr- und Erfahrungsmethode dar, die von Anfang an auf Einübung einer ethisch fundierten Art und Weise der Lebensführung angelegt war: »A Mason is oblig’d, by his Tenure, to obey the moral Law« hieß es bereits in den »Andersons Konstitutionen« von 1723, und eine spätere, viel zitierte Definition, ebenfalls aus der englischen Freimaurerei, nahm diesen Gedanken auf: »Freemasonry is a peculiar system of morality, veiled in allegory, and illustrated by symbols«. Freimaurerei versucht dabei, die gesellige, die intellektuelle und die emotionale Seite des Menschen gleichermaßen anzusprechen. Verstand und Gefühl werden nicht getrennt, und insbesondere die in den Logen geübte Ritualpraxis soll dazu beitragen, Einsichten in Lebenswirklichkeiten gleichzeitig denkend und fühlend zu gewinnen.

Freimaurerei stellt allerdings keine Einheit dar. Von Beginn an gab es unterschiedliche Erscheinungsformen des Freimaurerbundes, die sich – mit der Entwicklung von Hochgradsystemen – vor allem in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts weiter ausdifferenziert haben. Viele damit verbundene Forschungsfragen sind bisher unbeantwortet, doch hat besonders seit den 1950er Jahren eine intensive multidisziplinäre wissenschaftliche Beschäftigung mit der Freimaurerei eingesetzt, an der in zunehmendem Maße auch Wissenschaftler an Universitäten und Forschungsinstituten teilnehmen, die selbst nicht dem Freimaurerbund angehören. In Deutschland sind die wichtigsten dieser Forscherinnen und

1 So z.B. Grand Lodge of Michigan, www.gl-mi.org.


Forscher am »Netzwerk Freimaurerforschung« beteiligt, das im Jahre 2001 in Anlehnung an die Universität Bielefeld begründet wurde.

2 Der folgende einleitende Beitrag des Bandes soll die historisch-analytische Basis für die folgenden Untersuchungen und Überlegungen schaffen. Er verbindet zentrale Gesichtspunkte der freimaurerischen Geschichte und Ritualistik mit analytischen Gesichtspunkten und Hypothesen zum Verständnis der sozialen Struktur des Freimaurerbundes und einem Aufriss von Selbstverständnis, Problemen und Entwicklungstendenzen der deutschen Freimaurerei am Beginn des 21. Jahrhunderts.


Zentrale Aspekte der Geschichte des Freimaurerbundes

Der folgende Abschnitt beansprucht nicht, die Geschichte des Freimaurerbundes zusammenfassend oder gar detailliert zu beschreiben. Er ist vielmehr auf ein Aufzeigen und Erörtern von Aspekten angelegt, die mir für die Beurteilung von Entstehung und Entwicklung der Freimaurerei wichtig erscheinen. Der Freimaurerbund ist ein Produkt der Moderne. Entwicklungsanstöße und Strukturmaterial aus der älteren Geschichte aufnehmend, entstand er als soziale Gruppierung von Gewicht zu Beginn des 18. Jahrhunderts in England und blickt inzwischen auf eine Entwicklung von fast 300 Jahren zurück. Die Vorgeschichte des Bundes reicht weiter zurück und beginnt mit den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Steinmetzbruderschaften und deren Bauhütten, aus denen (und unter Bezug auf die) sich nach 1717, dem Jahr der ersten Großlogengründung, fast explosionsartig die modernen Freimaurerlogen entwickelten. Die Einzelheiten dieser »großen Transformation« von den Bauhütten der Steinmetze zu den Logen der »Gentlemen Masons« liegen immer noch im Dunkel der Geschichte und sind Gegenstand wissenschaftlicher Hypothesen sowie vielfältiger Spekulationen. Insbesondere ist noch nicht hinreichend geklärt, ob und inwieweit es sich bei dem, was später als »Esoterik der Freimaurerei« bezeichnet werden sollte, um das Ergebnis eines allmählichen, durch die Bauhütten des Mittelalters und der frühen Neuzeit vermittelten Einfließens alter Denkformen und Symbole in die Freimaurerei hinein handelt oder ob das zunehmende Gewicht der Esoterik in der Maurerei der zweiten Hälfte des 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Resultat eines großen Prozesses des Einsammelns hermetischer, symbolischer und gedanklicher Elemente aus der Kultur- und Religionsgeschichte des Abendlandes gewesen ist und insofern mehr mit Rückprojektionen als mit Kontinuitäten zu tun hat. Die wissenschaftliche Aufarbeitung der freimaurerischen Vergangenheit wird nicht nur durch die oft spärliche Quellenlage erschwert, vor allem, was die Praxis der frühen Freimaurerei betrifft. Hinzu kommt, dass quellengestützte Forschungsergebnisse nicht selten durch Entstehungslegenden überlagert werden, die aus der Freimaurerei selbst stammen. John 2 Das Netzwerk Freimaurerforschung wurde im Rahmen des Forschungsprojekts »Deutsche Freimaurerei der Gegenwart – Zur Wechselwirkung von (post)moderner Geselligkeit und bürgerlicher Gesellschaft« an der Universität Bielefeld eingerichtet und von folgenden Forscherinnen und Forschern initiiert: Prof. Dr. Jörg Bergmann (Bielefeld), Prof. Dr. Klaus Hammacher (Aachen), Prof. Dr. Hans-Hermann Höhmann (Köln), Dr. Stefan-Ludwig Hoffmann (Bochum), Dr. Florian Maurice (München), Prof. Dr. Monika Neugebauer-Wölk (Halle-Wittenberg), Prof. Dr. Linda Simonis (Köln) und Prof. Dr. Jan Snoek (Heidelberg). Homepage: http://www.freimaurerforschung.de/.

14 Hamill unterscheidet in seiner Geschichte der englischen Freimaurerei3 »authentische« (wissenschaftliche) Schulen, die sich auf die Analyse überprüfbarer Fakten stützen, von »nicht-authentischen« Schulen. Letztere setzen die Freimaurerei unzulässigerweise durch Rückschlüsse aus dem, was später – insbesondere in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts – zur Freimaurerei, vor allem zur Freimaurerei von Hochgradsystemen, geworden ist, in eine direkte Beziehung zu Religionen, Mysterien, Kulten und hermetisch-esoterischen Traditionen vergangener Jahrhunderte. Generell sind die Freimaurer immer in der Versuchung gewesen, die Wurzeln der von ihnen in der jeweiligen freimaurerischen Gegenwart gewollten Form der Freimaurerei in der Vergangenheit zu entdecken, um sie hierdurch zu legitimieren.

Fest steht jedoch, dass die Symbole und Rituale der Freimaurer, die bis auf den heutigen Tag in den Logen zur Anwendung kommen, in erster Linie den Formen- und Ideenwelten der europäischen Bautradition, ihren organisatorischen Zusammenschlüssen, ihren Legenden (Salomonischer Tempelbau, Baumeister Hiram, Märtyrerlegende der »Quatuor Coronati «) sowie den Verfahren der Mitglieder der Bauhütten, sich gegenseitig als Maurer zu erkennen, entstammen und damit insgesamt der Vorgeschichte der Freimaurerei angehören. Dabei sind neben den englischen vor allem die schottischen Traditionen von besonderer Bedeutung gewesen. David Stevenson hat in seiner grundlegenden Studie zu den Ursprüngen der Freimaurerei darauf hingewiesen, dass wesentliche Elemente des Bundes – die vor der Öffentlichkeit verborgenen Rituale, die geheimen Modalitäten der gegenseitigen Erkennung als Maurer, die feierlichen Initiationen neuer Mitglieder sowie die Aufnahme von Nichtmaurern in die Logen – neben praktischen Regeln für die Ausübung des Gewerbes und sozialen Einrichtungen – bereits Mitte des 17. Jahrhunderts für die schottischen Logen nachweisbar sind.4 Stevenson hat weiter deutlich gemacht, dass innerhalb der Rituale neben der Bausymbolik auch esoterische Vorstellungen an Bedeutung gewannen, die auf hermetische Traditionen der Renaissance zurückzuführen sind. Nicht zuletzt deshalb stieß die Freimaurerei schon in ihrer Formierungsphase auf Widerstand von Vertretern und Institutionen der etablierten christlichen Kirchen. Es ist allerdings wohl anzunehmen, dass die frühe Hermetik in den Logen der schottischen Freimaurer nicht direkt zu den mit allerlei zusätzlicher Symbolik rituell aufgefüllten Hochgradsystemen führte, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts populär wurden.5 Einmal war die Hermetik in den frühen schottischen Logen Bestandteil einer organisatorisch einfachen, noch nicht einmal dreigradigen Freimaurerei gewesen, zum anderen hatte sie sich über längere historische Perioden hinweg entwickelt und war insofern überlieferungsverbunden und nicht bewusst angeeignet. Deshalb kann sie auch als wesentlich authentischer gelten als die nicht selten gesuchte und willkürlich anmutende Esoterik in den Symbol- und Ritualkreationen der Hochgradsysteme des späten 18. Jahrhunderts. Hermetik und Alchemie, Wahrheitssuche 3 Hamill, John: The Craft. A History of English Freemasonry, Great Britain Crucible 1986, S. 15–25. Great Britain Crucible 1986. 4 Stevenson, David: The Origins of Freemasonry, Cambridge 1998. 5 »In der Freimaurergesellschaft scheint Hermes Trismegistos in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch keine bedeutende Rolle zu spielen. Salomons Tempel oder die Tempelritter sind die wichtigsten historischen Bezüge. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ändert sich das grundsätzlich.« Ebeling, Florian: Das Geheimnis des Hermes Trismegistos. Geschichte des Hermetismus. Mit einem Vorwort von Jan Assmann, München 2005, S. 161. 15 in religiösem Eklektizismus, Hoffnung auf einen »Consensus der Religionen«, all das hatte ja für die Intellektuellen der Spätaufklärung eine beträchtliche Faszinationskraft, nicht als feste dogmatische Lehre, sondern als »Sammelbecken unterschiedlicher nichtorthodoxer Bild- und Gedankenfiguren«,6 die an die Stelle eines orthodoxen Christentums treten konnten.

In diesem Kontext schreibt etwa Goethe im achten Buch seiner Erinnerungsschrift »Dichtung und Wahrheit«:

»Ich studierte fleißig die verschiedenen Meinungen, und da ich oft genug hatte sagen hören, jeder Mensch habe am Ende doch seine eigene Religion, so kam mir nichts natürlicher vor, als dass ich mir auch meine eigene bilden könne, und dieses that ich mit vieler Behaglichkeit. Der neue Platonismus lag zum Grunde; das Hermetische, Mystische, Kabbalistische gab auch seinen Beitrag her, und so erbaute ich mir eine Welt, die seltsam genug aussah.«7 Es kann wohl auch davon ausgegangen werden, dass es den Übergang von der »operativen« (bauhandwerklichen) zur »spekulativen« (symbolisch-philosophischen) Freimaurerei in der bisher angenommenen Form als einer, vor allem auf das 17. Jahrhundert datierten zeitlichen Abfolge nicht gegeben hat. Die Bauhütten waren bereits lange vor dem Entstehen der Freimaurerei als moderner Sozialform »spekulativ«, und gerade dies hat die berufsfremden Außenstehenden, die in zunehmender Zahl als »Angenommene Maurer« (»accepted masons«) hinzukamen, stark angezogen. Ernst Bloch etwa hat auf die Bedeutung der über Rohstoffe, Technik und Zwecke der Bauten, insbesondere auch der sakralen Bauten, hinausgehenden Bauideen und Bausymbole, das in den Bauhütten lebendige »Kunstwollen«, im Architekturkapitel (»Bauten, die eine bessere Welt abbilden, architektonische Utopien«) seines monumentalen Werkes »Das Prinzip Hoffnung« hingewiesen: »Damals war ein anderes Kunstwollen am Werk als das der sogenannten Zweckkunst, und weil es ein Kunst-Wollen war, zeigte es außer Rohstoff, Technik, Zweck die wichtigste Bestimmung: die der Phantasie. Es war hier diejenige der kanonischen Bauvollkommenheit, im Hinblick auf ein geglaubtes symbolisches Vorbild. Dieses Vorbild leitete gerade die Ausführung des Werks, nicht nur, wie der Archetyp, seinen Traum und Plan ante rem, es gab den Meisterregeln selber die Regel. Daher war das jeweilige große architektonische Kunstwollen das gleiche wie die jeweilige Symbolintention, die in der Ideologie des alten Bauhandwerks traditionell wirksam war. Diese Intention aber suchte mit Dreieck und Zirkel ›den Maßen eines als vorbildlich imaginierten Daseins-Baus überhaupt abbildlich näherzukommen‹« (Hervorhebung von E. Bloch).8

6 Hermetik, Eklektik, Consensus, www.jgoethe.uni-muenchen.de/…/hermetik.html, download 17.03.2011. 7 Goethe, Johann Wolfgang: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, Zweiter Teil, Achtes Buch, in: Heinemann, Karl: Goethes Werke, Zwölfter Band, Leipzig und Wien o.J., S. 387. 8 Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung, Zweiter Band, Frankfurt am Main 1982, S. 837. Blochs Verhältnis zur Freimaurerei ist ambivalent: »Wie bekannt, gebraucht die Maurerei sowohl die Abzeichen des Baugewerks wie vor allem: sie phantasiert ihre Geschichte durch die gesamte Baugeschichte hindurch. Es ist höchst unwahrscheinlich, daß diese bürgerlich-edelmännische Verbrüderung selber … aus der Werkmaurerei hervorgegangen ist. Aber es ist noch unwahrscheinlicher, daß sie die grundlegende architektonische Gleichnis-Spielerei, die sie gebraucht, rein aus sich heraus erfunden hat.« Ebenda, S. 838f. 16 Die Tatsache, dass bereits im 17. Jahrhundert Logen im späteren Sinne existierten, deutet darauf hin, dass der Bund aus historischen Kontinuitäten hervorgegangen ist, und dass es insofern nur bedingt zutreffend ist, den meist genannten Stichtag für den Übergang von der Vorgeschichte zur Geschichte der Freimaurerei, den 24. Juni 1717, als sich vier Londoner Logen zur ersten Großloge der Welt zusammenschlossen, als Gründungsdatum der modernen Freimaurerei herauszustellen, ganz abgesehen davon, dass kaum belastbare Quellen für Datum und Ereignis vorhanden sind.9 Dennoch war die Londoner Gründung von großer, ja ausschlaggebender Bedeutung für die weitere Entwicklung der Freimaurerei. Denn mit der Großloge von London und Westminster begann die logenübergreifende Institutionalisierung und inhaltliche Ausrichtung der Freimaurerei, die die organisatorischen und konzeptionellen Grundlagen für die nun einsetzende dynamische Entwicklung der Freimaurerei in England und sehr bald auch über England hinaus geschaffen hat. Die Londoner Großloge gab sich 1723 ihre erste Verfassung, die nach ihrem Verfasser, dem aus Schottland stammenden presbyterianischen Geistlichen James Anderson, die »Andersonschen Konstitutionen « genannt werden, konzeptionell aber sehr wesentlich auf den eigentlichen Vater der modernen Freimaurerei, John Theophilius Desaguliers (1683–1744) zurückgehen.10 Desaguliers wurde 1719 zum dritten Großmeister der Londoner Vereinigung gewählt. Er war französischer Emigrant und protestantischer Geistlicher, gehörte zum Freundeskreis von Isaac Newton, war als Naturphilosoph Mitglied der Londoner »Royal Society« und führte dem Freimaurerbund mit dem Herzog John von Montague den ersten bedeutenden Vertreter des englischen Hochadels zu, der dann selbst 1721 Großmeister wurde.


In Deutschland sind die »Andersonschen Konstitutionen« als die »Alten Pflichten« bekannt und richtungweisend geworden.11 Programmatisch ist vor allem die erste dieser Pflichten mit der Überschrift: »Von Gott und der Religion«: »Der Maurer ist als Maurer verpflichtet, dem Sittengesetz zu gehorchen; und wenn er die Kunst recht versteht, wird er weder ein engstirniger Gottesleugner, noch ein bindungsloser Freigeist sein. In alten Zeiten waren die Maurer in jedem Land zwar verpflichtet, der Religion anzugehören, die in ihrem Lande oder Volke galt, heute jedoch hält man es für ratsamer, sie nur zu der Religion zu verpflichten, in der alle Menschen übereinstimmen, und jedem seine besonderen Überzeugungen selbst zu belassen. Sie sollen also gute und redliche Männer sein, Männer von Ehre und Anstand, ohne Rücksicht auf ihr Bekenntnis oder darauf, welche Überzeugungen sie sonst vertreten mögen. So wird die Freimaurerei zu einer Stätte der Einigung und zu einem Mittel, wahre Freundschaft unter Menschen zu stiften, die einander sonst ständig fremd geblieben wären.« Die »Alten Pflichten« enthalten tatsächlich die bis in die Gegenwart gültigen Grundlagen der Freimaurerei: Die moralische Verpflichtung des Maurers, den von ihm geforderten Ha- 9 Hinweise finden sich in der zweiten Ausgabe der »Konstitutionen« von 1738. 10 Vgl. hierzu und zum folgenden Voges, Michael: Aufklärung und Geheimnis. Untersuchungen zur Vermittlung von Literatur- und Sozialgeschichte am Beispiel der Aneignung des Geheimbundmaterials im Roman des späten 18. Jahrhunderts, Tübingen 1987, S. 24. 11 Eine Wiedergabe der »Alten Pflichten« findet sich in: Lennhoff, Eugen/Posner, Oskar/Binder, Dieter A.: Internationales Freimaurer Lexikon, München 2000, S. 16–23. 17 bitus von Ehre und Anstand, den Verzicht auf trennende religiöse Festlegungen und die Praxis der Toleranz als Grundlage von Einigkeit und Freundschaft. Nach der Gründung der ersten Londoner Großloge im Jahre 1717, zu der 1751 eine zweite, die »Grand Lodge of Ancients« hinzukam12, erfolgte eine stürmische Entwicklung der Freimaurerei. In England, Schottland und Irland – als den Heimatländern der modernen Freimaurerei – wuchs die Zahl der Logen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts auf über 1000 an.13 Schnell griff die Freimaurerei auf die überseeischen Gebiete Großbritanniens über, insbesondere auf die amerikanischen Kolonien, die späteren Vereinigten Staaten. 1733 wurde von England aus die Provinzial-Großloge von Massachusetts in Boston eingesetzt. Wenige Jahrzehnte später sollten Freimaurer in der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung sowie der Verfassungsgeschichte der USA eine führende Rolle spielen.14 Auch auf dem europäischen Kontinent breitete sich die Freimaurerei rasch aus. Wie in England fanden die Ideen, Organisationsformen und Symbole des Bundes eine große Resonanz. Selbst der schon früh einsetzende Widerstand der katholischen Kirche konnte seine Ausbreitung nicht verhindern, zumal die päpstlichen Verurteilungen nicht in allen Bistümern veröffentlicht wurden und viele hochrangige katholische Geistliche dem Freimaurerbund angehörten. Das erste Land außerhalb Großbritanniens, in dem die Freimaurerei auf breiter Basis Fuß fasste, war Frankreich. Spuren von Logengründungen in Paris lassen sich bis in das Jahr 1725 zurückverfolgen. Aufklärerische Diskursfreude, später aber auch die Neigung zu phantasievollen Hochgradsystemen, waren kennzeichnend für die weitere Entwicklung der französischen Freimaurerei. Bedeutsam war auch die Entwicklung der Freimaurerei in den Niederlanden, wo nach 1731 zahlreiche Logen entstanden. In diesem Jahr war im Haag Herzog Franz Stephan von Lothringen, später Ehegatte Maria Theresias und als Franz I. römisch-deutscher Kaiser, von einer Deputation hochrangiger englischer Freimaurer in den Freimaurerbund aufgenommen worden.


Die erste Loge in Deutschland entstand 1737 in Hamburg (Loge en Hambourg, seit 1743 »Absalom«, heute »Absalom zu den drei Nesseln«). Bald folgten Logengründungen in Dresden, Berlin, Bayreuth und Leipzig. Der preußische Kronprinz Friedrich (der spätere Friedrich der Große) wurde bereits 1738 in die Freimaurerei aufgenommen. Die quantitative Dynamik der deutschen Freimaurerei war bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein beträchtlich. In Deutschland, im »alten Reich«, wurden in den ersten 50 Jahren der Existenz von Logen, d.h. von 1737 bis 1787, rd. 400 Logen gegründet, in denen ca. 25.000 Mitgliederaufnahmen stattfanden. Zu einer weiteren Gründungswelle kam es im (neuen) Deutschen Reich nach 1871. So entstanden zwischen 1871 und 1925 weitere 300 Logen, und die Zahl der Mitglieder aller deutschen Logen erreichte Mitte der 1920er Jahre ihren Höchststand mit über 80.000. Dabei dominierten die »altpreußischen« Großlogen mit annähernd 70 Prozent der deutschen Freimaurer. Zwar hatte der Zusammenbruch der 12 Die Großloge der »Ancients« beanspruchte die größere freimaurerische Legitimität für sich und nannte die Gründung von 1717 abwertend Großloge der »Moderns«. Im Jahre 1813 schlossen sich beide Großlogen zur »United Grandloge of England« zusammen, in der die Tradtion der »Ancients« dominierte. 13 Vgl. Clark, Peter: British Clubs and Societies 1580–1800. The Origins of an Associational World, New York 2000, S. 309–349. 14 Vgl. Bullock, Steven C: Revolutionary Brotherhood – Freemasonry and the Transformation of the American Social Order 1730–1840, Chapel 1996; Hodapp, Christopher: Solomon’s Builders: Freemasons, Founding Fathers and the Secrets of Washington D.C., Berkeley CA 2007. 18 Hohenzollern-Monarchie kaum negativen Einfluss auf die Expansion der Großlogen – der Zustrom zu den Logen war vielmehr nach 1918 besonders stark –, doch führte die Loyalität mit den untergegangenen königlichen Protektoren bei einer generell vorwiegend nationalkonservativen Einstellung der meisten deutschen Freimaurer zu einer oft feindlichen, bestenfalls abwartend indifferenten Einstellung zur Weimarer Republik.15 Gleichzeitig war das deutsche Großlogensystem stark zersplittert. 1933 – vor dem Untergang in der NS-Zeit – bestanden in Deutschland elf Großlogen, von denen allerdings zwei – der Freimaurerbund zur Aufgehenden Sonne und die Symbolische Großloge von Deutschland – von den anderen nicht als regulär anerkannt wurden.16 Die soziale Zusammensetzung der deutschen Logen war durch den dominierenden Anteil des »gehobenen Bürgertums« bestimmt (Beamte und – oft ehemalige – Offiziere; Wissenschaftler, Lehrer, Künstler; Unternehmer, Banker, leitende Angestellte). Die religiöse Struktur war vorwiegend protestantisch: Die Loge »Apollo« in Leipzig z.B. hatte im Jahre 1906 89,2 Prozent evangelisch-lutherische, 3,2 Prozent katholische und 6,0 Prozent jüdische Mitglieder.17 Die jüdischen Mitglieder in »humanitären« Großlogen beliefen sich – so ermittelte und schrieb der »Verein deutscher Freimaurer« in einer Erwiderungsschrift18 auf Ludendorffs Antifreimaurerpamphlet »Vernichtung der Freimaurerei durch Enthüllung ihrer Geheimnisse« – Ende der zwanziger Jahre auf ca. 3000. Bei 24.000 Mitgliedern der »humanitären« Großlogen in Deutschland würde dies einen beträchtlichen jüdischen Anteil bedeuten und unterstreichen, wie sehr sich deutsche Juden vor der Nazi-Katastrophe als deutsche Bürger fühlten und an Assoziationen des deutschen Bürgertums Anteil hatten. Freimaurerei als gesellschaftliches Erfolgsmodell – warum? Die für die dynamische Entwicklung der modernen Freimaurerei in den ersten Jahrzehnten nach ihrer Begründung bestimmenden Faktoren lassen sich mit den Stichworten »historische Erinnerung« und »gesellschaftlicher Wandel« umschreiben. »Historische Erinnerung« bedeutet vor allem Erinnerung an die europäischen Religionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts, die zu einem hohen Toleranzbedarf und zur Sehnsucht nach gesellschaftlichen Brückenschlägen zwischen den religiös zerstrittenen Parteien geführt hatten. »Gesellschaftlicher Wandel« meint zunächst den vieldimensionalen Prozess der Säkularisierung, Individualisierung und Autonomisierung, der im 18. Jahrhundert mit Macht einsetzte. Dieser Wandel von Sinnstrukturen und Weltdeutungen ging mit tiefgreifenden Veränderungen der sozialen und ökonomischen Verhältnisse einher. Die zunehmende standesmäßige und berufliche Differenzierung der Gesellschaft, die sozio-politischen Funktionsverlagerungen auch beim Adel, das allmähliche Entstehen von Bürgertum und modernen kapitalistischen Wirtschaftsformen, das erhöhte Bildungsangebot, die Urbanisierung und die – unter dem Vorzeichen 15 Vgl. Höhmann, Hans-Hermann: Europas verlorener Friede, die national-völkische Orientierung innerhalb der deutschen Freimaurerei und die »freimaurerische Erinnerungspolitik« nach dem Zweiten Weltkrieg, in diesem Band, S. 51–87. 16 Vgl. Steffens, Manfred: Freimaurerei in Deutschland. Bilanz eines Vierteljahrtausends, Flensburg 1964. 17 Hoffmann, Stefan-Ludwig: Die Politik der Geselligkeit, a.a.O., S. 368. 18 Die Vernichtung der Unwahrheiten über die Freimaurerei durch 116 Antworten auf 116 Fragen, herausgegeben vom Verein deutscher Freimaurer, Leipzig 1928, S. 33.

19 des europäischen Kolonialismus – sich auch international, ja interkontinental verstärkende räumliche Mobilität: all das führte dazu, dass Menschen aus ihren traditionellen Bindungen und sozialen Verankerungen gelöst wurden und auch in der Wahrnehmung ihres eigenen Selbst über Generationen hinweg praktizierte Deutungsmuster ablegen mussten.19 Diese Veränderungen führten nicht nur zu Verunsicherungen, ja Krisen. Sie ließen auch eine ausgeprägte Neigung entstehen, neue Einstellungs-, Bindungs- und Verhaltensoptionen aufzuspüren und zu nutzen. Es entwickelte sich eine Nachfrage nach neuen Formen von gesellschaftlichen Vernetzungen – modern ausgedrückt nach neuen Formen von »sozialem Kapital« – und so wurde das 18. Jahrhundert zur Epoche der Assoziationsbildung und Geselligkeit. Die Freimaurerei erwies sich offensichtlich als eine besonders attraktive Form neuer gesellschaftlicher Einbindung. Dies resultierte ebenso aus der breiten Nutzbarkeit des Bundes für die Befriedigung vieler sozialer, weltanschaulicher, religiöser und politischer Bedürfnisse wie aus der Möglichkeit, die Logen und Logensysteme durch Veränderungen weiterzuentwickeln und an konkrete Bedürfnisse anzupassen. Es waren vor allem vier Funktionen, oder besser: Funktionsgruppen, welche die Freimaurerei rasch zu einer gesamteuropäischen sozialen und kulturellen Bewegung werden ließen: • die soziale Funktion, Menschen über Standesgrenzen hinweg als »bloße Menschen« (Lessing), als Mitmenschen, als Menschenbrüder zusammenzuführen und ihnen neue gesellschaftliche Netzwerke, neue Geltungs- und Selbstverwirklichungsmöglichkeiten sowie neue Formen von Geselligkeit und Unterhaltung anzubieten; • die ideell-geistesgeschichtliche Funktion, Menschen dazu aufzufordern, sich der eigenen Vernunft zu bedienen, sich am autonomen Gewissen zu orientieren und im Sinne eines »nichts geht über das laut denken mit einem Freunde« (Lessing) nach dem jeweiligen freimaurerischen Grundverständnis den Diskurs über die Ideen der Aufklärung und andere, vor allem das Ritual und die als »Hieroglyphen« verstandenen Symbole20 betreffende Themen zu führen; • die religiöse Funktion, Menschen durch ein neues, aber auf alten Wurzeln beruhendes, zunehmend esoterisch ausgerichtetes Symbolsystem eine optimistisch-positive Einstellung zu sich selbst, zum Kosmos und zur Transzendenz zu vermitteln und die im 18. Jahrhundert weit verbreitete Unzufriedenheit mit dem etablierten Kirchentum zu kompensieren, und • die politische Funktion, Menschen in den Logen der absolutistisch verfassten Gesellschaft einen unabhängigen »Moralischen Innenraum« (Reinhart Koselleck) zu bieten, in dem das »Geheimnis der Freiheit« als »Freiheit im Geheimen« erlebt werden konnte, in dem es später aber auch – etwa im Falle der »Strikten Observanz« und der mit der Freimaurerei verbundenen Illuminaten – zu politischen Instrumentalisierungen der Freimaurerei kommen konnte. Es kann nicht überraschen, dass dieses ja durchaus nicht homogene Bündel von Motiven bald zu mannigfaltigen Veränderungen und Verzweigungen der Freimaurerei geführt hat. Adolph Freiherr Knigge, Zeitzeuge und Mitgestalter als Freimaurer, Illuminat und kritischer 19 Vgl. van der Loo, Hans/van Reijen, Willem: Modernisierung. Projekt und Paradox, München 1992, S. 62f. 20 Vgl. Maurice, Florian: Freimaurerei um 1800. Ignaz Aurelius Feßler und die Reform der Großloge Royal York in Berlin, Tübingen 1997, S. 31f. 20 Geist, beschrieb die masonische Landschaft im kontinentalen Europa der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts folgendermaßen:

»Man weiß, dass es Freymaurer-Systeme gibt, deren ganze Verfassung auf politische Pläne und Einwirkung in die Staaten beruht; man weiß, dass es andere gibt, die dergleichen Operationen als schädlich und unerlaubt verbannen. Man weiß, dass es Systeme gibt, welche die Einführung einer natürlichen allgemeinen Religion zum Endzweck haben, und selbst die Lehre Jesu nach dieser Art erklären; man weiß, dass es andere gibt, welche die Aufrechterhaltung der geoffenbarten christlichen Religion zum Grundpfeiler machen. Man weiß, dass es Systeme gibt, welche speculative Wissenschaften zum Gegenstand des Ordens machen; man weiß, dass andere die Grenzen der Maurerey auf mögliche Tätigkeit zum Guten einschränken. Man weiß, dass jene besondere Überlieferungen in der Hieroglyphen-Sprache (zu entdecken glauben), wo diese nur nach conventionellen Zeichen zu Beförderung grösserer Vereinigung suchen, folglich jene in den Geheimnissen die Hauptsache, diese (in ihnen) nur (einen) Mittelzweck finden. Man weiß, dass einige Systeme, alles was gut und edel ist, als einen Gegenstand des Ordens ansehen; andere hingegen nur einen einzigen, bestimmten, speciellen Zwecke nachzustreben (für) rathsam halten; dass einige die möglichste Ausbreitung suchen; andere sich auf eine kleine bestimmte Zahl einschränken. Jedes dieser Systeme muss natürlicherweise in der Art, ihre Zöglinge zu bilden, in ihren Aufnahmen, in der Wahl der Mitglieder, in ihren Reden, Handlungen und in den Mitteln, welche sie wählen, einen Weg einschlagen, der oft dem schnurgerade entgegen ist, worauf andre wandeln. Wie werden sie je in einem Punkt zusammentreffen?«21 Auf dem Hintergrund dieser Entwicklung muss auch die gern betonte Beziehung der Freimaurerei zur Aufklärung problematisiert werden. Freimaurerlogen konnten durchaus im Sinne der Aufklärung Modelle bürgerlicher Gesellschaft sein, in denen sich bürgerliche Moral diskursiv erarbeiten und im Miteinander der Brüder praktisch verwirklichen ließ. Geheimnis und Geheimhaltung dienten dabei als Schutz, weil die politischen Verhältnisse ein öffentliches Verfolgen derartiger Absichten noch nicht zuließen.22 Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Mitglieder der Logen, die Logen selbst oder gar die sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts herausbildenden freimaurerischen Systeme durchweg und generell »Beförderer der Aufklärung«23 waren. Aufklärung war eine Möglichkeit unter vielen. Aufklärer »konnten die Freimaurerlogen als Möglichkeit des lokalen Zusammenkommens nutzen«, doch 21 Versuch über die Freymaurerey, oder Von dem wesentlichen Grundzwecke des Freymaurer-Ordens; von der Möglichkeit einer Vereinigung seiner verschiedenen Systeme und Zweige; von derjenigen Verfassung, welche diesen vereinigten Systemen die zuträglicheste seyn würde; und von den Maurerischen gesetzen. Aus dem Französischen des Br. B. *** übersetzt durch den Br A.R. v. S. 1785 (5785), S. VI—VIII. 22 Vgl. hierzu und zum folgenden Vierhaus, Rudolf: Aufklärung und Freimaurerei in Deutschland, in: ders.: Deutschland im 18. Jahrhundert. Politische Verfassung, soziales Gefüge, geistige Bewegungen, Göttingen 1987, S. 110–125, hier S. 118. 23 Vgl. die Beiträge in: Balász, Éva, H./Hammermayer, Ludwig/Wagner, Hans/Wojtowicz, Jerzy: Beförderer der Aufklärung in Mittel- und Osteuropa. Freimaurer, Gesellschaften, Clubs, Berlin 1979. 21 umgekehrt waren »die Logen nicht auf die Aufklärung als Inhalt angewiesen«, und auch die Betrachter, die gern einen durchgehend engen Zusammenhang zwischen Freimaurerei und Aufklärung feststellen würden, müssen der Feststellung von Rudolf Vierhaus zustimmen, dass auch ganz andere als Aufklärungsgedanken in die Freimaurerei eingeströmt sind, selbst solche, die direkt anti-aufklärerischen Charakter hatten. Für Vierhaus wurde dieser Einstrom durch diejenige Tendenz der Freimaurerei begünstigt, »die neben dem Versinken in bloße Honoratiorengeselligkeit ihre größte Gefahr ausmacht: die Anfälligkeit für Esoterik, Pseudomystik und Geheimnistuerei als Ausdruck einer selbst beigelegten, nach außen nicht rechtfertigungsbedürftigen Bedeutsamkeit«.24