Melencolia § I

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Ergänzende Ausarbeitungen von Dr. Ernst Theodor Mayer zur Seite "Melancholia"


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Autor

Dr. Ernst Theodor Mayer

Ergänzungen und abweichende Definitionen

Das Flugtier, das Dürers Bild-Überschrift auf einer Banderole trägt, hat einen Drachenschwanz und ist niemals eine Fledermaus - befragen Sie die Zoologie (!), sondern der Alchemie-Ringdrache, hier mit geöffnetem Ring, weil er auf der Flucht ist vor dem Licht Gottes, das in der Finsternis scheint (Johannes-Evangelium: 1,5). Melencolia § I ist das einzige seiner Bilder, das Dürer tituliert hat. Dieser Original-Titel aber wird nicht ernst genommen. Man hält ihn bislang für eine ältere Schreibweise, die jedoch in keinem Lexikon als synonym mit Melancholie zu finden ist. Der gut lesbare Titel besteht aus 12 Zeichen; das §-Zeichen wird als 'Ziervirgel' fast immer weggelassen d.h, es wird als ein "signum sectionis" oder Kapitel-Zeichen einfach ignoriert. Melencolia § I aber ist das Anagramm für "Cameleon § LI I" (s.u.).

Und diese Verschlüsselung hat nun schon 496 Jahre Bestand, auch weil ein bedeutender, jedoch überaus "weitsichtiger" Humanist, Joachim Camerarius, latinisierter Kammermeister (1500-1574), im Jahre 1541 ohne die von ihm benötigte Nah-Brille "Melencolia § I " in gutem Latein zwar aber 1.) als "Melancholia" falsch gedeutet hat. Eigentlich hätte Camerarius als ausgewiesener Philologe es wissen müssen, dass aus einem epsilon niemals ein alpha, insbesondere aus dem zweiten "e" in Melencolia nie ein "a" für das griechische "melas" = schwarz wird. Aber er hat die Buchstaben eben nicht lesen können und sich auf sein physiognomonisches Vorurteil verlassen (Dürer nützt es zur Verschlüsselung).

Ausserdem beschrieb Camerarius in 175 Wörtern: 2.) ein gesenktes Haupt (demisso capite), 3.) mit niedergeschlagenen Lidern starrt sie auf die Erde (palpebris deiectis humum intuetur), 4.) den 12-Sterne-Kranz (= vertex siderius - s. Dürers Muttergottes auf der Mondsichel) auf Melencolias festlich gescheitelter Frisur als vernachlässigtes und zerzaustes Haar (capillo est neglectiore, & diffuso) schließlich 5.) das Quadrat gar als Fenster mit Netzen [!] von Spinnen und deren Jagd (fenestram à pictore aranearum taela, & venationem harum) - Text s. Rupprich I.,1956, S.319. Nach Weitzel, 2009, S.150 meine Camerarius beim Netze-von-Spinnen-Vergleich das Astrolabium-Sternkarten-Netz. - Oder ist der Strahlenkranz des Meteor das Netz und das 'Flugtier' die 'Spinnen' auf der Jagd nach Beute? - Die meisten Camerarius-Fehler hat man in den letzten 479 Jahren berichtigt, nicht aber die kaum noch korrigierbare Kennzeichnung 'Melancholia'. Dennoch bildet sie keine Erkrankung ab, gehört auch nicht in die Reihe der vier Temperamente, sondern zu dem "Drei-Stufen-Weg zu Gott": purgatio-illuminatio-perfectio! Höhepunkt auf dem Weg: ILUMINATIO, dargestellt von "Dürer als Melencolia § I" und das Ziel: PERFECTIO, dargestellt von Hieronymus im Gehäus, verschenkte Dürer darum oft zusammen.

Vor allem aber illustriert Dürer mit Melencolia § I nicht nur die "Illuminatio" sondern sich selber auf der Höhe seines Schaffens, und zwar mit seinem Heräsie-Vorwürfe fürchtenden, daher mehrfach verschlüsselten Selbstbild als weiblichen "Vollender", mit einem 12-Sterne-Kranz der Himmelsbraut als "Schöpfer", als "gottgewordenen Menschen", der die von Pico della Mirandola, 1486 ff., formulierte individuelle Aufgabe des Menschen, der seine Gottebenbildlichkeit ernst nimmt, durch kreative Leistungen "Gottes Sohn und mit ihm eins zu werden" ("filium Dei fieri et uniri Deo"), Himmel und Erde, den Kosmos zu vermählen, und der das "maritare mundum" gemäß der 13. Pico-These zur weißen = wissenschaftlichen Magie gerade vollbringt bzw. vollbracht hat und den "Welten-Sabbath", die "quies creaturarum", feiert.

Deshalb die auf dem B 74 Kupferstich zur Darstellung gebrachte kontemplative, ruhend-bewegungslose Tätigkeit Melencolias, im Augenblick ihrer Erleuchtung - durch jenen "Blitzstrahl der Wahrheit" (Oratio LINK § 32). Keinerlei Anzeichen von Trägheit (acedia), bei dem in die Weite gerichteten "überwachen" Blick - "wide awake" - der Divinità von Dürer: Der Mensch verbinde den "Raum zwischen Zeit und Ewigkeit, sei Band des Kosmos, ja seine hochzeitliche Vereinigung" - Ein großartiger Gedanke, nachzulesen in Picos Rede über die Menschenwürde, 1486 (Reclam Nr.9658, S.4/5 LINK § 2). Allerdings auch ein herätischer Gedanke - schon vor der Reformation, die diese emanzipatorische Illustration und damit den Durchbruch zum eigenständigen Denken, das Dürer genial ins Bild setzt, früher verfolgt hat (Verbrennung von Michael Servetus in Genf: 27.10.1553) als die katholische Seite (Verbrennung von Giordano Bruno in Rom: 17.2.1600), indem sie den sündigen Menschen auf das Podest stellte, der Gerechtigkeit aus Gott [Röm.1,17] 'sola fide', nur durch Glauben, bei Katholiken auch durch Liebeswerke erreicht.

Entschlüsseltes Selbstbildnis

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Pico della Mirandolas Commento von 1486 zu einem Liebeslied von Benivieni ist m.E. der geometrisch erschlossene "Zufall", der das von Panofsky/Saxl, 1923, S.1 erwartete Melencolia - "Programmkonzept.....zutage gebracht hat"; aus Commento S. 208/209: "demjenigen, welcher die Vielheit in seine Einheit zurückzuführen weiß, müssen wir, wie Platon schreibt, mit Recht als ob er ein Gott wäre folgen (tamquam Deum eum sequi debemus), einem gewiß göttlichen Menschen u. irdischen Engel, fähig, in der Gesellschaft anderer betrachtender Engel auf der Jakobsleiter nach Ermessen hinauf- u. hinabzusteigen (uomo certamente divino angelo terrestre, atto, per la scala di Iacob, in compagnia delli altri contemplativi angeli, pro arbitrio ad ascendere e descendere." - Es geht um's Ganze, um die Re-Integration der Ganzheit des Menschen, um Behebung des von Adam angerichteten Schadens, "wo mitten im Tode das Leben geboren wird" - wie Jacob Böhme 1612, 98 Jahre später, im 19. Kapitel, 12. Absatz , seiner "Aurora oder die Morgenröte im Aufgang" schreibt. -
Der Tod der Mutter am 17. Mai 1514 hat m.E. bei Dürer diese "Emotion" ausgelöst und ihn zur Zentroversion, zum Festmachen gegen den eigenen Tod, zum "maritare mundum", veranlasst, "den Kosmos zu vermählen" in Gestalt der 12-Sternen-bekränzten Himmelsbraut nach der Offenbarung des Johannes 12, 1 und dem Hohen Lied Salomos 6 Vers 10: "pulchra ut luna, electa ut sol".


Sinnführende Linien und memorative Diagramme

(Bitte zum Vergrößern ins Bild klicken) Den Melancholie-Deutern zum Trost: Depressions-Symptome als Vexierbilder in den Rockschössen von Melencolia § I

Es ist davon auszugehen, dass Albrecht Dürer Bauhütten-Bruder in Nürnberg war und somit verpflichtet, die memorativen Diagramme, die Proportionsschlüssel als Bauhütten-Geheimnisse strikt zu bewahren. Daran hat sich Dürer auch gehalten. Darum ist es eigentlich gar nicht so erstaunlich, dass zwei zentrale Bauhütten-Geheimnisse, das Hexagramm und das Achtort, insbesondere das Oktogon im Achtort, obwohl sie nun einmal als Grundriß und Kreuzriß zum "sperrig ins Bild gekanteten" Eckstein konstruktiv gehören, fast fünfhundert Jahre lang nicht beachtet wurden d.h., immerhin "streng geheim" geblieben sind - wie auch die gleichseitigen Dreiecke, das Um-Quadrat und die "Kugel des Selbst" nicht verstanden wurden.

Die geometrische Bildanalyse ergibt "sinnführende Linien":

  • 1. bei dem in gängigen Melencolia- Deutungen oft beiläufig erwähnten "Putto" ist es nach meiner Kenntnis bislang nicht aufgefallen, dass dieser auf dem Mühlstein des Fortuna-Rades geometrisch exakt im Fadenkreuz des Goldenen Schnittes sitzt und fleißig am Beginn seines Erkenntnisweges (hat ja bereits Stummelflügel (!) und blickt mit dem linken Auge auf das "Selbst der Mutter" - siehe Abb.1 ) mit einem Gravierstichel (siehe Korrektur-Schaber bzw. Tafel-Glätter am T-förmigen oberen Ende) eine Platte graviert, mit genau derselben Handhaltung wie das "mütterliche" Vorbild den Zirkel hält, dessen "Öffnung" dem Radius der "Kugel des Selbst" entspricht. Dazu der Hinweis auf S.8/9 in Ioannis Picos "Oratio de hominis dignitate": "medium te mundi posui" sagt Gott zum Menschen: "In die Mitte der Welt habe ich Dich gesetzt...als Former und Bildner deiner selbst" - "zur Arbeit an sich selbst und der Welt" (Thimme, Eva-Maria, S.79). Und zu der dem Fleiß des Kindes doch ganz entgegengesetzten Haltung von Melencolia das auf Mathematik bezogene Novalis-Zitat (s. Google): "Alle Tätigkeit hört auf, wenn das Wissen eintritt".
  • 2. hatte Dürer die Konstruktions-Idee durch beide exakt gleichen Bildhälften mit den rechtsunten-linksoben-Halbseiten-Diagonalen die Linie rechts durch die rechte Pupille des führenden Melencolia-Auges und links exakt durch den Fernpunkt der Zentralperspektive zu ziehen. Mich führte das zu dem Befund, dass Dürer damit das gleichzeitige doppelte Sehvermögen des angelo terrestre per sei gradi von Picos Commento, 1486, geometrisch mitgeteilt hat, nämlich des gottebenbildlichen Menschen, der nach Erklimmen der 6. Leitersprosse als Status-Symbol zwar flug-untaugliche Cherubim-Flügel erhält, mit seinen "dua visi" jedoch irdische wie himmlische Bereiche jetzt simultan betrachten kann und als "Vollender der Schöpfung" -Sprosse um Sprosse- die eigene Divinität erlangt.
  • 3. das rote Polyeder-Um-Quadrat (Abb.1) ist der 'Kreuzgang des 4-Viertelkreis-Kränzleins der Meditation', die beim 'worthaften Nachsinnen' sich jeweils konzentriert auf 4 Aspekte: Gesetz, Evangelium, Buße, Gebet - zugleich umgreift es beide Dreiecke (= 6 Ecken) als Diagramm des 10-Sephirot-Lebensbaumes der Emanationen Gottes und der 10 Gebote. Picos Conclusio cabalistica Nr. 56 (Opera S. 112) lautet: wer das Quaternarium in das Denarium zu entfalten wisse, der gelange zu den 72 Buchstaben (Engeln) des Namen Gottes. Die Anzahl 72 erreicht der Kupferstich durch 36 sichtbare und 36 unsichtbare, aber durch Geometrie, Gematrie und Cabala zu erschließende Befunde (darunter 20 Vexierbilder).

Aus der Kugel, scheinbar abseits vom Bildzentrum links unten gelegen (sie ist als Nr. 11 der Bildbeschreibung aller in Abbildung 1 sichtbaren Dinge aufgeführt), vorerst letzte nicht-sichtbare sinnführende Linien. Zunächst wird die Kugel als "Dürers Selbst" gedeutet. Sie hat auch einen eigenen "Augpunkt", denn zentralperspektivisch gezeichnet müßte sie ein Oval sein. Der Augpunkt ist zugleich Schnittpunkt der x- und y-Achse mit "Dürers Selbstentfaltung" im 1. Quadranten. In seinem christo-morphen Selbstbild von 1500, 14 Jahre vor Melencolia § I, hatte Dürer noch Klartext geschrieben: "ipsum me propriis sic effingebam coloribus aetatis" d.h.: "so schuf ich mich selbst mit unvergänglichen Farben". In Melencolia § I ist genau diese Aussage des "Ichbewußtseins plus Unterbewußten" jetzt verschlüsselt in dem mondhellen Kreisrund, aus dem wie ein Pfauen-Schwanz (cauda pavonis) im Viertelkreis "Dürers grandioses Selbst" (omnes colores) sich entfaltet:

  • 4. Zentroversion (sich festmachen gegenüber dem eigenen Tod) zur AD-Signatur in der Sitz-Stufe, unten rechts;
  • 5. vom Augpunkt der Kugel (Mikrokosmos) zum Augpunkt der Zentralperspektive (Makrokosmos);
  • 6. durch das Hexagramm zum Kern des herabstürzenden Meteors (Glückszeichen ! am 7.11.1492 für Maximilian I);
  • 7. durch Hexagramm und Polyeder-Eckstein = Christus, entlang dem Leiterholm geradewegs zu Gott (Ev.Joh.14,6);
  • 8. durch die Mühlstein-Zentralbohrung, über die rechte Cherub-Flügelspitze zum Magischen Quadrat und
  • 9. durch den Zirkelkopf und Melencolias rechte Pupille zum Glockenstrang, der aus dem Bild herausführt - man sieht nicht, wer ihn in Händen hält (ergeben Sanduhr- u. Glocken-Kontur ein überdimensioniertes Halbprofil-Vexierbild?).

Magisches Quadrat: Geometrie und Gematrie

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Kreuzriß des Polyeder projiziert dessen 12 Ecken in's Achtort-Oktogon

Buchstaben-Stellenwert und Buchstaben-Zahlzeichen des hebräischen Alphabets

Dürer benutzte das Magische Quadrat vor allem für seine Polyeder-Geometrie (vgl. Abb. 4 mit 1); 1514 war es schon gut 500 Jahre alt. An der Kombination der Zahlen hat Dürer nichts geändert, lediglich die "5" für Mai, Todesmonat der Mutter, auf den Kopf gestellt sowie den Formen der Null, der 5, 6 und der 9 andeutungsweise Schlangen-Gestalt gegeben.

Nachforschungen zur "Lesbarkeit" des Magischen Quadrats sind m.E. sinnvoll, wenn gefragt wird, was Dürer - neben dem Todestag seiner Mutter, der umgedrehten Signatur in der vierten Zeile: D 1514 A und seinem Alter seinerzeit: 43 im Zahlendreher der Dauersumme 34, gelesen haben könnte. Möglicherweise aus dem von uns gelb eingefassten Neuner-Quadrat oben links (wenn auch ohne die Zahlen 1-9 des sog. Saturn-Siegel !). - Bei solcher "Verkürzung" des Jupiter-Quadrats, wird "gematrisch" das wundermächtige Wort JHSWH sichtbar, durch Absenken der Summe 21 = shin (liest man sie als den Buchstaben Nr. 21 im hebräischen Alphabet=Stellenwert) aus der ersten Zeile in das "Herz des Tetragramms" der zweiten Zeile. Denn 26 ist hier Summe der 4 Zahlzeichen der Buchstaben des unaussprechlichen Gottesnamens JHWH. Der Buchstabe "shin" inmitten des Tetragramms macht es zum Pentagramm, dem "Shem ha-meforash" JHSWH. Dadurch werde nach christlich-cabalistischer Vorstellung das Beten zu einem Reden mit Gott, der aus Liebe die Menschen erlöse; der Shem ha-meforash = Weg zur pax unifica und Schlüssel zum verschlossenen Paradies (Picos Conclusio cabalistica sec. op. prop. 57).

Anagramm-Auflösung:

Melencolia § I = Cameleon § LI I (Richter, Leonhard G., 2007):

  1. Cameleon (diese Schreibweise nur im Vulgata-Text von 3. Mose 11 Vers 30) ist die von Pico della Mirandola erfundene Gattungsbezeichnung für den Menschen (s. LINK Oratio § 7,32 und Seite 10/11), der nicht nur wie das Tier-Cameleon die Farbe, sondern auch seinen Charakter ändern könne: ins Tierische entarten oder göttlich werden;
  2. § LI = Kapitel 51 im 8. Buch "Naturalis historia" von Plinius d.Ä. (23-79), das nur vom Cameleon handelt;
  3. I = EINS = Tetragramm = GOTT als fons numerorum, Quelle aller Zahlen.

Jahrhundertelang ist Dürers Bild-Titel als Melancholie missdeutet worden. Spät erst als Anagramm untersucht, konnte die Botschaft bei fehlendem §-Zeichen nicht überzeugend entschlüsselt werden, z.B. mit ILLE ICON MEA oder LIMEN CAELO I (Durer Decoded, 2004 - 2007, s. Melencolia I.1), weil man das signum sectionis "§" einfach nicht mitgezählt hat, und der Buch-Titel "Melencolia, I" ist selbst mit 12 Zeichen nicht der Original-Titel von Albrecht Dürers Stich.

Dürer hat seinen B 74 Original-Titel offenbar nur "Würdigen und Weisen" insinuiert d. h., die Anagramm-Auflösung in die Falte unter ihrer Brust ,gesteckt', vielleicht noch zugeflüstert. Und Dürers Botschaft hat nun einmal 12 Zeichen, die -bei der Anagramm-Auflösung von Leonhard G. Richter erstmals alle verwendet - dieses Dürer-Rätsel schließlich gelöst haben; veröffentlicht in: "Die Weltchiffre des Menschen bei Pico della Mirandola und Albrecht Dürer", Rodopi, Amsterdam, 2007.


Der von Dürer insinuierte Melencolia § I - Titel lautet: MENSCH GOTT bzw. "gottgewordener Mensch".

Bedeutung für Freimaurer

Das Standardwerk von Eugen Lennhoff von 1929 hatte noch in der 1932-er Auflage auf Seite 2 des Buchblocks Dürers Melencolia § I als sog. Frontispiz = Stirnseite mit dem Untertitel: "Die Melancholie" (s. Abb. in Wikipedia: 'Freimaurerei'). Die Deutung des B 74-Kupferstichs von Dürer überlässt Lennhoff dem Leser, berichtet aber auf S. 50 davon, dass Albrecht Dürer seinen "Hüttenbruder" Kaiser Maximilian I. "als Baumeister in der 'Ehrenpforte' in Holz geschnitten" hat. - Als von Freimaurer-wiki zuvorkommend behandelter Gast, weise ich neben der Verwendung von Hexagramm, Achtort und Achtort-Oktogon hier lediglich hin auf weitere in Melencolia § I von Dürer verwendete Perspektiven und Zeichen.

Mit der Titelbild-Wahl bewies Lenhoff Intuition, da er die lebensgestaltende Meditation gespürt hat. Nicht jedoch Nervenärzte, die Depressionen abhandeln und dabei in Unkenntnis des Titel-Anagramms MENSCH GOTT, Melencolia § I abbilden, die mit Depression nichts zu tun hat. Weil sie die spätmittelalterliche Passions-Meditation "miseria-misericordia" nicht in Betracht ziehen, werben sie so für die Seelen-Heilung ohne Psychiater und ohne Psychotherapeut, denn Dürer ist als Melencolia § I im Gleichgewicht - wie die Waage anzeigt. Die Gottebenbildlichkeit hat er als persönlichen Auftrag verstanden: durch Arbeit an sich und der Welt mit dem Lebensziel 'Humanität und Toleranz', die in Divinität und Pax unifica gipfeln. - Meditieren heißt am Stein [Jes.28,16] um Lebens-Wasser anklopfen. "Meditari est pulsare cum Mose hanc petram" (Luther WA 3.Bd.,1885, S.21).

Dürers Bild-Botschaft gründet zudem auf einem seit hundert Jahren gesuchten und erst kürzlich durch geometrische Bildanalyse aufgefundenen Denk-Konzept des Grafen Joannes Pico della Mirandola (1463-1494), und zwar des Aufstiegs des Menschen zum angelo terrestre, zur sechsten Stufe, mit dem Erreichen gleichzeitiger Doppelsichtigkeit über irdische und himmlische Bereiche. Diese bild-hafte Vorstellung Picos, von Dürer ins Bild gesetzt, ist eingebettet in Picos gesamtes Gedankengebäude von der Entstehung der Welt (Kosmogonie) und der Menschwerdung (Anthropogonie). Pico hat im Zeitalter der Renaissance den Aufbruch des Geistes mitherbeigeführt, noch vor der Reformation und lange vor der Aufklärung mit nicht leicht zu rekonstruierender "mentaler Magie" und "christlicher Cabala", die gedanklich besonders Hervorragendes für die Menschenwürde in Freiheit geleistet hat, nämlich gemäß seiner gottgegebenen "libera optio": das werden zu sollen, was wir sein wollen; wörtlich: dass wir geboren wurden unter der Bedingung, dass wir das sein sollen, was wir sein wollen ("hac nati sumus condicione, ut id simus, quod esse volumus" - oratio S.12/11 und LINK § 10, 48). Denn nach Pico sage Gott zu jedem Menschen persönlich: nach deinem eigenen Willen, dem ich dich überlassen habe, wirst du dir selbst deine Natur bestimmen ("ut tui ipsius quasi arbitrarius honerariusque plastes et fictor, in quam malueris tu te formam effingas" - s. LINK oratio de hominis dignitate § 5, 22).

Dieses lebensbejahende Denken und wie es im einzelnen an Dürer (z.B. über Freund Pirckheimer) gelangt sein könnte, darzustellen, ist langwierige Lese-Arbeit, z. B. im 500 Seiten-Buch von Alexander Thumfart: Die Perspektive und die Zeichen, 1996. Hier nur soviel: Bei der Cabala geht es um das, was Moses neben den Zehn Geboten von Gott direkt "empfangen", gehört haben soll und das Generation um Generation nur Würdigen und Weisen weitergesagt wurde, lt.Pico: "verus legis sensus ab ore Dei acceptus" (Opera S.176). Und bzgl. der "unsichtbaren 36" s. Jesaja 30, 18 und Psalm 2, 12: "Wohl dem, der auf ihn trauet" d.h., ihn, hebr. lo; der Zahlenwert der zwei Buchstaben: lamed + waw = 36.

Auf Dürers B 74 Kupferstich sofort sichtbar oder - da hermetisch verschlüsselt - sichtbar zu machen, was mithilfe unserer Abb.1 geometrisch nachzuvollziehen ist, sind viele dem Freimaurer wohlbekannte Diagramme und Zeichen:

  1. der Zirkel, Symbol des Maßes (seine Öffnung von 17 mm entspricht dem Radius der Kugel des Selbst: 2x die 17);
  2. das Winkelmaß (= Quadrant) vom Augpunkt der Kugel senkrecht zum Augpunkt der Zentral-Perspektive und waagerecht zur AD-Signatur in der Sitz-Stufe, rechts;
  3. das einer Höhenmessung zugehörige „Sinngebungs" - Lot von der Mitte des §-Zeichens im Titel lotrecht zur Mitte des Hexagramm-Grundrisses des Polyeder und von der Glockenklöppel-Spitze zu den vier Nägeln;
  4. die "Quaternität" der Arme des Kreuzes im gleichseitigen Um-Quadrat um das Polyeder und im Magischen Quadrat;
  5. die fünf nur in 6 unregelmäßigen Polyeder-Fünfecken (Gottes-Symbol) und nicht etwa im "Glühenden Stern" des von Dürer von Basel aus am 7.11.1492 miterlebten, zuletzt 124 kg schweren, in Ensisheim/Elsaß abgestürzten Meteors;
  6. die sechs im Hexagramm aus zwei gleichseitigen Dreiecken des Polyeder (unten und oben, sog. Doppel-Trinität);
  7. die sieben: 7 Sprossen der "Jakobsleiter": der "angelo terrestre" erreicht die 6. Stufe und die "dua visi" des Cherub;
  8. die acht im Achtort-Oktogon des Magischen Quadrats als Kreuzriß und Proportionsschlüssel für das Polyeder;
  9. die neun als in der ersten Kupferstich-Fassung "seitenverkehrte Schlange" im Magischen Quadrat;
  10. die zehn im Sephirot-Lebensbaum, entstanden aus dem Um-Quadrat, das die 6 Ecken der zwei gleichseitigen Dreiecke umfasst und welche zehn, als Tetragramm in die Pythagoras-Tetraktys eingeschrieben (s. unten in Rot), die Kreisteilungs-Zahl 72 bzw. die 72 Buchstaben des Gottesnamen bzw. Antlitze von 72 Engelsfürsten ergibt, deren Namen durch gematrische Buchstaben-Arbeit an Kapitel 14, 19 - 21 des 2. Buch Mose (Exodus) ermittelbar sind.
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(Die ersten zehn Buchstaben des hebräischen Alphabets sind zugleich die Zahlzeichen von 1 bis 10).

"Melancolia" ist ein Fehler

Wie gewünscht für die Zusammenfassung von "Ergänzungen und abweichende Definitionen" lieferte der Münchner Verlag Fink, am 23.7.2010, das Buch "Melencolia, I" von Martin Büchsel, das viele neue Erkenntnisse beinhaltet. Zunächst jedoch interessierte die 'Titulus-Geschichte' im Abschnitt 'Code oder nicht-Code', in dem von der einhundert Jahre langen Suche nach Dürers-Konzept für seinen B 74 Kupferstich berichtet und auf S. 130 - nach überzeugender Darlegung der bislang vergeblichen Suche - gefolgert wird: "Wenn also nicht Agrippa die Vorlage gegeben hat, dann fehlt der Name der hier einspringen könnte." - Dem könnte jetzt vielleicht abgeholfen und der Gesuchte benannt werden mit Joannes Pico della Mirandola (1463-1494) und seinem bilderreichen Gedanken-Werk, das von seinem Neffen Gianfrancesco (1469-1533) ab 1496 in Druck gegeben wurde und über Willibald Pirckheimer, der mit ihm in Briefkontakt stand, an Dürer gelangt sein kann. - Das Nicht-Wahrnehmen des Dürer-Original-Titels mit 12 Zeichen aber ist der Punkt. Dagegen ist der angebliche Komet, der im krassen Unterschied zu einem großen verglühenden "Meteor" immer nur gleichzeitig mit anderen Sternen zu sehen wäre, nicht so wichtig - wohl aber die angebliche Fledermaus mit Drachenschwanz und der Ziffer römisch I als Imperativ von "ire" - das glatte Gegenteil von EINS, dem Symbol für das Maß aller Zahlen = GOTT. Und die Sonnenuhr hat statt 12 nur 8 Ziffern, endet mit 4 bzw. 16 Uhr = Todesstunde von Dürers Mutter; man sieht nur den Schattenstab (!).

Die Diagnose einer Depression jedoch wird bei "Melencolia, I" in exzellenter Diskussion überaus zahlreicher Melancholie-Deutungen anhand der mittelalterlichen Literatur aus dem Lateinischen, wie aus der Muttersprache, Deutung für Deutung differential-diagnostisch falsifiziert. Dennoch wird der Melencolia § I, die "Synthese von Ordnung und Unordnung", mithin eine "dissolute Verfassung" attestiert. - Von den m. E. 72 Einzelheiten des B 74 Kupferstichs aber wird z.B. das Mundstück eines Blasebalgs, das unter Melencolias Kleid hervorlugt, auf den Seiten 43 und 61 zutreffend so beschrieben, das in anderen Publikationen immer noch als "Klistierspritze" zur Behandlung der Obstipation bei depressiv Erkrankten herhalten muss, obwohl die Klistierspritze schon damals einen oliven-förmigen Ausgang hatte.

Vorzüglich werden "acedia" und "furor", die Extreme der biphasischen Depression [antriebslos und getrieben], aus dem Lateinischen ins Deutsche übertragen, mit Literatur-Belegen für die damals gebräuchlichen Nuancen versehen und damit der heutigen Befunderhebung unmittelbar dienstbar gemacht. Man kann jetzt ganz sicher urteilen, dass weder acedia noch furor bei Melencolia § I zur Darstellung kommen. Eindrucksvoll auch die Übersetzung des seit 470 Jahren wirkmächtigen 'Melancholia'- Textes von Camerarius, der offenbar nicht auf Autopsie sondern einer vagen Erinnerung an das Bild eines Innenraumes mit Blick nach aussen beruhe, auf eine Mehrzahl von Netzen (statt Meteor-Strahlenkranz und 16-zelligem Quadrat) mit Beutejagd von Spinnen statt des einen Titeldrachen. - Zu kurz kommen m.E. die geometrisch erschließbaren Linien von Dürers Bild-Konstruktion; der Hinweis auf Melencolias Gürtel mit den eingestickten griechischen Versalien Theta und Pi in fortlaufender Wiederholung als Dürers Forderung nach Einheit von Theorie und Praxis, "bedeutet Gewalt" der daran hängenden sieben Schlüssel = Schöpfungstage (Abb.3) sowie der Fingerzeig mit dem 12-Sternen-Brautkranz.

So wird es Zeit, die auf dem Kupferstich unmittelbar sichtbaren 36 Dinge mit den durch Geometrie, Gematrie und Cabala zu erschließenden 36 Befunden bzw. Mitteilungen zum Shem-Ajin-Beth, der Gotteszahl 72, zu addieren und auf ihre Validität zu prüfen. Dürer machte es dem Betrachter seines nach Bartsch (B) 74. Kupferstiches nicht leicht, den in der Dreier-Folge des Aufstiegs zu Gott mittleren Kupferstich Melencolia, zwischen Reuter = purgatio und Hieronymus = perfectio, als illuminatio zu identifizieren. Diese drei Begriffe des Aufstiegs aber sind im Chiropsalterium des Johannes Mauburnus (1494, Bl. XV) auf den Daumenballen der linken "Meditations-Hand" geschrieben, die bei Melencolia als "körpersprachlich depressiv" verkannt wird. Geht man jedoch der Aufforderung des Bildes zur Meditation nach, verspürt man die Jesus-Liebe der spätmittelalterlichen "devotio moderna" und den Trost der "Geschwister vom gemeinsamen Leben." Für nicht auf Meditation eingestellte Deuter hingegen bleibt das Bild ein Rätsel mit der schweißtreibenden Anzahl von 72 Einzelheiten.

Im Schlußkapitel 'Emotion und Erkenntnis - Psychologismus oder historische Emotionsforschung?' (S. 207 u. 212) kommt Martin Büchsel zu der wohldurchdachten Diagnose, die - ganz im Sinne von Albrecht Dürer - eine neue Diskussion eröffnet: "Ästhetisch kalkulierte und kommunizierbare Melancholie". Also keine ärztlich behandelbare Befindlichkeit, sondern evtl. ganz schlicht: Dürers Jesus-Meditation, die ihn in das von der Waage angezeigte Gleichgewicht bringt: Psalter-Stützhand mit himmelwärts gerichtetem Blick nach Rosetum-Anweisung: 'cum elevatione oculorum in celum' (Mauburnus Bl.132b re. Z.12) bei zum Abschluß gekommener Trauerarbeit zum Tod der Mutter (17.5.1514), die ihm bei jedem Verlassen des Hauses zugerufen hatte: "ge[h] in dem nomen cristo!". Albrecht Dürer bewältigt "als Melencolia § I" den Verlust ihres alltäglichen Zurufes mit freiem und unverstelltem Blick für das Leid der Anderen, in der Christus-Nachfolge: "Compassio", einer Emotion wie sie zum Ausdruck kommt im Lied "Jesu meine Freude..." . Darin heißt es Vers 1: "Gottes Lamm, mein Bräutigam..." und in Vers 3: Trotz dem alten Drachen, Trotz dem Todes-Rachen, Trotz der Furcht dazu.- vgl. affectus-effectus Schema täglicher, lebensgestaltender Meditation der Passion (Mauburnus, 1494; Pinder, 1507) mit der Visio Dei Dürers, seiner Gottesbegegnung.

Hinweise

  • Böhme, Jacob: Aurora oder die Morgenröthe im Aufgang, 1612, Ausg.1730, Reprint 2.Aufl.hrsg.W.E.Peuckert,1.Bd., Fr.Fromann-Holzboog, Stuttgart,1986, S.266 (12.)
  • Büchsel, Martin: Melencolia, I. Zeichen und Emotion - Logik einer kunsthistorischen Debatte, Fink, München, 2010
  • Mauburnus, Johannes: Rosetum exercitiorum spiritualium et sacrarum meditationum, Peter van Os, Zwolle, 1494, Hand-Psalter-Abb. Bl. XV
  • Mayer, Ernst Th., Melencolia § I- der "angelo terrestre" und sein gleichzeitiges doppeltes Sehvermögen. Musik-, Tanz- und Kunsttherapie 20(1), 2009, 8-22
  • Panofsky, Erwin und Fritz Saxl: Dürers Melencolia I. Eine quellen- und typengeschichtliche Untersuchung, Studien zur Bibliothek Warburg II, Teubner, Leipzig-Berlin, 1923, Einleitung S. 1
  • Pico della Mirandola, Ioannes, Oratio-Rede über die Menschenwürde 1486, lat.- dt., Reclam Nr.9658, Stuttgart, 1997
  • Pico della Mirandola, Giovanni, Commento sopra una canzone d'amore,1486, ital. - dt.: Thorsten Bürklin, Meiner, Hamburg, 2001, S.208/209
  • Pico della Mirandola, Giovanni, Gian Francesco Pico: Opera Omnia (1557-1573). Con una introduzione di Cesare Vasoli, 2. Nachdruck der Ausgabe Basel, Georg Olms, Hildesheim, Zürich, New York, 2005
  • Pinder, Ulrich: Speculum passionis..., Nürnberg, 1507; Reprint des Neudrucks deutsch, Salzburg, 1663, Reichert, Wiesbaden, 1986
  • Richter, Leonhard G., "Unser Chamäleon". Die Weltchiffre des Menschen bei Pico della Mirandola und Albrecht Dürer. In: W.Schrader, G. Goedert & M. Scherbel , Perspektiven der Philosophie, Neues Jahrbuch, Bd.33 (S.305-392). Amsterdam, New York: Editions Rodopi, 2oo7
  • Rupprich, Hans, Dürer. Schriftlicher Nachlass, Bd.I, Deutscher Verlag für Kunstwissenschaft, Berlin,1956, S.319
  • Schröder, Eberhard: Dürer - Kunst und Geometrie. Akademie-Verlag. Berlin, 1980
  • Schuster, Klaus-Peter, Melencolia I, Dürers Denkbild, 2 Bände, Gebrüder Mann, Berlin, 1991, S.176-193
  • Thimme, Eva-Maria, Maritare Mundum, Dissertation FU-Berlin, 2005 ( I. Princeps Concordiae [Pico]: S. 11 - 8o )
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