Rezension: Hochgradmaurer sind Masochisten

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Hochgradmaurer sind Masochisten

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Stephan Gregory: Mysterienfieber - Das Geheimnis im Zeitalter der Freimaurerei. Wien und Berlin: Verlag Turia + Kant 2012, 278 Seiten.

Rezensiert von Roland Müller


Wenn dieses Buch nicht im mühsam zu lesenden neo-wissenschaftlichen Jargon geschrieben wäre, könnte ein Freimaurer auf mancher Seite mehrmals schmunzeln: Ein „Profaner“ oder „gewöhnlicher Mensch“ (62) versucht mit allen ihm zur Verfügung stehenden linguistischen Mitteln dem „Geheimnis“ der Freimaurer auf die Spur zu kommen …

Diese Mittel sind einige theoretische Schriften aus jüngerer Zeit, darunter:
Gaston Bachelard: Poetik des Raumes. 1957.
Jacques Lacan: Kant mit Sade. 1962.
Gilles Deleuze: Sacher-Masoch und der Masochismus. 1967.
Michel Foucault: Andere Räume. 1967.
Jean Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod. 1976.
Jacques Derrida: Dem Archiv verschrieben. 1997.

Gregory verwendet manche ihrer Wortschöpfungen wie Simulakrum und Produktion (Baudrillard), Heterotopie (Foucault) und Topophilie (Bachelard) sowie suspense (Deleuze).

Das Wort des Haupttitels wird nicht erläutert – der Inhalt des Buches handelt von etwas ganz anderem: „Mysteriopoese“ (217; vgl. anders 230).
Unter dem „Zeitalter der Freimaurerei“ versteht Gregory offenbar das 18. Jahrhundert. Er zitiert gerne aus Andersons Konstitutionenbuch, Ramsays Rede und Lessings Freimaurergesprächen, aber auch aus den Verräterschriften von Samuel Prichard und Abbé Larudan, aus Reden und Aufsätzen von Freimaurern wie aus Spottschriften über die Freimaurer.
Ausgiebig benützt er aus den 20. Jahrhundert das Internationale Freimaurer-Lexikon von Eugen Lennhoff und Oskar Posner (1932) und die Forschungsergebnisse von Douglas Knoop und Gwylim Peredur Jones (1937, 1948) sowie von René Le Forestier (1970) und David Stevenson (1988).

Das beeindruckende Literaturverzeichnis umfasst über 20 engbedruckte Seiten. Unter der Bezeichnung „Anon“ (= Autor nicht bekannt) finden sich Dutzende von Texten von 1586 bis 1991.

Merkwürdig ist, dass das Buch weder ein Vorwort noch Danksagungen enthält.

Die Freimaurerei als „Geheimnis-Rokoko“


Irritierend ist, dass Gregory mit einigem Aufwand zwischen „Geheimnis“ (lat. Mysterium), „Heimlichkeit“ (lat. secretum) und „Arcanum“ (Herstellungswissen) unterscheidet (19-31; vgl. 211-221, 245-246), aber in der Folge fast nur von „Geheimnis“ spricht. Immerhin bleibt ein Anklang in folgender Behauptung:
„Auch wenn es paradox erscheinen mag: Die Entstehung der freimaurerischen Geheimniskultur beruht auf der vorgängigen Entwertung und Vergleichgültigung der Geheimnisse. Nur weil sie ihre alte Bedeutung eingebüsst haben, können sie aus ihren jeweiligen Kontexten gelöst und der freimaurerischen Mysterienproduktion zugeführt werden. Trotz der archaischen Kostümierung erweist sich daher die Freimaurerei als ein durch und durch moderne Erfindung. Ihre Geheimnisse erwecken den Anschein uralten Herkommens, doch die Weise der Geheimnisbildung verrät, wie wenig sie an die Tradition [der Steinmetzen] gebunden ist“ (49; ähnl. 177).
„Mit andern Worte: Die historische Erfindung der Freimaurerei besteht darin, aus den Resten der alten Geheimniskultur ein Gesellschaftsspiel gemacht zu haben. Aus historischen Versatzstücken stellt sie sich ihre eigene phantastische Welt zusammen, eine virtuelle Landschaft, in der die Geheimnisse eine neue, künstliche Blüte erleben“ (52).
„In Hinblick auf ihren leichtfertigen Umgang mit der Realität könnte man die Freimaurerei also als eine Art ‚Geheimnis-Rokoko‘ betrachten, als ein unbeschwertes, etwas frivoles Spiel mit den Zeichen, vergleichbar den höfischen Amüsements, bei denen sich Aristokraten als Bauern und Schäfer verkleiden, ohne jemals die Arbeit von Bauern und Schäfern verrichten zu müssen. Doch die Besonderheit des freimaurerischen Spiels besteht darin, dass es eben gerade kein Spiel sein will. Die Freimaurer nehmen ihre Sache sehr ernst“ (53).

Die Loge ähnelt einem Bordell


Wer derart vehement der Freimaurerei zu Leibe rückt, kann auch von sexuellen Anspielungen nicht die Finger lassen. Die Loge als Ort der Zusammenkunft hat die Form eines länglichen Vierecks. Damit verbindet sich die Vorstellung eine schützenden Gehäuses, eines Kästchens. Darin kann man ein Sexualsymbol erkennen.
„So wären also die Freimaurer, wenn sie in der verschachtelten Loge ihren Geheimnissen nachjagen, letztlich auf der Suche nach der Frau (bzw. ihrem Schächtelchen)?“ (74).
Noch ein bisschen weiter geht der nächste Vergleich: Im Raum der Loge ist „die herrschende gesellschaftliche Ordnung spielerisch-karnevalistisch suspendiert“, der Raum befreit die Subjekte aus ihren sozialen und konventionellen Fesseln und lässt sie einfach nur „Brüder“ sein.
„In dieser Neigung zur Nacktheit und Vermischung ähnelt er ein wenig dem foucaultschen Bordell“ (77; demgegenüber 120).

Die Freimaurerei als ein „Dispositiv des Begehrens“


Etwas differenzierter zeigt sich Gregory im 100seitigen Kapitel „Die Freuden der Maurer“. Ausgehend von einem Bekenntnis des Freiherrn von Knigge, dass er als junger Mensch ganz „lüstern nach der Freymaurery“ war, formuliert er:
„Die im 18. Jahrhundert so verbreitete Lust an der Freimaurerei geht nicht einfach auf die hehren moralischen Absichten zurück, die sie sich zugute hielten, und auch nicht auf die rationalen Zwecke, die man ihr unterstellte. Sie erklärte sich vor allem dadurch, dass das von ihr organisierte Spiel der Geheimnisse, die Verbindung von Lockung und Entzug, selbst lustförmig war, eine Art Liebesmaschinerie darstellte“ (109-110).
„Diesseits der erbaulichen Absichten und hohen Ziele gibt sich die Freimaurerei als ein Spiel der Verführung zu erkennen, als ein Dispositiv des Begehrens, das in einzigartiger Weise auf die Gemüter wirkte. Wenn sie einen wirklich originellen Beitrag zur Geschichte der Moderne geliefert hat, so ist es der einer ganz speziellen Organisationsweise des Wunsches“ (110-111).

Gregorys „erotologische Interpretation der Logenwelt“ kulminiert in dem Satz:
„Der Kniff der freimaurerischen Erotik“ besteht darin, „eine asexuelle Version des Geniessens, eine Erotik ohne Körper, eine Sexualität ohne Sex zu erproben“ (116).

Leider verläuft der anschliessende Versuch Gregorys, eine entsprechende „Theorie des Begehrens“ (116 bis 147) zu entwickeln, rasch im Sande. Doch der Versuch, die ritterliche (schottische) Hochgradmaurerei - am Beispiel der Strikten Observanz - mit dem Masochismus in Verbindung zu bringen (160-173), ist bemerkenswert. Er entzündet sich an der Frage: „Woher die neue Leidenschaft für komplizierte Hierarchien und blutige Rituale?“ (160). Die Antwort lautet:
Ihr Vergnügen finden die Ritter „in der Unterwerfung unter das Gesetz, in der Zügelung und Fesselung des Begehrens, in der Untersagung der Befriedigung und im Aufschub der Lust“ (165).
„… man erkennt den Masochisten nicht an dem, worauf er wartet, sondern an dem Genuss, den er aus dem Warten selbst, der Spannung und Dehnung der Zeit bezieht“ (172-173).

Die Rosenkreuzer dürsten nach Weisheit


Hochinteressant ist auch Gregorys Deutung der zweiten Art von Hochgradsystemen, der esoterischen oder hermetischen – am Beispiel der Gold- und Rosenkreuzer. Hier kommt nun „ein Bedürfnis nach übersinnlichen Erfahrungen“ ins Spiel (189). Diesbezüglich bekannte der Freiherr von Knigge: „Ich war …voll Thätigkeits-Trieb; durstig nach Weisheit; … gekitzelt von der eitlen Idee, mich mit höheren Dingen, als andere, gemeine Leute beschäftigen zu können, eine grosse Rolle in der Freymaurer-Welt zu spielen“ (190).

Was machte die Faszination dieses Ordens aus?
„Sein Reiz scheint … in einer besonderen Art der intellektuellen Verlockung gelegen zu haben: in der Aussicht durch Alchemie und Magie zu einer Totalerklärung der Welt, zu einer Einsicht in die geheimsten Gesetze der Wirklichkeit zu gelangen“ (199).
Oder wie es ein Rosenkreuzer, Bernhard Josef Schleiss von Löwenfeld, 1777 selber formulierte:
„Die nähere Kenntniss Gottes aus den Werken der Schöpfung, die wurzelmässige Aufschliessung aller erschaffenen Dinge, und der daraus allen andern Wissenschaften zuwachsende Vortheil, dieses ist der Gegenstand unserer Beschäftigungen.“

Auch hier könnte man einen Bezug zum Masochismus sehen. Gregory überschreibt ein kleines Kapitel mit „Die Leiden der Laboranten“ (203-209) und schildert darin, dass der Professor für Naturkunde Georg Forster als Mitglied der Rosenkreuzer sich vier Jahre lang kasteit und „allen unschuldigen Freuden des Lebens“ entsagt hat, um aus Sternschnuppensubtrat, das auf feuchten Wiesen eingesammelt wird, die materia prima für den Stein der Weisen zu gewinnen. Wahrheitsliebe und „brennender Durst nach Gewissheit und Überzeugung“ hätten ihn dazu veranlasst.

„Erotische Besetzung“ der Vorhänge und Schlösser


Noch sind nicht alle sexuellen Anspielungen abgearbeitet. Im letzten, knapp 40seitigen Kapitel geht es um die grösste Leistung der Freimaurer, nämlich: „Wie man ein Geheimnis macht“. Eine Grundthese Gregorys lautet ja: Die Freimaurer sind Meister darin, „aus einem Nichts etwas“ zu machen (61). Das heisst: Es gibt gar kein Geheimnis. Ein solches wird nur als „Objekt des Begehrens“ (61, 123) erzeugt, „und zwar, indem man es verbirgt“ oder in die Zukunft verschiebt. Oder anders formuliert:
Die Freimaurerei „konstruiert Objekte des Begehrens, indem sie sie in einem Zug zeigt und verbirgt, ihre Existenz andeutet und sie zugleich dem Zugriff entzieht“ (124).

In diesem Vorgang wird das Geheimnis „mit dem dunklen Glanz des Unergründlichen“ umgeben und mit dem zusätzlichen Mehrwert des „Mysteriösen“ versehen (211; ähnl. 30-31). Man kann das nüchtern als „imaginäre Aufladung“ (123) bezeichnen, oder aber als „libidinöse Besetzung“ (211). Noch weiter geht Gregory, wenn er darauf hinweist, dass „das Verbergen“ dessen, was als Geheimnis gilt, so ungeheuer wichtig ist und meint:
„Daher die merkwürdige Aufmerksamkeit und geradezu erotische Besetzung, die in der freimaurerischen Welt alles erfährt, was die Neugier behindert und die Aufdeckung des Geheimnisses erschwert: Vorhänge, Schlösser, Türen, Siegel, Masken, Schleier und geheime Chiffren.
Analog zu Freuds Theorie des Fetischismus, die die sexuelle Neugier zu bestimmten leblosen Objekten aus der Verleugnung des ‚Kastrations-Schrecks‘ erklärt, den der kleine Junge im Augenblick der ‚Wahrnehmung des Penismalengels‘ der Mutter erfährt, könnte man die freimaurerische Leidenschaft für Hohlmedien aller Art mit dem Versuch erklären, den Enthüllungsschreck zu vermeiden, den das ‚Fehlen‘ des Geheimnisses unweigerlich heraufbeschwören muss“ (216-217).

Was zieht Gregory für ein Fazit?


„Die Freimaurerei ist die erste Populärkultur des Geheimnisses, die erste, die systematisch die Wonnen des Geheimnisses erschlossen und sie dem privaten Genuss zugeführt hat“ (250).

Fazit des Rezensenten


Eine lose zusammengestellte Sammlung von Kapiteln, welche die Freimaurerei aus einem ungewohnten Blickwinkel zeigt. Ausserordentlich viele Zitate aus drei Jahrhunderten sind klug montiert und mit klaren Erläuterungen verbunden. Mit schlechten, d. h. oft dunklen Reproduktionen pfiffig bebildert. Nicht durchwegs stringent, aber anregend.