Rezension von Gerd Scherm: Manuel Pauli "Die deutsche Freimaurerei in der langen Jahrhundertwende"

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Manuel Pauli: Die deutsche Freimaurerei in der langen Jahrhundertwende

Erstveröffentlichung ELEUSIS 4/2022 von Gerd Scherm

Gotthold Ephraim Lessing schrieb einmal „Freimaurerei war immer“. Damit meinte er natürlich nicht die Existenz der Logen, sondern die Sehnsucht nach Mitmenschlichkeit und Gerechtigkeit. Die scheinbar unwandelbare Freimaurerei ist einem ständigen Wandel unterworfen. Immer wieder erfindet und definiert sie sich selbst neu und entwickelt sich, wie die Geschichte gerade in Deutschland zeigt, durchaus gegeneinander, statt miteinander. Der Autor Manuel Pauli nennt sein Werk „Die deutsche Freimaurerei in der langen Jahrhundertwende (1860 – 1935)“, ein Begriff, den Sozialhistoriker seit einigen Jahren benutzen, da zwar manche historische Ereignisse an einem Tag stattfinden, nicht aber gesellschaftliche Prozesse. Seine Arbeit basiert auf Selbstzeugnissen der freimaurerischen Publizistik. So existierten zum Beispiel 52 deutschsprachige masonische Periodika allein zwischen 1880 und 1900. Über den gesamten Untersuchungszeitraum der langen Jahrhundertwende wurde wieder und wieder die Frage gestellt „Was ist eigentlich Freimaurerei?“ und dafür gibt es keine einzige Antwort, sondern Dutzende. Wobei sich die Antworten zum Teil auch erheblich widersprochen haben. Die wichtigste Erkenntnis dieser Recherchen: Es gibt nicht die Freimaurerei, sondern viele Freimaurereien!

In Deutschland verlief die Trennlinie der Systeme zwischen christlicher und humanitärer Freimaurerei, die schon vor dem 1. Weltkrieg eine nicht überwindbare tiefen Schlucht zwischen nationaler und internationaler Freimaurerei geworden war. Zitat Manuel Pauli: „Wie ein Schatten begleiten Selbstverständnis- und Abgrenzungsdiskussionen die Freimaurerei, trotz des in der Rede von ‚Brüderlichkeit‘ gegebenen Harmonieversprechens.“ Und das nicht erst in den 20er Jahren, sondern bereits um 1900.

1901 wetterte August Wolfstieg in der Freimaurer-Zeitung Nr. 13 gegen den humanitären Zweig: „... wenn der geradezu ungeheuerliche Versuch gemacht werden sollte, unter dem Deckmantel der Humanität Judenthum und jüdische Weltanschauung der Freimaurerei und weiterhin der christlichen Bevölkerung aufzudringen, dann sei der Zeitpunkt gekommen, zu dem die altpreußischen Großlogen das Tischtuch zwischen sich und den sogenannten Humanitätslogen glattweg zerschneiden müssten.“ Das waren nicht die einzigen antisemitischen Tiraden des renommierten Freimaurerforschers. Unverständlich und geschichtsvergessen, dass man 2020 die „deutsche Gesellschaft zur Förderung freimaurerisch-wissenschaftlicher Forschung“ unter dem alten Namen „Wolfstieg Gesellschaft“ wiederbelebt hat. Bei den altpreußischen Großlogen wurden antisemitische Ressentiments ebenso gepflegt wie die Verteufelung internationaler Freimaurer-Beziehungen. Der Begriff „humanitär“ mutierte in diesen christlich-masonischen Publikationen zum Vaterlandsverrat.

Auch Otto Dreyer, obwohl Mitglied einer Tochterloge der Großen Loge von Hamburg und eigentlich dem humanitären Lager zugehörig, war ein Bruder, der lautstark diese Art „Selbstverdunklung“ betrieb. Bereits 1912 wandte er sich in seinem Buch „Deutsches Logentum und weltbürgerliche Freimaurerei“ gegen „Weltbürgerei, Menschheitsphrasen und Verbrüderungsphantasien, die unsere sonst so gesunde Bruderschaft zu verseuchen droht.“ Er verdammte jegliche Kontakt zum Grand Orient de France: „Der Romanismus sei das Gegenteil der im Germanentum wurzelnden Freimaurerei, sei der Todfeind des Deutschtums und mithin auch des deutschen Logentums.“

Manuel Pauli schreibt: „Zentral firmierte auch bei Dreyer die Vorstellung einer rassifizierten ‚deutschen Religiosität‘, einer besonderen Veranlagung des ‚arisch-germanischen Menschenstamms‘ die schon seit Urzeiten das Verhältnis der Deutschen zu Gott bestimmt habe und die Grundlage wahrer Freimaurerei sei.“ So manche freimaurerische scheinbare Lichtgestalt bei den Altvorderen bekommt bei näherer Betrachtung bereits vor dem 1. Weltkrieg unschöne nationalbraune Flecken – allein durch ihre eigenen Aussagen in den einschlägigen Zeitschriften.

Bei Manuel Pauli gibt es keine Mutmaßungen und Vermutungen, geschweige denn leichtfertige Unterstellungen. Er recherchiert akribisch und nennt die Namen der freimaurerischen Autoren, der Publikationsorgane und die jeweiligen Erscheinungsdaten.

Während des gesamten 1. Weltkriegs herrschte in Deutschland ein starker Antimasonismus. So wurde immer wieder kolportiert, dass die Freimaurer hinter dem kriegsauslösenden Attentat von Sarajewo stecken.

Wichtig ist dabei die Schlussfolgerung, die der Autor Manuel Pauli aus dieser Rückkopplungsschleife von nationalem Antimasonismus in der Bevölkerung und nationaler Freimaurerei zieht: „Die Differenzierung zwischen sich selbst als nationaler und der humanitären als internationalistischer Freimaurerei wurde von Freimaurern in die umworbenen ‚nationalen Kreise‘ getragen, um die eigene nationale Zuverlässigkeit zu unterstreichen. Dort wurde sie aufgegriffen, amplifiziert und schließlich zurückgespiegelt, so dass sich die altpreußischen Freimaurer wiederum bestärkt und weiter gefordert fühlen konnten. Das Resultat war eine kumulative Radikalisierung sowohl des Antimasonismus als auch der politisierten innerfreimaurerischen Abgrenzungsbemühungen. Die altpreußischen Großlogen waren dabei nicht Getriebene, sondern jagten dem selbst ins Rollen gebrachten Stein hinterher.“

In der Endphase vor dem Freimaurer-Verbot durch die Nationalsozialisten ging die Anpassungsbereitschaft der altpreußischen Logen im April 1933 bis zur Selbstaufgabe: Die Rituale wurden national angepasst, alle jüdische und nicht explizit arische Symbolik wurde gestrichen, aus dem Salomonischen Tempel wurde ein deutscher Dom, die Säulen davor bekamen die Namen „Licht“ und „Volk“ und die Großlogen nannten sich nun „Nationaler Christlicher Orden“ bzw. „Deutscher Christlicher Orden“, die Begriffe Freimaurerei und Freimaurer tauchten in den Ritualen nicht mehr auf. Doch alle Mutationen und Umformungen retteten die von allen freimaurerischen Inhalten und Termini bereinigten Nachfolge-Orden nicht. Im Sommer 1935 kam das endgültige Verbot. Die Nazis begründeten dies damit: Im Deutschen Reich gibt es nur einen Orden - die SS!

Das Buch „Die deutsche Freimaurerei in der langen Jahrhundertwende“ zerstört sicher so manche Illusion von der „aufrechten Freimaurerei“ in dunkler Zeit. Ganz im Gegenteil wird deutlich, dass ein zahlenmäßig großer Teil der deutschen Freimaurerei an der aufkommenden Verdunklung aktiv und massiv mitgewirkt hat.

Man sehnt sich als heutiger Leser bei all dieser Anpassung um jeden Preis, diesem Verrat aller freimaurerischen Ideale nach einem Lichtblick. Man fragt sich: Gab es überhaupt irgendwelche Freimaurer, die sich selbst treu geblieben sind?

Da wäre zuerst zu nennen der zur Reformfreimaurerei gehörende, 1907 gegründete und als irregulär bezeichnete „Freimaurerbund zur aufgehenden Sonne (FzaS)“. Er galt als „linker Flügel“ der deutschen Freimaurerei. Ihm gehörten u.a. Carl von Ossietzky und Kurt Tucholsky an. Der FzaS befand sich schon länger im Visier der Nazis. Als man Ende März 1933 Wind von einer geplanten polizeilichen Aktion gegen die Großloge bekam, löste man sich ad hoc selbst auf.

Erst im April 1930 wurde das Licht für den Alten und Angenommen Schottischen Ritus (AASR) in Deutschland eingebracht. Kurz darauf, im Juli 1930, wurde von Leo Müffelmann die Symbolische Großloge von Deutschland gegründet und im April 1934 im britischen Mandatsgebiet in Palästina als Exil-Großloge eingesetzt. Ebenso wurde im gleichen Jahr der deutsche AASR dorthin verlegt.

Die Große Loge von Hamburg wandelte sich zu einem Deutsche Orden um. Seine Auslandslogen in Chile machten diese Umwandlung nicht mit, wodurch de facto die südamerikanischen Freimaurerlogen der Großen Loge im Exil weiterbestanden. So kam es, dass nach Ende des 2. Weltkriegs von Chile und Palästina aus zwei Schiffe in See stachen und das freimaurerische Licht nach Deutschland zurückbrachten.


November 2022

Bezugsquelle

(1860 – 1935) von Manuel Pauli 2022, Dissertation 544 Seiten Hardcover 89,95 € eBook 90,- €

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