Ritualistik

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Ritualistik

Autor: Klaus-Jürgen Grün
Quelle: QCWiki

Das Adverb ritualis umschreibt Gewohnheiten, die „die heiligen Bräuche betreffen“. Sie haben einen heidnischen Charakter, und christliche Lehrschriften verwenden bevorzugter das Wort Kultus, zur Kennzeichnung religiöser Bräuche. Damit soll das Ganze der religiösen Betätigung im Unterschied zu Empfindung, Anschauung und reiner Lehre erfasst werden. Während im Kultus die Vergegenwärtigung des Menschen in seinem Verhältnis zur göttlichen Macht im Vordergrund steht, rückt die freimaurerische Ritualistik den Menschen und seine natürlichen Gewordenheiten ins Zentrum ihrer Handlungen. Für die religiösen Kulte der christlichen Religion ist die strenge Ordnung der Liturgie verbindlich, in der freimaurerischen Ritualistik herrscht dagegen größere Vielfalt und geringere Strenge. Gegenüber der Liturgie bewegt sich die Ritualistik in einem weniger starren Gefüge. Weder planlose Beliebigkeit noch unveränderliche Gestalt prägen die freimaurerische „Ritualfreiheit“. Hier transportiert die Ritualistik gleichermaßen Kontinuität und Wandel im Selbstverständnis des Menschen. Freimaurerische Ritualistik enthält zwar viele an die christliche Liturgie erinnernde Elemente (Wechselgespräche, Zeichen, Rede, Gesang, Altar), aber es fehlen – zumindest in den humanitären Logen – das Gebet und die Ehrerweisung gegenüber einem bestimmten und personalen Gott. Dadurch und weil Freimaurerei selbst keine Religion ist, werden die auf Jenseitiges bezogenen Messfeiern im freimaurerischen Ritual umgewandelt in eine Feier des Menschen. Freilich ist hierbei der Mensch zu unterscheiden, den der Zufall der Geburt irgendwo hingeworfen hat, von demjenigen, der durch eigene Arbeit an der Möglichkeit seiner Vervollkommnung mitgewirkt hat. Nur letzteres ist für die Ritualistik der Freimaurer maßgeblich.

Der Ritualaufbau in der Freimaurerei stützt sich auf die Vorstellung vom Bau des Tempels der Humanität. Hierin vereinigen sich Momente der tradierten Rituale abendländischer Religion und Aufklärung mit dem Gedanken der Arbeit. Bei seiner Aufnahme in die Freimaurerei gleiche der Mensch dem ungeformten Naturstein, der durch eigene Arbeit die Gestalt eines Quaders erhalte, damit er sich in einen größeren Bau einfüge. Im symbolischen Bau zählt die Menschenliebe als der Mörtel zwischen den Steinen.

Grundlage der Ritualistik ist für die freimaurerischen Tempelarbeiten das Schema der drei Grade Lehrling, Geselle und Meister, deren Bezeichnung an die Tradition und Entwicklung der Handwerksberufe erinnern soll. Aber die von der Symbolik des handwerklichen Arbeitens getragene Ritualistik vereint in sich auch Elemente des natürlichen Kosmos, der als die Urform des Raumes den Tempel überwölbt. Der frei gewählte „Meister vom Stuhl“ leitet die Tempel­arbeit von seinem Platz aus im Osten des Tempels, von wo aus – dem Gang der Sonne folgend - das Kerzenlicht an die beiden „Aufseher“ weitergegeben wird. Im Zentrum des Tempels symbolisieren drei Säulen die Bedingungen für das Gelingen des Baus am Tempel der Humanität: Weisheit, Stärke, Schönheit.

Bewegungen und Zwiegespräche im Tempel vereinigen das gesprochene Wort mit der vollzogenen Handlung. So wird die freimaurerische Ritualistik ihrem Anspruch gerecht, dass der Mensch sich selbst und seine Welt nur durch Arbeit verändern könne. Maßgeblich für das Selbstverständnis des Menschen ist die nicht-entfremdete Arbeit, also eine solche, die nicht der Ausbeutung oder einer anderen Verdinglichung dient. Es steht die Arbeit um Vordergrund, durch deren Vollzug der Mensch sich aus der rohen Natur herausbildet.

Schon mit der Abfolge der drei Grade in den Johannislogen - Lehrling, Geselle und Meister - ist eine solche Entwicklung bezeichnet. Sie ist mit den Lehrjahren, der Wanderzeit und den Jahren der Reife verbunden. Zugleich kann man in dieser Abfolge von Graden der beruflichen Entwicklung überhaupt den Werdeprozess eines sozialen Wesens wiedererkennen: Die Initiation simuliert den Eintritt in die Gemeinschaft der Erwachsenen, die Wanderschaft weckt Vertrautheit mit dem Fremden und zuletzt - mit der Erhebung in den dritten Grad - stellt sich das Bewusstsein der Endlichkeit des eigenen Daseins ein. Fast immer besteht das Ritual aus szenischen Darstellungen, in denen das gesprochene Wort von einer Handlung begleitet wird, um den Charakter der Praxis, des tätigen Lebens zu unterstreichen. Durch diese Ritualistik widerspricht Freimaurerei all jenen Auffassungen, die im Sinn einer abstrakten Anthropologie das Wesen des Menschen aus reiner Lehre bestimmen wollen. Ein abstraktes Wissen vom Menschen kann in der Freimaurerei nicht gelehrt werden. Zum Verständnis des Menschen gehört die Arbeitswelt unbedingt hinzu.

Ritualistik gewinnt durch ihre Verbindung mit dem tätigen Charakter des Menschen eine bemerkenswert aufklärerische Bedeutung. Sie erinnert daran, dass zum Menschsein das Tätigsein gehört. Die Ausbildung zum Menschen darf demgemäss nicht als ein einmal abgeschlossener Prozess betrachtet werden, sondern ist von jedem Menschen im Verbund mit anderen in der Praxis zu erwerben. So enthält die freimaurerische Ritualistik die Forderung, jedem Menschen die Möglichkeit zur Mitwirkung an der gesellschaftlich notwendigen Arbeit zu verschaffen und zu erhalten, wenn man dem Wesen des Menschen gerecht werden will.

Literatur

  • Helmut Reinalter, Die Freimaurer, München 2000.
  • Joachim Berger und Klaus-Jürgen Grün (Hrsg.), Geheime Gesellschaft. Weimar und die deutsche Freimaurerei, München 2002.
  • Alfred Schmidt / Heinz Thoma, Der unvollendete Bau. Beiträge zur Freimaurerei, Frankfurt (Eigenverlag) 1992.

Siehe auch

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