Traktat: Über Toleranz

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Über Toleranz

von Uwe Dörger


Der Gedanke der Toleranz ist, darin stimmen wir alle überein, dass geistige Fundament unseres Bundes. Wir könnten ihn niemals aufgeben, ohne uns selbst sofort in Frage zu stellen. Die zu Beginn des 18. Jahrhunderts sich ausbildende spekulative Maurerei hat ihn als Lehre aus den schmerzlichen Erfahrungen der Glaubenskämpfe und politischen Auseinandersetzungen des vorausgegangenen 17. Jahrhunderts in sich aufgenommen und in ihrem ersten Gesetzbuch, den Alten Pflichten, für alle Zeiten festgeschrieben.

Das Wort „Toleranz“ bedeutet Duldung, die Fähigkeit, das Abweichende, Andersartige zu ertragen und für sich bestehen zu lassen. Es ist zunächst einmal ein formaler Begriff und wir fragen, was alles geduldet und ertragen werden soll und vielleicht auch: bis zu welchen Grenzen.

Ursprünglich war mit diesem Begriff natürlich religiöse Toleranz gemeint, die Duldung eines abweichenden Bekenntnisses auf der gemeinsamen Grundlage des Christentums. In dieser Bedeutung sind Wort und Begriff ein Kind des Reformationszeitalters und der beginnenden Neuzeit. Dem Mittelalter war der Gedanke der religiösen Tole-ranz grundsätzlich fremd. Von einem der Kirchenväter, dem heiligen Augustinus, stammt die Formulierung: Toleranz kann sich immer nur auf ein Übel, auf eine an sich minderwertige Sache beziehen, die aus zwingenden äußeren Gründen für eine gewisse Zeit geduldet werden muss. In allen wesentlichen Fragen aber gilt: Schwarz oder Weiß. Religiöse Toleranz ist also das Ergebnis eines geschichtlichen Lernprozesses innerhalb unserer Kultur. Sie war nicht wie andere ethische Vorstellungen von Anfang an gegeben, sondern musste auf mühevollem Weg, belastet von Rückschlä-gen erst erkämpft werden. Sie konnte aufblühen, nachdem sich die universale mittel-alterliche Kirche endgültig in ein Nebeneinander von Bekenntnissen und ihre unge-teilte, immer gültige Wahrheit in eine Vielzahl von Überzeugungen aufgelöst hatte. Oft resultierte sie zunächst aus der Tatsache, dass der andersdenkende Gegner mit direkter Gewalt nicht zu bezwingen und mit Argumenten nicht zu bekehren war. Wirkliche Toleranz verharrt freilich nicht nur in ohnmächtiger Duldung, sondern enthält in positiver Reaktion auf die Verhältnisse die bewusste Zustimmung zur Vielzahl der Wege und zur Vielgestaltigkeit des Glaubens.

In den Freimaurer-Logen treffen heute mehr als früher Brüder unterschiedlicher religiöser Herkunft zusammen. Das gilt nicht nur für die christlichen Konfessionen und Glaubensgemeinschaften, denn in wachsender Zahl werden – in anderen Freimaurergemeinschaften - Angehörige der anderen großen Weltreligionen in unsere Reihen aufgenommen. Das Gebot religiöser Toleranz richtet sich heute also auf Denkweisen und Kultgewohnheiten, die vom Ursprung her einander ganz fremd sind. Toleranz ist daher nicht nur eine Selbstverständlichkeit, keiner weiteren Frage wert, sondern muss als Aufgabe begriffen werden, die sich immer von neuem stellt.

Der Toleranzgedanke ist schon in früheren Jahrhunderten über seine religiösen Ur-sprünge hinausgewachsen. Er bezog sich bald auch auf konkurrierende gesellschaftli-che Ordnungsvorstellungen und schloss damit das Nebeneinander politischer Konzep-tionen und schließlich auch weltanschaulicher Wertesysteme ein. Heute treffen wir in der täglichen Arbeitsumwelt und in unserer Loge auf ein sehr breites Spektrum von Weltanschauungen und politischen Orientierungen. Der Pluralismus der Meinungen und Überzeugungen, die gegeneinander streiten oder gar sich wechselseitig ausschießen, ist zur Grundtatsache des gesellschaftlichen Lebens geworden. Wir müssen mit der Vielfalt der Perspektiven leben. Die Einbildung der auseinanderstrebenden politischen und weltanschaulichen Haltungen in den Geist einer echten Bruderschaft ist daher eine wesentliche Aufgabe. Wir schließen jede Form von Parteipolitik aus unseren Diskussionen aus, um jene zerstörenden Wirkungen aus der Loge fernzuhal-ten, die wir an dem oft kleinkarierten und von Sonderinteressen beherrschten Ge-zänk in der profanen Welt beobachten.

Wenn wir uns von der konsensfähigen allgemeinen Betrachtungsweise etwas entfer-nen und kontroverse Standpunkte stärker zur Geltung kommen lassen, wird echte Toleranz umso mehr gefordert. Sie entsteht aus dem Bewusstsein, dass jedes Prob-lem auf vielfältige Weise gestehen werden kann, in komplizierten Zusammenhängen steht und niemand alles im Blick haben kann.

Toleranz in religiösen, politischen und weltanschaulichen Fragen ist die Grundvoraus-setzung unseres Zusammenlebens. Um aber aus der Loge eine wirkliche Bruderschaft entstehen zu lassen, sollte noch etwas hinzutreten, das ich als menschliche Toleranz bezeichnen möchte. In der Bauhütte treffen Menschen aus den verschiedensten Berufen zusammen. Sie sind geprägt durch ihre Erfahrungen, die sie aus lebenslanger, oft schwieriger und ereignisreicher Tätigkeit in der Wirtschaft, in der öffentlichen Verwaltung oder als selbstständig einem Erwerb Nachgehende gewonnen haben. Unter diesen beruflichen Prägungen wird die soziale Herkunft erkennbar, der kulturelle und landschaftliche Raum, dem der Bruder entstammt. Schließlich stoßen wir auf den Kern: das Temperament, den Charakter, die Persönlichkeit – den Menschen schlechthin.

Hier wird eine Toleranz von uns gefordert, die vielleicht am schwersten zu verwirkli-chen ist. Wir haben es gelernt, die religiösen Vorstellungen unserer Mitmenschen zu respektieren. Wir sind im Laufe unseres Lebens Menschen mit den unterschiedlichsten Meinungen begegnet und haben gelegentlich sogar Freude an so vielfältigem Umgang empfunden. Der freie Mann, als den wir uns jedes Mitglied unseres Bundes vorstellen, wird Überzeugungen, Meinungen, Argumente mit Gelassenheit tolerieren. Aber das, was ich als menschliche Toleranz bezeichne, die Fähigkeiten nämlich, nicht nur respektgebietende oder liebenswerte, sondern auch problematische, gegen den Strich gehende oder gar sonderbare Charaktere zu ertragen und ihnen die guten Seiten abzugewinnen, das ist die wirkliche Lebenskunst, die mit Recht als Königliche Kunst gerühmt wird.

Wie gelangen wir zu dieser menschlichen Kunst, die nicht nur eine Leistung der Vernunft, sondern eine Übung des ganzen Menschen ist? Wichtig erscheint mir Folgen-des: Geduld, Gelassenheit, kein vorschnelles Urteil über den Bruder. Mancher, dem wir anfangs mit Skepsis begegnet sind, hat in der Gemeinschaft Fähigkeiten aus sich entwickelt, die ihm selbst bisher ganz unbekannt waren. Ehe wir über einen Bruder urteilen, müssen wir ihm Zeit und Gelegenheit lassen, sich – im wörtlichsten Sinne – zu entfalten. Der Wille, an Äußerungen und Verhaltensweisen vor allem das Positive zu sehen, wird den Mitbruder anspornen, unsere gute Gesinnung nicht zu enttäu-schen. Schließlich die Einsicht: ein Verhalten, das wir kritisieren müssen, entspringt selten einem eigentlich bösen Willen, sondern oft genug verborgenen Schwierigkeiten, ungelösten Problemen, die der Bruder mit sich herumträgt.

Toleranz, ganz gleich, in welcher Beziehung, ist schließlich eine Kunst, die wir nicht nur um der Mitmenschen und Mitbrüder willen üben. Wenn wir darin fortgeschritten sind, erfahren wir: sie wirkt auf uns selbst zurück, indem sie uns Einsichten, Erkenntnisse, Erfahrungen ermöglicht, die uns das eigene Vorurteil, wären wir ihm gefolgt, verschlossen hätte. Ein Psychoanalytiker hat über die Toleranz gesagt, sie sei „nicht unvernünftige Duldung sondern die Vereinigung von Scharfsinn und Großmut. Groß-mut, weil die Vielgestaltigkeit menschlicher Ordnungen nicht verleugnet, sondern erlebt und anerkannt wird; Scharfsinn, weil erst der Blick über das hinaus, was wir unsere Ideale nennen, uns neue Erkenntnis über uns selbst erlaubt.“

Es bleibt die Frage nach den Grenzen der Toleranz. In religiöser Hinsicht werden sie dort zu ziehen sein, wo die Glaubensfreiheit in den Aberglauben, in barbarischen Kult ausartet, der den Menschen nicht aufrichtet, sondern aus allen Bindungen löst, innerlich zerstört und damit zum willenlosen Werkzeug macht. In politischer Hinsicht schließen wir alle extremen Positionen aus unserem Bunde aus, die auf eine gewalt-same Veränderung der Gesellschaft hinarbeiten. In menschlicher Hinsicht gibt es einen Kern der Persönlichkeit, eine ursprüngliche, angeborene Art, die Dinge zu be-trachten und mit Gefühlen zu verbinden, die von einem bestimmten Punkt an keine Kompromisse mehr erlaubt.

Zusammenfassend möchte ich über Toleranz sagen: Zur wahren Humanität und Toleranz gehört, dass wir nicht nur den Bruder ertragen, sondern auch uns selbst bewahren.


Unter Zuhilfenahme von Gedanken des Bruders Wolfgang Dittrich


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