Traktat: Alles hat seine Stunde: Unterschied zwischen den Versionen

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Aktuelle Version vom 19. August 2019, 19:08 Uhr

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Alles hat seine Stunde

Ansprache von Leibl Rosenberg

Gehalten anlässlich der Restitution von Masonica aus der Sammlung IKG an die Vereinigten Großlogen von Deutschland

Am Sonntag, den 13. November um 11 Uhr
Im Tempel des Logenhauses Fürth


Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit:
eine Zeit zum Gebären / und eine Zeit zum Sterben,
eine Zeit zum Pflanzen / und eine Zeit zum Abernten der Pflanzen,
eine Zeit zum Töten / und eine Zeit zum Heilen,
eine Zeit zum Niederreißen / und eine Zeit zum Bauen,
eine Zeit zum Weinen / und eine Zeit zum Lachen,
eine Zeit für die Klage / und eine Zeit für den Tanz;
eine Zeit zum Steine werfen / und eine Zeit zum Steine sammeln,
eine Zeit zum Umarmen / und eine Zeit, die Umarmung zu lösen,
eine Zeit zum Suchen / und eine Zeit zum Verlieren,
eine Zeit zum Behalten / und eine Zeit zum Wegwerfen,
eine Zeit zum Zerreißen / und eine Zeit zum Zusammennähen,
eine Zeit zum Schweigen / und eine Zeit zum Reden,
eine Zeit zum Lieben / und eine Zeit zum Hassen,
eine Zeit für den Krieg / und eine Zeit für den Frieden.

So spricht der Prediger Salomo im biblischen Buch Kohelet


Sehr geehrter Herr Großmeister Bosbach,
Sehr geehrter Herr Großarchivar Hillebrand,
Sehr geehrter Herr Emmerich,
Sehr geehrter Herr Klar,
Lieber Rudi Ceslanski,
Liebe Friederike Gollwitzer und lieber Gerd Scherm,
Meine sehr geehrten Damen und Herren,


Alles hat seine Stunde. Für alles kommt eine Zeit. Vor gut 20 Jahren wurde ich von der Israelitischen Kultusgemeinde Nürnberg, deren Mitglied ich war und bin, gebeten, einen Blick auf „Bücher“ zu werfen, die der Gemeinde gehörten und die seit Jahrzehnten in der Stadtbibliothek Nürnberg mehr oder weniger unbeachtet, beinahe von allen vergessen, lagerten. Es bestand die Gefahr, dass diese Bücher – gewissermaßen als Grundstock eines geplanten Jüdischen Museums - nach Fürth verschafft werden sollten. Ausgerechnet nach Fürth! Dieser Gedanke war dem damaligen Vorsitzenden der Nürnberger IKG, Arno Hamburger s. A., ein Urgewächs der Noris, unerträglich. Wer ihn kannte, weiß, wie schwer es war, seiner hartnäckigen Überzeugungskraft zu widerstehen: „Du musst Dich kümmern!“, sagte er. Also machte ich mich auf zum berühmten Pellerhaus am Egidienplatz, wo damals die Stadtbibliothek ihren Sitz hatte. Man führte mich in die Magazine, drei, vier Stockwerke unter der Erde, vorbei an nicht enden wollenden Regalmetern, deutete hin und wieder auf dicht an dicht stehenden Buchrücken – „Die gehören auch dazu!“ – bis hin zu einem letzten kleinen bunkerähnlichen Raum, in dem ein Haufen verstaubter Bücher wie hingeschüttet auf dem Boden vor einem leeren, primitiven Holzregal lagen. „Und die?“, fragte ich meinen wegweisenden Begleiter. „Gehören auch dazu. Werden wohl gerade umgeräumt.“ Ich bückte mich und zog ein Buch aus dem Haufen. Es handelte sich um den zweiten Band des Gebetbuches „Awoda Schebalew - Der Gottesdienst des Herzens“, das eigens für die Nürnberger Gemeinde im Jahre 1915 in Nürnberg gedruckt worden war. Auf dem Vorsatzblatt konnte ich mit etwas Mühe folgenden handschriftlichen Eintrag entziffern:

„Bertha Ehrenreich / Nbg / Solgerstraße 16/o / Jahrzeit Mama sel. 2 Ab / Jahrzeit Papa sel. 22 Ell.“

Erst Monate später, nach vielen Recherchen, begriff ich, dass ich das Gebetbuch von Bertha Ehrenreich geborene Zeller, der Frau von Nathan Ehrenreich, seit 1921 einer der staatlich anerkannten Religionslehrer der Nürnberger Adas Israel-Gemeinde, in Händen hatte. Díe Familie wohnte in der Solgerstr. 16, zuletzt in der Theodorstr. 9. Nathan Ehrenreich war eine in der ganzen IKG Nürnberg wohlbekannte, hochgeachtete Gestalt. Am 29.11.1941 wurde das Ehepaar nach Riga-Jungfernhof deportiert. Dort kamen beide an einem uns unbekannten Tag ums Leben. – Das Buch der Bertha Ehrenreich wartet leider immer noch auf das Interesse ihrer überlebenden Verwandten.

Ein Gebetbuch auf den Boden zu werfen ist im Judentum eine schwere Sünde. Das war mir als jemand, der seit seinem 4. Geburtstag streng traditionell jüdisch erzogen worden war, ganz klar. – Ich war geschockt. Ein Wort gab das andere – Arno Hamburger wusste sehr gut, wo er mich packen konnte – und so nahm mein Leben eine völlig ungeplante Wende.

Im Lauf der Jahre begriff ich mit wachsender Kenntnis und wachsendem Staunen, dass es sich bei den „Büchern“ der Kultusgemeinde in den Kellern der Stadtbibliothek um eine einzigartige Sammlung von etwa 9000 Bänden in 25 Sprachen aus 514 Orten in Europa und Übersee handelte – von den Nazis und ihren Komplizen und Zuträgern ihren diversen Opfern geraubt und dem sogenannten „Frankenführer“ Julius Streicher nach Nürnberg als Geschenk für den bewunderten und geliebten „Vorkämpfer der Bewegung“ und seinen „Stürmer“ gebracht und geschickt wurden. Diese Schriften wurden nach Kriegsende im Besitz von „Gauleiter“ Streicher aufgefunden und der neugegründeten IKG Nürnberg von den Alliierten Militärbehörden übergeben.

Bitte ersparen Sie mir und Ihnen einen näheren Blick auf Wesen und Wirkung dieses perversen Hauptkriegsverbrechers, den man ohne weiteres als den führenden Antisemiten des 20. Jahrhunderts bezeichnen könnte. Manchmal stelle ich mir Julius Streicher als wandelnde Hass- und Gewalt-Maschine vor. Er hasste Juden und er hasste Freimaurer, doch das schlimmste Übel waren für ihn jüdische Freimaurer.

Die Schriftensammlung, die ich später von ihrer lange üblichen Bezeichnung „Streicher- oder Stürmer-Bibliothek“ befreite und in „Sammlung der Israelitischen Kultusgemeinde“, kurz „Sammlung IKG“ umbenannte, wurde einige Jahre nach meinem Dienstantritt vom Eigentümer, der IKG Nürnberg, der Stadt Nürnberg, durch einen Dauerleihvertrag juristisch ordentlich geregelt, zum Besitz übergeben. Die Vertragspartner waren sich einig, dass die Schriften erforscht, regelkonform katalogisiert, restauriert (oder wenigstens adäquat verpackt und verwahrt) und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollten.

Nach jahrelangen, mühevollen Recherchen konnten 2.214 Personen, Institutionen oder Körperschaften als Vorbesitzer namhaft gemacht werden. Es war von Anfang an Konsens, dass die Vorbesitzer oder deren Rechtsnachfolger ausfindig gemacht und ihnen die Restitution – als die Rückgabe – ihres Eigentums angeboten werden sollte. Heute, über 17 Jahre später, kann berichtet werden, dass mehr als 700 Schriften an 140 Vorbesitzer in 11 Ländern zurückgegeben wurden: nach Canada, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Israel, Luxemburg, die Niederlande, Österreich, Polen, die Schweiz und in die USA.

Masonica in der Sammlung IKG

Die Sammlung IKG enthält natürlich auch eine bedeutende Anzahl von Schriften, die das Freimaurertum, seine Gedankenwelt, seine Geschichte, seine herausragenden Gestalten zum Inhalt haben. Gleichzeitig gibt es daneben auch zahlreiche Schriften, in denen die Freimaurer, ihre Weltanschauung und Wirkung denunziert und hasserfüllt dargestellt werden. Hier spiegelt sich der erkennbare Sammlerwille eines Julius Streicher wieder: Judentum und Antisemitismus, Freimaurertum und Antimasonismus. Wir wissen, dass den freimaurerischen Körperschaften und Einrichtungen in der Zeit des Nationalsozialismus von 1933 bis 1945 Besitz und Vermögen in gewaltigem Ausmaß rechtswidrig entzogen wurden. Das Eigentum dieser Logen und Logenverbände wurde vom Deutschen Reich, bzw. seinen untergeordneten Institutionen oder Organisationen Hand in Hand mit der Nazi-Partei, gewaltsam enteignet und geraubt. Dabei wurden auch zahlreiche Freimaurer-Bibliotheken geplündert und aufgelöst. Wir können mit Sicherheit davon ausgehen, dass die meisten Masonica in der Sammlung IKG aus eben diesen finsteren Quellen stammen.

Vor genau drei Jahren nahmen Friederike Gollwitzer und Gerd Scherm mit mir Kontakt auf. Sie hatten gehört, dass sich in der Sammlung IKG drei Bücher der Familie Friedeberg aus Berlin befanden. Zu dieser Familie gehörten auch die beiden Patentanten von Friederike. Die Bücher sind inzwischen schon längst in Philadelphia, in den Händen von direkten Verwandten der Vorbesitzer. Die beiden Besucher aus Binzwangen bei Colmberg aber sind in der Zwischenzeit enge Freunde der Familie Rosenberg geworden. Dass Gerd Scherm sich als leidenschaftlicher Freimaurer entpuppte, hat dabei in keinster Weise geschadet – ganz im Gegenteil.

In diesem Tempel, meine Damen und Herren, möchte ich bekennen: Diese besondere Gruppe geraubter Bücher hat mich über Jahre hinweg intensiv beschäftigt. Ich fühlte und fühle mich besonders betroffen, bin ich doch 1982 in die B’nai B’rith Menorah Loge München aufgenommen worden. Es hat mir immer viel bedeutet, diesem Bund anzugehören. Und selbst, wenn ich seit meinem Umzug nach Nürnberg 1988 nicht mehr in meiner Loge aktiv sein kann – ich bleibe, still aber doch – ein Bruder aus Überzeugung. So manches Mal saß ich sinnend und traurig über der Mitgliederliste der B’nai B’rith Maimonides-Loge Nürnberg aus dem Jahre 1933 und las die Namen von 316 Brüdern, darunter waren 21 Fürther.

Damit ich nicht missverstanden werde: Bei meiner Arbeit habe ich nie Unterschiede zwischen den verschiedenen Opfergruppen gemacht. Freimaurer, Juden, Christen, Sinti und Roma, Sozialisten und Kommunisten, ob Männer, Frauen, Homosexuelle – alle wurden in gleicher Weise entwürdigt, verfolgt, beraubt und ermordet. Von all diesen Gruppen finden sich Spuren in der Sammlung IKG, an fast alle konnte ich Bücher zurückgeben. Mein religiöses Bekenntnis spielte dabei nie eine Rolle. Mit gleichem Eifer habe ich für die Familie eines reformierten Pastors aus Straßburg gehandelt, wie für den Sohn eines kommunistischen Widerstandskämpfers aus der Pfalz. Mit der Restitution dieser Schriften an die Vereinigten Großlogen von Deutschland vollziehe ich – auch im Namen meiner Auftraggeber, der IKG Nürnberg und der Stadt Nürnberg – einen historischen Auftrag und eine menschliche Pflicht. Nur selten erfüllt mich bei dem, was ich tue, Freude. Heute ist dies der Fall.

Es freut mich übrigens auch, dass sich die VGLvD bereit erklärt hat, auch Schriften aus dem vormaligen Besitz einzelner Mitglieder von Freimaurer-Logen treuhänderisch an sich zu nehmen, die Nachkommen und Rechtsnachfolger dieser Personen nach Kräften zu suchen und ihnen, sobald es nur irgend geht, wieder zurück zu geben. Es soll auch darauf hingewiesen werden, dass sich diese Rückerstattungsbegehren ausdrücklich nicht auf das Eigentum der jüdischen B’nai-B’rith-Logen erstreckte, die innerhalb und außerhalb des Deutschen Reiches und des deutschen Herrschaftsgebietes existiert, verboten, aufgelöst und enteignet wurden.

Geraubte Güter

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

die Rede ist heute von Raubgut. Das ist schon ein sehr merkwürdiger Begriff. Denn einen „guten Raub“ gibt es nicht, höchstens für den Räuber. Ein Raub ist zu jeder Zeit, an jedem Ort, unter allen Umständen, eine Gewalttat. Gewalt steht am Anfang und am Ende jeder Veränderung von Eigentumsverhältnissen, die ohne Zustimmung oder gegen den Willen des Vorbesitzers stattfinden. Es handelt sich bei dem „Entzug“ von Kulturgütern von Mitgliedern der Opfergruppen zugunsten der herrschenden und bestimmenden Inhaber von Staatsgewalt und Rechtsinstrumenten stets um Raub. Der Raub von Gütern und Besitztümern ging in voneinander unabdingbarer Art und Weise mit dem Raub von Freiheit, Würde, Gesundheit und Leben der Beraubten Hand in Hand. Es ist in diesem Zusammenhang möglich und nötig, Raub und Mord in einem Atemzug zu nennen.

Um es auf den Punkt zu bringen: Massenraub und Massenmord lassen sich nicht voneinander trennen, gehören zusammen, müssen bei der Beurteilung der Geschehnisse gemeinsam in den Blick genommen werden. Am Anfang jeder einzelnen dieser Ungeheuerlichkeiten steht eine Gewalttat. Die Gewalt- und Gräueltaten wurden zwar an relativ genau bestimmten Gruppen von Menschen begangen, doch stets sind Einzelne Opfer der Gewalttaten, seien es Männer, Frauen oder Kinder. Es sind einzelne menschliche Wesen, die beraubt, bestohlen, verhöhnt, verfolgt, vertrieben, ausgebeutet, verstümmelt und ermordet wurden. Es sind einzelne menschliche Wesen, deren Leid an diesen Vergewaltigungen nicht abklingt, selbst, wenn sie all dies überlebt haben. Es ist nicht nur angemessen, sondern erforderlich, diesen Aspekt der ursprünglichen Gewalttaten bei der Erforschung und Betrachtung der Eigentumsverhältnisse bei Fällen von Raubgut mit zu bedenken.

Die historischen Fakten sind bekannt: Der vom Deutschen Reich ausgehende Angriffskrieg weitete sich binnen kürzester Zeit in einen Weltkrieg aus. Mit ungeheurer Energie wurden die zentralen Ziele des Nationalsozialismus vorangetrieben: Eroberung von Land, vor allem im Osten Europas, und Ausgrenzung und Ausrottung der jüdischen Bevölkerungsanteile und anderer „lebensunwerten Volksfeinde“ in allen Regionen und Landstrichen, in denen deutsche Truppen ihren Herrschaftsbereich festigen konnten.

So wurde denn der Eigentumsentzug von Kulturgütern und Artefakten in einem unvorstellbaren, noch heute atemberaubendem, Maße juristisch und logistisch vorbereitet und systematisch durchgeführt. Niemand kann heute mehr die Mengen der geraubten Güter beziffern, doch man geht nicht fehl in der Annahme, dass es etwa 600.000 Kunstwerke, Millionen von Schriften gewesen sein müssen. Eigene Dienststellen und Körperschaften unter der Mitwirkung ausgewiesener Fachleute waren damit beschäftigt, die beschlagnahmten Güter abzutransportieren, zu sichten, zu registrieren und an ihre neuen Aufbewahrungsorte zu verbringen. Zahllose weitere Eigentumsübertragungen fanden und finden seit Ende der Kriegshandlungen im Mai 1945 grenzüberschreitend statt. Das sind Vorgänge, die die heutigen Forscher schier zur Verzweiflung bringen können. Es war und ist ein Chaos sondergleichen. Um es ein weiteres Mal zuzuspitzen: jedes Stück entzogenes Kulturgut ist gleichsam kontaminiert von seiner Geschichte, von all dem, was mit ihm geschehen ist, was ihm zugestoßen ist. „Habent sua fata libelli – die Büchlein haben ihre Schicksale“, wie schon die alten Römer wussten.

Juden und Freimaurer

verbindet mehr, viel mehr als beide Seiten oft ahnen.

In diesen ehrwürdigen Tempelräumen ist es mir sicher gestattet, an eine Überlieferung des Judentums zu erinnern. Einem talmudischen Midrasch, einer Auslegungsschrift, nach stritten zwölf Steine auf dem Feld miteinander, wem die Ehre zuteilwerden sollte, das Haupt unseres Vaters Jakob (Genesis, 1. Buch Moses, Kapitel 28, Vers 11) im Schlaf stützen zu dürfen. Ganz so, wie sich auch Menschen um die Auszeichnung streiten würden, einer großen Persönlichkeit dienen zu können. Die Steine von Beth-El wussten, dass genau hier dereinst der Tempel stehen sollte und dass sie zum Stützpfeiler der Himmelsleiter bestimmt waren. Da verschmolz Gott die zwölf Steine zu einem einzigen Felsblock und beendete den Streit. Unsere Weisen lehren, dass diese Steine das jüdische Volk symbolisieren, das zu gründen Jakob im Begriffe stand. Sie stellen die zwölf Stämme Israels dar. Unsere Weisen beschwören an diesem Beispiel die Kraft der Gemeinsamkeit, die Kraft der gemeinsamen Geschichte und der gemeinsamen Bestimmung der Kinder Jakobs. Darin liegt auch die Mahnung, dass Menschen sich bemühen sollen, das Gemeinsame über das Trennende zu stellen. Sind wir doch alle nur Fragmente eines einzigen, großartigen Schöpfungsaktes.

Einen Tempel erbaut man nur scheinbar, indem man Stein, Holz und Mörtel kunstvoll miteinander verbindet. Um einen Tempel zu erbauen, müssen Menschen ihre Fähigkeiten und Seelen verknüpfen. Dabei werden auch die Sehnsüchte, Ängste und Hoffnungen, ihre Gefühle und ihre Träume in den Bau einfließen. Doch wem sage ich das, hier in einem Tempel der Freimaurer? Aus einem Haus ein Heim, aus einem Gebäude ein Heiligtum zu machen – das geht nur in einer Gemeinschaft. Hände müssen verschränkt, Herzen verknüpft werden. Der Andere muss der Nächste werden. Ohne Gemeinsamkeit, ohne gemeinsame Erinnerung kann es keine Zukunft geben.


Erinnerung ist Arbeit am rauen Stein

Es ist schon so eine Sache mit der Erinnerung. Bei Friedrich Nietzsche können wir lesen:

„Das habe ich getan“, sagt mein Gedächtnis. „Das kann ich nicht getan haben“ – sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich – gibt das Gedächtnis nach. (Jenseits von Gut und Böse)

Das Gedächtnis mag nachgeben, doch die Erinnerung lässt sich nicht befehlen. Sie verweigert sich oder sie spricht ungefragt, sie schlummert oder gibt preis – ganz nach ihrem Belieben. Es ist nur schwer Staat machen mit einer Kategorie des Menschseins, die den Ungehorsam zum Wesenskern hat, die die ordnende Hand ausschlägt, die sich nicht zügeln und lenken lässt, nicht von Einzelnen und schon gar nicht von der Gruppe, der Gesellschaft oder der Nation.

Die Erinnerung ist, bei rechtem Licht besehen, Erbschaft und Botschaft zugleich. Sie schwemmt Geschichte an, Gutes und Böses, Schönes und Hässliches, Gigantisches und Unsichtbares. All das Vergangene, all das nicht vergehen Könnende, lagert sich wie Treibsand ab an den Wegen und Stegen unseres Alltags, unserer täglichen und nächtlichen Existenz. Weil sie, die Erinnerung, so ist wie sie ist, vermag sie uns stets aufs Neue zu überraschen, zu verblüffen und auch zu beschämen.


Ein Stück Erinnerung

Unter den heute übergebenen Freimaurerschriften findet sich eine 36-seitige Broschüre „Erinnerungsbilder aus meinem Leben“ von Ludwig Rosenmeyer, erschienen im Selbstverlag 1931 in Frankfurt am Main, mit einem Fotoporträt des Verfassers (IKG 40_201). Wer war dieser Mann?

Der Geheime Sanitätsrat und Augenarzt Dr. med. Ludwig Rosenmeyer, geboren am 25. März 1858 im ungarischen Homonna, lebte und arbeitete in Frankfurt am Main, Bockenheimer Landstr. 7. Er wurde am 21.1.1888 in die Frankfurter Johannis-Loge Zur aufgehenden Morgenröthe, Mitgliedsnummer 15, aufgenommen. Seit 1912 war er Ehrenmitglied in der Erlanger Johannis-Loge Libanon zu den 3 Cedern, seit 1928 Ehrenmitglied in den Frankfurter Johannis-Logen Zur Einheit, Carl zum aufgehenden Licht, Carl zum Lindenberg, Zum Frankfurter Adler, seit 1928 Ehrenmitglied in der Breslauer Johannis-Loge Mozart zur Liebe und zur Pflicht, seit 1931 Ehrenmitglied in den Berliner Johannis-Logen Friedrich zur Gerechtigkeit und Stern der Liebe, in der Hamburger Johannis-Loge Zur Bruderkette und in der Breslauer Johannis-Loge Hermann zur Beständigkeit. Er war, ganz nebenbei, auch Vorsitzender des Frankfurter Ärztlichen Vereins, Mitglied im Verband Nationaldeutscher Juden und ehrenamtlicher Arzt des Jüdischen Krankenhauses in Frankfurt..

Sein Sohn, Rechtsanwalt Dr. jur. Arthur Rosenmeyer, *1878, wurde am 5.10.1907 in die Frankfurter Johannis-Loge Zur aufgehenden Morgenröthe aufgenommen, sein anderer Sohn,. Der Augenarzt Dr. med. Walter Rosenmeyer, *1891, wurde am 7.10.1920 ebenfalls in die Frankfurter Johannis-Loge Zur aufgehenden Morgenröthe aufgenommen. Beide waren in die Loge ihres Vaters eingetreten.

Der Großmeister und Ehrengroßmeister Ludwig Rosenmeyer starb, vermutlich von eigener Hand, am 26. Juli 1942 in Frankfurt am Main, seine Ehefrau Mathilde Rosenmeyer geborene Bach, wurde am 18. August 1942 nach Theresienstadt deportiert, dort kam sie am 13. Dezember 1942 ums Leben. Ihre Tochter Helene Rosenmeyer wurde am 20. Oktober 1941 von Frankfurt in das Ghetto Lodz – Litzmannstadt deportiert, dort kam sie am 4. Februar 1942 ums Leben. Wenigstens acht weitere nahe Verwandte von Ludwig Rosenmeyer starben in der Schoa. Arthur und Walter Rosenmeyer konnten der Vernichtung entkommen. Es gibt noch Rosenmeyers auf dieser Welt, sie leben in Israel und den USA.

Ludwig Rosenmeyer widmete seine Erinnerungsbilder „Den Bundeslogen der Großen Mutterloge des Eklektischen Freimaurerbundes“. Vorangestellt hatte er als Motto: „Alles was ich tat, tat ich aus Begeisterung und mit Liebe.“ Nur wenige können das von sich sagen.

Man kann Ludwig Rosenmeyer meiner Überzeugung nach durchaus zu den großen Gestalten der deutschen Freimaurerei in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zählen. Er war groß in seiner Bescheidenheit, er war groß in seiner Hingabe an den Bund, dem er mit ganzem Herzen anhing. Er war zwar auch ein Jude, aber vor allem war er ein Glied in der Bruderkette des Freimaurertums. Wie traurig, wie einsam, seine letzten Jahre wohl gewesen sein müssen, können wir kaum ahnen. Ist er heute so gut wie vergessen? Das darf nicht sein. Wir schulden ihm und den vielen, allzu vielen Freimaurern, die der hasserfüllten Nazibarbarei zum Opfer fielen, wenigstens etwas Erinnerung, etwas Trauer, etwas Bruderliebe.

Es wäre, nach all dem, was war, an der Zeit, dass jeder von uns es aussprechen würde: „Ja, ich bin meines Bruders Hüter!“. Meine Bitte an Sie an diesem Tag wäre: Lasst nicht den Hass gewinnen, lasst nicht zu, dass die Bruderkette zerrissen bleibt, lasst uns ein Andenken an die Opfer schaffen.

Doch heute ist, wie gesagt, für mich ein Tag der Freude: „Hinney ma tow u’mana’im, schewet achim gam jachad – O wie gut und angenehm ist es, wenn Brüder zusammen sitzen.“ So dichtet König David im 133. Psalm. Die Stunde wird kommen, in der wir dieses wunderbare Lied zusammen singen werden, die Zeit wird kommen, in der wir glücklich und friedlich zusammen leben können.


Ich danke Ihnen.


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