Traktat: Die Säule der Schönheit

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Die Säule der Schönheit

Festzeichnung anlässlich des 274. Stiftungsfestes der gerechten und vollkommenen Johannisloge St. Georg zur grünenden Fichte im Orient Hamburg, aufgelegt am 20. Sept. 6017 von CK

Vor genau einem Jahrhundert, im April des Jahres 1917, reichte der französische Künstler Marcel Duchamp eine Plastik mit dem Titel „Fountain“ - Springbrunnen - beim Kunstwettbewerb der New Yorker „Society of Independent Artists“ ein. Das Werk bestand aus einem weiß glasierten Porzellan-Urinal aus dem Sanitärfachhandel, in schwarzer Lackfarbe mit dem fiktiven Namen „R. Mutt“ signiert.

Zwar lehnte die Jury des besagten Wettbewerbs die Arbeit zunächst ab, doch gilt sie bis heute als ein Schlüsselwerk der Moderne; bei einer Umfrage unter 500 Kunstkritikern und Kunsthistorikern im Rahmen der Verleihung des renommierten „Turner Prize“ im Jahre 2004 wurde Duchamps signierte Sanitärkeramik mit großer Einhelligkeit zum „bedeutendsten Kunstwerk des 20. Jh.“ erkoren.

Was war hier geschehen?

Hätte man nur wenige Jahre vor Duchamps Arbeit, um die Wende vom 19. zum 20. Jh., die Menschen befragt, was der Sinn und der Inhalt jener Dinge, die wir unter den Begriff „Kunst“ zusammenfassen, sei, so wäre sicher eine der häufigeren Antworten gewesen: „Schönheit“.

Seit Platon stellte die Begriffstrias vom „Guten, Schönen und Wahren“ das unzertrennliche Gerüst des ethischen Ideals abendländischen Geistes vor.

Was war geschehen, dass die Schönheit ihren Stellenwert im Reich der Kunst im beginnenden 20. Jh. einbüßte? Das künstlerischem Schaffen nunmehr die Aufgabe zukam, zu verstören, gar zu schockieren? Das alles Schöne und Anmutige in den Verdacht geriet, lediglich reaktionärer Kitsch zu sein, dem es jeglicher Wahrhaftigkeit ermangelt? Warum wurde stattdessen die „individuelle Originalität“ zum Maß aller Dinge?

Überhaupt: scheint der Begriff des „Schönen“ nicht relativierbar, willkürlich gar? Nicht mehr als Ausdruck bloß subjektiven Geschmacks?

Was ist Schönheit - und warum ist sie Wichtig?

Mit dem Beginn der Industrialisierung Europas im ausgehenden 18. Jh. hatte eine beispiellose Umgestaltung der Lebenswelt eingesetzt. Ein Prozess, der die Jahrzehntausende der Communitas naturalis, der schicksalhaften Abhängigkeit aller von jedem und jedem von allen, in Überfluss und Hunger, in Flut und Dürre, in Guten wie in schlechten Zeiten, innerhalb von nur Jahrzehnten jäh beendete.

Um 1720, zur Zeit der Gründung der ersten Großloge also, lebten weniger als 15% der Menschen in Europa in Städten; Bereits beim Zensus von 1801 war London die erste Millionenstadt der europäischen Neuzeit. Heute lebt rund die Hälfte der Weltbevölkerung in den urbanen Zentren, 2050 werden es (nach Schätzung der Vereinten Nationen) mehr als zwei Drittel der dann 10 Milliarden Menschen auf diesem Planeten sein.

Diese Verstädterung der Welt veränderte - und verändert - den Bezug des Menschen zur Wirklichkeit auf fundamentale Weise.

Im Urbanen Lebensraum wurde das was Kant das „Naturschöne“ nannte aus unserem lebensweltlichen Alltag verbannt. Allein künstlich angelegte Parks und Tiergärten geben noch einen fahlen Widerschein von den Schönheiten der Natur.

Kaum ein Stadtbewohner ist sich mehr solch einst allgegenwärtiger Mächte wie den Phasen des Mondes und dem Lauf der Gestirne im Jahreszyklus, den Tiden, dem Kreislauf von Säen und Ernten bewusst. Selbst die elementarsten Grundkonstanten des Lebens: Geburt und Tod, sind weitgehend Institutionalisiert und so der gemeinschaftlichen Erfahrung entzogen worden.

Die Jahrtausendelange Gemeinschaft von Mensch und Tier ist verkümmert zur Haltung von Schoßkatzen und Zierfischen (nicht zu reden vom Grauen der industriellen Massentierhaltung) .

Während es in den Kindertagen noch meiner eigenen Großeltern eine Selbstverständlichkeit war, dass man den Gesang der Lärche von dem der Nachtigall, die Bäume an ihrem Laub und die Blumen an ihren Blüten unterscheiden - und benennen - konnte, kann heute ein nicht geringer Teil der Erstklässler die Begriffe „Kuh“ und „Schwein“ nicht mehr korrekt den entsprechenden Piktogrammen zuordnen.

Der weibliche Körper, Inbegriff vollkommener Schönheit schlechthin, Sehnsuchtsort mütterlicher Geborgenheit und Objekt brennender Begierde, Symbol der Fruchtbarkeit und des Fortbestandes des Lebens: von der „Venus von Willendorf“ vor 30 Jahrtausenden bis zu Édouard Manets „Olympia“, wurde das Wunder des weiblichen Prinzips verehrt, gar vergöttlicht. Heute kreischen uns allerwärts halb entblößte, bulimische Mädchenkörper als proto-pornographisches Pseudo-Ideal weiblicher Schönheit von jeder Werbefläche entgegen, die neueste Wegwerfmode der kommenden Saison anpreisend.

Das was einst aus seinem unmittelbaren Bezug zum Leben von Generation zu Generation als das gemeinsame „Heim“ bezeichnet wurde, wurde nun aus der reinen Nutzfunktion zur bloßen „Wohnung“ umgedeutet. Und die Wohnmaschinen der modernen Städte führten zu immer größerer Anonymität, Vereinzelung und Entfremdung, die sich an den Fließbandarbeitsplätzen der Fabriken fortsetzte, wo der Arbeiter, die immer gleichen Handgriffe verrichtend, selbst jeden Bezug zu dem von ihm gefertigten Gut verlieren musste.

Die Rationalisierung, Ökonomisierung und Bürokratisierung sämtlicher Teile der Gesellschaft und die immer größere Spezialisierung ihrer individuellen Mitglieder – was Max Weber als die „Entzauberung der Welt“ bezeichnet hat – führte zu einem Wertebild, in dem „Funktionalität“ und „Zweckdienlichkeit“ über allem stehen: etwas hat nur dann einen Wert, wenn es einen Nutzen hat. Und worin liegt der Nutzen der Schönheit?

Der amerikanische Architekt Louis Sullivan brachte dies auf den bekannten Nenner: „form follows function“.

War es da nicht eine natürliche Konsequenz dieser fortschreitenden Endindividualisierung, dass die Kunst das Recht des Individuums einfordern Musste? Das sie vom Ausdruck eines durch gemeinsame Traditionen verbundenen „Wir“ zu einem trotzigen Behaupten des „Ich“ werden musste?

Das in der mathematisch exakten Willkür des modernen Fortschritts, in einer von Maschinen dominierten, sterilen Wirklichkeit, in der der Mensch - einst ganzheitliche Person - vor Feierabend zum „Humankapital“, hernach zum „Verbraucher“ reduziert worden war; dass hier die Schönheit bloß noch als ein zynisches Überbleibsel einer versunkenen Vergangenheit angesehen werden konnte?

So, glaubte man, war die überlieferte Formen- und Klangsprache der Kunst im Angesicht des Massenschlachtens industrialisierter Vernichtungskriege nur noch sentimentaler Kitsch. War nicht das, was noch hundert Jahre zuvor als schön gegolten hatte spätestens in den Schützengräben von Ypern und Verdun unwiederbringlich gestorben?

Bedurfte die Verrohung der modernen Lebenswirklichkeit nicht einer Kunst die dies widerspiegelte?

Und sind somit die elektronischen Lärmkollagen der musique concrete eines Pierre Schaeffer, das ungemachte, mit gebrauchten Präservativen besudelte „Bed“ von Tracy Emin, die in Formaldehyd eingelegten Tierkadaver eines Damien Hirst oder die in Gewalt und Obszönität schwelgenden Dramen von Elfriede Jelinek nicht ein geistreicher und wichtiger Kommentar auf eine im Angesicht drohender thermonuklearer Selbstzerstörung von nichts als wahllosem Konsum und belangloser Zerstreuung getriebene Gesellschaft?

Oder sind wir hier einer fundamentalen Täuschung erlegen?

Leid und Elend, Krankheit und Krieg, Einsamkeit, Verlust und Verzweiflung, und die fürchterliche Gewissheit um die eigene Endlichkeit, waren von jeher Teil der Conditio humana.

Die großen Künstler der Vergangenheit - Michelangelo, Shakespeare, Bach - wussten um diese Dinge: um die Zerbrechlichkeit der menschlichen Existenz.

Und sie kannten den passenden Trost: Schönheit.

Von Anbeginn der Zivilisation war es die Aufgabe der Kunst, die bittersten und schmerzvollsten Erfahrungen menschlichen Leides zu sublimieren und so zu erlösen in einem Werk der Schönheit.

In den Wirren des dreißigjährigen Krieges, inmitten von Hunger, Tod und Verwüstung, entstanden die ersten großen Werke des Frühbarock – Rubens und Rembrandt in der Malerei; Lully, Schütz und Buxtehude in der Musik - und das denkerische Titanenwerk Descartes', das endgültig die Neuzeit einläutete.

Ohne dieses verzweifelte Aufbegehren des Geistes im Augenblick des drohenden Untergangs hätte die europäische Kultur den Aderlass von 1618-48 nicht überlebt.

Schönheit tröstet in Zeiten des Leides, und Schönheit bestätigt in Zeiten der Freude. Schönheit erst macht das Leben lebenswert.

Momente in denen wir uns selbst als Teil der Welt erkennen:

Das Leuchten in den Augen eines Kindes; ein plötzlicher Sonnenstrahl; ein unerwarteter Duft, der einen – für einen Moment – an einen längst vergessenen Ort in einer längst vergangenen Zeit versetzt; die Erinnerung an einen alten Freund, dessen Gesicht einem unvermittelt vor Augen steht.

Kostbare Momente der Kontemplation. Entrückung, nicht hinfort von etwas, sonder hin - zu uns selbst.

Dies sind die Augenblicke, in denen wir an dem Schönen unmittelbar und wahrhaftig teilhaben, in denen wir eins sind mit der Wirklichkeit

Und es ist dies Erleben des Schönen, das uns in den Skulpturen der antiken hellenischen Meister, in den Gemälden Tizians, in Mozarts Requiem und im lichten Steinwerk der großen gotischen Kathedralen entgegentritt.

Die Antwort, die Zeitgenössische Musik und Kunst auf die vielbeschworene Geworfenheit des postmodernen Menschen zu geben haben, scheint hingegen wenig mehr zu sein als eine selbstbezogene Anbiederung an einen hedonistischen Zeitgeist: „Ich“; „meine Welt“; „Meine Bedürfnisse“; - „mein Profit“. Gleichgültige und inhaltsleere Gesten; wie ein schlaffer Händedruck, oder ein falsches Lächeln. Belanglos und fad.

Blaise Pascale spricht von dem „gottförmigen Loch“ im Zentrum der Wirklichkeit, das die Denker der Aufklärung zurückgelassen hätten; wie ein fehlendes Stück in der Mitte eines Puzzlespiels, das man gern komplett den Enkeln übergeben möchte, nur um gewahr zu werden, dass dieses letzte, zentrale Teil irgendwo im staubigen Keller der eigenen Kindheit verloren gegangen ist.

Duchamp, der Schöpfer des eingangs erwähnten „kunstegewordenen Pinkelbeckens“ hat zumindest versucht, daran zu gemahnen, das dieses Vakuum gefüllt werden muss.

Wir fragen uns nun: Was bedeutet die „Säule der Schönheit“ für uns als Freimaurer? Ist die Schönheit, nach alledem, nicht doch bloß schmückendes Beiwerk?

Blicken wir in die Arbeiten der großen Kulturphilosophen, von unserem Bruder Johann Gottfried Herder, über Emile Durkheim, Wilhelm Dilthey und Ernst Cassirer, bis zu Claude Lèvi-Strauss, so zeigt sich, das jene eng miteinander verwobenen Sphären des Erfahrens und Erlebens, - die des Schönen und die des Heiligen, die bereits Hegel als unmittelbar wesensverwandt erkannt hatte -, sich aus zwei Quellen nähren: zum einen aus der symbolischen Erschließung der Wirklichkeit im vorbegrifflichen mythischen Denken; zum anderen aus der zyklischen, gemeinschaftlichen Re-aktualisierung des so als Wahrhaftig erfahrenen im Ritual.

Dies war so, in allen Völkern und Zeiten.

In der symbolischen Form der unmittelbaren Erfahrung von Wirklichkeit als ganzheitlicher Gestalt, die dem Fassen in konkrete und abstrakte Begriffe vorausliegt, ist der Mensch in der Welt.

Im gemeinschaftlichen Ritual vergegenwärtigt und vergewissert sich der Mensch, das Welt und Wirklichkeit, so wie sie ihm in der Anschauung gegenübertreten, Wahr und Gut sind.

Und diese Sinnhaft erfahrene Synthese des Wahren und Guten ist, wie schon Platon wusste: das Schöne.

Die Säule der Schönheit, gleich der Bahn des Sonnenlaufes im Süden stehend, erinnert uns: Wie die Sonne das Licht der Welt ist - so ist die Schönheit das Licht der Seele. Ohne das Schöne versinkt der Geist in Finsternis.

Schönheit ist mithin nicht bloß Blendwerk, äußerlicher Schein; Schönheit ist ein essentieller Wert, Ausdruck des schöpferisch gestaltenden Verstandes, eine tragende Säule des Tempels der Humanität.

Zierde spricht zu Geist und Seele; Beethovens Streichquartette, Van Goghs „Sternennacht“, Rilkes „Duineser Elegien“ gemahnen: Wir sind geistige Wesen, vom Allmächtigen Baumeister aller Welten mit der Gnade von Bewusstsein und Urteilskraft beschenkt, und nicht auf bloß materielles, auf Sachnutzen, Zweckdienlichkeit, biologische Zwänge und pekuniäre Ziele reduzierbar.

Wenn wir verlernen, was Schönheit bedeutet – und ein Blick in die Welt wird jeden empfindsamen Menschen mit großer Sorge erfüllen -, dann werden wir verlieren, was uns menschlich macht. Wir verlieren unser Sein in der Wirklichkeit, unser Heim, unser angestammtes Zuhause. Fjodor Dostojewski hoffte einst „Die Schönheit rettet die Welt“. An den logischen Umkehrschluss dieses Diktums wage ich nicht zu denken.

Doch es führen Wege hinaus aus dem seelischen Ödland:

Die Gemeinschaft unter Brüdern, das gemeinsame Erleben im Ritual, gemeinsames Singen, gemeinsames Mahl und gemeinsames Gespräch; ein Rückzugsort vor der Tyrannei der Banalität und vor der rohen Gemütsarmut des Alltags; ein kostbarer Freiraum für Geist und Seele.

Und dies versichert uns: Es gibt neben dem verkaufsoffenen Sonntag, neben „Facebook“, der Bundesliga, der neuen Staffel von „Game of Thrones“, und dem run auf das neue „iPhone X“ noch eine Wirklichkeit, die sich nicht in Trivialitäten, nicht in Konsum und Zerstreuung erschöpft; die größer ist – und schöner!

Lasst uns, meine Brüder, also die Schönheit in der Welt gemeinsam erfahren, gestalten und bewahren!

Literatur

  • Cassirer, Ernst 1953 [1923]: Philosophie der symbolischen Formen; zweiter Teil: Das mythische Denken. 3 Bde., Bd.2. Darmstadt: Wiss. Buchgemeinschaft.
  • Danto, Arthur 1981: The Transfiguration of the Commonplace: A Philosophy of Art. Cambridge (Mass.): Harvard Univ. Press.
  • Dilthey, Wilhelm 1970 [1910]: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
  • Durkheim, Emile 1984 [1968]: Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
  • Fubini, Enrico 1991: History of Music Aesthetics. London: Palgrave Macmillan.
  • Gadamer, Hans-Georg 1993: Ästhtetik und Poetik I: Kunst als Aussage. Tübingen: Mohr.
  • Hegel, G.W.F. 1988 [1820-9]: Vorlesungen über die Ästhetik I. Werke in 20 Bdn. mit Registerbd., Bd.13. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
  • Herder, J.G. 1967 [1769]: Kritische Wälder oder Betrachtungen die Wissenschaft und Kunst des Schönen betreffend. Sämtl. Werke Bd. 3. Hildesheim: Olms.
  • Kant, Immanuel 1983 [1790]: Kritik der Urteilskraft. Werke in 6 Bdn., Bd. 5. Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft.
  • Lévi-Strauss, Claude 1967: Strukturale Anthropologie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
  • Otto, Rudolf 1922: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen. Breslau: Trewendt und Granier.
  • Rickert, Heinrich 1986 [1899]: Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft. Stuttgart: Reclam.
  • Weber, Max 1985 [1922]: Wirtschaft und Gesellschaft.Studienausgabe. Tübingen: Mohr Siebeck.

Siehe auch

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