Traktat: Ein Zwischenruf von Thomas Bierling

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Ein Zwischenruf

Von Thomas Bierling

Seit 18 Jahren bin ich nun Freimaurer. Inzwischen kann ich diese Zeit grob in zwei Perioden einteilen. Die erste, in der ich mich in einem Bund von höchst unterschiedlichen, aber auf einer bestimmten Abstraktionsebene auch gleichgesinnten Menschen wähnte. Die zweite heißt „Facebook“.

Ich bin dem vielgeschmähten sozialen Netzwerk dafür sehr dankbar. Es hat mich auf eine drastische Weise desillusioniert, wie es keine hundert Logenbesuche geschafft hätten. Viele Jahre war ich der irrigen Ansicht, dass Menschenliebe, Toleranz, Humanität und Brüderlichkeit eine gemeinsame Minimalbasis bildeten. Aber Facebook ist gnadenlos. Es verhilft jedem dazu, seine dunkelsten Seiten hemmungslos und freiwillig offenzulegen. Da wird geholzt, was das Zeug hält: Ausländer, Moslems, Flüchtlinge — immer feste druff. Die postfaktischen Wutbrüder verbreiten gerne und oft Fake-News und wildeste Verschwörungstheorien aus dubiosesten Quellen. Kritische Reflexion? Sorgfältige Abwägung? Ach was, das trifft schon die Richtigen. Erst schießen, dann fragen. Wo kämen wir denn da hin, und überhaupt wird man das ja wohl noch sagen dürfen! Die Würde des Deutschen ist jedenfalls unantastbar. Sofern er nicht zu den „linksgrünversifften Merkel-Untertanen“ gehört.

Ihr meint, ich übertreibe? In der Tat handelt es sich um einen ganz persönlichen und subjektiven Eindruck. Seriös quantifizieren könnte ich es nicht. Aber es ist mehr als auffällig, wie viele der auf Facebook aktiven Brüder sich in dieser Weise äußern. Die Koordinatenverschiebung nach rechts hat inzwischen auch unsere Bruderschaft erfasst. Dass die Grenzen des Sagbaren durchlässig geworden sind, ist schlimm genug. Aber wenigstens erfährt man dadurch, was viele wohl schon immer gedacht haben.

Aber Moment: „Grenzen des Sagbaren“? Ich höre schon die Rufe, dass wir politisch neu­tral seien, und die Toleranz gegenüber anderen Meinungen sei doch ein hohes Gut. Will ich etwa andere, konservative Meinungen unterdrücken? So, wie es die „systemkonforme Lügenpresse“ tut?

Nun, es besteht immer noch ein deutlicher Unterschied zwischen Meinung und Unfug. So, wie die Leugnung des Holocausts eben keine Meinung darstellt, ist auch offen verbreiteter Rassismus keine Meinung, sondern ein Verbrechen. Leider sind offenbar einige Brüder den rhetorischen Tricks der Neuen Rechten inzwischen auf den Leim gegangen, wo sich rein rassistische Motive hinter vorgeschobenen scheinbaren Problemen verbergen. Das ist alles, aber bestimmt nicht konservativ. Wie soll ich als Freimaurer solche „Meinungen“ tolerieren, die den Boden jeder Humanität längst verlassen haben? Dazu muss man auch nicht links sein, Mensch genügt.

Aber nicht nur auf politischem Gebiet, auch entlang der Großlogengrenzen tun sich die alten Bruchlinien wieder überdeutlich auf. Wenn man als Bruder der Großloge A.F.u.A.M.v.D. gelegentlich eine Loge des Freimaurerordens besucht, so überwiegt in der persönlichen Begegnung doch der brüderlich-gesellige Aspekt, gepaart mit Verwunderung über eine etwas fremdartige Ritualfolklore. Die tiefgreifenden weltanschaulichen Unterschiede lernt man aber bei Facebook schonungslos kennen. Nun wäre die Tolerierung ebensolcher Unterschiede eigentlich als freimaurerische Kernkompetenz zu verstehen. Dachte ich jedenfalls. Wenn man aber als atheistisch oder agnostisch denkender Bruder in schöner Regelmäßigkeit die Regularität abgesprochen bekommt, dann ist das mehr als grenzwertig. Es wird jeder Glaube toleriert — sofern es sich um den christlichen handelt. Die unsägliche Diskussion nebst der hanebüchenen Reaktion auf das jüngste Buch von Br. Klaus-Jürgen Grün wäre ohne die Facebook-typische Empörungsspirale sicherlich etwas milder verlaufen.

Für Kopfschütteln sorgt bei mir — neben diesen inhaltlichen Komponenten — auch der Stil der Diskussionen. Man kann sich sicher sein, dass spätestens beim dritten Kommentar zu einem kontroversen Thema die Sachebene verlassen und durch Beschimpfungen ersetzt wird. Wenn nicht die reine Sachfrage bereits als persönliche Beleidigung aufgefasst wurde.

Deshalb halte ich es sogar für erfreulich, dass sich unsere Großloge aus den sozialen Medien heraushält. Die Beiträge und Kommentare der Brüder wären voraussichtlich die beste Möglichkeit, uns vor aller Öffentlichkeit komplett zu blamieren. Ganz offensichtlich sind auch wir nur ein Spiegel der Gesellschaft unserer Zeit. Ich verspüre sehr deutlich, dass die allgemein bemerkbare Polarisierung und Radikalisierung auch viele von uns erfasst hat. Noch steht eine politische Entwicklung wie in Polen oder Ungarn nicht unmittelbar vor der Tür. Aber sollte es in Deutschland je wieder zu einer rechtsextremen Regierung kommen, bleibt zu hoffen, dass nicht, wie schon einmal in der Geschichte, zu viele Brüder den opportunistischen Weg der Anpassung gehen.

Dann hätte unser Bund versagt.