Traktat: Jens Rusch: Künstliche Intelligenz in einer virtuellen Enzyklopädie ?
Künstliche Intelligenz in einer virtuellen Enzyklopädie ?
Seit dem Oktober 2022 ist die Informationswelt des Internets nicht mehr, wie sie war. Mit der sogenannten AI (Artificial intelligence) oder KI (Künstliche Intelligenz) hielt ein neues, mächtiges Instrument Einzug in die Welt menschlicher Formulierungskunst und Recherchefähigkeiten. Das kann man begrüßen, oder ablehnen – ignorieren kann man diese Entwicklung nicht. Der Geist ist aus der Flasche und keine Macht der Welt wird sie zurück stopfen können. Das gigantische Volumen globaler Algorithmen birgt in sich einen Grad von Selbstkontrolle und Verifizierbarkeit, dem der Mensch nur wenig an geistigem Eigenvermögen entgegensetzen kann. In den Tagesnachrichten appellieren Kultusminister bereits an Lehrkräfte, sich auf das bequeme Recherche-Niveau ihrer Schüler herabzulassen, um den längst abgefahrenen Zug vielleicht doch noch zu erwischen. Keine Lehrkraft kann mehr unterscheiden, ob die Hausaufgaben von ChatGPT oder den Schülern selbst erledigt wurden. Und schon gibt es Verlage, die eine hauseigene virtuelle Rosamunde Pilcher in kürzester Zeit komplette Romane verfassen lassen kann. Nichts könnte verhindern, das Berliner Telefonbuch im Stile von Thomas Mann oder Arno Schmidt zu verfassen. Illustratoren und Künstler sehen machtlos zu, wie ihnen Midjourney neue kreative Möglichkeiten in Sekunden vor ihre sensiblen Augen führt, für die sie selbst ein halbes Leben an handwerklicher Schulung und geistiger Fingerfertigkeit investieren mussten. Wie einst die Kunst der Bleisetzer innerhalb kürzester Zeit brotlos wurde, oder in der Dunkelkammer der Fotografen durch die Erfindung des Smartphones die roten Lampen erloschen, so scheint hier dem über 500 Jahre alten Berufsstand der Gralshüter der Kreativität der Schwanengesang zu drohen. Die Professoren an den Kunstakademien müssen nun ihre Studenten auf ihre Entbehrlichkeit hinweisen, oder sie mit den neuen, revolutionären Möglichkeiten vertraut machen. Ganz egal ob sich das gegen ihre Überzeugung richtet oder nicht. Immer hilfloser erscheinen die Argumente gegen die neue Tendenz in den sozialen Medien. Die Überlegenheit menschlicher Kreativität ist nur noch ein nostalgisch romantischer Aspekt in diesen Disputen.
Wer die Entwicklung unseres Freimaurer-Wiki´s aufmerksam verfolgte, konnte über den Button „Letzte Änderungen“ erkennen, dass wir uns jeder technischen Herausforderung seit Beginn gestellt haben. War es zu Beginn noch die bloße Existenz einer virtuellen Enzyklopädie ansich, die zu Forderungen nach Ehrengerichtsverfahren animierte und zu Hacker-Angriffen animierte, so ist es heute die Warnung vor einer Verstümmelung von Recherche – und Informationsprozessen.
Im unspektakulären Hintergrund beschäftigen sich unsere Redaktionsmitglieder mit den neuen Möglichkeiten bereits seit Monaten, um ihren Nutzen für das Freimaurer-Wiki auszuloten. Waren es zunächst nur Illustrationen zu lexikalischen Themen, die uns ohne nachweisbare Eigenleistung sonst immer wieder in eine gefährliche Nähe zu nicht eindeutig verifizierbaren Urheberrechten geführt hätten, so sind es nun auch enzyklopädisch tragfähige Texte und Inhalte. Die Darstellungen von Dombauszenen von Bruder Michael Thomas Holstein oder sein neues Robert Burns-Jugendportrait mögen als erste Ergebnisse dieser Bemühungen dienen.
Diese Darstellungen sind ausschließlich textbasierend entstanden. Anstelle von Skizzen oder vorhandenen Szenen unsicherer Provenienz sind sogenannte „Prompts“ getreten, die wir überwiegend gemeinsam erarbeiten. Das von Elon Musk mitbegründete Forschungslabor OpenAI ist vor allem durch sein weithin als bahnbrechend empfundenes KI-Sprachmodell GPT-3 bekannt geworden. Das wohl komplexeste Maschine-Learning-Sprachmodell am Markt hatte Microsoft, schon seit 2019 Großinvestor von OpenAI, exklusiv zur Integration in die eigene Produktpalette lizenziert. Es sind zur Zeit noch eine ganze Reihe verwandter Beta-Versionen verfügbar, die testweise auch noch kostenfrei verfügbar sind. Ich selbst benutze beispielsweise den Deepdream-Generator, der lediglich ein Tagesvolumen limitiert. Diese Feldversuche dienen der Verbesserung der Algorithmen unter Mitwirkung interessierter Künstler und Texter. Von einer bestimmten Anspruchsebene werden diese Instrumente jedoch bereits kostenpflichtig.
Meine Versuche mit den Textgeneratoren von ChatGPT verliefen nur teilweise befriedigend. Noch sind die Ergebnisse ohne Disclaimer oder Lektorat nur begrenzt nutzbar. Ein Beispiel mag zur Veranschaulichung dienen: Auf die Textanforderung VGLvD teilte ChatGPT diese Textpassage mit:
«VGLvD steht für "Vereinigte Großlogen von Deutschland" und bezeichnet einen Zusammenschluss von acht regulären Großlogen in Deutschland. Der Vereinigung gehören die Großlogen "Zur Alten Linde", "Zur Eintracht", "Zum deutschen Eck", "Zum Felsentor", "Zum grünen Zweig", "Zur Sonne", "Zum Tempel der Freundschaft" und "Zur Wahrheit" an. Die Vereinigte Großlogen von Deutschland wurden im Jahr 1949 gegründet, um die Freimaurerei in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufzubauen und zu organisieren. Die Vereinigung arbeitet nach den Prinzipien der "Regularität", die die Einhaltung bestimmter traditioneller Prinzipien und Regeln in der Freimaurerei betonen. Die Vereinigte Großlogen von Deutschland sind Mitglied der Vereinigten Großlogen von Europa, einer Organisation, die verschiedene reguläre Freimaurer-Großlogen in Europa vertritt und koordiniert. Die Vereinigung hat auch enge Beziehungen zu anderen regulären Freimaurer-Großlogen auf der ganzen Welt.» Zitatende.
Die Textanforderung zum Suchbegriff „Zinnendorf“ ergab eine Kurzbiographie zu August Hermann Francke Graf von Zinzendorf. Die hatte ich zwar gar nicht gesucht, ergab aber einen überraschend interessanten Neueintrag, denn dieser war tatsächlich Freimaurer gewesen und hatte sogar Fußabdrücke hinterlassen, die uns wohl ansonsten entgangen wären.
Eine unlektorierte Übernahme solcher KI-generierter Texte ist also im derzeitigen Entwicklungsstadium noch sehr diskussionswürdig – dennoch sollten wir die Entwicklung unbedingt im Auge behalten. Und das können wir nicht durch Ablehnung und Kritik, sondern bedeutend besser, indem wir uns bemühen, uns diese neuen Möglichkeiten für unsere eigene Arbeit nutzbar zu machen.
Nachtrag
Wir sind übereingekommen, unsere Autoren dazu anzuhalten, auf die Verwendung von KI-generierten Texten, Bildern, Video- und Audio-Dateien zu verzichten.