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− | == Freimaurerei. Analysen, Überlegungen, Perspektiven ==
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− | Prof. Dr. [[Hans-Hermann Höhmann]]
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− | <poem>
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− | Edition Temmen
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− | Hans-Hermann Höhmann
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− | Freimaurerei
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− | Analysen, Überlegungen, Perspektiven
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− | © Edition Temmen 2011
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− | Hohenlohestr. 21 — 28209 Bremen
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− | Tel. 0421-34843-0 — Fax 0421-348094
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− | Alle Rechte vorbehalten
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− | Gesamtherstellung: Edition Temmen
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− | ISBN 978-3-8378-4028-5
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− | Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der
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− | Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
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− | sind im Internet unter http://dnb.ddb.de abrufbar.
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− | Umschlaggestaltung: LEAD COMMUNICATIONS GmbH & Co. KG, Köln
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− | Zum Andenken an
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− | Rudolf Friebe
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− | Hermann Höhmann
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− | Friedrich Heller
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− | Inhalt
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− | Vorwort 9
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− | Zur Einführung
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− | Freimaurerei in Deutschland: Ein Überblick im Kontext 12
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− | von Geschichte, internationalen Entwicklungen und
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− | freimaurerischen Konzeptionen
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− | Zur neueren Geschichte der Freimaurerei in Deutschland
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− | Europas verlorener Friede, die national-völkische 51
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− | Orientierung innerhalb der deutschen Freimaurerei
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− | und die »freimaurerische Erinnerungspolitik« nach
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− | dem Zweiten Weltkrieg
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− | Deutsche Freimaurerei nach 1945 – Wiederaufbau zwischen 88
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− | Neuorientierung und alten Strukturen
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− | Sozialwissenschaftliche Analysen zur Freimaurerei
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− | Habitus, soziales Feld, Kapital – Freimaurerei im Lichte 115
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− | der Soziologie Pierre Bourdieus
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− | »The Means of Conciliating true Friendship« – 132
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− | Freimaurerei als Sozialkapital
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− | Diskurse und Betrachtungen zum Verhältnis zwischen Freimaurerei,
| |
− | Politik, Kultur und Gesellschaft
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− | Der deutsche Freimaurerdiskurs der Gegenwart: 152
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− | Was ist, was will, was soll die Freimaurerei?
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− | »Von Gott und der Religion« – Zum Religionsdiskurs 179
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− | in der deutschen Freimaurerei
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− | Vom Vorurteil zum Urteil: Der freimaurerische Bildungsweg 198
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− | Bürgerliches Selbst- und Wertebewusstsein 209
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− | als Zukunftsfaktor Europas
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− | Analysen und Überlegungen zum Ritual der Freimaurer
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− | Die Allgegenwart des Rituellen. Rituale, Ritualforschung, 224
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− | Freimaurerei
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− | »Des Maurers Wandeln, es gleicht dem Leben …« – 232
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− | Überlegungen zur Symbol- und Ritualwelt der
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− | Freimaurerei
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− | Plädoyer für die Säule der Schönheit – 240
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− | Zur ästhetischen Dimension der Freimaurerei
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− | Begleiter der Zeit: 248
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− | Engagement und Reflexion 1971–2010
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− | Vier Thesen zur Erneuerung der Freimaurerei (1971) 249
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− | Plädoyer für eine verantwortliche Freimaurerei – 254
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− | Hat die Freimaurerei öffentliche Aufgaben und wie sollen
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− | sie wahrgenommen werden? (1971)
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− | Eine Großloge wird vorgestellt: Leitgedanken zu Standort 262
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− | und Identität der Großloge der Alten Freien und
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− | Angenommenen Maurer von Deutschland (1986)
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− | 1737–1987: Vergangene Hoffnungen einlösen! 266
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− | 250 Jahre Freimaurerei in Deutschland (1987)
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− | Lessing und die Freimaurerei der Gegenwart (1991) 270
| |
− | Herausforderung Deutschland. Überlegungen nach 276
| |
− | der deutsch-deutschen Vereinigung (1991)
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− | Enthusiasmus und Verantwortung – Zum 230. 281
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− | Stiftungsfest der Loge »Anna Amalia zu den
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− | drei Rosen« in Weimar (1994)
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− | Regularität und Humanität: Freimaurerei vor 285
| |
− | dem Jahr 2000 (1995)
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− | Kulturpreis Deutscher Freimaurer: Kultur des 290
| |
− | Erinnerns – Kultur der Kommunikation (1998)
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− | Quatuor Coronati: neue Leitung – alte Aufgaben (1999) 296
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− | Toleranz als politisches Prinzip und persönliche Tugend – 300
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− | die Sicht eines Freimaurers (2000)
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− | Lob eines Brückenbauers: 306
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− | Dr. Alois Kehl zum 80. Geburtstag (2003)
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− | »Ver Sacrum« – junge Loge in veränderter Zeit (2005) 311
| |
− | Bürgerlicher Bund in nachbürgerlicher Gesellschaft (2008) 317
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− | Dan Browns »Verlorenes Symbol«: 323
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− | Freimaurerei zwischen Fiktion und Wirklichkeit (2010)
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− | 9
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− | Vorwort
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− | Seit 1958 gehöre ich dem Freimaurerbund an. Er hat mich durch mein erwachsenes Leben
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− | begleitet, ich verdanke ihm menschliche Begegnung, moralische Orientierung, spirituelle
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− | Bereicherung und immer wieder Anstöße für die Suche nach dem Weg zu mir selbst.
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− | Ich bin immer ein aktiver Freimaurer gewesen und habe mich oft und gern einbinden
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− | lassen in das brüderliche Mitgestalten meiner Loge »Ver Sacrum«, der »Großloge der Alten
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− | Freien und Angenommenen Maurer von Deutschland«, der »Vereinigten Großlogen von
| |
− | Deutschland« und der Freimaurerischen Forschungsgesellschaft (Forschungsloge) »Quatuor
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− | Coronati«. Mit besonderer Freude habe ich nach der deutsch-deutschen Vereinigung im
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− | Jahre 1990 am Wiederaufbau der Freimaurerei in den neuen Bundesländern mitgewirkt.
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− | Für all diese Handlungsfelder habe ich immer wieder versucht, Überlegungen anzustellen,
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− | Gedanken zu formulieren und Konzepte zu erarbeiten, einmal, um mir selbst über
| |
− | mein Grundverständnis der Freimaurerei als eines ethisch orientierten Bundes mit einer
| |
− | symbolischen Einübungs- und Erfahrungsmethode klar zu werden, zum anderen, um
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− | brauchbare Grundlagen für das Gespräch mit meinen Mitbrüdern und den Repräsentanten
| |
− | der Öffentlichkeit zur Verfügung zu haben. Denn Freimaurerei entfaltet sich im Diskurs,
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− | und »nichts geht über das laut denken mit einem Freunde« (Lessing).
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− | Zu diesen »Überlegungen« und »Kommentaren« sind im Laufe der Jahre immer mehr
| |
− | »Analysen« hinzugekommen. Als »gelernter« Sozialwissenschaftler mit einer ausgeprägten
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− | Affinität zu historischer Betrachtung habe ich insbesondere die Zeit nach dem Ausscheiden
| |
− | aus Forschungsinstitut und Universität genutzt, um analytische Beiträge zum Verhältnis
| |
− | von Freimaurerei und Gesellschaft in Deutschland zu erarbeiten.
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− | Drei Problemkreise haben mich dabei besonders beschäftigt:
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− | • die Voraussetzungen, die eine Freimaurerei zu erfüllen hätte, die auch in der heutigen Gesellschaft
| |
− | attraktiv sein und verstanden werden will,
| |
− | • das spezifische Verhältnis zwischen Freimaurerei und gesellschaftlichem Wandel, das diese
| |
− | Attraktivität offenbar nicht so recht zustande kommen lässt, sowie
| |
− | • die problematische Geschichte der deutschen Freimaurerei in der ersten Hälfte des 20.
| |
− | Jahrhunderts und ihre unzureichende Aufarbeitung in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg.
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− | Hier ließ mich das kollektive Wegschauen großer Sektoren der deutschen Freimaurerei gegenüber
| |
− | mancherlei völkischen Verirrungen nicht ruhen, und ich empfand es zunehmend
| |
− | schlicht als peinlich, unbequeme historische Wahrheiten immer nur von externen Wissenschaftlern,
| |
− | also Nicht-Freimaurern, beschrieben und analytisch erörtert zu sehen.
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− | So sind im Laufe der Jahre weit über 100 Texte zur Freimaurerei entstanden, die verstreut,
| |
− | teilweise auch im Ausland, veröffentlicht wurden. Der vorliegende Band, um dessen
| |
− | Zusammenstellung ich von vielen Freunden und auch von externen Kollegen immer
| |
− | wieder gebeten wurde, enthält eine Auswahl dieser Veröffentlichungen. Die Beiträge sind
| |
− | aus einer prinzipiell zustimmenden Haltung heraus geschrieben, sie sprechen aber auch
| |
− | manchen blinden Fleck, ja manches Tabu an, denn wer es gut meint mit der Freimaurerei,
| |
− | darf darüber nicht hinwegsehen. Alle analytischen Beiträge des Bandes wurden gründlich
| |
− | 10
| |
− | überarbeitet und größtenteils wesentlich erweitert, sodass sie nicht mehr mit den ersten
| |
− | Fassungen identisch sind.
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− | Der Verweis auf »Perspektiven« im Untertitel des Buches ist gewählt worden, um zweierlei
| |
− | zum Ausdruck zu bringen:
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− | Zum Ersten geht es um die Perspektive des Autors selbst, der seine brüderliche Heimat
| |
− | in einer ethisch-orientierten, der Aufklärung verpflichteten, in den Basisgraden der Freimaurerei
| |
− | beschlossenen, zugleich symbolisch-rituell fundierten und auf spirituelles Erleben
| |
− | ausgerichteten Freimaurerei gefunden und bewahrt hat. Viele Beiträge sind aus dieser eigenen
| |
− | konzeptionellen Perspektive heraus verfasst, zumal es meine Überzeugung ist, dass nur
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− | mit einem überzeugenden Konzept ethisch-orientierter Freimaurerei die Integration des
| |
− | Bundes in die Gesellschaft und eine widerspruchsfreie Kommunikation mit der Öffentlichkeit
| |
− | gelingt, bei der nicht Teile des Bundes als schwer vermittelbar verborgen werden
| |
− | müssen.
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− | Zum anderen geht es um die vielen Perspektiven der »anderen« bezüglich der Freimaurerei,
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− | auf die jeder Beobachter stößt, der sich mit dem Freimaurerbund beschäftigt.
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− | Seit ihrer Begründung zu Beginn des 18. Jahrhunderts existierte ja immer nicht allein
| |
− | nur eine Freimaurerei (Singular). Es gab stets viele Freimaurereien (Plural), sowohl in der
| |
− | gesellschaftlichen Realität als auch in den Vorstellungen und Perzeptionen der Mitglieder
| |
− | im Inneren des Bundes und bei den vielen, die ihn teils freundlich, teils unfreundlich,
| |
− | teils durch Verschwörungsparanoia verzerrt seit Beginn von außen betrachtet haben. Von
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− | Anfang an war Freimaurerei immer auch ein Produkt unterschiedlicher gesellschaftlicher
| |
− | Wahrnehmung, sie war ein »Raum, in dem vieles möglich war«, wenn dieser Raum auch
| |
− | durch »wieder erkennbare Strukturen und Regeln« (Monika Neugebauer-Wölk) gekennzeichnet
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− | wurde.
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− | Zu den unterschiedlichen Perspektiven hinsichtlich der Frage, »was Freimaurerei eigentlich
| |
− | ist«, kommen Phänomene von Bedeutungsvergrößerung in den Innen- und Außensichten
| |
− | hinzu. Von innen erscheint Freimaurerei nicht selten als Inbegriff des Humanen,
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− | als Bund, der – wie es dann gern heißt – umgehend begründet werden müsste, wenn es ihn
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− | nicht schon lange gäbe. Von außen haben sich die Blow-up-Effekte der Verschwörungsvorstellungen
| |
− | perpetuiert, die die Freimaurerei von Anfang an über ihre natürliche Größe
| |
− | hinaus dämonisierten – notfalls unter Zuordnung mächtiger Kampfgenossen wie der Juden
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− | und der Jesuiten – und die den Bund über die Ludendorffs und Rosenbergs bis in die
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− | Feuilletons heutiger großer Tageszeitungen hinein begleitet haben.
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− | Für einen freimaurerischen Autor, der sich der unterschiedlichen Formen der Freimaurerei
| |
− | und der Ambivalenz der Perzeptionen bewusst ist, bleibt nur, sich zur eigenen
| |
− | Perspektivität zu bekennen und zugleich zu versuchen, eigenen Vorurteilen nicht allzu
| |
− | sehr zu erliegen und analytisch möglichst nahe an die »Freimaurereien der Wirklichkeit«
| |
− | heranzukommen.
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− | Herzlich danke ich Christian Meier, Marcus Meyer, Norbert Mülleneisen und Günter
| |
− | Wolf, die das Manuskript oder Teile davon kritisch gelesen und mir bei der Materialbeschaffung
| |
− | geholfen haben. Ihre Kritik und Vorschläge waren hilfreich für mich, doch es
| |
− | versteht sich von selbst, dass die Verantwortung für den endgültigen Text voll beim Autor
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− | verbleibt. Dem Verlag Edition Temmen danke ich für die Aufnahme des Buches in sein Verlagsprogramm
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− | und der Forschungsloge »Quatuor Coronati«, die in einem ganz besonderen
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− | 11
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− | Sinne meine brüderliche Heimat und maurerische Inspirationsquelle ist, für die nachhaltige
| |
− | Förderung der Publikation.
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− | Gewidmet ist dieser Band der Erinnerung an drei Brüder, die meinen Weg in die Freimaurerei
| |
− | wesentlich geprägt haben: an meinen Großvater Rudolf Friebe, dessen zugewandte
| |
− | Mitmenschlichkeit mich beeindruckt hat, lange bevor ich wusste, dass er ein engagierter,
| |
− | gesinnungstreuer und mutiger Freimaurer war, an meinen Vater Hermann Höhmann, mit
| |
− | dem ich viel über Freimaurerei gesprochen habe, der dennoch nie versucht hat, Einfluss
| |
− | auf die Entwicklung meiner eigenen Vorstellungen auszuüben und dessen fast ausschließlich
| |
− | freimaurerischer Freundeskreis mir viele prägende und anhaltende Eindrücke von der
| |
− | spezifischen Lebenskultur des Bundes vermittelte, sowie an meinen Freund und Bürgen
| |
− | Friedrich Heller, den späteren VGLvD-Großmeister, der mich in den Bund aufgenommen
| |
− | hat und mit dem das »Laut denken mit dem Freunde« bereits vor meiner Aufnahme begann.
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− | Köln, im Januar 2011
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− | Hans-Hermann Höhmann
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− | 12
| |
− | Freimaurerei in Deutschland:
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− | Ein Überblick im Kontext von Geschichte,
| |
− | internationalen Entwicklungen und
| |
− | freimaurerischen Konzeptionen
| |
− | »Sieh, Konstant, so steht es mit dem Orden, dessen Geheimnis Du ergründen willst; über
| |
− | den Verfolgung und Spott, Unwissenheit und Verrat nichts vermögen. So wie man zuweilen
| |
− | im Spaß gesagt hat: Das größte Geheimnis der Freimaurer ist, dass sie keins haben; so
| |
− | kann man mit Recht sagen: das offenbarste und dennoch geheimste Geheimnis der Freimaurer
| |
− | ist, dass sie sind und fortdauern. Denn – was ist es doch, was kann es doch sein,
| |
− | das alle Menschen von der verschiedensten Denkart, Lebensweise und Bildung zusammen
| |
− | verbindet und unter tausend Schwierigkeiten, in dieser Zeit der Erleuchtung und
| |
− | Erkaltung, beieinander erhält?«
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− | Johann Gottlieb Fichte: Philosophie der Maurerei. Briefe an Konstant
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− | Vorbemerkung
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− | Freimaurerei ist ein weltweiter Freundschaftsbund, und gilt – so die Internetseiten vieler USamerikanischer
| |
− | Großlogen – als »the largest and oldest fraternity in the world«.1 Freimaurerei
| |
− | stellt aber auch eine spezifische symbolisch-rituelle Lehr- und Erfahrungsmethode dar,
| |
− | die von Anfang an auf Einübung einer ethisch fundierten Art und Weise der Lebensführung
| |
− | angelegt war: »A Mason is oblig’d, by his Tenure, to obey the moral Law« hieß es bereits in
| |
− | den »Andersons Konstitutionen« von 1723, und eine spätere, viel zitierte Definition, ebenfalls
| |
− | aus der englischen Freimaurerei, nahm diesen Gedanken auf: »Freemasonry is a peculiar
| |
− | system of morality, veiled in allegory, and illustrated by symbols«. Freimaurerei versucht
| |
− | dabei, die gesellige, die intellektuelle und die emotionale Seite des Menschen gleichermaßen
| |
− | anzusprechen. Verstand und Gefühl werden nicht getrennt, und insbesondere die in den Logen
| |
− | geübte Ritualpraxis soll dazu beitragen, Einsichten in Lebenswirklichkeiten gleichzeitig
| |
− | denkend und fühlend zu gewinnen.
| |
− | Freimaurerei stellt allerdings keine Einheit dar. Von Beginn an gab es unterschiedliche
| |
− | Erscheinungsformen des Freimaurerbundes, die sich – mit der Entwicklung von Hochgradsystemen
| |
− | – vor allem in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts weiter ausdifferenziert
| |
− | haben. Viele damit verbundene Forschungsfragen sind bisher unbeantwortet, doch
| |
− | hat besonders seit den 1950er Jahren eine intensive multidisziplinäre wissenschaftliche
| |
− | Beschäftigung mit der Freimaurerei eingesetzt, an der in zunehmendem Maße auch Wissenschaftler
| |
− | an Universitäten und Forschungsinstituten teilnehmen, die selbst nicht dem
| |
− | Freimaurerbund angehören. In Deutschland sind die wichtigsten dieser Forscherinnen und
| |
− | 1 So z.B. Grand Lodge of Michigan, www.gl-mi.org.
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− | Forscher am »Netzwerk Freimaurerforschung« beteiligt, das im Jahre 2001 in Anlehnung
| |
− | an die Universität Bielefeld begründet wurde.2
| |
− | Der folgende einleitende Beitrag des Bandes soll die historisch-analytische Basis für die
| |
− | folgenden Untersuchungen und Überlegungen schaffen. Er verbindet zentrale Gesichtspunkte
| |
− | der freimaurerischen Geschichte und Ritualistik mit analytischen Gesichtspunkten
| |
− | und Hypothesen zum Verständnis der sozialen Struktur des Freimaurerbundes und einem
| |
− | Aufriss von Selbstverständnis, Problemen und Entwicklungstendenzen der deutschen Freimaurerei
| |
− | am Beginn des 21. Jahrhunderts.
| |
− | Zentrale Aspekte der Geschichte des Freimaurerbundes
| |
− | Der folgende Abschnitt beansprucht nicht, die Geschichte des Freimaurerbundes zusammenfassend
| |
− | oder gar detailliert zu beschreiben. Er ist vielmehr auf ein Aufzeigen und Erörtern
| |
− | von Aspekten angelegt, die mir für die Beurteilung von Entstehung und Entwicklung
| |
− | der Freimaurerei wichtig erscheinen. Der Freimaurerbund ist ein Produkt der Moderne. Entwicklungsanstöße
| |
− | und Strukturmaterial aus der älteren Geschichte aufnehmend, entstand
| |
− | er als soziale Gruppierung von Gewicht zu Beginn des 18. Jahrhunderts in England und
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− | blickt inzwischen auf eine Entwicklung von fast 300 Jahren zurück. Die Vorgeschichte des
| |
− | Bundes reicht weiter zurück und beginnt mit den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen
| |
− | Steinmetzbruderschaften und deren Bauhütten, aus denen (und unter Bezug auf die) sich
| |
− | nach 1717, dem Jahr der ersten Großlogengründung, fast explosionsartig die modernen Freimaurerlogen
| |
− | entwickelten. Die Einzelheiten dieser »großen Transformation« von den Bauhütten
| |
− | der Steinmetze zu den Logen der »Gentlemen Masons« liegen immer noch im Dunkel
| |
− | der Geschichte und sind Gegenstand wissenschaftlicher Hypothesen sowie vielfältiger
| |
− | Spekulationen. Insbesondere ist noch nicht hinreichend geklärt, ob und inwieweit es sich
| |
− | bei dem, was später als »Esoterik der Freimaurerei« bezeichnet werden sollte, um das Ergebnis
| |
− | eines allmählichen, durch die Bauhütten des Mittelalters und der frühen Neuzeit vermittelten
| |
− | Einfließens alter Denkformen und Symbole in die Freimaurerei hinein handelt oder
| |
− | ob das zunehmende Gewicht der Esoterik in der Maurerei der zweiten Hälfte des 18. und
| |
− | der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Resultat eines großen Prozesses des Einsammelns hermetischer,
| |
− | symbolischer und gedanklicher Elemente aus der Kultur- und Religionsgeschichte
| |
− | des Abendlandes gewesen ist und insofern mehr mit Rückprojektionen als mit Kontinuitäten
| |
− | zu tun hat.
| |
− | Die wissenschaftliche Aufarbeitung der freimaurerischen Vergangenheit wird nicht nur
| |
− | durch die oft spärliche Quellenlage erschwert, vor allem, was die Praxis der frühen Freimaurerei
| |
− | betrifft. Hinzu kommt, dass quellengestützte Forschungsergebnisse nicht selten durch
| |
− | Entstehungslegenden überlagert werden, die aus der Freimaurerei selbst stammen. John
| |
− | 2 Das Netzwerk Freimaurerforschung wurde im Rahmen des Forschungsprojekts »Deutsche Freimaurerei
| |
− | der Gegenwart – Zur Wechselwirkung von (post)moderner Geselligkeit und bürgerlicher Gesellschaft«
| |
− | an der Universität Bielefeld eingerichtet und von folgenden Forscherinnen und Forschern initiiert: Prof.
| |
− | Dr. Jörg Bergmann (Bielefeld), Prof. Dr. Klaus Hammacher (Aachen), Prof. Dr. Hans-Hermann Höhmann
| |
− | (Köln), Dr. Stefan-Ludwig Hoffmann (Bochum), Dr. Florian Maurice (München), Prof. Dr. Monika
| |
− | Neugebauer-Wölk (Halle-Wittenberg), Prof. Dr. Linda Simonis (Köln) und Prof. Dr. Jan Snoek
| |
− | (Heidelberg). Homepage: http://www.freimaurerforschung.de/.
| |
− | 14
| |
− | Hamill unterscheidet in seiner Geschichte der englischen Freimaurerei3 »authentische«
| |
− | (wissenschaftliche) Schulen, die sich auf die Analyse überprüfbarer Fakten stützen, von
| |
− | »nicht-authentischen« Schulen. Letztere setzen die Freimaurerei unzulässigerweise durch
| |
− | Rückschlüsse aus dem, was später – insbesondere in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts
| |
− | – zur Freimaurerei, vor allem zur Freimaurerei von Hochgradsystemen, geworden ist,
| |
− | in eine direkte Beziehung zu Religionen, Mysterien, Kulten und hermetisch-esoterischen
| |
− | Traditionen vergangener Jahrhunderte. Generell sind die Freimaurer immer in der Versuchung
| |
− | gewesen, die Wurzeln der von ihnen in der jeweiligen freimaurerischen Gegenwart
| |
− | gewollten Form der Freimaurerei in der Vergangenheit zu entdecken, um sie hierdurch zu
| |
− | legitimieren.
| |
− | Fest steht jedoch, dass die Symbole und Rituale der Freimaurer, die bis auf den heutigen
| |
− | Tag in den Logen zur Anwendung kommen, in erster Linie den Formen- und Ideenwelten
| |
− | der europäischen Bautradition, ihren organisatorischen Zusammenschlüssen, ihren Legenden
| |
− | (Salomonischer Tempelbau, Baumeister Hiram, Märtyrerlegende der »Quatuor Coronati
| |
− | «) sowie den Verfahren der Mitglieder der Bauhütten, sich gegenseitig als Maurer zu
| |
− | erkennen, entstammen und damit insgesamt der Vorgeschichte der Freimaurerei angehören.
| |
− | Dabei sind neben den englischen vor allem die schottischen Traditionen von besonderer
| |
− | Bedeutung gewesen. David Stevenson hat in seiner grundlegenden Studie zu den Ursprüngen
| |
− | der Freimaurerei darauf hingewiesen, dass wesentliche Elemente des Bundes – die
| |
− | vor der Öffentlichkeit verborgenen Rituale, die geheimen Modalitäten der gegenseitigen
| |
− | Erkennung als Maurer, die feierlichen Initiationen neuer Mitglieder sowie die Aufnahme
| |
− | von Nichtmaurern in die Logen – neben praktischen Regeln für die Ausübung des Gewerbes
| |
− | und sozialen Einrichtungen – bereits Mitte des 17. Jahrhunderts für die schottischen
| |
− | Logen nachweisbar sind.4 Stevenson hat weiter deutlich gemacht, dass innerhalb der Rituale
| |
− | neben der Bausymbolik auch esoterische Vorstellungen an Bedeutung gewannen, die
| |
− | auf hermetische Traditionen der Renaissance zurückzuführen sind. Nicht zuletzt deshalb
| |
− | stieß die Freimaurerei schon in ihrer Formierungsphase auf Widerstand von Vertretern
| |
− | und Institutionen der etablierten christlichen Kirchen. Es ist allerdings wohl anzunehmen,
| |
− | dass die frühe Hermetik in den Logen der schottischen Freimaurer nicht direkt zu den
| |
− | mit allerlei zusätzlicher Symbolik rituell aufgefüllten Hochgradsystemen führte, die in der
| |
− | zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts populär wurden.5 Einmal war die Hermetik in den
| |
− | frühen schottischen Logen Bestandteil einer organisatorisch einfachen, noch nicht einmal
| |
− | dreigradigen Freimaurerei gewesen, zum anderen hatte sie sich über längere historische
| |
− | Perioden hinweg entwickelt und war insofern überlieferungsverbunden und nicht bewusst
| |
− | angeeignet. Deshalb kann sie auch als wesentlich authentischer gelten als die nicht selten
| |
− | gesuchte und willkürlich anmutende Esoterik in den Symbol- und Ritualkreationen der
| |
− | Hochgradsysteme des späten 18. Jahrhunderts. Hermetik und Alchemie, Wahrheitssuche
| |
− | 3 Hamill, John: The Craft. A History of English Freemasonry, Great Britain Crucible 1986, S. 15–25. Great
| |
− | Britain Crucible 1986.
| |
− | 4 Stevenson, David: The Origins of Freemasonry, Cambridge 1998.
| |
− | 5 »In der Freimaurergesellschaft scheint Hermes Trismegistos in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts
| |
− | noch keine bedeutende Rolle zu spielen. Salomons Tempel oder die Tempelritter sind die wichtigsten
| |
− | historischen Bezüge. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ändert sich das grundsätzlich.« Ebeling,
| |
− | Florian: Das Geheimnis des Hermes Trismegistos. Geschichte des Hermetismus. Mit einem Vorwort
| |
− | von Jan Assmann, München 2005, S. 161.
| |
− | 15
| |
− | in religiösem Eklektizismus, Hoffnung auf einen »Consensus der Religionen«, all das hatte
| |
− | ja für die Intellektuellen der Spätaufklärung eine beträchtliche Faszinationskraft, nicht als
| |
− | feste dogmatische Lehre, sondern als »Sammelbecken unterschiedlicher nichtorthodoxer
| |
− | Bild- und Gedankenfiguren«,6 die an die Stelle eines orthodoxen Christentums treten konnten.
| |
− | In diesem Kontext schreibt etwa Goethe im achten Buch seiner Erinnerungsschrift
| |
− | »Dichtung und Wahrheit«:
| |
− | »Ich studierte fleißig die verschiedenen Meinungen, und da ich oft genug hatte sagen
| |
− | hören, jeder Mensch habe am Ende doch seine eigene Religion, so kam mir nichts
| |
− | natürlicher vor, als dass ich mir auch meine eigene bilden könne, und dieses that ich
| |
− | mit vieler Behaglichkeit. Der neue Platonismus lag zum Grunde; das Hermetische,
| |
− | Mystische, Kabbalistische gab auch seinen Beitrag her, und so erbaute ich mir eine
| |
− | Welt, die seltsam genug aussah.«7
| |
− | Es kann wohl auch davon ausgegangen werden, dass es den Übergang von der »operativen«
| |
− | (bauhandwerklichen) zur »spekulativen« (symbolisch-philosophischen) Freimaurerei in der
| |
− | bisher angenommenen Form als einer, vor allem auf das 17. Jahrhundert datierten zeitlichen
| |
− | Abfolge nicht gegeben hat. Die Bauhütten waren bereits lange vor dem Entstehen der Freimaurerei
| |
− | als moderner Sozialform »spekulativ«, und gerade dies hat die berufsfremden Außenstehenden,
| |
− | die in zunehmender Zahl als »Angenommene Maurer« (»accepted masons«)
| |
− | hinzukamen, stark angezogen. Ernst Bloch etwa hat auf die Bedeutung der über Rohstoffe,
| |
− | Technik und Zwecke der Bauten, insbesondere auch der sakralen Bauten, hinausgehenden
| |
− | Bauideen und Bausymbole, das in den Bauhütten lebendige »Kunstwollen«, im Architekturkapitel
| |
− | (»Bauten, die eine bessere Welt abbilden, architektonische Utopien«) seines monumentalen
| |
− | Werkes »Das Prinzip Hoffnung« hingewiesen:
| |
− | »Damals war ein anderes Kunstwollen am Werk als das der sogenannten Zweckkunst,
| |
− | und weil es ein Kunst-Wollen war, zeigte es außer Rohstoff, Technik, Zweck die wichtigste
| |
− | Bestimmung: die der Phantasie. Es war hier diejenige der kanonischen Bauvollkommenheit,
| |
− | im Hinblick auf ein geglaubtes symbolisches Vorbild. Dieses Vorbild
| |
− | leitete gerade die Ausführung des Werks, nicht nur, wie der Archetyp, seinen Traum
| |
− | und Plan ante rem, es gab den Meisterregeln selber die Regel. Daher war das jeweilige
| |
− | große architektonische Kunstwollen das gleiche wie die jeweilige Symbolintention,
| |
− | die in der Ideologie des alten Bauhandwerks traditionell wirksam war. Diese Intention
| |
− | aber suchte mit Dreieck und Zirkel ›den Maßen eines als vorbildlich imaginierten
| |
− | Daseins-Baus überhaupt abbildlich näherzukommen‹« (Hervorhebung von
| |
− | E. Bloch).8
| |
− | 6 Hermetik, Eklektik, Consensus, www.jgoethe.uni-muenchen.de/…/hermetik.html, download 17.03.2011.
| |
− | 7 Goethe, Johann Wolfgang: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, Zweiter Teil, Achtes Buch, in:
| |
− | Heinemann, Karl: Goethes Werke, Zwölfter Band, Leipzig und Wien o.J., S. 387.
| |
− | 8 Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung, Zweiter Band, Frankfurt am Main 1982, S. 837. Blochs Verhältnis
| |
− | zur Freimaurerei ist ambivalent: »Wie bekannt, gebraucht die Maurerei sowohl die Abzeichen des Baugewerks
| |
− | wie vor allem: sie phantasiert ihre Geschichte durch die gesamte Baugeschichte hindurch. Es
| |
− | ist höchst unwahrscheinlich, daß diese bürgerlich-edelmännische Verbrüderung selber … aus der Werkmaurerei
| |
− | hervorgegangen ist. Aber es ist noch unwahrscheinlicher, daß sie die grundlegende architektonische
| |
− | Gleichnis-Spielerei, die sie gebraucht, rein aus sich heraus erfunden hat.« Ebenda, S. 838f.
| |
− | 16
| |
− | Die Tatsache, dass bereits im 17. Jahrhundert Logen im späteren Sinne existierten, deutet
| |
− | darauf hin, dass der Bund aus historischen Kontinuitäten hervorgegangen ist, und dass es
| |
− | insofern nur bedingt zutreffend ist, den meist genannten Stichtag für den Übergang von
| |
− | der Vorgeschichte zur Geschichte der Freimaurerei, den 24. Juni 1717, als sich vier Londoner
| |
− | Logen zur ersten Großloge der Welt zusammenschlossen, als Gründungsdatum der modernen
| |
− | Freimaurerei herauszustellen, ganz abgesehen davon, dass kaum belastbare Quellen für
| |
− | Datum und Ereignis vorhanden sind.9 Dennoch war die Londoner Gründung von großer, ja
| |
− | ausschlaggebender Bedeutung für die weitere Entwicklung der Freimaurerei. Denn mit der
| |
− | Großloge von London und Westminster begann die logenübergreifende Institutionalisierung
| |
− | und inhaltliche Ausrichtung der Freimaurerei, die die organisatorischen und konzeptionellen
| |
− | Grundlagen für die nun einsetzende dynamische Entwicklung der Freimaurerei in
| |
− | England und sehr bald auch über England hinaus geschaffen hat. Die Londoner Großloge
| |
− | gab sich 1723 ihre erste Verfassung, die nach ihrem Verfasser, dem aus Schottland stammenden
| |
− | presbyterianischen Geistlichen James Anderson, die »Andersonschen Konstitutionen
| |
− | « genannt werden, konzeptionell aber sehr wesentlich auf den eigentlichen Vater der
| |
− | modernen Freimaurerei, John Theophilius Desaguliers (1683–1744) zurückgehen.10 Desaguliers
| |
− | wurde 1719 zum dritten Großmeister der Londoner Vereinigung gewählt. Er war französischer
| |
− | Emigrant und protestantischer Geistlicher, gehörte zum Freundeskreis von Isaac
| |
− | Newton, war als Naturphilosoph Mitglied der Londoner »Royal Society« und führte dem
| |
− | Freimaurerbund mit dem Herzog John von Montague den ersten bedeutenden Vertreter des
| |
− | englischen Hochadels zu, der dann selbst 1721 Großmeister wurde.
| |
− | In Deutschland sind die »Andersonschen Konstitutionen« als die »Alten Pflichten«
| |
− | bekannt und richtungweisend geworden.11 Programmatisch ist vor allem die erste dieser
| |
− | Pflichten mit der Überschrift: »Von Gott und der Religion«:
| |
− | »Der Maurer ist als Maurer verpflichtet, dem Sittengesetz zu gehorchen; und wenn
| |
− | er die Kunst recht versteht, wird er weder ein engstirniger Gottesleugner, noch ein
| |
− | bindungsloser Freigeist sein. In alten Zeiten waren die Maurer in jedem Land zwar
| |
− | verpflichtet, der Religion anzugehören, die in ihrem Lande oder Volke galt, heute
| |
− | jedoch hält man es für ratsamer, sie nur zu der Religion zu verpflichten, in der alle
| |
− | Menschen übereinstimmen, und jedem seine besonderen Überzeugungen selbst zu
| |
− | belassen. Sie sollen also gute und redliche Männer sein, Männer von Ehre und Anstand,
| |
− | ohne Rücksicht auf ihr Bekenntnis oder darauf, welche Überzeugungen sie
| |
− | sonst vertreten mögen. So wird die Freimaurerei zu einer Stätte der Einigung und
| |
− | zu einem Mittel, wahre Freundschaft unter Menschen zu stiften, die einander sonst
| |
− | ständig fremd geblieben wären.«
| |
− | Die »Alten Pflichten« enthalten tatsächlich die bis in die Gegenwart gültigen Grundlagen
| |
− | der Freimaurerei: Die moralische Verpflichtung des Maurers, den von ihm geforderten Ha-
| |
− | 9 Hinweise finden sich in der zweiten Ausgabe der »Konstitutionen« von 1738.
| |
− | 10 Vgl. hierzu und zum folgenden Voges, Michael: Aufklärung und Geheimnis. Untersuchungen zur Vermittlung
| |
− | von Literatur- und Sozialgeschichte am Beispiel der Aneignung des Geheimbundmaterials im
| |
− | Roman des späten 18. Jahrhunderts, Tübingen 1987, S. 24.
| |
− | 11 Eine Wiedergabe der »Alten Pflichten« findet sich in: Lennhoff, Eugen/Posner, Oskar/Binder, Dieter
| |
− | A.: Internationales Freimaurer Lexikon, München 2000, S. 16–23.
| |
− | 17
| |
− | bitus von Ehre und Anstand, den Verzicht auf trennende religiöse Festlegungen und die Praxis
| |
− | der Toleranz als Grundlage von Einigkeit und Freundschaft.
| |
− | Nach der Gründung der ersten Londoner Großloge im Jahre 1717, zu der 1751 eine
| |
− | zweite, die »Grand Lodge of Ancients« hinzukam12, erfolgte eine stürmische Entwicklung
| |
− | der Freimaurerei. In England, Schottland und Irland – als den Heimatländern der modernen
| |
− | Freimaurerei – wuchs die Zahl der Logen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts auf über
| |
− | 1000 an.13 Schnell griff die Freimaurerei auf die überseeischen Gebiete Großbritanniens
| |
− | über, insbesondere auf die amerikanischen Kolonien, die späteren Vereinigten Staaten. 1733
| |
− | wurde von England aus die Provinzial-Großloge von Massachusetts in Boston eingesetzt.
| |
− | Wenige Jahrzehnte später sollten Freimaurer in der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung
| |
− | sowie der Verfassungsgeschichte der USA eine führende Rolle spielen.14
| |
− | Auch auf dem europäischen Kontinent breitete sich die Freimaurerei rasch aus. Wie in
| |
− | England fanden die Ideen, Organisationsformen und Symbole des Bundes eine große Resonanz.
| |
− | Selbst der schon früh einsetzende Widerstand der katholischen Kirche konnte seine
| |
− | Ausbreitung nicht verhindern, zumal die päpstlichen Verurteilungen nicht in allen Bistümern
| |
− | veröffentlicht wurden und viele hochrangige katholische Geistliche dem Freimaurerbund
| |
− | angehörten. Das erste Land außerhalb Großbritanniens, in dem die Freimaurerei
| |
− | auf breiter Basis Fuß fasste, war Frankreich. Spuren von Logengründungen in Paris lassen
| |
− | sich bis in das Jahr 1725 zurückverfolgen. Aufklärerische Diskursfreude, später aber auch
| |
− | die Neigung zu phantasievollen Hochgradsystemen, waren kennzeichnend für die weitere
| |
− | Entwicklung der französischen Freimaurerei. Bedeutsam war auch die Entwicklung der
| |
− | Freimaurerei in den Niederlanden, wo nach 1731 zahlreiche Logen entstanden. In diesem
| |
− | Jahr war im Haag Herzog Franz Stephan von Lothringen, später Ehegatte Maria Theresias
| |
− | und als Franz I. römisch-deutscher Kaiser, von einer Deputation hochrangiger englischer
| |
− | Freimaurer in den Freimaurerbund aufgenommen worden.
| |
− | Die erste Loge in Deutschland entstand 1737 in Hamburg (Loge en Hambourg, seit
| |
− | 1743 »Absalom«, heute »Absalom zu den drei Nesseln«). Bald folgten Logengründungen in
| |
− | Dresden, Berlin, Bayreuth und Leipzig. Der preußische Kronprinz Friedrich (der spätere
| |
− | Friedrich der Große) wurde bereits 1738 in die Freimaurerei aufgenommen. Die quantitative
| |
− | Dynamik der deutschen Freimaurerei war bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts
| |
− | hinein beträchtlich. In Deutschland, im »alten Reich«, wurden in den ersten 50 Jahren der
| |
− | Existenz
| |
− | von Logen, d.h. von 1737 bis 1787, rd. 400 Logen gegründet, in denen ca. 25.000
| |
− | Mitgliederaufnahmen stattfanden. Zu einer weiteren Gründungswelle kam es im (neuen)
| |
− | Deutschen Reich nach 1871. So entstanden zwischen 1871 und 1925 weitere 300 Logen,
| |
− | und die Zahl der Mitglieder aller deutschen Logen erreichte Mitte der 1920er Jahre ihren
| |
− | Höchststand mit über 80.000. Dabei dominierten die »altpreußischen« Großlogen mit
| |
− | annähernd 70 Prozent der deutschen Freimaurer. Zwar hatte der Zusammenbruch der
| |
− | 12 Die Großloge der »Ancients« beanspruchte die größere freimaurerische Legitimität für sich und nannte
| |
− | die Gründung von 1717 abwertend Großloge der »Moderns«. Im Jahre 1813 schlossen sich beide Großlogen
| |
− | zur »United Grandloge of England« zusammen, in der die Tradtion der »Ancients« dominierte.
| |
− | 13 Vgl. Clark, Peter: British Clubs and Societies 1580–1800. The Origins of an Associational World, New
| |
− | York 2000, S. 309–349.
| |
− | 14 Vgl. Bullock, Steven C: Revolutionary Brotherhood – Freemasonry and the Transformation of the American
| |
− | Social Order 1730–1840, Chapel 1996; Hodapp, Christopher: Solomon’s Builders: Freemasons,
| |
− | Founding Fathers and the Secrets of Washington D.C., Berkeley CA 2007.
| |
− | 18
| |
− | Hohenzollern-Monarchie kaum negativen Einfluss auf die Expansion der Großlogen – der
| |
− | Zustrom zu den Logen war vielmehr nach 1918 besonders stark –, doch führte die Loyalität
| |
− | mit den untergegangenen königlichen Protektoren bei einer generell vorwiegend nationalkonservativen
| |
− | Einstellung der meisten deutschen Freimaurer zu einer oft feindlichen,
| |
− | bestenfalls abwartend indifferenten Einstellung zur Weimarer Republik.15 Gleichzeitig war
| |
− | das deutsche Großlogensystem stark zersplittert. 1933 – vor dem Untergang in der NS-Zeit
| |
− | – bestanden in Deutschland elf Großlogen, von denen allerdings zwei – der Freimaurerbund
| |
− | zur Aufgehenden Sonne und die Symbolische Großloge von Deutschland – von den
| |
− | anderen nicht als regulär anerkannt wurden.16
| |
− | Die soziale Zusammensetzung der deutschen Logen war durch den dominierenden
| |
− | Anteil des »gehobenen Bürgertums« bestimmt (Beamte und – oft ehemalige – Offiziere;
| |
− | Wissenschaftler, Lehrer, Künstler; Unternehmer, Banker, leitende Angestellte). Die religiöse
| |
− | Struktur war vorwiegend protestantisch: Die Loge »Apollo« in Leipzig z.B. hatte im
| |
− | Jahre 1906 89,2 Prozent evangelisch-lutherische, 3,2 Prozent katholische und 6,0 Prozent
| |
− | jüdische Mitglieder.17 Die jüdischen Mitglieder in »humanitären« Großlogen beliefen sich
| |
− | – so ermittelte und schrieb der »Verein deutscher Freimaurer« in einer Erwiderungsschrift18
| |
− | auf Ludendorffs Antifreimaurerpamphlet »Vernichtung der Freimaurerei durch Enthüllung
| |
− | ihrer Geheimnisse« – Ende der zwanziger Jahre auf ca. 3000. Bei 24.000 Mitgliedern der
| |
− | »humanitären« Großlogen in Deutschland würde dies einen beträchtlichen jüdischen Anteil
| |
− | bedeuten und unterstreichen, wie sehr sich deutsche Juden vor der Nazi-Katastrophe
| |
− | als deutsche Bürger fühlten und an Assoziationen des deutschen Bürgertums Anteil hatten.
| |
− | Freimaurerei als gesellschaftliches Erfolgsmodell – warum?
| |
− | Die für die dynamische Entwicklung der modernen Freimaurerei in den ersten Jahrzehnten
| |
− | nach ihrer Begründung bestimmenden Faktoren lassen sich mit den Stichworten »historische
| |
− | Erinnerung« und »gesellschaftlicher Wandel« umschreiben. »Historische Erinnerung«
| |
− | bedeutet vor allem Erinnerung an die europäischen Religionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts,
| |
− | die zu einem hohen Toleranzbedarf und zur Sehnsucht nach gesellschaftlichen Brückenschlägen
| |
− | zwischen den religiös zerstrittenen Parteien geführt hatten. »Gesellschaftlicher
| |
− | Wandel« meint zunächst den vieldimensionalen Prozess der Säkularisierung, Individualisierung
| |
− | und Autonomisierung, der im 18. Jahrhundert mit Macht einsetzte. Dieser Wandel von
| |
− | Sinnstrukturen und Weltdeutungen ging mit tiefgreifenden Veränderungen der sozialen und
| |
− | ökonomischen Verhältnisse einher. Die zunehmende standesmäßige und berufliche Differenzierung
| |
− | der Gesellschaft, die sozio-politischen Funktionsverlagerungen auch beim Adel,
| |
− | das allmähliche Entstehen von Bürgertum und modernen kapitalistischen Wirtschaftsformen,
| |
− | das erhöhte Bildungsangebot, die Urbanisierung und die – unter dem Vorzeichen
| |
− | 15 Vgl. Höhmann, Hans-Hermann: Europas verlorener Friede, die national-völkische Orientierung innerhalb
| |
− | der deutschen Freimaurerei und die »freimaurerische Erinnerungspolitik« nach dem Zweiten Weltkrieg,
| |
− | in diesem Band, S. 51–87.
| |
− | 16 Vgl. Steffens, Manfred: Freimaurerei in Deutschland. Bilanz eines Vierteljahrtausends, Flensburg 1964.
| |
− | 17 Hoffmann, Stefan-Ludwig: Die Politik der Geselligkeit, a.a.O., S. 368.
| |
− | 18 Die Vernichtung der Unwahrheiten über die Freimaurerei durch 116 Antworten auf 116 Fragen, herausgegeben
| |
− | vom Verein deutscher Freimaurer, Leipzig 1928, S. 33.
| |
− | 19
| |
− | des europäischen Kolonialismus – sich auch international, ja interkontinental verstärkende
| |
− | räumliche Mobilität: all das führte dazu, dass Menschen aus ihren traditionellen Bindungen
| |
− | und sozialen Verankerungen gelöst wurden und auch in der Wahrnehmung ihres eigenen
| |
− | Selbst über Generationen hinweg praktizierte Deutungsmuster ablegen mussten.19 Diese Veränderungen
| |
− | führten nicht nur zu Verunsicherungen, ja Krisen. Sie ließen auch eine ausgeprägte
| |
− | Neigung entstehen, neue Einstellungs-, Bindungs- und Verhaltensoptionen aufzuspüren
| |
− | und zu nutzen. Es entwickelte sich eine Nachfrage nach neuen Formen von gesellschaftlichen
| |
− | Vernetzungen – modern ausgedrückt nach neuen Formen von »sozialem Kapital«
| |
− | – und so wurde das 18. Jahrhundert zur Epoche der Assoziationsbildung und Geselligkeit.
| |
− | Die Freimaurerei erwies sich offensichtlich als eine besonders attraktive Form neuer gesellschaftlicher
| |
− | Einbindung. Dies resultierte ebenso aus der breiten Nutzbarkeit des Bundes
| |
− | für die Befriedigung vieler sozialer, weltanschaulicher, religiöser und politischer Bedürfnisse
| |
− | wie aus der Möglichkeit, die Logen und Logensysteme durch Veränderungen weiterzuentwickeln
| |
− | und an konkrete Bedürfnisse anzupassen. Es waren vor allem vier Funktionen, oder
| |
− | besser: Funktionsgruppen, welche die Freimaurerei rasch zu einer gesamteuropäischen sozialen
| |
− | und kulturellen Bewegung werden ließen:
| |
− | • die soziale Funktion, Menschen über Standesgrenzen hinweg als »bloße Menschen« (Lessing),
| |
− | als Mitmenschen, als Menschenbrüder zusammenzuführen und ihnen neue gesellschaftliche
| |
− | Netzwerke, neue Geltungs- und Selbstverwirklichungsmöglichkeiten sowie
| |
− | neue Formen von Geselligkeit und Unterhaltung anzubieten;
| |
− | • die ideell-geistesgeschichtliche Funktion, Menschen dazu aufzufordern, sich der eigenen
| |
− | Vernunft zu bedienen, sich am autonomen Gewissen zu orientieren und im Sinne eines
| |
− | »nichts geht über das laut denken mit einem Freunde« (Lessing) nach dem jeweiligen freimaurerischen
| |
− | Grundverständnis den Diskurs über die Ideen der Aufklärung und andere,
| |
− | vor allem das Ritual und die als »Hieroglyphen« verstandenen Symbole20 betreffende
| |
− | Themen zu führen;
| |
− | • die religiöse Funktion, Menschen durch ein neues, aber auf alten Wurzeln beruhendes,
| |
− | zunehmend esoterisch ausgerichtetes Symbolsystem eine optimistisch-positive Einstellung
| |
− | zu sich selbst, zum Kosmos und zur Transzendenz zu vermitteln und die im 18.
| |
− | Jahrhundert weit verbreitete Unzufriedenheit mit dem etablierten Kirchentum zu kompensieren,
| |
− | und
| |
− | • die politische Funktion, Menschen in den Logen der absolutistisch verfassten Gesellschaft
| |
− | einen unabhängigen »Moralischen Innenraum« (Reinhart Koselleck) zu bieten, in dem
| |
− | das »Geheimnis der Freiheit« als »Freiheit im Geheimen« erlebt werden konnte, in dem
| |
− | es später aber auch – etwa im Falle der »Strikten Observanz« und der mit der Freimaurerei
| |
− | verbundenen Illuminaten – zu politischen Instrumentalisierungen der Freimaurerei
| |
− | kommen konnte.
| |
− | Es kann nicht überraschen, dass dieses ja durchaus nicht homogene Bündel von Motiven
| |
− | bald zu mannigfaltigen Veränderungen und Verzweigungen der Freimaurerei geführt hat.
| |
− | Adolph Freiherr Knigge, Zeitzeuge und Mitgestalter als Freimaurer, Illuminat und kritischer
| |
− | 19 Vgl. van der Loo, Hans/van Reijen, Willem: Modernisierung. Projekt und Paradox, München 1992, S. 62f.
| |
− | 20 Vgl. Maurice, Florian: Freimaurerei um 1800. Ignaz Aurelius Feßler und die Reform der Großloge Royal
| |
− | York in Berlin, Tübingen 1997, S. 31f.
| |
− | 20
| |
− | Geist, beschrieb die masonische Landschaft im kontinentalen Europa der zweiten Hälfte des
| |
− | 18. Jahrhunderts folgendermaßen:
| |
− | »Man weiß, dass es Freymaurer-Systeme gibt, deren ganze Verfassung auf politische
| |
− | Pläne und Einwirkung in die Staaten beruht; man weiß, dass es andere gibt, die dergleichen
| |
− | Operationen als schädlich und unerlaubt verbannen.
| |
− | Man weiß, dass es Systeme gibt, welche die Einführung einer natürlichen allgemeinen
| |
− | Religion zum Endzweck haben, und selbst die Lehre Jesu nach dieser Art erklären;
| |
− | man weiß, dass es andere gibt, welche die Aufrechterhaltung der geoffenbarten
| |
− | christlichen Religion zum Grundpfeiler machen.
| |
− | Man weiß, dass es Systeme gibt, welche speculative Wissenschaften zum Gegenstand
| |
− | des Ordens machen; man weiß, dass andere die Grenzen der Maurerey auf mögliche
| |
− | Tätigkeit zum Guten einschränken.
| |
− | Man weiß, dass jene besondere Überlieferungen in der Hieroglyphen-Sprache (zu
| |
− | entdecken glauben), wo diese nur nach conventionellen Zeichen zu Beförderung
| |
− | grösserer Vereinigung suchen, folglich jene in den Geheimnissen die Hauptsache,
| |
− | diese
| |
− | (in ihnen) nur (einen) Mittelzweck finden.
| |
− | Man weiß, dass einige Systeme, alles was gut und edel ist, als einen Gegenstand des
| |
− | Ordens ansehen; andere hingegen nur einen einzigen, bestimmten, speciellen Zwecke
| |
− | nachzustreben (für) rathsam halten; dass einige die möglichste Ausbreitung suchen;
| |
− | andere sich auf eine kleine bestimmte Zahl einschränken.
| |
− | Jedes dieser Systeme muss natürlicherweise in der Art, ihre Zöglinge zu bilden, in ihren
| |
− | Aufnahmen, in der Wahl der Mitglieder, in ihren Reden, Handlungen und in den
| |
− | Mitteln, welche sie wählen, einen Weg einschlagen, der oft dem schnurgerade entgegen
| |
− | ist, worauf andre wandeln.
| |
− | Wie werden sie je in einem Punkt zusammentreffen?«21
| |
− | Auf dem Hintergrund dieser Entwicklung muss auch die gern betonte Beziehung der Freimaurerei
| |
− | zur Aufklärung problematisiert werden. Freimaurerlogen konnten durchaus im
| |
− | Sinne der Aufklärung Modelle bürgerlicher Gesellschaft sein, in denen sich bürgerliche
| |
− | Moral diskursiv erarbeiten und im Miteinander der Brüder praktisch verwirklichen ließ.
| |
− | Geheimnis und Geheimhaltung dienten dabei als Schutz, weil die politischen Verhältnisse
| |
− | ein öffentliches Verfolgen derartiger Absichten noch nicht zuließen.22 Dies bedeutet jedoch
| |
− | nicht, dass die Mitglieder der Logen, die Logen selbst oder gar die sich im Verlauf des 18.
| |
− | Jahrhunderts herausbildenden freimaurerischen Systeme durchweg und generell »Beförderer
| |
− | der Aufklärung«23 waren. Aufklärung war eine Möglichkeit unter vielen. Aufklärer »konnten
| |
− | die Freimaurerlogen als Möglichkeit des lokalen Zusammenkommens nutzen«, doch
| |
− | 21 Versuch über die Freymaurerey, oder Von dem wesentlichen Grundzwecke des Freymaurer-Ordens; von
| |
− | der Möglichkeit einer Vereinigung seiner verschiedenen Systeme und Zweige; von derjenigen Verfassung,
| |
− | welche diesen vereinigten Systemen die zuträglicheste seyn würde; und von den Maurerischen gesetzen.
| |
− | Aus dem Französischen des Br. B. *** übersetzt durch den Br A.R. v. S. 1785 (5785), S. VI—VIII.
| |
− | 22 Vgl. hierzu und zum folgenden Vierhaus, Rudolf: Aufklärung und Freimaurerei in Deutschland, in:
| |
− | ders.: Deutschland im 18. Jahrhundert. Politische Verfassung, soziales Gefüge, geistige Bewegungen, Göttingen
| |
− | 1987, S. 110–125, hier S. 118.
| |
− | 23 Vgl. die Beiträge in: Balász, Éva, H./Hammermayer, Ludwig/Wagner, Hans/Wojtowicz, Jerzy: Beförderer
| |
− | der Aufklärung in Mittel- und Osteuropa. Freimaurer, Gesellschaften, Clubs, Berlin 1979.
| |
− | 21
| |
− | umgekehrt waren »die Logen nicht auf die Aufklärung als Inhalt angewiesen«, und auch die
| |
− | Betrachter, die gern einen durchgehend engen Zusammenhang zwischen Freimaurerei und
| |
− | Aufklärung feststellen würden, müssen der Feststellung von Rudolf Vierhaus zustimmen,
| |
− | dass auch ganz andere als Aufklärungsgedanken in die Freimaurerei eingeströmt sind, selbst
| |
− | solche, die direkt anti-aufklärerischen Charakter hatten. Für Vierhaus wurde dieser Einstrom
| |
− | durch diejenige Tendenz der Freimaurerei begünstigt, »die neben dem Versinken in bloße
| |
− | Honoratiorengeselligkeit ihre größte Gefahr ausmacht: die Anfälligkeit für Esoterik, Pseudomystik
| |
− | und Geheimnistuerei als Ausdruck einer selbst beigelegten, nach außen nicht rechtfertigungsbedürftigen
| |
− | Bedeutsamkeit«.24
| |
− | Freimaurerei und Freimaurereien: Gemeinsamkeiten und
| |
− | Unterschiede
| |
− | Die Geschichte der Freimaurerei ist immer auch die Geschichte ihrer Veränderungen und
| |
− | Differenzierungen gewesen, die sich teilweise »von unten«, aus den Logen heraus, evolutionär
| |
− | und allmählich, nach Orten und Systemen unterschiedlich vollzogen, teilweise aber
| |
− | auch historisch gebündelt, im Kontext gesellschaftlich-politischer Veränderungen, in Schüben
| |
− | größerer und kleinerer Reformen erfolgten. In Deutschland kam es vor allem in der
| |
− | Mitte und im späten 18. sowie an der Wende zum 19. Jahrhundert zu bedeutenden Veränderungsprozessen,
| |
− | als im Verlauf von Krise und Zusammenbruch der »Strikten Observanz«,
| |
− | eines Freimaurerritterordens, der sich – wie sich zeigte, vergeblich – auf den Templerorden
| |
− | zurückzuführen versuchte, mit Johann Wilhelm Zinnendorf, Ignaz Aurelius Feßler und
| |
− | Friedrich Ludwig Schröder Reformer wirkten, die für die weitere Entwicklung (und Differenzierung)
| |
− | der deutschen Freimaurerei prägend geblieben sind. Reformen erfolgten auch
| |
− | in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, als Reformgroßlogen (Freimaurerbund zur
| |
− | aufgehenden Sonne und Symbolische Großloge von Deutschland) entstanden, und schließlich
| |
− | auch in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als durch (und während der Großmeisterschaft
| |
− | von) Theodor Vogel und Hans Gemünd eine neue Struktur zumindest der »humanitären
| |
− | « Freimaurerei in Deutschland geschaffen wurde.
| |
− | Doch mit der erwähnten Flexibilität verbanden sich feste, unterscheidbare Merkmale,
| |
− | die den besonderen Charakter der Freimaurerei und ihrer Logen durch die Geschichte
| |
− | hindurch begründeten. Zwar blieb Freimaurerei immer ein »Raum, in dem Vieles möglich
| |
− | war«, aber dieser Raum »war nicht undefiniert, er enthielt wiedererkennbare Strukturen
| |
− | und Regeln«.25
| |
− | Zu diesen Merkmalen der freimaurerischen Grundstruktur gehörten und gehören insbesondere
| |
− | die folgenden vier:
| |
− | • Die abgeschlossene, durch verschwiegene Rituale geschützte, in der Regel männerbündische
| |
− | Gruppe, kurz das »maurerische Geheimnis«, das die Grenzen der Logengruppe
| |
− | bestimmt, wobei die Ableistung eines Eides der Verschwiegenheit bzw. eines feierlichen
| |
− | 24 Vierhaus, Rudolf: a.a.O., S. 120.
| |
− | 25 Neugebauer-Wölk, Monika: »Einführung« zu Maurice, Florian: Freimaurerei um 1800, a.a.O., S. XVIII.
| |
− | 22
| |
− | Gelöbnisses als Abschluss eines verbindlichen und bei Verletzung durch Ausschluss aus
| |
− | dem Bund sanktionierten »Gruppenvertrages« fungiert.
| |
− | • Der initiatische Charakter der Rituale: Die Einführung des neuen Mitglieds und seine
| |
− | Wanderung durch die verschiedenen Grade erfolgt in rituellen Formen, die seit Arnold
| |
− | van Gennep als »Übergangsriten« (rites de passage)26 beschrieben werden und Ausdruck
| |
− | eines bestimmten, auf innere Weiterentwicklung des Menschen angelegten Menschenbildes
| |
− | der Freimaurerei sind.
| |
− | • Die Bausymbolik, in deren Mittelpunkt die einem »Großen Baumeister« symbolisch verpflichtete
| |
− | Idee von Sein und Zeit als sinnvoll zu gestaltenden Bauwerken steht, die später
| |
− | allerdings in Verbindung mit der Entstehung von Hochgradsystemen durch esoterischhermetische
| |
− | Elemente, durch Alchemie und durch Ritterreminiszenzen beträchtlich erweitert
| |
− | wurde.
| |
− | • Ein Kanon von Werten, der um unterschiedliche, teils aufklärerisch-humanitär, teils religiös
| |
− | geprägte Begrifflichkeiten wie Menschenliebe, Brüderlichkeit, Duldsamkeit (Toleranz)
| |
− | und Gottesfürchtigkeit kreist, auf »Einübung« dieser Werte im verschwiegenen Milieu
| |
− | der Loge setzt und die Logengruppe hierdurch als positive innere Gegenwelt zu den
| |
− | verschiedenen »profanen« äußeren Welten konstituiert und abgrenzt.
| |
− | Dieser freimaurerische Wertekanon war inhaltlich von Anfang an breit interpretierbar, vor
| |
− | allem in seiner Bedeutung für politisch-gesellschaftliche und philosophisch-religiöse Kontexte,
| |
− | innerhalb deren sich die Logen und Logensysteme definierten. Dies bedeutet, dass die
| |
− | Freimaurerei in ihrer historischen Entwicklung mit sehr verschiedenen politischen Strukturen
| |
− | vereinbar war, zunächst (und vor allem) mit den sich im 18. Jahrhundert etablierenden
| |
− | Strukturen der Bürgergesellschaft, als die Freimaurerei zumindest phasenweise fortschrittsadäquat
| |
− | war und zum Katalysator zukünftiger politischer Reformen, ja tiefgreifender Veränderungen
| |
− | im Sinne von bürgerlicher Gleichheit, Demokratie und nationaler Unabhängigkeit
| |
− | wurde. Doch wegen der für die Freimaurerei konstitutiven Trennung von Innenraum
| |
− | und Außenraum, von inneren (privaten) Tugenden und äußeren (öffentlichen) Tugenden
| |
− | erwies sich der freimaurerische Wertekanon als auch mit vordemokratisch-absolutistischen
| |
− | und – dies zeigte sich insbesondere an der Wende zu den 1930er Jahren – mit nichtdemokratischen,
| |
− | politisch-autoritären sowie nationalistischen Strukturen vereinbar.
| |
− | Das »freimaurerische Geheimnis«
| |
− | Das große Gemeinsame der verschiedenen »Freimaurereien« blieb durch die Zeiten hindurch
| |
− | die brüderliche Gemeinschaft, die geübte Verschwiegenheit, das Setzen von Gruppengrenzen,
| |
− | die Trennung von innen und außen – kurz das »maurerische Geheimnis«. Es hatte
| |
− | und hat verschiedene Funktionen für die freimaurerische Gruppenbildung und ist damit
| |
− | von großer Relevanz auch für die Frage nach Veränderungen und Reformen der Freimaurerei.
| |
− | Unter diesen (auch heute noch) partiell bewusst gesetzten, partiell implizit praktizierten
| |
− | 26 Van Gennep, Arnold: Übergangsriten, übers. v. S. Schomburg-Scherff, Frankfurt a.M. 1986 (frz. Orig.
| |
− | Les rites de passage, 1909).
| |
− | 23
| |
− | Funktionen des maurerischen Geheimnisses können – teilweise anschließend an Michael
| |
− | Voges – bis in die Gegenwart hinein vor allem die folgenden sieben unterschieden werden:27
| |
− | • Die schützende Funktion: Ursprünglich war die Geheimhaltung der Logentreffen – wie
| |
− | auch der Aktivitäten vieler anderer Aufklärungsgesellschaften – Bedingung für eine von
| |
− | staatlichen und kirchlichen Eingriffen und Kontrollen freie Sphäre, die dazu diente, ein
| |
− | neues soziales Gruppenmodell zu praktizieren und aufklärerische Diskurse zu führen.
| |
− | Um die bereits angesprochene Feststellung des Bielefelder Historikers Reinhart Kosellecks
| |
− | zu variieren: Das »Geheimnis der Freiheit« war nur als »Freiheit im Geheimen« zu
| |
− | antizipieren.28 Später wurde das Geheimnis mehr und mehr zur Voraussetzung eines anderen
| |
− | Schutzes: der Bewahrung der – im Falle der Veröffentlichung störanfälligen – Integrität
| |
− | des rituellen Geschehens.
| |
− | • Die soziale Funktion: Die Teilhabe am gemeinsamen Geheimnis dient der Stiftung von
| |
− | Freundschaft und der Bildung von Netzwerken unter Menschen, die sich sonst nicht als
| |
− | Freunde begegnen würden. Auf der im Ritual symbolisch konstituierten »Winkelwaage«
| |
− | konnten Menschen unterschiedlicher sozialer Stände, Schichten und Milieus miteinander
| |
− | kommunizieren. Die Begegnung als »bloße« Menschen im Rahmen des freimaurerischen
| |
− | Rituals hob die gesellschaftlichen Unterschiede zwar nicht auf, überwand sie jedoch
| |
− | im Innenraum der Loge und schwächte ihre Bedeutung auch außerhalb der Loge
| |
− | zumindest ab: »Er ist Prinz«, gibt der Priester in Mozarts und Schikaneders Freimaureroper
| |
− | »Zauberflöte« vor der Aufnahme Taminos zu bedenken, und Sarastro antwortet:
| |
− | »Noch mehr, er ist Mensch«.
| |
− | • Die integrative Funktion: Das Geheimnis und die Teilnahme daran binden die generell
| |
− | eher unbestimmten Zwecksetzungen der Freimaurerei durch Stiftung von emotional erlebter,
| |
− | wert- und symbolüberhöhter Gemeinsamkeit zusammen. Das freimaurerische Geheimnis
| |
− | wirkt als emotionale Heimat, als Attribut, das zum gemeinsamen Heim gehört:
| |
− | »Niemand wird es je erschauen, was einander wir vertraut, denn auf Schweigen und Vertrauen
| |
− | ist der Tempel aufgebaut«, hat der Freimaurer Goethe dazu gedichtet.
| |
− | • Die pädagogische Funktion: Die unter dem Schutz der Verschwiegenheit hergestellte Offenheit
| |
− | und Bereitschaft für persönliche Veränderung (»Selbstvervollkommnung«, »Arbeit
| |
− | am rauhen Stein« des eigenen Selbst) dient der Einübung von Tugenden,29 die sich auch
| |
− | im »profanen« Umfeld des Freimaurers bewähren sollen. Die Absicht, im Sinne einer moralischen
| |
− | Entwicklung des Menschen auf den Habitus des Logenmitglieds einzuwirken,
| |
− | findet sich in vielen Texten und Ritualen seit Beginn der modernen Freimaurerei.30
| |
− | 27 Vgl. Voges, Michael: Aufklärung und Geheimnis, a.a.O., S. 79–82.
| |
− | 28 »Scheinbar ohne den Staat zu tangieren, schaffen die Bürger in den Logen, diesem geheimen Innenraum
| |
− | im Staate, in eben diesem Staat einen Raum, in dem – unter dem Schutz des Geheimnisses – die bürgerliche
| |
− | Freiheit bereits verwirklicht wird. Die Freiheit im geheimen wird zum Geheimnis der Freiheit.« Koselleck,
| |
− | Reinhart: Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Freiburg/München
| |
− | 1979, S. 60.
| |
− | 29 Vgl. Hammacher, Klaus: Einübungsethik. Überlegungen zu einer freimaurerischen Verhaltenslehre,
| |
− | Schriftenreihe der Forschungsloge Quatuor Coronati Bayreuth, Nr. 45/2005.
| |
− | 30 Vgl. Hasselmann, Kristiane: Die Rituale der Freimaurer. Performative Grundlegungen eines freimaurerischen
| |
− | Habitus im 18. Jahrhundert, Bielefeld 2008.
| |
− | 24
| |
− | Das freimaurerische Geheimnis besaß (und besitzt) jedoch auch Funktionen, die mehr oder
| |
− | weniger in Widerspruch zu den erklärten Zielvorstellungen der Freimaurerei gerieten, dennoch
| |
− | aber bis heute ihre Wirksamkeit behielten. Hierunter sind zu nennen:
| |
− | • Die illusionsstiftende Funktion: Das maurerische Geheimnis dient (zumindest auch) der
| |
− | Schaffung und Sicherung eines Raums zum Ausleben mannigfaltiger »Selbstverwirklichungs-
| |
− | und Selbsterhöhungsambitionen«. Hierzu dienen die rituelle Konstruktion einer
| |
− | besonderen, von der Welt des Profanen abgehobenen, wert- und empfindungssteigernden
| |
− | Atmosphäre, die Vergabe von Ämtern, Würden und Orden, die gegenseitige Beimessung
| |
− | einer besonderen persönlichen Bedeutsamkeit31 sowie die Durchführung aufwendiger Zeremonien,
| |
− | insbesondere, wenn Großlogen internationale Veranstaltungen durchführen
| |
− | und sich Repräsentanten der verschiedenen nationalen Freimaurereien begegnen.
| |
− | • Die Lockfunktion: Das Geheimnis mit dem ihm eigenen Einhüllen des Bundes in einen
| |
− | »Mantel des Geheimnisvollen« kann die Attraktivität der Freimaurerei erhöhen und wird
| |
− | gelegentlich gar als eines der Hauptwerbemittel des Bundes gepriesen.
| |
− | • Die Funktion der »inneren Hierarchisierung«: Eine Vermehrung der Grade der Freimaurerei
| |
− | über die traditionellen Stufen »Lehrling«, »Geselle« und »Meister« hinaus im Sinne
| |
− | einer »Hierarchie von Einweihungen« schafft nicht nur erweiterte Erlebnis-, Geltungsund
| |
− | Selbstverwirklichungsmöglichkeiten, sondern auch Abschottungen und Binnendifferenzierungen,
| |
− | die sich nicht selten als Element der Generierung von Konflikten innerhalb
| |
− | und zwischen den Logen und Großlogen erwiesen haben und erweisen.
| |
− | Schließlich muss auf eine Praxis hingewiesen werden, die in direktem Widerspruch zu allen
| |
− | freimaurerischen Zielvorstellungen und Prinzipien steht: die Instrumentalisierung freimaurerischer
| |
− | Formen für politisch agierende Eliten, die nichts (oder nichts mehr) mit der Freimaurerei
| |
− | zu tun haben, woran dann aber Verschwörungsvorstellungen gern anknüpfen (Beispiel:
| |
− | die Organisation Propaganda Due, P2, die an eine ehemalige italienische Freimaurerloge
| |
− | anknüpfte und – ohne Beziehung zur regulären italienischen Freimaurerei – in den 1970er
| |
− | Jahren zur politischen Geheimorganisation wurde).
| |
− | Das freimaurerische »Geheimnis« verhinderte jedoch weder die Kommunikation mit
| |
− | Öffentlichkeit und Gesellschaft noch den Aufbau regionaler und internationaler Netzwerke
| |
− | sowie – vor allem durch sich überschneidende Mitgliedschaften – ein Zusammenwirken mit
| |
− | anderen Assoziationen.32 Das für die Logen typische Verhältnis von Geschlossenheit und
| |
− | Öffnung machte die Freimaurerei – wie zuerst von Georg Simmel aufgezeigt wurde – zu
| |
− | einer »geheimen Gesellschaft« spezifischen und von Anbeginn stark eingeschränkten Typs.
| |
− | In seiner »Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung« von 1908
| |
− | schreibt Simmel:
| |
− | »Das Freimaurertum betont, dass es die allgemeinste Gesellschaft sein will, der ›Bund
| |
− | der Bünde‹, der einzige, der jeden Sonderzweck und mit ihm alles partikularistische
| |
− | Wesen ablehnt und ausschließlich das allen guten Menschen Gemeinsame zu sei-
| |
− | 31 Hierzu ausführlich Höhmann, Hans-Hermann: Habitus, soziales Feld, Kapital – Freimaurerei im Lichte
| |
− | der Soziologie Pierre Bourdieus, in diesem Band, S. 115–131.
| |
− | 32 Vgl. Zaunstöck, Holger: Die vernetzte Gesellschaft. Überlegungen zur Kommunikationsgeschichte des
| |
− | 18. Jahrhunderts, in: Berger, Joachim/Grün, Klaus-Jürgen: Geheime Gesellschaft. Weimar und die deutsche
| |
− | Freimaurerei, München/Wien 2002, S. 147–153.
| |
− | 25
| |
− | nem Material machen will. Und Hand in Hand mit dieser, immer entschiedener werdenden
| |
− | Tendenz wächst die Vergleichgültigung des Geheimnischarakters für die Logen,
| |
− | seine Zurückziehung auf die bloßen formalen Äußerlichkeiten … Der Freimaurerbund
| |
− | konnte seine neuerdings stark betonte Behauptung, dass er kein eigentlicher
| |
− | ›Geheimbund‹ wäre, nicht besser stützen, als durch sein gleichzeitig geäußertes Ideal,
| |
− | alle Menschen zu umfassen und die Menschheit als ganze darzustellen.«33
| |
− | Freilich hat diese Ablehnung »jedes Sonderzwecks« die Folge, dass die Freimaurerei auf konkrete
| |
− | politisch-gesellschaftliche Programme verzichten muss. »Die Menschheit als ganze
| |
− | darzustellen« heißt, das freimaurerische Ideal dadurch exoterisch zu machen, dass es im Innenraum
| |
− | der Loge überzeugend praktiziert wird. Oft ist der Freimaurerbund allerdings den
| |
− | entgegengesetzten Weg gegangen: In der Auseinandersetzung um einen vermeintlich zu verfolgenden
| |
− | äußeren Zweck wurden die Möglichkeiten einer Annäherung an die inneren Ideale
| |
− | und eigentlichen Wirkungsmöglichkeiten der Loge (Charakterformung, Einübung ethischen
| |
− | Verhaltens, praktische Mitmenschlichkeit) immer wieder beeinträchtigt.
| |
− | Auch Michael Voges weist auf den ambivalenten Charakter des freimaurerischen Geheimnisses
| |
− | hin.34 Einerseits sei es ein wichtiges Element der freimaurerischen Organisationsstruktur
| |
− | gewesen, andererseits sei es stets durch Elemente kontrastiert worden, »die einen
| |
− | betont öffentlichen Charakter hatten«. Dabei verweist Voges auf mannigfaltige Formen
| |
− | freimaurerischer Repräsentation in der Öffentlichkeit und betont die öffentliche Wahrnehmung
| |
− | der bald ausufernden freimaurerischen Publizistik. Es sei diese »Halböffentlichkeit«
| |
− | gewesen, die die Freimaurerei von Anfang an von den Geheimbünden im strengeren Sinne
| |
− | unterschied. Der »halböffentliche« Charakter der Freimaurerei zieht sich durch die gesamte
| |
− | Geschichte des Bundes und spielt auch in der Gegenwart eine bestimmende Rolle für den
| |
− | Charakter der Kommunikation zwischen der Freimaurerei und ihrem gesellschaftlichen
| |
− | Umfeld.35
| |
− | Reformen der Freimaurerei
| |
− | Die voneinander abweichenden Interessen der Mitglieder der Freimaurerlogen, der unterschiedliche
| |
− | Grad, in dem die Logenwirklichkeit den Wertvorstellungen und Ambitionen der
| |
− | einzelnen Freimaurer entsprachen und die unterschiedliche Intensität, mit der »deutungsmächtige
| |
− | « Brüder Übereinstimmungen oder Abweichungen von der »eigentlichen, echten,
| |
− | ursprünglichen Freimaurerei« postulierten, hatten Auswirkungen auf Mitgliedschaft und
| |
− | Entwicklung des Bundes.36 Einerseits veranlassten mannigfaltige Enttäuschungen immer
| |
− | wieder prominente Brüder, die Freimaurerei zu verlassen, in der sie oft sehr aktiv tätig gewe-
| |
− | 33 Simmel, Georg: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Gesamtausgabe
| |
− | Band 11, Frankfurt am Main 1992, S. 434, 447.
| |
− | 34 Voges, Michael: Aufklärung und Geheimnis, a.a.O., S. 82.
| |
− | 35 Ausführlich hierzu Höhmann, Hans-Hermann: Der deutsche Freimaurerdiskurs der Gegenwart: Was ist,
| |
− | was will, was soll die Freimaurerei?, in diesem Band, S. 152–178.
| |
− | 36 Vgl. Höhmann, Hans-Hermann: Entwicklung, Reflexion, Wissenschaft. Anmerkungen zum Wechselspiel
| |
− | zwischen freimaurerischer Geschichte und Geschichte der Freimaurerforschung, in: Quatuor Coronati
| |
− | Jahrbuch für Freimaurerforschung, Nr. 41/2004, S. 229–239.
| |
− | 26
| |
− | sen waren.37 Andererseits entwickelten sich unterschiedlich intensive und verschieden ausgerichtete
| |
− | Reformen, die sich an verschiedenen »Modellen« orientierten.
| |
− | In Zeiten von Krisen freimaurerischer Systeme und der Suche nach neuen Formen wurde
| |
− | der Bedarf an Modellen und ihrer analytischen Begründung besonders dringlich. Für
| |
− | die Krise der »Strikten Observanz« in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und die Versuche
| |
− | des Wilhelmsbader Konvents von 1782, die Krise zu überwinden, hat Ernst Traugott
| |
− | v. Kortum, Teilnehmer in Wilhelmsbad, den Zusammenhang zwischen Fehlentwicklungen
| |
− | und Deutungserfordernissen anschaulich beschrieben: Die Freimaurerei als
| |
− | »diejenige Gesellschaft, welche, so alt sie auch seyn mag, doch erst itzt seit etlichen
| |
− | zwanzig Jahren in mancherley Bezug besonderes Aufsehen macht, die nicht nur von
| |
− | Fremden, sondern auch von ihren Mitgliedern selbst so verschiedentlich beurtheilt
| |
− | wird, die würklich seit langen Zeiten unter eben so verschiedenen Gestalten erschienen,
| |
− | alle Augenblicke eine andere Seite gezeigt, und auch den aufmerksamsten Beobachter
| |
− | hintergangen hat, wird nun, da sie anfängt, sich ihrer Entwicklung oder
| |
− | Auflösung zu nähern, erst ein öffentlicher Gegenstand kritischer Untersuchungen,
| |
− | Geschichts-Vergleichungen und historischer Nachspürungen, nachdem sie fast ein
| |
− | ganzes Jahrhundert von einer Seite gepriesen, von der anderen verdammt, und ihr
| |
− | Ursprung hier von Gott, dort von dem Teufel hergeschrieben worden ist, ohne sich
| |
− | für beides auf historische Beweise einzulassen.«38
| |
− | Auch an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert39 waren sich führende Freimaurer wie
| |
− | Feßler, Fichte, Krause, Schröder und Herder sowie ihre mehr oder weniger bedeutenden Gefolgsleute
| |
− | wohl bewusst, dass kein Versuch, die Freimaurerei »in ihrer ursprünglichen Form«
| |
− | wiederherzustellen, ohne »kritische Untersuchungen, Geschichts-Vergleichungen und historische
| |
− | Nachspürungen« auskommen konnte. Der Dreischritt Gestalten, Reflektieren, Forschen
| |
− | war endgültig zum freimaurerischen Entwicklungsprinzip geworden und kennzeichnet
| |
− | die Geschichte der Freimaurerei bis in die Gegenwart hinein.
| |
− | Es dürfte lohnend sein, insbesondere den Erörterungen, die an der Wende vom 18.
| |
− | zum 19. Jahrhundert mit, um und im Abschluss an Gotthold Ephraim Lessings »Ernst und
| |
− | Falk. Gespräche für Freymäurer«40 (1778, 1780) geführt wurden, erneut nachzugehen. Vier
| |
− | 37 Prominentes Beispiel ist Adolph Freiherr Knigge, der nach prägendem Wirken als Freimaurer und insbesondere
| |
− | Illuminat im Abschnitt »Über geheime Verbindungen und den Umgang mit den Mitgliedern
| |
− | derselben« seines Buches »Über den Umgang mit Menschen« (1788/1790) skeptisch feststellte und riet:
| |
− | »Ich habe mich lange genug mit diesen Dingen beschäftigt, um aus Erfahrung zu reden und jedem jungen
| |
− | Mann, dem seine Zeit lieb ist, abraten zu können, sich in irgendeine geheime Gesellschaft, sie mögen
| |
− | Namen haben, wie sie wolle, aufnehmen zu lassen. Sie sind alle, freilich nicht im gleichen Grade,
| |
− | aber doch alle ohne Unterschied zugleich unnütz und gefährlich.« Knigge, A. v.: Über den Umgang mit
| |
− | Menschen, Hannover 2001, S. 391.
| |
− | 38 Ernst Traugott v. Kortum: Beiträge zur philosophischen Geschichte der heutigen geheimen Gesellschaften,
| |
− | Wien 1786, S. 8f., zitiert nach Hammermayer, Ludwig: Der Wilhelmsbader Freimaurer-Konvent
| |
− | von 1782, Heidelberg, 1980, S. 5.
| |
− | 39 Zu Situation und Tendenzen der deutschen Freimaurerei zu Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts
| |
− | vergl. die Beiträge in: Reinalter, Helmut (Hrsg.): Freimaurerische Wende vor 200 Jahren: 1798
| |
− | – Rückbesinnung und Neuanfang, Bayreuth 1998.
| |
− | 40 Die interessanteste Edition ist: Gotthold Ephraim Lessing, Ernst und Falk mit den Fortsetzungen Johann
| |
− | Gottfried Herders und Friedrich Schlegels, hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Ion Con27
| |
− | Autoren vor allem sind von herausragendem Interesse: Lessing selbst, Johann Gottfried
| |
− | Herder, Karl Christian Friedrich Krause und Johann Gottlieb Fichte, und das »laut Denken
| |
− | « dieser vier sowie die Rezeptionsgeschichte um sie herum kennzeichnet beinahe schon
| |
− | im Alleingang die gleichsam »goldene Epoche« der Freimaurerdiskurse in Deutschland,
| |
− | deren Niveau kaum je wieder erreicht wurde. (Eine »silberne Epoche« der Freimaurerdiskurse
| |
− | stellt dann die Zeit vor und nach der Wende zum 20. Jahrhundert dar, als in der
| |
− | deutschen Freimaurerei ein gleichfalls beachtliches Erörterungsniveau anzutreffen war, das
| |
− | sich forschend aufzuarbeiten lohnt.)
| |
− | Der »klassische Freimaurerdiskurs« hat mindestens vier übereinstimmende Bezugspunkte:
| |
− | • erstens die Faszination der Freimaurerei, die alle Autoren nicht loslässt,
| |
− | • zweitens die Vielfalt, ja der desolate Zustand der Freimaurerei in der zweiten Hälfte des
| |
− | 18. Jahrhunderts, der den Bund vor die Alternative Untergang oder Neukonzeption und
| |
− | Reform stellt,
| |
− | • drittens das Gefühl der Formbarkeit der Freimaurerei (mit Fichtes Worten: der Wunsch
| |
− | »auf die tabula rasa der Freimaurerei etwas zu schreiben, was ihrer würdig ist«41) und
| |
− | • viertens das Bestreben, Freimaurerei in den Kontext des jeweils eigenen Denkens einzufügen.
| |
− | Die Teilnehmer am Diskurs geben nun unterschiedliche Antworten in Bezug auf Institution
| |
− | und Funktion der Freimaurerei: Fichte – mitten im Reformprozess formulierend – bleibt am
| |
− | stärksten der institutionellen Freimaurerei verhaftet. Ihm geht es um die Frage, ob es einen
| |
− | überzeugenden Zweck für die Loge gibt, und er antwortet mit dem Hinweis auf den Auftrag
| |
− | der Loge, »durch Ausgehen von der Gesellschaft und Absonderung von ihr … die Nachteile
| |
− | der Bildungsweise in der größeren Gesellschaft wieder aufzuheben und die einseitige
| |
− | Bildung für den besonderen Stand in die gemein menschliche Bildung, in die allseitige des
| |
− | ganzen Menschen, als Menschen zu verschmelzen«42. Herder geht (zunächst) am weitesten
| |
− | über die institutionelle Freimaurerei hinaus: »Alle solche Symbole mögen einst gut und notwendig
| |
− | gewesen sein, sie sind aber, wie mich dünkt, nicht mehr für unsere Zeiten. Für unsere
| |
− | Zeiten ist das Gegenteil ihrer Methode nötig, reine helle offenbare Wahrheit«43, verändert
| |
− | seine Position allerdings in der Zusammenarbeit mit Schröder bei dessen Ritualreform und
| |
− | postuliert jetzt, dass »eine Gesellschaft tausendfach mehr (vermag), als zerstreute Einzelne
| |
− | auch bei der edelsten Wirksamkeit zu thun vermögen«44. Krause vertritt mit der Auffassung,
| |
− | »nach der Reinigung von einigen zunftmäßigen und kritikwürdigen Bestandteilen«45 könne
| |
− | tiades, Frankfurt am Main 1968, S. 9–57. Vgl. auch Dziergwa, Roman: Lessing und die Freimaurerei. Untersuchungen
| |
− | zur Rezeption von G. E. Lessings Spätwerk »Ernst und Falk. Gespräche für Freymäurer
| |
− | in den freimaurerischen und antifrei-maurerischen Schriften des 19. und 20. Jahrhunderts (bis 1933),
| |
− | Frankfurt am Main u.a. 1992.
| |
− | 41 Fichte, Johann Gottlieb: Philosophie der Maurerei. Briefe an Konstant, hrsg. von Thomas Held, Düsseldorf
| |
− | und Bonn 1997, S. 21.
| |
− | 42 Ebenda, S. 41.
| |
− | 43 Herder, Johann Gottfried: Gespräch über eine unsichtbar-sichtbare Gesellschaft, in: Ion Contiades
| |
− | (Hrsg.): a.a.O., S. 72.
| |
− | 44 Zitiert nach Maurice, Florian: Freimaurerei um 1800, a.a.O., S. 49.
| |
− | 45 Hörn, Reinhard: Der Einfluß freimaurerischer Ideen auf Krauses »Urbild der Menschheit«, in: Kodalle,
| |
− | Klaus-M.: Karl Cristian Friedrich Krause (1781–1832). Studien zu seiner Philosophie und zum Krausis28
| |
− | das ganze überlieferte Gebrauchtum in den von ihm entworfenen »Menschheitsbund« eingearbeitet
| |
− | und damit zugleich aufbewahrt und überwunden werden46, wiederum eine andere
| |
− | Variante des »Stufenmodells« der Freimaurerei. Für Lessing bleibt Freimaurerei auch als
| |
− | Institution von Bedeutung, doch ihre Funktion geht über die Institution hinaus und ist bei
| |
− | Weitem wichtiger, beruht Freimaurerei für Lessing doch »im Grunde nicht auf äußerlichen
| |
− | Verbindungen, die so leicht in bürgerliche Anordnungen ausarten; sondern auf dem gemeinschaftlichen
| |
− | Gefühl sympathisierender Geister«.47 Auch Lessing ist von der Faszination der
| |
− | Freimaurerei gefesselt. Auch er kritisiert die konkrete Form des Bundes, dessen »heutiges
| |
− | Schema ihm gar nicht zu Kopfe« will. Auch ihn fordert heraus, die Wesenheit der Freimaurerei
| |
− | auf den bestimmten Begriff einer wahren Ontologie zu bringen und aufzuzeigen, »was
| |
− | und warum die Freimaurerei ist, wenn und wo sie gewesen, wie und wodurch sie befördert
| |
− | oder gehindert wird«. Er tut dies – vor allem, aber nicht nur in »Ernst und Falk« – als Anwalt
| |
− | einer Kultur der Vermittlung, die Grenzen überschreitet, deren Medium und Ziel Freundschaft
| |
− | und Menschenliebe sind und die sich in einem offenen Prozess der Wahrheitssuche
| |
− | realisiert.
| |
− | Die Veränderungsprozesse innerhalb der Freimaurerei und die daraus resultierenden
| |
− | Unterschiede zwischen den verschiedenen Typen von Freimaurerei lassen sich vor allem
| |
− | auf Faktoren zurückführen, die mehr außerhalb als innerhalb der Freimaurerei lokalisiert
| |
− | waren, jedoch nachhaltig auf den Entwicklungsprozess des Bundes, seine Dynamik und
| |
− | seine Differenzierungen zurückwirkten.
| |
− | Zu diesen Faktoren gehören – um nur die wichtigsten zu nennen –:
| |
− | • die Veränderungen der politischen Rahmenbedingungen, innerhalb deren sich die Entwicklung
| |
− | der Freimaurerei vollzog und die den freimaurerischen Gruppierungen hier
| |
− | eine stärker selbstbestimmt-demokratische Existenz erlaubten, während sie sie dort in
| |
− | starkem Maße zu politischer Loyalität und Anpassung veranlassten;
| |
− | • der sich wandelnde »Zeitgeist«, d.h. die jeweiligen kulturellen und religiösen Besonderheiten
| |
− | nationaler oder regionaler Art, etwa die an Mystizismen, Hermetik, Alchemie,
| |
− | Tempelrittern und ägyptischen Mysterientraditionen orientierte vorromantische Erinnerungskultur
| |
− | der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die zum Entstehen der schier zahllosen
| |
− | Hochgradsysteme beitrug, oder die sich im 19. Jahrhundert durchsetzende »Bürgerkultur
| |
− | «, mit der viele Reformen der Freimaurerei einhergingen,
| |
− | sowie
| |
− | • die Veränderungen der gesellschaftlichen Struktur:
| |
− | – im 18. Jahrhundert etwa der Abstieg des Adels durch Veränderungen innerhalb der absolutistischen
| |
− | Herrschaftsordnung bei gleichzeitiger Formierung und allmählichem Aufstieg
| |
− | des Bürgertums (hier liegt das besondere Momentum des Hochgradrittersystems
| |
− | der »Strikten Observanz«48),
| |
− | mo, Hamburg 1985, S. 132.
| |
− | 46 Krause, Karl C. F.: Die drei ältesten Kunsturkunden der Freimaurerbrüderschaft, Dresden 1820, S.
| |
− | CLXXVI, zitiert nach: Hörn, Reinhard: Der Einfluß freimaurerischer Ideen auf Krauses »Urbild der
| |
− | Menschheit«, a.a.O., S. 132.
| |
− | 47 Lessing, G. E.: a.a.O., S. 36ff., S. 11.
| |
− | 48 Vgl. Höhmann, Hans-Hermann: Der Konvent von Wilhelmsbad und die Neuorientierung der deutschen
| |
− | Freimaurerei, in: TAU. Zeitschrift der Forschungsloge »Quatuor Coronati«, II/2008, S. 46–51, hier S. 48f.
| |
− | 29
| |
− | – im 19. Jahrhundert die Entwicklung eines selbstbewussten, national eingestellten und
| |
− | religiös – sprich protestantisch – eingebundenen Bürgertums als Basis sowohl der »altpreußischen
| |
− | « als auch der »humanitären« Freimaurerei in Deutschland.
| |
− | Inhaltlich können die zahlreichen Umgestaltungen des Freimaurerbundes insbesondere im
| |
− | Hinblick auf das freimaurerische Geheimnis als Inbegriff der zuvor erörterten freimaurerischen
| |
− | Grundstruktur interpretiert werden. Dann lassen sich vier typische Ansätze unterscheiden:
| |
− | • Die »Relativierung des Geheimnisses«, die dem von Georg Simmel beschriebenen und
| |
− | besonders in den Reformen Friedrich Ludwig Schröders und ähnlichen Umgestaltungen
| |
− | verwandter Großlogen (»Große Mutterloge des Eklektischen Freimaurerbundes« in
| |
− | Frankfurt, Großloge »Zur Sonne« in Bayreuth) Ausdruck findenden Weg einer »Vergleichgültigung
| |
− | des Geheimnischarakters für die Logen« folgt. Hier ging und geht es
| |
− | nicht mehr um ein in den Ritualinhalten verborgenes »wahres« Geheimnis, es geht um ein
| |
− | »eigentliches Geheimnis« der Freimaurerei, das menschliche Begegnung zwischen Freunden,
| |
− | das Erlebnis der Bruderliebe sowie eine spezifische »freimaurerische Geisteshaltung«
| |
− | als Ausdruck bürgerlicher Moral in das Zentrum des Bundes rückte.
| |
− | • Die schon genannte »Hierarchisierung des Geheimnisses«: Hier wurde und wird das freimaurerische
| |
− | »Geheimnis« (oder zumindest ein wesentlicher Teil davon) in den Ritualen
| |
− | neuer Systeme, Grade und Erkenntnisstufen gesucht, die über die »klassischen« Grade
| |
− | Lehrling, Geselle und Meister hinausgehen und ein zunehmendes Maß an »Binnendifferenzierung
| |
− | « innerhalb der freimaurerischen Gruppen bewirken. Die »weiterführenden
| |
− | Grade« verstehen sich als »Vertiefung« der freimaurerischen Basisgrade, geraten aber in
| |
− | Gefahr, mehr oder weniger von deren Grundaussagen und Organisationsprinzipien abzuweichen
| |
− | und lediglich jene Freimaurerei zu vertiefen, die sie zuvor in ihren neuen Ritualen
| |
− | selbst geschaffen haben.
| |
− | • Die Verstärkung des religiösen Charakters der Freimaurerei (»Verchristlichung des Geheimnisses
| |
− | «). Hauptbeispiel hierfür ist die – hierzulande von der Großen Landesloge
| |
− | der Freimaurer von Deutschland vertretene – »Schwedische Lehrart«, als deren Fundament
| |
− | die »reine Lehre Jesu« gilt, welche die Bibel nicht als bloßes religiöses Symbol,
| |
− | sondern als das »größte aller Lichter« versteht, sich als christlicher Ritterorden »in der
| |
− | Nachfolge Jesu Christi als Obermeister« konstituiert hat und ihre christliche Ideenwelt
| |
− | in einem vielstufigen Ritualsystem von großer Geschlossenheit entfaltet, das in den höheren
| |
− | Graden als dezidiert religiöser Kult den Charakter einer kirchennahen Christologie
| |
− | annimmt.
| |
− | • Die »Radikalisierung des Geheimnisses« durch den Übergang zum politisch orientierten
| |
− | Geheimbund, wofür – zunächst und eingeschränkt die »Strikte Observanz« – dann aber
| |
− | vor allem die Illuminaten49 mit ihrem Bestreben, durch die Erfassung einer kulturell-gesellschaftlichen
| |
− | Elite grundlegende Reformen in der Wirtschaft, im Bildungswesen und
| |
− | im religiös-kirchenpolitischen Bereich in Gang zu setzen, die wichtigsten historischen
| |
− | Beispiele bieten.
| |
− | 49 Vgl. Hammermayer, Ludwig: Der Geheimbund der Illuminaten und Regensburg, in: Verhandlungen des
| |
− | Historischen Vereins für Oberpfalz und Regensburg, 110, 1970.
| |
− | 30
| |
− | Zweierlei ist allerdings hinzuzufügen: Einmal sind die einzelnen Reformansätze nicht klar
| |
− | voneinander zu trennen und können sich, wie etwa im Falle der »Verchristlichung« und
| |
− | | |
− | »Hierarchisierung«, durchaus miteinander verbinden. Zum anderen verlaufen sie nicht gradlinig
| |
− | und können auf den jeweiligen »Reformachsen« Gegenentwicklungen auslösen (gegen
| |
− | Hierarchisierung etwa das Wirken des Eklektischen Bundes und des Schröder’schen Systems
| |
− | (Große Loge von Hamburg), gegen Metaphysierung z.B. die Positionen des Grand Orient
| |
− | de France und des Freimaurerbundes zur aufgehenden Sonne, gegen Relativierung schließlich
| |
− | die verstärkte Rückkehr zur Esoterik als Material und Perzeptionsweise freimaurerischer
| |
− | Rituale).
| |
− | Jedenfalls entstanden durch den beschriebenen Differenzierungsprozess zumindest drei
| |
− | große (in sich wiederum teilweise beträchtlich differenzierte) Typen von Freimaurerei:
| |
− | • Die ethisch-symbolische Freimaurerei, die in der Welt dominiert und vor allem von der
| |
− | englischen und amerikanischen Freimaurerei sowie von vielen kontinentaleuropäischen
| |
− | Großlogen, darunter auch von der Großloge der Alten Freien und Angenommenen Maurer
| |
− | von Deutschland (GL AFuAM vD) repräsentiert wird. Zu dieser Gruppe gehören von
| |
− | den gegenwärtig insgesamt 2,5 bis drei Millionen Freimaurern weltweit (die immer noch
| |
− | übliche Angabe von sechs Millionen ist deutlich überhöht, da die Zahl der Freimaurer
| |
− | seit den 1970er Jahren vor allem in den USA sowie in England, Australien/Neuseeland
| |
− | und Kanada um mehr als drei Millionen zurückgegangen ist) ungefähr 95 Prozent der Logenmitglieder.
| |
− | Die Freimaurerei dieser Gruppe ist religiös offen, setzt als Bedingung für
| |
− | die Mitgliedschaft allerdings die Anerkennung eines »Großen Baumeister aller Welten«
| |
− | sowie die Präsenz eines »Heiligen Buches« (im christlichen Kulturkreis die Bibel) als Symbole
| |
− | für den transzendenten Bezug des Menschen voraus. Innerhalb der ethisch-symbolischen
| |
− | Freimaurerei gibt es freilich beträchtliche Differenzierungen, und es lassen sich
| |
− | zumindest Gruppierungen mit einer stärker aufklärerisch-ethischen Orientierung von
| |
− | solchen mit einer stärker hermetisch-esoterischen oder einer stärker traditionell-religiösen
| |
− | Orientierung unterscheiden.
| |
− | • Die christliche Freimaurerei, die das Bekenntnis zur Lehre Jesu Christi zur Voraussetzung
| |
− | der Mitgliedschaft gemacht hat und die vor allem in den skandinavischen Ländern
| |
− | (Schweden, Norwegen, Dänemark, Island) sowie hierzulande von der Großen Landesloge
| |
− | der Freimaurer von Deutschland (GL FvD) vertreten wird.50 Insgesamt gehören zur Gruppe
| |
− | der christlichen Freimaurerei weltweit gut zwei Prozent aller Freimaurer.
| |
− | • Die säkular-liberale Freimaurerei, die vor allem durch den Grand Orient de France repräsentiert
| |
− | wird. Der Grand Orient definiert sich in seiner Satzung als »philosophische, philanthropische
| |
− | und fortschrittliche Institution«, hat das Symbol des »Großen Baumeisters
| |
− | « in seinen Ritualen aufgegeben, nimmt auch Atheisten als Freimaurer auf, ergreift
| |
− | Partei in gesellschaftlichen und politischen Fragen und erwartet auch ein gesellschaftspolitisches
| |
− | Engagement von seinen Mitgliedern. Ihm gehören in Frankreich ca. 47.000
| |
− | Freimaurer an. Die Freimaurerei des Grand Orient de France (und einiger gleich struktu-
| |
− | 50 Auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Letzterer und dem skandinavischen Original verweist
| |
− | der Schwedische Freimaurerorden (Schwedisch: Svenska Frimurare Orden) auf seiner Homepage:
| |
− | »The Swedish Rite is worked in Sweden/Finland, Norway, Denmark and Iceland. In Germany a Grand
| |
− | Lodge, Große Landesloge der Freimaurer von Deutschland, is working rituals based on Carl Friedrich
| |
− | Eckleff’s documents from 1760, but otherwise have few similarities to the Swedish Rite.«
| |
− | 31
| |
− | rierter Großlogen in anderen Ländern) wird von den meisten Großlogen der Welt nicht
| |
− | als regulär anerkannt.
| |
− | Es ist darauf hinzuweisen, dass es neben diesen männerbündisch organisierten Gruppierungen
| |
− | der Freimaurerei auch eine Freimaurerei der Frauen gibt, die sich gegenwärtig sehr
| |
− | dynamisch entwickelt. In zahlreichen Ländern sind auch Systeme »gemischter« Logen (Logen,
| |
− | die Männer und Frauen aufnehmen) vorhanden, von denen der Droit Humain die
| |
− | wichtigste Gruppierung ist.
| |
− | An der Schwelle zum 19. Jahrhundert
| |
− | Bisher wurde vor allem aufgezeigt, wie sich die Brüche und oft gegenläufigen Tendenzen
| |
− | des 18. Jahrhunderts – in mancherlei Hinsicht den labilen Strukturen der Postmoderne vergleichbar
| |
− | – in einem bunten Gemisch verschiedenartiger Freimaurereien spiegelten. Eine
| |
− | Konsolidierung der Freimaurerei trat erst in der Periode der eigentlichen Bürgergesellschaft
| |
− | ein, als sich auf dem Markt sozialer Einbindung gleichermaßen Nachfrage und Angebot stabilisierten.
| |
− | Unter den Tendenzen, die die Weiterentwicklung der Freimaurerei im langen 19. Jahrhundert
| |
− | kennzeichneten, waren die folgenden von besonderer Bedeutung:
| |
− | 1. Im Hinblick auf die nationale Rahmensetzung entstanden oder festigten sich Großlogen
| |
− | in den europäischen Nationalstaaten. Dies bedeutete, wenn nicht das Ende, so doch eine
| |
− | erhebliche Abschwächung des kosmopolitischen Selbstverständnisses der Freimaurerei.51
| |
− | 2. Es kam zur Dominanz des bürgerlichen Elements in der Freimaurerei. Die führende Rolle
| |
− | des Adels in der Freimaurerei nach dem Modell der »Strikten Observanz« fand ihr
| |
− | Ende.
| |
− | 3. In Deutschland kam es sowohl zu einer langfristig wirksamen Konsolidierung der christlichen
| |
− | »altpreußischen« Freimaurerei (Große National-Mutterloge »Zu den drei Weltkugeln
| |
− | «, Große Landesloge und Große Loge Royal York zur Freundschaft) als auch zu einer
| |
− | Renaissance der englisch geprägten und von England bestätigten »eigentlichen« Freimaurerei
| |
− | der drei Grundgrade (»humanitäre« Großlogen, vor allem Eklektischer Bund,
| |
− | Große Loge von Hamburg, Große Loge »Zur Sonne« sowie prominente Einzellogen, von
| |
− | denen »Archimedes zu den drei Reißbretern« in Altenburg aufgrund ihrer hochbeachtlichen
| |
− | publizistischen Produktion besonders hervorzuheben ist). Damit entstanden in
| |
− | der deutschen Freimaurerei tiefverwurzelte, bis heute weiterwirkende konzeptionelle und
| |
− | organisatorische Unterschiede zwischen »humanitärer« und »christlicher« Freimaurerei.52
| |
− | 4. Schließlich änderte sich die konfessionelle Struktur der deutschen Freimaurerei. Die Zahl
| |
− | katholischer Mitglieder ging rasch und gründlich zurück, einerseits durch die sich verschärfende
| |
− | antifreimaurerische Haltung der katholischen Kirche, andererseits durch die
| |
− | Sympathie der zumeist protestantischen Brüder Freimaurer mit der später im »Kultur-
| |
− | 51 Vgl. Höhmann, Hans-Hermann: Europas verlorener Friede, die nationalvölkische Orientierung innerhalb
| |
− | der deutschen Freimaurerei und die »freimaurerische Erinnerungspolitik« nach dem Zweiten Weltkrieg,
| |
− | in diesem Band, S. 51–87.
| |
− | 52 Auf diese Unterschiede ist im zweiten Teil dieses Beitrags noch einmal ausführlicher zurückzukommen.
| |
− | 32
| |
− | kampf« kulminierenden antikatholischen Einstellung großer Teile des deutschen, insbesondere
| |
− | des norddeutsch-preußischen Bürgertums.
| |
− | Insbesondere zwischen der Mitte des 19. und dem Beginn des 20. Jahrhunderts fungierten
| |
− | die deutschen Logen – unabhängig davon, ob sie den altpreußischen oder den humanitären
| |
− | Großlogen angehörten – als stabile Assoziationsformen der bürgerlichen Mittel- und
| |
− | Oberschichten.53 Sie verstanden sich als Übungsstätten von Bürgertugenden wie Anstand,
| |
− | Respekt, Hilfsbereitschaft und Vaterlandsliebe, spielten – nicht zuletzt aufgrund obrigkeitlicher
| |
− | Protektion – eine anerkannte Rolle in der deutschen Gesellschaft und ordneten sich
| |
− | ihrerseits loyal in die bestehende politische Ordnung ein. Thomas Manns Charakteristik
| |
− | einer »machtgeschützten Innerlichkeit« deutscher Gesellschaft und Kultur kennzeichnete
| |
− | weithin auch Selbstverständnis und logeninterne Praxis der freimaurerischen Vereinigungen.
| |
− | 54
| |
− | In weiteren Beiträgen dieses Bandes werden die in meiner Sicht besonders wichtigen
| |
− | Phasen der neueren freimaurerischen Geschichte in Deutschland ausführlich behandelt.55
| |
− | Gegner der Freimaurerei
| |
− | Seitdem es die moderne Freimaurerei gibt, ist sie zum Objekt mannigfaltiger Ablehnungen,
| |
− | Gegnerschaften, Vorurteile, Verurteilungen und Verbote geworden. Offenbar forderte die
| |
− | Freimaurerei durch ihre Ideenwelt und Sozialstruktur sowie den raschen Expansionsprozess
| |
− | der Logen und das große Interesse der gesellschaftlichen Eliten an einer Mitgliedschaft in ihnen
| |
− | in besonderem Maße zu Ängsten, Verurteilungen und Verboten heraus. In katholischen
| |
− | Ländern war diese Ablehnung von Beginn an besonders ausgeprägt. Vor allem in Krisensituationen,
| |
− | die der Erklärung bedurften und in denen die eigentlich Verantwortlichen nach
| |
− | Entschuldigungen suchten (Französische Revolution, Verlust des Ersten Weltkriegs), wurde
| |
− | immer wieder auf die Freimaurerei und die von ihr ausgehenden Gefahren für die bestehenden
| |
− | politischen Ordnungen sowie die hergebrachten Formen von Religion und Glauben
| |
− | verwiesen.
| |
− | Bereits im Jahre 1698 – 20 Jahre vor Gründung der ersten Großloge – zirkulierte in
| |
− | London ein Pamphlet, in dem »alle frommen Menschen vor den Freimaurern gewarnt werden.
| |
− | Diese seien eine teuflische Sekte die durch einen Eid der Verschwiegenheit geschützte
| |
− | geheime Zeremonien abhielten und der wahre Antichrist seien«.56
| |
− | 53 Vgl. Hoffmann, Stefan-Ludwig: Die Politik der Geselligkeit. Freimaurerlogen in der deutschen Bürgergesellschaft,
| |
− | 1840–1918, Göttingen 2000, insbes. S. 128–202.
| |
− | 54 Mann, Thomas: Leiden und Größe Richard Wagners, Gesammelte Werke, Bd. IX, Frankfurt/Main 1990,
| |
− | S. 419.
| |
− | 55 S. insbesondere Europas verlorener Friede, die nationalvölkische Orientierung innerhalb der deutschen
| |
− | Freimaurerei und die »freimaurerische Erinnerungspolitik« nach dem Zweiten Weltkrieg, in diesem
| |
− | Band, S. 51–87, sowie Deutsche Freimaurerei nach 1945 – Wiederaufbau zwischen Neuorientierung und
| |
− | alten Strukturen, in diesem Band S. 88–114.
| |
− | 56 Zitiert nach Neugebauer-Wölk, Monika: Geheimnis und Öffentlichkeit in masonischen Systemen des
| |
− | 18. Jahrhunderts, in: Quatuor Coronati Jahrbuch für Freimaurerforschung, Nr. 43/2006, S. 280.
| |
− | 33
| |
− | Haltung der Kirchen
| |
− | Die Kirchen – beginnend mit der ersten Verurteilung durch Papst Clemens XII. im Jahre
| |
− | 1738 (Bulle »In eminenti apostolatus specula«) – fürchteten das maurerische Geheimnis, die
| |
− | vorrangige Betonung moralischer Werte, das »Gutsein ohne dezidierten Glauben« und die
| |
− | esoterische Religiosität der Freimaurer. In den folgenden Jahrzehnten wurde die ablehnende
| |
− | Haltung der katholischen Kirche immer wieder verschärft und neu akzentuiert, bis sie
| |
− | im Jahre 1884 durch Papst Leo XIII. (Bulle »Humanum genus«), der die Freimaurer gar dem
| |
− | »Reich des Satans« zuordnete, auf die Spitze getrieben wurde.57 Die Kernaussage der Bulle
| |
− | lautet:
| |
− | »Nachdem das Menschengeschlecht durch den Neid des Teufels von Gott, dem
| |
− | Schöpfer und dem Spender der himmlischen Güter, so kläglich abgefallen war, hat
| |
− | es sich in zwei geschiedene und einander entgegengesetzte Lager geteilt: das eine
| |
− | kämpft unausgesetzt für Wahrheit und Tugend, das andere für alles, was der Wahrheit
| |
− | und Tugend widerstreitet. Das eine ist das Reich Gottes auf Erden, das andere ist
| |
− | das Reich des Satans … In der Gegenwart … scheinen sich die Anhänger des Bösen
| |
− | zu verabreden und in ihrer Gesamtheit mit vollen Kräften anzustürmen: geleitet und
| |
− | gestützt von der weitverbreiteten und fest gegliederten Gesellschaft der sogenannten
| |
− | ›Freimaurer‹. Diese Sekte ist … ihrem ganzen Wesen und ihrer innersten Natur nach
| |
− | Laster und Schande: darum ist es rechtens nicht erlaubt, ihr beizutreten und ihr in
| |
− | irgendeiner Weise Beihilfe zu leisten.«58
| |
− | Wenn auch der Ton der Angriffe im 20. Jahrhundert maßvoller wurde, so ist die Einstellung
| |
− | der katholischen Kirche zur Freimaurerei doch weitgehend ablehnend geblieben. Zwischen
| |
− | Vertretern der katholischen Kirche und der Freimaurerei fanden zwar seit den 1960er Jahren
| |
− | Gespräche und Annäherungen statt, doch machte die »Unvereinbarkeitserklärung« der deutschen
| |
− | Bischofskonferenz von 1980 die Hoffnung der Freimaurer auf eine Überwindung alter
| |
− | Feindseligkeiten zunichte. Das negative Urteil über die Freimaurer bleibt weiterhin bestehen,
| |
− | da deren weltanschauliche Grundlagen mit der Lehre der katholischen Kirche für unvereinbar
| |
− | gehalten werden. Genannt werden dabei der Relativismus, das (vermeintlich) deistische
| |
− | Gottesbild und nicht zuletzt der (ebenfalls vermeintlich) sakramentsähnliche Charakter der
| |
− | Rituale. Im Ergebnis stellte die Glaubenskongregation unter ihrem damaligen Präfekten Kardinal
| |
− | Joseph Ratzinger in einer von Papst Johannes Paul II. bestätigten Erklärung vom 26.
| |
− | November 1983 fest:
| |
− | »Das negative Urteil der Kirche über die freimaurerischen Vereinigungen bleibt also
| |
− | unverändert, weil ihre Prinzipien immer als unvereinbar mit der Lehre der Kirche
| |
− | betrachtet wurden und deshalb der Beitritt zu ihnen verboten bleibt. Die Gläu-
| |
− | 57 Vgl. zu Leo XIII. die sehr kritische Stellungnahme des katholischen Theologen Herbert Vorgrimler in:
| |
− | Appel, Rolf/Vorgrimler, Herbert: Kirche und Freimaurer im Dialog, Frankfurt/Main 1975, S. 44–47.
| |
− | 58 http://www.kathwahrheit.de/Downloads/Humanum_genus.pdf, download 2.3.2011.
| |
− | 34
| |
− | bigen, die freimaurerischen Vereinigungen angehören, befinden sich also im Stand
| |
− | der schweren Sünde und können nicht die heilige Kommunion empfangen.«59
| |
− | Trotz dieser »offiziellen« Verhärtungen zeigen sich in der katholischen Kirche doch auch
| |
− | immer wieder Tendenzen, die Einstellung zur Freimaurerei zu verändern. Besonders aufschlussreich
| |
− | ist die Schrift »Die Freimaurer und die Katholische Kirche« von Klaus Kottmann,
| |
− | die im Sommersemester 2008 von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-
| |
− | Universität Bochum als Dissertation angenommen wurde und in deren Zusammenfassung
| |
− | es heißt:
| |
− | »Einzelne Katholiken, die Mitglied einer Freimaurerloge sind, wie zahlreiche Logen
| |
− | selbst, verneinen eine entsprechende (glaubensfeindliche, H.-H. H.) Ausrichtung ihrer
| |
− | Loge. Viele katholische Freimaurer halten das erlassene Verbot daher für nicht
| |
− | rechtmäßig. Auch sehen sie sich in einer Situation, in der ihnen die Mündigkeit zur
| |
− | eigenen Beurteilung nicht zugestanden wird.
| |
− | Zu bedenken ist vor diesem Hintergrund, ob hinsichtlich der Bewertung der Freimaurerei
| |
− | seitens der katholischen Kirche nicht die gleichen Argumente Platz greifen
| |
− | könnten, die maßgeblich waren für die Aufhebung des Bücherverbots durch das Dekret
| |
− | der Glaubenskongregation vom 15. November 1966.
| |
− | Dabei wurde das Bemühen um eine Schärfung des Gewissens der Gläubigen für
| |
− | wichtiger erachtet als der Erlass eines Verbotes. An die Stelle rechtlicher Vorschriften
| |
− | trat das mündige Gewissen der Gläubigen, ohne die Pflicht und Aufgabe der kirchlichen
| |
− | Autoritäten zu desavouieren, auf konkrete Abweichungen von der Glaubensund
| |
− | Sittenlehre hinzuweisen.«60
| |
− | Hier zeichnet sich zumindest eine Tendenz ab, die sich langfristig im Sinne einer Überwindung
| |
− | bisheriger Barrieren auswirken könnte. Allerdings wäre hierfür wohl auch erforderlich,
| |
− | dass sich die Freimaurerei ihrerseits um die Klärung ihrer Einstellung zu Glaube, Religion
| |
− | und Kirche bemüht, wie dies ja auch von evangelischer Seite erwartet wird.
| |
− | Auch in den evangelischen Kirchen gibt es eine Tradition mannigfaltiger Vorbehalte, ja
| |
− | heftiger Ablehnung. Exemplarisch genannt seien nur die vehementen Angriffe, die durch
| |
− | Ernst Wilhelm Hengstenberg, Professor der Theologie in Berlin und Begründer der »Evangelischen
| |
− | Kirchenzeitung«, Mitte des 19. Jahrhundert auf die Freimaurerei geführt wurden. Seine
| |
− | Schrift »Die Freimaurerei und das evangelische Pfarramt« enthält u.a. folgende Feststellung:
| |
− | »Der Kampf gegen die Freimaurerei, in den wir ohne unsere Absicht und durch die
| |
− | Gewalt der Umstände hineingeführt worden sind, verspricht erfreuliche Resultate.
| |
− | Wir dürfen hoffen, daß diese Bewegung, die sich auch vielfach schon den Gemeinden
| |
− | mitteilt, nicht ruhen wird, bis zuletzt die anstößige Tatsache der Beteiligung der
| |
− | Geistlichen an dem Orden vollständig beseitigt ist. Schon dadurch wird die Freimaurerei
| |
− | überhaupt einen bedeutenden Stoß erleiden. Die Geistlichen sind dem Orden
| |
− | schon als Redner unentbehrlich. Gelingt es uns aber, den Hauptgrund, den wir ge-
| |
− | 59 http://www.vatican.va/roman_curia/congregations/cfaith/documents/rc_con_cfaith_doc_19831126_
| |
− | declaration-masonic_ge.html, download 6.8.2010.
| |
− | 60 Kottmann, Klaus: Die Freimaurer und die katholische Kirche, Frankfurt am Main 2009, S. 306.
| |
− | 35
| |
− | gen die Teilnahme der Geistlichen am Orden geltend gemacht haben, die Christo
| |
− | und seiner Kirche abgewandte deistische und humanistische Tendenz des Ordens zur
| |
− | allgemeinen Anerkennung zu bringen, so wird das geradezu seine Fundamente wankend
| |
− | machen.«61
| |
− | Die Angriffe Hengstenbergs stießen auf zahlreiche Erwiderungen, insbesondere seitens »altpreußischer
| |
− | « Autoren aus den Reihen der Berliner Großlogen.62
| |
− | Für die Gegenwart kommt den Gesprächen zwischen Vertretern der evangelischen Kirche
| |
− | in Deutschland und der Vereinigten Großlogen von Deutschland besondere Bedeutung
| |
− | zu, die Beginn der 1970er Jahre geführt wurden. In einer abschließenden Erklärung der
| |
− | Kirche vom Oktober 1973 wurde festgestellt, dass »ein genereller Einwand gegen eine Mitgliedschaft
| |
− | evangelischer Christen in der Freimaurerei … nach Meinung der evangelischen
| |
− | Gesprächsteilnehmer nicht erhoben werden (könne)«63, doch blieb in kirchlicher Sicht
| |
− | offen, wie die christliche Rechtfertigungslehre »allein aus dem Glauben« mit den Ritualen
| |
− | der Freimaurer und der ihnen eigenen Betonung der Bedeutung einer »Arbeit am eigenen
| |
− | Selbst« zu vereinbaren sind.64 Schließlich wurden die Freimaurer gebeten, »in geeigneter
| |
− | Weise dazu beizutragen, dass ein höheres Maß von Information vermittelt wird, um Vorurteile
| |
− | abzubauen«.65 Die Fragen, die die evangelische Kirche bis heute interessieren, wurden
| |
− | von Mathias Pöhlmann, dem stellvertretenden Leiter der Evangelischen Zentralstelle für
| |
− | Weltanschauungsfragen in Berlin, in der Jubiläumsschrift der »Vereinigten Großlogen von
| |
− | Deutschland« im Jahre 2009 folgendermaßen formuliert:
| |
− | »Aus kirchlicher Sicht ist besonders von Interesse, wie und in welcher Form der
| |
− | Bruderbund seine Haltung zur Religion und zu den Kirchen jetzt und zukünftig
| |
− | bestimmt. Ist die Freimaurerei ausschließlich der Aufklärung verpflichtet – oder erblickt
| |
− | man im Logenwesen einen Mysterienbund mit esoterischen oder christlichmystischen
| |
− | Konnotationen? Oder interpretiert man sie vom Kultus her als religiöse
| |
− | Vereinigung? Besteht in manchen Richtungen nicht doch die Gefahr, dass man in
| |
− | der jeweiligen Richtung und ihrer Ritualistik mehr erblickt als einen reinen Diesseitsbund?
| |
− | Hier besteht innerhalb der Freimaurerei weiterhin Klärungsbedarf.
| |
− | Zum anderen stellt sich auch die Frage nach dem Menschenbild der Freimaurerei:
| |
− | Wie gelingt der Balanceakt zwischen den hohen Idealen und den tatsächlichen
| |
− | menschlichen Schwächen? Welchen zukünftigen Weg wählt die Freimaurerei in der
| |
− | Spannung zwischen Geheimnis und Öffentlichkeit? Gelingt es ihr, die freimaure-
| |
− | 61 Hengstenberg, Ernst Wilhelm: Die Freimaurerei und das evangelische Pfarramt, 1854, zitiert nach: Neumann,
| |
− | Otto: Die Gegner der Freimaurerei, Berlin 1908, S. 14.
| |
− | 62 Vgl. z.B. Zur Beurtheilung der Hengstenbergschen Schrift: Die Freimaurerei und das evangelische Pfarramt,
| |
− | von einem Freimaurer mit Zustimmung seiner Ordensbehörde, Berlin 1854.
| |
− | 63 Quenzer, Wilhelm: Königliche Kunst in der Massengesellschaft. Freimaurerei als Gruppenphänomen,
| |
− | EZW-Information 58, Stuttgart XII/1974, S. 18f.
| |
− | 64 Pöhlmann, Mathias: Verschwiegene Männer. Freimaurer in Deutschland, EZW-Texte 182, Berlin 2007, S. 188.
| |
− | 65 Pöhlmann, Mathias: Jeder nach seiner Fasson? Freimaurerei aus evangelischer Sicht, in: Vereinigte Großlogen
| |
− | von Deutschland (Hrsg.): 50 Jahre Vereinigte Großlogen von Deutschland. Bruderschaft der Freimaurer,
| |
− | Berlin 2009, S. 61–70, hier S. 61.
| |
− | 36
| |
− | rischen Werte über die Loge hinaus in die öffentliche Diskussion einzubringen? Wie
| |
− | gelingt letztlich der Spagat zwischen Traditionsbewahrung und Reform?«66
| |
− | Diese Fragen müssen nachdenklich stimmen. Denn sie bezeichnen ja nicht nur das Informationsinteresse
| |
− | evangelischer Christen. Es handelt sich zugleich auch um die grundsätzlichen
| |
− | Entwicklungsfragen der Freimaurer. Fragen werden immer dann erforderlich, wenn befriedigende
| |
− | Antworten fehlen. Und dies weist auf erhebliche Klärungs-, ja mehr noch auf Gestaltungsdefizite
| |
− | auf Seiten der Freimaurerei hin. Bei einem »Vorhang zu und alle Fragen offen«
| |
− | wird es da kaum bleiben dürfen.
| |
− | Volksaberglaube
| |
− | Verbunden mit den Ablehnungen durch Religion und Kirche entwickelte sich seit der Wende
| |
− | zum 19. Jahrhundert ein in der Volksreligiosität verankerter Aberglaube, welcher der Freimaurerei
| |
− | (und insbesondere ihren Ritualen) Dimensionen des Unheimlichen und Dämonischen
| |
− | zuschreibt, wie zum Beispiel: »Bevor ein Freimaurer aufgenommen wird, muss ein
| |
− | anderer sterben« oder »Aufnahmegesuche sind mit eigenem Blut zu unterzeichnen«. Dieser
| |
− | Aberglaube ist auch heute noch wirksam, wenn er sich auch oft von seiner religiösen Basis
| |
− | entfernt hat, und trägt zumindest unterschwellig zu den diffusen Bildern bei, die sich Außenstehende
| |
− | von der Freimaurerei machen.
| |
− | Politische Verbote, Verschwörungstheorien
| |
− | Kaum war der Freimaurerbund am Anfang des 18. Jahrhunderts gegründet, kam es zu politisch
| |
− | motivierten Verboten sowohl in den mehrheitlich katholischen Staaten des alten deutschen
| |
− | Reiches als auch in primär lutherischen Städten wie Hamburg. Absolutistische und
| |
− | autoritäre politische Systeme fühlten sich durch die freimaurerischen Postulate der sozialen
| |
− | Gleichheit und des Vorrangs der Moral gegenüber der Politik herausgefordert und fürchteten
| |
− | auch die Gefahren, die ihrer Herrschaft von konkurrierenden Eliten drohten, wie sie vor
| |
− | allem die Illuminaten darstellten. Diese Ängste wurden nicht zuletzt durch die Französische
| |
− | Revolution verstärkt, die – nicht selten, wenn auch unbegründeterweise – dem Wirken der
| |
− | Freimaurerei zugeschrieben wurde.
| |
− | Die generellen Verbote der Freimaurerei in den faschistischen Systemen des 20. Jahrhunderts
| |
− | erfolgten im Kontext einer weiteren Verschärfung der Anti-Freimaurerbewegung
| |
− | unter der Einwirkung von Verschwörungsvorstellungen. Für deren meist im extrem rechten
| |
− | Spektrum der Politik angesiedelten Vertreter war und ist der Freimaurerbund nicht nur
| |
− | religionsfeindlich und politisch gefährlich, sondern langfristig und strategisch auf Vernichtung
| |
− | des Glaubens, auf Aushöhlung der gesellschaftlichen Ordnung, ja auf Weltherrschaft
| |
− | angelegt. Dabei wird die Freimaurerei oft in eine Verbindung mit anderen Gruppierungen
| |
− | gerückt, wobei die Behauptung einer jüdisch-freimaurerischen Verschwörung vor allem im
| |
− | Deutschland der Weimarer Republik eine besonders verhängnisvolle Rolle spielte. Aufsehen
| |
− | erregte zunächst das 1919 veröffentlichte Buch des österreichischen Nationalratsabgeordneten
| |
− | Friedrich Wichtl – »Weltmaurerei, Weltrevolution, Weltrepublik. Eine Untersu-
| |
− | 66 Ebenda, S. 69.
| |
− | 37
| |
− | chung über Ursprung und Endziele des Weltkrieges«67–, das gleichsam das Modell weiterer
| |
− | antifreimaurerischer Kampfschriften der folgenden Jahrzehnte darstellte. Bei Wichtl findet
| |
− | sich auch die Auffassung von der »Verwobenheit« der Freimaurerei mit den Juden, was er
| |
− | vor allem am Beispiel Englands exemplifiziert:
| |
− | »Freimaurerei und Judentum sind dort derartig miteinander verwoben, daß ein englischer
| |
− | Schriftsteller allen Ernstes erklärt: Der Freimaurer ist nichts als ein künstlicher
| |
− | Jude … Die gegenwärtige Lage der Juden in England (werde) am sinnfälligsten dadurch
| |
− | gekennzeichnet …, dass sie die Vorherrschaft in den geheimen Gesellschaften
| |
− | errungen haben, namentlich in der Freimaurerei.«68
| |
− | Mitte der 1920er Jahre erfolgten Erich Ludendorffs massive Angriffe auf die deutsche Freimaurerei,
| |
− | die den Bund sehr erschütterten, weil sich die meist national eingestellten Freimaurer
| |
− | völlig zu Unrecht angegriffen fühlten. »Das Geheimnis der Freimaurerei ist überall
| |
− | der Jude« heißt es im populärsten Pamphlet des Generals – »Vernichtung der Freimaurerei
| |
− | durch Enthüllung ihrer Geheimnisse«69 – von 1927. Die Freimaurer seien »künstliche Juden«
| |
− | (so schon Wichtl), das Streben nach einem »Menschheitsbund« nach »Humanität« und
| |
− | »menschlicher Glückseligkeit« sei gleichbedeutend mit der »Verjudung« der Völker und der
| |
− | Errichtung einer jüdischen Weltherrschaft. Der NS-Ideologe und spätere NSDAP-Reichsleiter
| |
− | Alfred Rosenberg war es dann, der nicht zuletzt durch die von ihm betriebene Popularisierung
| |
− | der sogenannten »Protokolle der Weisen von Zion«70 dafür sorgte, dass die Gegnerschaft
| |
− | zur Freimaurerei in zeitlich wechselndem Ausmaß zum festen Bestandteil der nationalsozialistischen
| |
− | Ideologie geworden war, die der erzwungenen Auflösung der Logen in
| |
− | Deutschland (endgültig 1935) zugrunde lag.
| |
− | Heutiges Selbstverständnis der deutschen Freimaurerei – eine
| |
− | »humanitäre« Sicht
| |
− | Im folgenden Teil dieses Beitrags zur Freimaurerei in Deutschland geht es weniger um Analysen
| |
− | als um die – im Titel dieses Buches ja auch angekündigten – Überlegungen und Perspektiven,
| |
− | und so bringen die folgenden Abschnitte keine Sichtweise zum Ausdruck, die
| |
− | für die gesamte deutsche Freimaurerei der Gegenwart kennzeichnend wäre. In den »Vereinigten
| |
− | Großlogen von Deutschland. Bruderschaft der Freimaurer«, die die in Deutschland arbeitenden
| |
− | Logen seit 1958 in einem Vertragswerk zusammenfasst, werden ja durchaus unter-
| |
− | 67 Wichtl, Friedrich: Weltfreimauererei, Weltrevolution, Weltrepublik. Eine Untersuchung über Ursprung
| |
− | und Endziele des Weltkrieges, Wien/München 1919.
| |
− | 68 Ebenda, S. 61.
| |
− | 69 Ludendorff, Erich: Vernichtung der Freimaurerei durch Enthüllung ihrer Geheimnisse, München 1927.
| |
− | 70 Zutreffend heißt es in »Wikipedia. Die freie Enzyklopädie«: »Die Protokolle der Weisen von Zion sind
| |
− | ein seit Anfang des 20. Jahrhunderts verbreitetes antisemitisches Pamphlet, das eine jüdische Weltverschwörung
| |
− | belegen soll. Es wurde von unbekannten Redakteuren auf der Grundlage der satirischen
| |
− | Schrift Gespräche in der Unterwelt zwischen Machiavelli und Montesquieu von Maurice Joly und weiteren
| |
− | fiktionalen Texten zusammengestellt. Trotz mehrfach erbrachter Beweise, dass es sich bei den Protokollen
| |
− | um Fälschungen handelt, findet sich der Glaube an ihre Authentizität oder Wahrheit noch
| |
− | heute unter Antisemiten und Anhängern von Verschwörungstheorien in der ganzen Welt.«
| |
− | 38
| |
− | schiedliche freimaurerische Traditionen fortgesetzt. Als Mitglied der weitaus größten der die
| |
− | VGLvD bildenden Großlogen, der »Großloge der Alten, Freien und Angenommenen Maurer
| |
− | von Deutschland« (GL A.F.u.A.M. v. D.), stehe ich bewusst und überzeugt in der »humanitären
| |
− | « Tradition der deutschen Freimaurerei. Wenn dies nun auch keinesfalls bedeutet,
| |
− | dass alle Freimaurer dieser Großloge meine, zunächst einmal ja sehr persönlichen Perspektiven
| |
− | und »Annäherungen an Freimaurerei« teilen würden oder gar teilen sollten, so gehe ich
| |
− | doch davon aus, einen nicht unbeträchtlichen Konsens dieser Freimaurer zum Ausdruck
| |
− | zu bringen.
| |
− | In der gesellschaftlichen Realität von heute sind sich die Brüder und Logen der Großloge
| |
− | A.F.u.A.M. bewusst, dass die Freimaurerei ein neues, »offenes« Verhältnis zur Öffentlichkeit
| |
− | herzustellen hat. Die Bruderschaft versteht sich als Bestandteil der demokratisch-pluralistischen
| |
− | Gesellschaft. Dies bedeutet zugleich, sich ihres Platzes in eben dieser Gesellschaft
| |
− | zu versichern und sich ihrer sozialen Umwelt verständlich zu machen. Denn je mehr sich
| |
− | die deutsche Freimaurerei zur Gesellschaft öffnete, desto häufiger wurde und wird sie auf
| |
− | ihr Selbstverständnis und ihre Wirklichkeit hin befragt. Legitimitätsbegründungen durch
| |
− | Berufung auf die Geschichte der Freimaurerei reichen nicht mehr aus. Auch Hinweise
| |
− | auf »bedeutende Freimaurer« können nicht genügen. Die Fragen, was Freimaurerei in der
| |
− | modernen Gesellschaft ist und sein will und was das »freimaurerische Geheimnis« heute
| |
− | bedeutet, müssen auf eine klarere Weise beantwortet werden.71
| |
− | Eine präzise Antwort auf diese Fragen ist jedoch schwierig. Gewiss herrscht Übereinstimmung
| |
− | unter den deutschen Freimaurern in Bezug auf historische Entwicklungslinien
| |
− | und strukturelle Grundelemente, doch die Perspektiven, Formen und Farben dieses Freimaurerbildes
| |
− | variieren ebenso wie seine Einordnung in gesellschaftlich-historische Bezüge
| |
− | und die Begrifflichkeit seiner Vermittlung. Dies ist einmal darauf zurückzuführen, dass
| |
− | Großgruppen wie die Freimaurerei generell nie nur ein Selbstverständnis aufweisen und
| |
− | griffig-eindeutige Formulierungen für ihre Corporate Identity immer subjektive Konstruktionen
| |
− | sind, die nicht selten den Verdacht ertragen müssen, primär als Führungsinstrumente
| |
− | nach innen und als reglementierte Kommunikationscodes nach außen zu fungieren.
| |
− | Dazu kommen der unterschiedliche historische Hintergrund der einzelnen deutschen Logen
| |
− | – schließlich ist auch die GL A.F.u.A.M. aus dem Zusammenschluss von Logen aus
| |
− | früheren, durchaus unterschiedlichen Großlogen hervorgegangen72 – sowie der Umstand,
| |
− | dass auch die deutsche Freimaurerei der Gegenwart keine »Grundsatzkommissionen« kennt
| |
− | und die einzelnen Freimaurer zudem in der Regel strikt auf einer ganz individuellen Deutungshoheit
| |
− | bezüglich dessen beharren, was unter Freimaurerei zu verstehen ist.
| |
− | Dennoch gibt es Übereinstimmungen, die in Satzungen, Stellungnahmen der Großlogenleitungen,
| |
− | Positionspapieren, Logen- und Großlogendiskussionen und neuerdings den freimaurerischen
| |
− | Internetseiten ihren Ausdruck finden.73 Diese Übereinstimmungen haben klä-
| |
− | 71 Vgl. Höhmann, Hans-Hermann: Freimaurerei und gesellschaftliche Gegenwart: Umfeld, Identität, Perspektiven,
| |
− | in: Berger, J./Grün, K-J. (Hrsg.), Geheime Gesellschaft. Weimar und die deutsche Freimaurerei,
| |
− | München/Wien 2002, S. 343–350.
| |
− | 72 Hierzu ausführlich Höhmann, Hans-Hermann: Deutsche Freimaurerei nach 1945 – Wiederaufbau zwischen
| |
− | Neuorientierung und alten Strukturen, in diesem Band, S. 88–114.
| |
− | 73 Siehe z.B. die Seite der Großloge der Alten, Freien und Angenommenen Maurer von Deutschland,
| |
− | www.freimaurerei.de.
| |
− | 39
| |
− | rende Funktionen nach innen, sollen jedoch auch einer die eigene freimaurerische Identität
| |
− | vermittelnden Öffentlichkeitsarbeit dienen. Einer solchen Öffentlichkeitsarbeit werden etwa
| |
− | in den Leitgedanken zur Freimaurerei,74 die innerhalb der GL A.F.u.A.M. Mitte der achtziger
| |
− | Jahre (u.a. vom Verfasser dieses Textes75) erarbeitet und inzwischen immer wieder veröffentlicht
| |
− | wurden, drei Aufgaben zugesprochen:
| |
− | • Abbau von Vorurteilen und Verbesserung des Informationsstandes der profanen Umwelt;
| |
− | • Herstellen einer fruchtbaren, Logen und Großloge geistig und sozial belebenden Kommunikation
| |
− | mit Außenstehenden sowie
| |
− | • Anknüpfen von Beziehungen zu Männern, die für die Logen als »Suchende« in Frage
| |
− | kommen.
| |
− | Als Kernaufgabe des Freimaurerbundes in der Gegenwartsgesellschaft kann die Suche nach
| |
− | einer unverwechselbaren, kraftvollen freimaurerischen Identität verstanden werden. Hinter
| |
− | dieser Feststellung steht die – teils gefühlte, teils bewusst gemachte – Einsicht, dass Freimaurerei
| |
− | ohne Wissen darum, was sie ist und sein kann, sowie ohne immer neue Versuche, den
| |
− | Möglichkeiten der Freimaurerei durch Wirken innerhalb der Logen und nach außen, d.h.
| |
− | in die Gesellschaft hinein, gerecht zu werden, auf Dauer nicht bestehen kann. Meistens beruft
| |
− | sich die Freimaurerei auf ihre Geschichte, wobei das aus heutiger Sicht Positive der Vergangenheit,
| |
− | insbesondere der um die Begriffe Menschlichkeit, Brüderlichkeit und Toleranz
| |
− | kreisende Wertekanon des Bundes, in aller Regel in den Vordergrund gerückt wird, während
| |
− | negative und diffuse Erscheinungsbilder verschwiegen oder verdrängt werden. Ein ethischer
| |
− | Bund, der sich selbst ernst nimmt und der von der Gesellschaft ernst genommen werden
| |
− | will, darf jedoch nicht so verfahren. Er muss sich Gedanken über sich selbst machen und
| |
− | sich in seiner Selbstreflexion von den hohen Maßstäben leiten lassen, die er für sich selbst
| |
− | beansprucht, kurz: Er muss sich auf die Tragfähigkeit seiner Identität in Konzeption und
| |
− | Wirklichkeit befragen lassen.
| |
− | Nach Identität als einem selbstbewussten Einssein mit sich selber kann sowohl für den
| |
− | einzelnen Freimaurer als auch für die verschiedenen freimaurerischen Gruppen (Logen,
| |
− | Großloge, Leitungsgremien etc.) gefragt werden. Was zunächst die individuelle freimaurerische
| |
− | Identität betrifft, so hat ein Freimaurer als Maurer (»by his tenure«, wie die Alten
| |
− | Pflichten sagen) unabhängig von seinen individuellen Wertvorstellungen und seinem spezifischen
| |
− | Selbstverständnis als Mensch, Mann, Berufstätiger, gläubiger oder nichtgläubiger
| |
− | Mensch etc. dann Identität, wenn er überzeugend, fundiert, redlich und erkennbar hinter
| |
− | seinen freimaurerischen Vorstellungen steht und wenn sich seine freimaurerischen Auffassungen
| |
− | auch im Alltag bewähren. Je größer die Zahl der Brüder mit überzeugender freimaurerischer
| |
− | Identität ist, desto besser lassen sich die Gegenwarts- und Zukunftsaufgaben
| |
− | des Bundes lösen. Die Freimaurer müssen sich folglich um diese individuelle maurerische
| |
− | Identität bemühen, auch wenn sie immer wieder scheitern und der »Rauhe Stein« ein
| |
− | treffliches Symbol für sie bleibt. Über die Werkzeuge zur Identitätsfindung verfügt die
| |
− | Freimaurerei in reichem Maße, sei es die tolerante Mitmenschlichkeit in der Loge, sei es
| |
− | 74 Leitgedanken der Freimaurerei, http://www.freimaurerei.de/index.php?id=9.
| |
− | 75 Vgl. Höhmann, Hans-Hermann: Eine Großloge wird vorgestellt: Leitgedanken zu Standort und Identität
| |
− | der Großloge der Alten Freien und Angenommenen Maurer von Deutschland, in diesem Band,
| |
− | S. 262–265.
| |
− | 40
| |
− | der kritisch-selbstkritische Diskurs der Brüder, sei es das Ritual, in dem es ja im Grunde
| |
− | um nichts anderes geht als um Bestimmung, Einübung und Verinnerlichung von Identität.
| |
− | Unter freimaurerischer Gruppenidentität sollen Selbstverständnis und Ausdruck, Konzeptionen
| |
− | und Weisen ihrer Umsetzung verstanden werden, wie sie für eine Gruppe von
| |
− | Freimaurern (Logen, Großloge) in einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort kennzeichnend
| |
− | sind. Wie bei den einzelnen Freimaurern gibt es bei freimaurerischen Gruppen
| |
− | solche mit einer starken und solche mit einer schwachen Identität. Die Identität freimaurerischer
| |
− | Gruppen setzt sich jeweils aus zwei Komponenten zusammen: aus inhaltlichen Elementen
| |
− | wie Zielvorstellungen und Formen (Organisation, Brauchtum und Rituale) sowie
| |
− | aus der Art und Weise, wie diese inhaltlichen Elemente in der Gruppenpraxis umgesetzt
| |
− | werden, d.h. aus der Qualität des Gruppenprozesses. Hier sind menschliche Atmosphäre,
| |
− | intellektuelle und emotionale Lebendigkeit, Einsatzbereitschaft, Teamfähigkeit, Diskursqualität,
| |
− | Ausstrahlung (Charisma) etc. wichtige Stichworte.
| |
− | Beide Eigenschaften, Inhalte und Gruppenqualität, müssen zusammenkommen. Eine
| |
− | schwache Gruppenidentität (und damit unzureichende Wirkung nach innen und außen)
| |
− | liegt dann vor, wenn sich verschwommene Inhalte mit mäßiger oder keiner Ausstrahlung
| |
− | verbinden; eine starke Gruppenidentität und intensive Wirkung nach innen und außen
| |
− | kann dagegen da angenommen werden, wo klare Inhalte und überzeugende Umsetzung
| |
− | vorhanden sind. In der freimaurerischen Diskussion wird im Allgemeinen die Notwendigkeit
| |
− | betont, an der Profilierung der konzeptionellen Inhalte der Freimaurerei (Wertvorstellungen,
| |
− | Ziele) zu arbeiten. Auch aus meiner Sicht ist es wichtig, ein konzeptionell klares
| |
− | Bild des Bundes zu entwickeln. Auf der anderen Seite wäre es gefährlich, bei der Formulierung
| |
− | programmatischer Plattformen zu weit zu gehen und der Gefahr einer Ideologisierung
| |
− | zu erliegen. Dies würde intellektuell aufgeschlossene Männer nur abstoßen. Diese kommen
| |
− | ja gerade deshalb und dann zur Freimaurerei, weil und wenn diese bei aller Wertgebundenheit
| |
− | geistig offen ist. Wer als geistig offener Mann Kontakt zur Freimaurerei sucht, ist
| |
− | wohl eher an toleranten Such- und Orientierungsprozessen als an verbindlich vorgegebenen
| |
− | Positionen interessiert. Daher ist es so wichtig, jedem Fundamentalismus abzusagen, die
| |
− | Gruppenqualität der Freimaurerei zu verbessern sowie dafür zu sorgen, dass inhaltliche
| |
− | Abklärungen auf jedes dogmatische Ausformulieren verzichten und sich mit einem hohen
| |
− | menschlichen Niveau sowie mit intellektueller Redlichkeit verbinden.
| |
− | Zur inhaltlichen Bestimmung freimaurerischer Identität wurden von mir einige
| |
− | Eckpunkte herausgearbeitet, die mittlerweile ihren Weg durch die Bruderschaft der GL
| |
− | A.F.u.A.M. gemacht haben und gern verwendet werden. Auch die Großloge macht auf
| |
− | ihrer Webseite von ihnen Gebrauch.76
| |
− | Mir ging es dabei darum, Anhaltspunkte dafür zu bestimmen, was Freimaurerei ist und
| |
− | was sie nicht ist bzw. nicht sein will. Die einzelnen Charakterisierungen reichen für eine
| |
− | Beschreibung des freimaurerischen Selbstverständnisses selbstverständlich nicht aus. Sie
| |
− | mögen aber dazu geeignet sein, nach innen und außen klarer zu machen, durch welche
| |
− | unterschiedlichen Erscheinungsweisen und Strukturelemente der Freimaurerbund gekennzeichnet
| |
− | und welchen Fehlbeurteilungen und Vorurteilen er ausgesetzt ist.
| |
− | Zunächst die positiven Setzungen:
| |
− | 76 http://www.freimaurerei.de/index.php?id=5.
| |
− | 41
| |
− | Freimaurerei als Freundschaftsbund
| |
− | Als Gemeinschaften freundschaftlich verbundener Menschen wollen die Freimaurerlogen der
| |
− | Gefahr einer Isolierung des Einzelmenschen in der modernen Konsum- und Industriegesellschaft
| |
− | entgegenwirken. Sie folgen damit ihrer speziellen Tradition, Trennendes zu überwinden,
| |
− | Gegensätze abzubauen, Verständigung und Verständnis zu fördern sowie Menschen zu
| |
− | verbinden, die sich nach Herkunft und Interessenlage sonst nicht begegnen würden. Gerade
| |
− | in der heutigen Zeit sind durch Spezialisierung und Funktionsteilung der modernen Berufsund
| |
− | Arbeitswelt, durch die Aufspaltung der Gesellschaft in Menschen, die Arbeit haben, und
| |
− | solche, die arbeitslos sind, durch die vielfältigen Migrationsprobleme sowie durch die Ausdifferenzierung
| |
− | des Konsum- und Freizeitverhaltens neue Schranken zwischen den Menschen
| |
− | entstanden. Demgegenüber sollen die auf Freundschaft gegründeten Logen Stätten menschlicher
| |
− | Begegnung über alle sozialen und politischen Schranken hinweg sein.
| |
− | Logen engagieren sich sozial und kulturell. Logen und die Menschen in ihnen wollen
| |
− | sich miteinander und mit anderen Menschen vernetzen, denn nur durch eine solche Vernetzung
| |
− | von Mensch zu Mensch können in modernen komplexen Gesellschaften mit ihrer
| |
− | Tendenz zu diffuser Anonymität und Aggressivität übersichtliche und humane Lebenswelten
| |
− | geschaffen und erhalten werden. Dass Freimaurerei bis heute meist als Männerbund
| |
− | verstanden und praktiziert wird, ist auf die männerbündische Tradition der Freimaurerei
| |
− | zurückzuführen, soll die Homogenität der Logengruppe festigen und ist mit keinerlei Diskriminierung
| |
− | von Frauen verbunden. Deshalb ist Freimaurerei heute auch bewusst ein
| |
− | »offener« Männerbund, der Partnerin und Familie weitgehend in das Gemeinschaftsleben
| |
− | der Logen einbezieht.
| |
− | Zudem hat die deutsche Freimaurerei in den letzten Jahrzehnten durch die Entstehung
| |
− | und erfolgreiche Entwicklung von Frauenlogen eine wesentliche Bereicherung erfahren, und
| |
− | die Tatsache, dass es heute immer mehr Logen freimaurerisch arbeitender Frauen gibt, stellt
| |
− | die weitere Existenz der Loge als Männerbund keineswegs infrage. Im Gegenteil: Sozialform,
| |
− | Ideenwelt und rituelle Praxis erfahren hierdurch eine größere gesellschaftliche Relevanz.
| |
− | Durch eine zunehmende Kooperation zwischen den Logen der Männer und den Logen der
| |
− | Frauen können die freimaurerischen Diskurse gehaltvoller und das Gewicht der Freimaurerei
| |
− | in Kultur und Öffentlichkeit gestärkt werden, ohne dass die Logen der Männer und die
| |
− | Logen der Frauen als Initiationsgemeinschaften ihren jeweils spezifischen Gendercharakter
| |
− | verlieren. Freundschaft und spirituelles Erlebnis unter Männern wie Freundschaft und Spiritualität
| |
− | unter Frauen sind in modernen pluralistischen Gesellschaften ohne jede Verletzung
| |
− | von freiheitlich-demokratischen Prinzipien möglich und von jeweils großem menschlich-sozialen
| |
− | Wert. Zusammenführen, ohne durch Niederreißen von Grenzen bewährte Strukturen
| |
− | zu zerstören: Hierin liegt eine große Entwicklungschance der gegenwärtigen Freimaurerei.
| |
− | Freimaurerei als ethisch orientierter Bund
| |
− | »Im Geiste ihrer freiheitlich-humanitären Tradition« bekennen sich die Freimaurer der
| |
− | »Großloge der Alten Freien und Angenommenen Maurer von Deutschland« in ihrer Verfassung
| |
− | zu ethischen Werten und Überzeugungen, die u.a. in folgenden »freimaurerischen
| |
− | Grundsätzen« Ausdruck finden:
| |
− | 42
| |
− | »In den Mitgliedslogen der Großloge arbeiten Freimaurer, die in bruderschaftlichen
| |
− | Formen und durch überkommene rituelle Handlungen menschliche Vervollkommnung
| |
− | erstreben. In Achtung vor der Würde jedes Menschen treten sie
| |
− | ein für die freie Entfaltung der Persönlichkeit und für Brüderlichkeit, Toleranz und
| |
− | Hilfsbereitschaft und Erziehung hierzu … Glaubens-, Gewissens- und Denkfreiheit
| |
− | sind den Freimaurern höchstes Gut … Die Freimaurer sind durch ihr gemeinsames
| |
− | Streben nach humanitärer Geisteshaltung miteinander verbunden; sie bilden keine
| |
− | Glaubensgemeinschaft.«77
| |
− | Der Freimaurerbund entwickelt zwar kein eigenes ethisches System und versucht schon gar
| |
− | nicht, ethische Überzeugungen in politische Programme zu übertragen. Dennoch gibt die
| |
− | Freimaurerei mit ihren Wertpositionen Humanität, Brüderlichkeit, Freiheit, Gerechtigkeit,
| |
− | Friedensliebe und Toleranz Orientierungen und Maßstäbe für das Denken und Handeln ihrer
| |
− | Mitglieder vor. Im Vergleichen von Realität und Wertmaßstab, im gemeinsamen Nachdenken
| |
− | und in kritischer Selbstaufklärung sollen Verhaltensweisen und Umgangsstile eingeübt
| |
− | werden, die ein Umsetzen ethischer Überzeugungen in die moralische Lebenspraxis des
| |
− | einzelnen Freimaurers bewirken. Die Allgemeinheit dieser Wertvorstellungen darf nicht irritieren,
| |
− | auch nicht die Tatsache, dass die Freimaurerei diese Werte mit anderen Gruppen teilt.
| |
− | Das Spezielle im Freimaurerbund ist die Methode der Umsetzung. Dabei kommt dem brüderlichen
| |
− | Gespräch große Bedeutung zu, denn »Nichts geht über das laut denken mit einem
| |
− | Freunde« (Lessing). Ein solcher Diskurs soll Möglichkeiten schaffen, sich zu informieren,
| |
− | sich zu orientieren, eigene persönliche und freimaurerische Identitäten zu entwickeln und
| |
− | sich gemeinsam aus Vorurteilen herauszudenken.
| |
− | Vor allem kommt es darauf an, eine neue Sensibilität zu schaffen. Freimaurer gehen davon
| |
− | aus, dass richtiges Fragen wichtiger ist als vorschnelles, zu kurz gegriffenes Antworten.
| |
− | Damit dies gelingen kann, ist freilich eine Verpflichtung zu kritischer Haltung erforderlich.
| |
− | Eine solche fällt nicht leicht. Doch auch hier kann an Traditionen der Aufklärung und an
| |
− | älteres freimaurerisches Denken angeknüpft werden, an die Erkenntnis nämlich, dass auch
| |
− | das Bekenntnis zu Menschlichkeit und Brüderlichkeit zum Dogma erstarren kann, wo die
| |
− | Bereitschaft fehlt, auf kritische Argumente zu hören und von der Erfahrung zu lernen. Es
| |
− | geht um die von K. R. Popper empfohlene Einsicht, dass zur Lösung vieler Probleme eine
| |
− | Einstellung gehört, »die zugibt, dass ich mich irren kann, dass du recht haben kannst, und
| |
− | dass wir zusammen vielleicht der Wahrheit auf die Spur kommen werden«; eine Einstellung,
| |
− | welche die Hoffnung nicht aufgibt, »durch Argumente und sorgfältiges Beobachten zur
| |
− | Übereinstimmung zu kommen, und daß es sogar dort, wo verschiedene Intereressen und
| |
− | Forderungen aufeinanderprallen möglich ist, … einen Kompromiß zu erreichen, der wegen
| |
− | seiner Billigkeit für die meisten, wenn nicht für alle annehmbar ist«.78 Hier ist auch abermals
| |
− | an ein Wort und eine Warnung Lessings zu erinnern, dass nicht die Wahrheit, sondern
| |
− | die Mühe der Wahrheitssuche den Wert des Menschen ausmacht, »denn nicht der Irrthum,
| |
− | sondern der sektirische Irrthum, ja sogar die sektirische Wahrheit, machen das Unglück der
| |
− | Menschen; oder würden es machen, wenn die Wahrheit eine Sekte stiften wollte«.79
| |
− | 77 Verfassung der Großloge der Alten Freien und Angenommenen Maurer von Deutschland, Bonn 1994.
| |
− | 78 Popper, K. R.: Die Offene Gesellschaft und ihre Feinde, Zweiter Band, Bern 1958, S. 276.
| |
− | 79 Gotthold Ephraim Lessings Sämtliche Schriften, Bd. 18, Leipzig/Stuttgart 1904, S. 109, zitiert nach:
| |
− | Vierhaus, Rudolf: Deutschland im 18. Jahrhundert, a.a.O., S. 122.
| |
− | 43
| |
− | Freimaurerei als Initiationsgemeinschaft und symbolischer Werkbund
| |
− | Zur Festigung der zwischenmenschlichen Beziehungen, zur gefühlsmäßigen Vertiefung und
| |
− | Verankerung ihrer ethischen Überzeugungen, zur Vermittlung spiritueller Erfahrungen und
| |
− | als Anleitung zur Selbsterkenntnis bedienen sich die Logen alter, vor allem aus der Tradition
| |
− | der europäischen Dombauhütten stammender Symbole und symbolhafter Handlungen (Rituale),
| |
− | in deren Mittelpunkt die feierliche Aufnahme (Initiation) des neuen Mitglieds in die
| |
− | brüderliche Gemeinschaft steht.
| |
− | Die Zugänge des einzelnen Freimaurers zu Symbolen und Ritualen können durchaus
| |
− | unterschiedlich sein: Diesen mag vor allem die kontemplative Seite des Brauchtums ansprechen,
| |
− | das Ruhefinden, das Zu-sich-Kommen im geschlossenen Logenraum, der Bauhütte,
| |
− | dem Tempel, in dem Freimaurer einen Teil ihrer Veranstaltungen abhalten. Jenen mag
| |
− | die Bedeutung der rituellen »Arbeit« als Ordnung der Zeit ansprechen, als Atempause im
| |
− | Strom der unruhigen Zeit, als »Moratorium des Alltags« (Odo Marquard80). Ein weiterer
| |
− | mag in erster Linie vom spirituellen Gehalt des Brauchtums angezogen werden, vom behutsamen
| |
− | Ansprechen der Beziehungen Mensch – Welt, Mensch – Kosmos, Immanenz –
| |
− | Transzendenz. Ein anderer schließlich schätzt vor allem die ethisch-erzieherische Qualität
| |
− | des Rituals: tauglicher zu werden als »moralischer Baustein« in seiner ganz konkreten Lebenswelt.
| |
− | Daraus folgt, dass auch im Umgang mit Symbolen und Brauchtum »Offenheit«
| |
− | eine zentrale Kategorie der Freimaurerei ist.
| |
− | Auch die Frage, inwieweit die Symbole und Rituale der Freimaurerei als »esoterisch«
| |
− | verstanden werden sollen, muss letztlich vom einzelnen Freimaurer und der freimaurerischen
| |
− | Gruppe entschieden werden. Esoterisch im Sinne eines durch Absonderung schutzbedürftigen
| |
− | Gruppenprozesses des Intimen und Internen sind die Rituale sicherlich.81
| |
− | Doch können die in der Symbolik präsenten hermetischen Traditionen für die einzelnen
| |
− | Freimaurer durchaus unterschiedlich wichtig sein, und dem Ritualverständnis des Bruders –
| |
− | d.h. seinem ganz persönlichen »freimaurerischen Geheimnis« – ist respektvoll zu begegnen.
| |
− | Dies gilt allerdings nur so lange, wie nicht für die freimaurerische Esoterik der Charakter
| |
− | eines Geheimwissens beansprucht wird, das nur im Bund vermittelt wird und außerhalb
| |
− | der Freimaurerei nicht zu erlangen ist. Von solchen Esoterikvorstellungen hätte sich die
| |
− | Freimaurerei um ihrer selbst willen strikt abzugrenzen.
| |
− | Die freimaurerische Ritualpraxis soll – insbesondere durch die drei großen Sinnbild-
| |
− | Komplexe der Symbolik des Lichtes, der Symbolik des Wanderns und der Symbolik des
| |
− | Bauens, die das der Freimaurerei eigene Menschenbild und ihr Selbstverständnis zusammenfassen
| |
− | und die immer wieder in verschiedenen Formen ästhetisch-rituell gestaltet werden82
| |
− | – Empfinden und Bewusstsein des Freimaurers für ein erweitertes Blickfeld öffnen.
| |
− | »Schau in dich – schau um dich – schau über dich«, so lauten drei alte bezeichnende Aufforderungen.
| |
− | Die »Öffnung« der Loge durch den leitenden Meister am Beginn des Rituals
| |
− | 80 Marquard, Odo: Moratorium des Alltags. Eine kleine Philosophie des Festes, in: ders.: Skepsis und Zustimmung.
| |
− | Philosophische Studien, Stuttgart 1994, S. 59–69.
| |
− | 81 Vgl. hierzu und zum Folgenden Kehl, Alois: Meinen Schwestern und Brüdern im freien Geist. Aufsätze,
| |
− | Vorträge, Zeichnungen zur Freimaurerei, herausgegeben von der Freimaurerloge »Ver Sacrum«, Köln
| |
− | 2003, S. 98f.
| |
− | 82 Ausführlich hierzu Höhmann, Hans-Hermann: »Des Maurers Wandeln, es gleicht dem Leben …« –
| |
− | Überlegungen zur Symbol- und Ritualwelt der Freimaurerei, in diesem Band, S. 232–239.
| |
− | 44
| |
− | bedeutet vor allem die Öffnung der Wahrnehmung der Ritualteilnehmer für die Vorgänge
| |
− | des Rituals. Die formelhafte Öffnung der Loge ist nur einer von zahlreichen performativen
| |
− | Sprechakten, die wichtige Einübungselemente des freimaurerischen Rituals sind. Auch die
| |
− | sich in »Werklehren« wiederholenden Wechselgespräche zwischen dem leitenden Meister
| |
− | und den Aufsehern der Loge stellen performatives Sprechen dar. Sie fordern in der Erwartung
| |
− | zum Nachvollzug auf, dass der Sprechakt bewirkt, wovon er spricht. Wenn etwa der
| |
− | Meister fragt: »Warum nennen wir uns Freimaurer?« und die Antwort des Ersten Aufsehers
| |
− | lautet »Wir bauen den Tempel der Humanität«, so soll diese Beschreibung eines moralischen
| |
− | Arbeitsvorhabens der Einübung in die Bereitschaft eines tatsächlichen, moralisch
| |
− | orientierten und ethisch begründeten Handelns dienen. Deshalb wird die rituelle Feier von
| |
− | den Freimaurern auch Arbeit genannt.
| |
− | Ganz wesentlich ist, dass das freimaurerische Ritual bildhaftes Erleben menschlicher
| |
− | Entwicklung vermittelt. »Rites de Passage«, Übergangsriten, symbolische Reisen verdeutlichen
| |
− | menschliche Entwicklung, zeigen die Gefährdung des Menschen, seine Einsamkeit,
| |
− | ja seinen Tod, seine Verwiesenheit auf Gemeinschaft und die Pflicht der Gemeinschaft zu
| |
− | helfen. Auch die drei freimaurerischen Grade des Lehrlings, des Gesellen und des Meisters
| |
− | symbolisieren menschliche Entwicklungspotentiale, um deren Nutzung und Erweiterung
| |
− | sich der Freimaurerbund bemüht. Dabei versinnbildlichen die Wanderungen durch die
| |
− | Grade mit den entsprechenden Initiationen die Veränderungen des Menschen, die erforderlich
| |
− | sind, um Fortschritte auf dem Weg zu mehr Selbsterkenntnis, Mitmenschlichkeit und
| |
− | ethischer Verpflichtung zu erreichen.
| |
− | Die genannten drei konstitutiven Grundelemente der Freimaurerei – Freundschaftsbund,
| |
− | ethische Orientierung und rituelle Praxis – erfassen gleichermaßen die soziale, intellektuelle,
| |
− | moralische und emotionale Seite des Menschen. Sie können allerdings nur
| |
− | dann nach innen wie nach außen wirksam werden, wenn zwischen ihnen ein ausreichendes
| |
− | Maß an Gleichgewicht und Gleichklang herrscht, d.h. wenn kein Element überbetont oder
| |
− | vernachlässigt wird. Wo das Gewicht zu sehr auf bloße soziale Kommunikation, auf »Gesellschaftsleben
| |
− | « gelegt wird, droht Abgleiten in Vereinsmeierei und »Event-Geselligkeit«.
| |
− | Wo die Diskussion um Prinzipien oder gar die Suche nach Programmen im Vordergrund
| |
− | steht, wird aus der Loge ein menschlich steriler und bald zerstrittener Debattierklub. Wo
| |
− | der Akzent überwiegend auf das Ritual gesetzt wird, besteht die Gefahr, sich in eine esoterische
| |
− | Sekte zu verwandeln.
| |
− | Die gleichzeitig vorgenommenen Abgrenzungen (»Freimaurerei ist nicht«) kreisen
| |
− | schwerpunktmäßig um folgende Feststellungen:
| |
− | Freimaurerei ist nicht Partei und Interessenverband
| |
− | Die Logen und die Großloge formulieren keine politischen Programme, nehmen nicht teil
| |
− | an parteipolitischen Auseinandersetzungen und vertreten nicht die Interessen bestimmter
| |
− | gesellschaftlich organisierter Gruppen.83 Dennoch beabsichtigt die Freimaurerei eine politische
| |
− | Wirkung: Als »Gemeinschaft toleranter Ungleichgesinnter« will sie einen Beitrag zur
| |
− | Überwindung der schädlichen Auswirkungen politischer Konflikte zwischen Menschen,
| |
− | 83 Ausführlich dazu Höhmann, Hans-Hermann: Der deutsche Freimaurerdiskurs der Gegenwart: Was ist,
| |
− | was will, was soll die Freimaurerei?, in diesem Band, S. 152–178, insbesondere S. 174–178.
| |
− | 45
| |
− | politischen Gruppen und Nationen leisten; gemäß ihres Bekenntnisses zur Toleranz zielt
| |
− | sie darauf ab, die politische Kultur zu verbessern, und durch das Erörtern wichtiger Zeitfragen
| |
− | in den Logen will sie zur politischen Urteilsbildung ihrer Mitglieder beitragen. Auf der
| |
− | Grundlage persönlicher Überzeugung verantwortlich zu handeln, ist dann Aufgabe des einzelnen
| |
− | Freimaurers.
| |
− | Freimaurerei ist nicht Geheimbund oder gar Verschwörung
| |
− | Der Freimaurerbund und seine Mitglieder bekennen sich zu Demokratie und offener Gesellschaft,
| |
− | zu deren Verwirklichung viele Freimaurer wesentlich beigetragen haben. Zweck,
| |
− | Organisation und Vorstände von Logen und Großloge sind jedem Interessenten zugänglich.
| |
− | Viele Veranstaltungen der Freimaurer sind heute öffentlich, und viele der im Auftrag der
| |
− | Großloge herausgegebenen Publikationen können auch von Nichtmitgliedern des Bundes
| |
− | bezogen werden.
| |
− | Die von den Freimaurern geübte Verschwiegenheit bezieht sich nur auf einige Einzelheiten
| |
− | des freimaurerischen Brauchtums und ist Symbol für den in jeder Gemeinschaft
| |
− | notwendigen Schutz von Freundschaft und persönlichem Vertrauen. Das »freimaurerische
| |
− | Geheimnis« kann heute nur noch im Sinne eines solchen Vertrauensschutzes verstanden
| |
− | und praktiziert werden. Es dient heute nicht mehr dazu, Freimaurerei und Gesellschaft
| |
− | zu trennen. Es soll aus der Sicht der Logen angesichts des weit verbreiteten, gleichermaßen
| |
− | von den Medien wie ihren Konsumenten zu verantwortenden, oft schon suchthaften
| |
− | Dranges zur Indiskretion vielmehr als konstruktives und stabilisierendes Wirkungselement
| |
− | einer offenen und zugleich humanen Gesellschaft verstanden und vermittelt werden.
| |
− | Freimaurerei ist weder Nebenkirche noch Ersatzreligion
| |
− | Für die humanitäre Freimaurerei, die in Deutschland durch die GL A.F.u.A.M. vertreten wird,
| |
− | ist Freimaurerei keine Religion und auch kein Ersatz für eine Religion.84 Die Freimaurerei versteht
| |
− | sich als offen für Menschen aller Glaubensbekenntnisse und Weltanschauungen, wenn
| |
− | diese mit den ethischen Überzeugungen und moralischen Prinzipien der Freimaurerei übereinstimmen.
| |
− | Die Freimaurerei vermittelt kein Glaubenssystem. Sie kennt kein Dogma, keine
| |
− | Theologie und keine Sakramente. Die Freimaurer haben auch keinen gemeinsamen Gottesbegriff.
| |
− | Die symbolische Präsenz eines »Großen Baumeisters aller Welten« im Ritual der
| |
− | Freimaurer darf folglich nicht mit den verschiedenen Gottesverständnissen der Religionen
| |
− | verwechselt oder gar gleichgesetzt werden. Die freimaurerische Symbolik begründet – wie gelegentlich
| |
− | missverstanden wird – auch keine religiösen Minimalanforderungen an den Freimaurer.
| |
− | Das Symbol des »Großen Baumeisters« stellt vielmehr das umfassende Sinnsymbol
| |
− | des Bundes dar und ist als solches vom Freimaurer zu respektieren, denn ethisch orientiertes
| |
− | Handeln setzt in masonischer Sicht die Anerkennung eines übergeordneten sinngebenden
| |
− | Prinzips voraus, das Verantwortung begründet und auf das die Ethik des Freimaurers letztlich
| |
− | rückbezogen ist. Auf dieser Grundlage hat sich der Freimaurer moralisch, nicht religiös
| |
− | zu verpflichten. Ein guter und redlicher Mann soll er sein, ein Mann von Ehre und Anstand,
| |
− | 84 Ausführlich hierzu: Höhmann, Hans-Hermann: »Von Gott und der Religion«. Zum Religionsdiskurs in
| |
− | der deutschen Freimaurerei, in diesem Band, S. 179–197.
| |
− | 46
| |
− | ohne Rücksicht auf Bekenntnis und Überzeugung: Diese Forderung der »Alten Pflichten«
| |
− | von 1723 gilt nach wie vor und bedarf keiner Ergänzung durch religiöse Überzeugungen.
| |
− | Logenpraxis
| |
− | Die Aktivitäten einer Loge sind durch verschiedene Arbeitsfelder gekennzeichnet. Diese ergeben
| |
− | sich aus den vielen Facetten der Loge und entsprechen auf unterschiedliche Weise
| |
− | dem Interessenspektrum der Mitglieder. Zum Zwecke des Überblicks ist es sinnvoll, zumindest
| |
− | folgende sechs Komponenten zu unterscheiden:85
| |
− | • die rituelle Komponente, durch die die Freimaurerei von anderen ethisch orientierten
| |
− | Bünden unterscheidbar wird und die insbesondere den »initiatischen Kern« des Freimaurerbundes
| |
− | beinhaltet (»Tempelarbeit«);
| |
− | • die diskursive Komponente, die sich auf die »geistige Arbeit« in der Loge bezieht (Gespräche
| |
− | vor allem über ethische Orientierungen und ihre Umsetzung im Rahmen der
| |
− | spezifisch freimaurerischen »Einübungsethik«86, Erörterungen der Beziehungen zur Gesellschaft);
| |
− | • die gesellige Komponente: Geselliges Beisammensein, oft mit Lebenspartnerinnen
| |
− | (»Schwestern«) und Gästen, Festtafeln, kulturelle Veranstaltungen;
| |
− | • die karitative Komponente: Aufbringen und Einsetzen von Mitteln für Unterstützungen
| |
− | und andere soziale Zwecke, oft organisiert in spezifischen Wohlfahrtseinrichtungen (Stiftungen)
| |
− | der Logen und Großlogen;
| |
− | • die administrative Komponente: Leitung von Logen und Großlogen in besonderen Gremien,
| |
− | administrative Abstimmungen mit anderen Logen und Großlogen sowie schließlich
| |
− | • die repräsentative Komponente: Repräsentation der Freimaurerei im Inneren und Vertretung
| |
− | der Freimaurerei nach außen gegenüber der Weltfreimaurerei und der Öffentlichkeit.
| |
− | Die verschiedenen Komponenten im Spektrum der Logenaktivitäten bieten vielfältige Ansatzpunkte
| |
− | für unterschiedliche Interessen der Logenmitglieder. Sie entsprechen dem Bedürfnis
| |
− | nach Geselligkeit, »guten Gesprächen« und rituellen Erfahrungen ebenso wie dem
| |
− | Ausleben von Tätigkeitsdrang, der Festigung des Selbstgefühls und der Bedienung von Statusbedürfnissen.
| |
− | Andererseits liegt hier auch die Ursache von Konflikten, mannigfaltigem
| |
− | Reformbedarf und der Forderung, dass sich die Freimaurerei einem permanenten Prozess
| |
− | kritischer Selbstaufklärung zu stellen habe. Eine systematische sozialwissenschaftliche Aufarbeitung
| |
− | der Logenpraxis steht noch aus. Grund dafür ist sowohl eine begreifliche Scheu
| |
− | Außenstehender, einer geschlossenen, werthaltigen Gruppe mit analytischen Werkzeugen
| |
− | möglicherweise »zu nahe zu treten«, als auch eine Abwehrhaltung vieler Freimaurer. Andererseits
| |
− | hat die allgemeine Sozialforschung die Freimaurerlogen noch nicht als interessanten
| |
− | Forschungsgegenstand entdeckt, so dass die »Delegation von Selbstaufklärung« nach außen
| |
− | (die im Falle der Aufarbeitung der »völkischen Freimaurerei« gelungen ist) vorläufig nur be-
| |
− | 85 Unter Weiterführung von Dosch, Reinhold: Deutsches Freimaurer Lexikon, Bonn 1999, S. 31ff.
| |
− | 86 Hammacher, Klaus: Einübungsethik, a.a.O.
| |
− | 47
| |
− | dingt möglich ist, obwohl der Erkenntnisgewinn – insbesondere für mikrosoziologische Fragestellungen
| |
− | in Bezug auf die Logen – beträchtlich sein könnte.
| |
− | In Anbetracht der bisher geringen Aussagekraft partieller Einsichten in die Logenpraxis
| |
− | kommt einer Repräsentativerhebung größere Bedeutung zu, die Ende der 1990er Jahre unter
| |
− | dem Titel »Sinn-Dimensionen der Freimaurerei« im Rahmen der Freimaurer-Akademie
| |
− | der Großloge von Österreich durchgeführt wurde.87 Dabei wurden in 42 Logen Befragungen
| |
− | durchgeführt und 800 Fragebögen in die Analyse einbezogen. Es sollte u.a. ermittelt werden,
| |
− | in welcher Abfolge »Freimaurerische Sinn-Dimensionen« festzustellen sind (verstanden
| |
− | als der einer Mitgliedschaft in der Loge beigemessene subjektive »Sinn«). Die Befragungen
| |
− | belegen, dass sich die zuvor genannten Arbeitsfelder der Logen bzw. die innerhalb von ihnen
| |
− | unterschiedenen Komponenten nicht einfach aus der Funktionsstruktur der Logen ergeben,
| |
− | sondern durch persönliche Wahl gemäß den unterschiedlichen Schwerpunkten individueller
| |
− | Interessen und persönlicher Sinnsuche bestätigt werden. Nach der Häufigkeit ihrer
| |
− | Nennung in den Befragungen geordnet, sah die Rangordnung möglicher Sinndimensionen
| |
− | wie folgt aus: Soziale Nähe, Lebenssinn, Esoterik, Selbstentfaltung, Bildung.
| |
− | • Die an erster Stelle genannte Sinndimension »Soziale Nähe« wird im Wesentlichen als
| |
− | »Erlebnis von Freundschaft und menschlichen Beziehungen im Gespräch und anderen
| |
− | sozialen Kontakten zu gleichgesinnten, interessanten Menschen« verstanden. Sie wurde
| |
− | von einer »überwältigenden Mehrheit« aller Befragten als wesentlich genannt.
| |
− | • Die Sinndimension »Lebenssinn« steht an zweiter Position: »Von über 80 Prozent wurden
| |
− | eigene Charakterbildung und die Befassung mit allgemeinen Sinnfragen oder mit der
| |
− | Lebensphilosophie als wichtig genannt«, gefolgt von »Optimismus und positiver Weltsicht
| |
− | «.
| |
− | • Der Bedeutung nach an dritter Stelle (in 70 Prozent der Nennungen) folgt die Sinndimension
| |
− | »Esoterik«: Sie bezieht sich auf einen eher weit gefassten Esoterikbegriff, der auf eine
| |
− | »generelle Identifikation mit rituellen und symbolischen Werten« abzielt, aber auch psychologische
| |
− | Effekte wie »Entspannung und Beruhigung, die durch rituelle Arbeit empfunden
| |
− | wird«, weniger dagegen »mystische Ergriffenheit« einschließt.
| |
− | • Schwächer in der Verbreitung und nur für weniger als die Hälfte der Befragten von direkter
| |
− | Bedeutung ist die Sinndimension »Selbstentfaltung«, verstanden als »Gewinnung
| |
− | von Kreativität und Selbstausdruck sowie von Selbstwertgefühlen in der Bruderkette«.
| |
− | • Die Sinndimension »Bildung« schließlich (ca. 50 Prozent der Nennungen) bezieht sich
| |
− | nicht so sehr auf »neuere wissenschaftliche Erkenntnisse« als vielmehr auf »Einsicht in
| |
− | gesellschaftliche Zusammenhänge und Verständnis für die Entwicklung unserer Gesellschaft
| |
− | «.
| |
− | • Schließlich ist interessant, dass die Wahrnehmung eines »direkten Einflusses gesellschaftlicher
| |
− | Natur« nur von einem kleinen Anteil der Befragten, etwa einem Zehntel, als sinnvolles
| |
− | Aktivitätsfeld der Freimaurerei verstanden wird.
| |
− | Insgesamt belegt die Befragung auch für die Gegenwart ein eher breit als speziell angelegtes
| |
− | Interesse an der »Sozial- und Kulturform Freimaurerei«. Sie scheint damit das Vorhanden-
| |
− | 87 Gehmacher, Ernst/Russ, Kurt: Sinn-Dimensionen der Freimaurerei. Eine Studie zur Katalysator-Wirkung
| |
− | der Freimaurerei in Österreich, Schriftenreihe der Freimaurer-Akademie der Großloge von Österreich,
| |
− | Wien 1999, vor allem S. 5ff.
| |
− | 48
| |
− | sein historischer Kontinuitäten zu bestätigen. Aus der Häufigkeit der Optionen für die
| |
− | einzelnen Sinndimensionen wurden Identitätstypen für Logenmitglieder abgeleitet, wobei
| |
− | »Esoteriker«, »Grübler« (Sinnsucher, Gesinnungsethiker), »Aufklärer«, »Praktiker«, Vertreter
| |
− | des »Club-Typs« und »Allrounder« unterschieden wurden, die dann wieder (unveröffentlicht)
| |
− | zu unterschiedlichen Logenprofilen zusammengefasst wurden.
| |
− | Probleme und Perspektiven
| |
− | Logen unterscheiden sich nicht nur nach Sinn- und Aktivitätsmustern sowie nach Mitgliederprofilen,
| |
− | sondern auch nach Dynamik und Erfolg ihrer »Arbeit«. Aktiven Logen mit deutlich
| |
− | wahrnehmbarer sozialer und kultureller Ausstrahlung, wachsenden Mitgliederzahlen, Verjüngung
| |
− | der Mitglieder und einem beträchtlichen Maß von sozialer Anerkennung im öffentlichen
| |
− | Umfeld (insbesondere seitens der kommunalen Öffentlichkeiten) stehen Logen gegenüber,
| |
− | deren Mitgliederbestand rückläufig und in besonderem Maße überaltert ist und in denen
| |
− | die Partizipation an Logenveranstaltungen überdurchschnittlich gering ausfällt.
| |
− | Neben Entwicklungsproblemen, die mit niedrigen Aktivitätsniveaus von Logen zusammenhängen,
| |
− | sind allerdings auch solche auszumachen, die auf die vielfältigen gesellschaftlichen
| |
− | und kulturellen Wandlungsprozesse der Moderne sowie die daraus inzwischen
| |
− | entstandenen Strukturen der gegenwärtigen Gesellschaft zurückzuführen sind. Das freimaurerische
| |
− | Selbstverständnis versteht die Loge als Lebensbund und strebt soziale Bindung zumindest
| |
− | auf längere Dauer an. In den modernen westlichen Gesellschaften scheint jedoch
| |
− | das Niveau des Engagements der Bürger in formellen Vereinigungen tendenziell abzunehmen.
| |
− | Ob hieraus auf einen generellen Rückgang sozialer Bindungsfähigkeit geschlossen
| |
− | werden kann oder ob sich lediglich die Formen und Zeitspannen sozialer Einbindung
| |
− | verändern, ist beim gegenwärtigen Stand der sich mit solchen Fragen beschäftigenden Sozialkapitalforschung
| |
− | noch nicht entscheidbar. Jedenfalls scheint evident, dass die formellen
| |
− | Mitgliederzahlen nicht nur für Parteien, Gewerkschaften und Sportvereine rückläufig sind,
| |
− | sondern auch für die Kirchen und andere (traditionelle) religiöse Vereinigungen sowie für
| |
− | die ethisch orientierten Bünde. Auch in der deutschen Freimaurerei sind die Mitgliederzahlen
| |
− | in den letzten Jahrzehnten zurückgegangen – wenn auch zuletzt (2010) bei der größten
| |
− | deutschen Großloge, der GL AFuAM, eine leichte Zunahme der Mitgliederzahlen festzustellen
| |
− | ist – und auch international sind (mit einigen Ausnahmen, darunter Frankreich)
| |
− | Rückgangstendenzen festzustellen, teilweise in beträchtlichem Ausmaß. So sind die Zahlen
| |
− | der Freimaurer zwischen 1970 und 2008 in den USA von 3,8 auf 1,4 Millionen, in England
| |
− | von 600 Tausend auf 250 Tausend und in Kanada von 240 Tausend auf 93 Tausend regelrecht
| |
− | abgestürzt, was Hauptgrund für den Rückgang der Weltfreimaurerei von ca. sechs auf
| |
− | 2,5 bis 3,0 Millionen Mitgliedern im gleichen Zeitraum ist.
| |
− | Absolute Zahlen allein vermitteln allerdings ein verzerrtes Bild von der unterschiedlichen
| |
− | Repräsentation des Freimaurerbundes in einzelnen Ländern, und es ist aussagekräftiger,
| |
− | sogenannte »Mitgliederraten« zu ermitteln, bei denen die Zahl der Freimaurer auf 1000
| |
− | 49
| |
− | Männer im Alter von über 20 Jahren bezogen werden.88 Die so ermittelte »Mitgliederrate«
| |
− | beträgt für Deutschland 0,4, für Österreich 0,9, für die Niederlande 1,0, für Rumänien
| |
− | (höchst erstaunlich89) 1,0, für die Schweiz 1,3 und für Frankreich 4,5. Trotz beträchtlicher
| |
− | Rückgänge liegen die entsprechenden Werte für die USA mit 13,4 und England (als Teil des
| |
− | Vereinigten Königreichs) mit 13,8 beträchtlich höher.
| |
− | Die sehr niedrige »Mitgliederrate« in Deutschland – auch im Vergleich zu seinen unmittelbaren
| |
− | europäischen Nachbarn – ist ebenso auf Strukturschwächen der deutschen
| |
− | Logen und Großlogen zurückzuführen – von denen (mit erforderlichen Differenzierungen)
| |
− | in diesem Buch noch ausführlicher die Rede ist – wie auf Folgen des langen Verbots der
| |
− | Freimaurerei in den östlichen Bundesländern und eine hierzulande offenbar besonders
| |
− | hartnäckige Vorurteils(un)kultur, in der sich religiöse und politische Vorbehalte (Verschwörungsvorstellungen)
| |
− | gegenüber dem Freimaurerbund mischen.
| |
− | Doch wie immer der generelle Trend beschaffen ist bzw. interpretiert wird: Er ist nicht
| |
− | ohne Gegentendenzen. Es wird Bindung gesucht, Wertorientierungen haben Konjunktur,
| |
− | Nachdenklichkeit gewinnt an Attraktivität, philosophische Praxen und Seminare erfreuen
| |
− | sich steigender Nachfrage. Gleichzeitig wird angesichts des durch Tempo und Beschleunigung
| |
− | von Ereignissen und Wahrnehmungen unverkennbar bedingten »Verschwindens
| |
− | der Gegenwart« (so der Historiker Christian Meier90) nach Innehalten, Stille und »Langsamkeit
| |
− | « und auch nach »Beheimatung in der Geschichte« gesucht. Die Formel »Zukunft
| |
− | braucht Vergangenheit«91 ist fast schon zu einem Gemeinplatz historisch-kultureller Reflexion
| |
− | geworden.
| |
− | Die Freimaurerei, die sich seit jeher nicht nur als horizontales Netzwerk der Gesellschaft,
| |
− | sondern auch als (symbolische) Brücke zwischen (weitester) Vergangenheit und
| |
− | Zukunft verstanden hat (Lessing: »Freimaurerei war immer«), findet so Entwicklungsbedingungen,
| |
− | die trotz aller Schwierigkeiten nicht generell als negativ einzuschätzen sind. Im
| |
− | Gegenteil: Es zeigt sich ein zunehmendes Interesse bei der jüngeren Generation (meist über
| |
− | Internetkontakte vermittelt), zahlreiche Logen können sich »verjüngen« und die Zahl der
| |
− | Freimaurer ist – wie bereits zuvor erwähnt – 2009/2010 leicht angestiegen, jedenfalls bei
| |
− | den Logen der GL A.F.u.A.M. vD. Diese hatte auf dem Großlogentag 2006 ein expansionsorientiertes
| |
− | »Ziel 10.000« vorgegeben, dem die verbesserte Wachstumslage möglicherweise
| |
− | zumindest teilweise zugeschrieben werden kann.
| |
− | Entscheidend für seine Zukunft wird sein, ob es der Freimaurerbund versteht, seine vielfältigen
| |
− | Ressourcen einzusetzen, bewährte Traditionen zu bewahren und zugleich für Innovationen
| |
− | offen zu sein. Dazu gehören Offenheit für den Kontakt mit Menschen und der
| |
− | Mut zu menschlicher Begegnung im Freundschaftsbund Loge. Dazu gehört eine Ritualpraxis,
| |
− | die den Reichtum alter Formen bewahrt und die »archaischen Ritualkerne« der gültig
| |
− | bleibenden Thematisierung des Verhältnisses Mensch – Mitmensch, Mensch – Kosmos und
| |
− | 88 Hier folge ich Putnam, Robert: Bowling Alone. The Collapse and Revival of American Community,
| |
− | New York 2000, S. 438f.
| |
− | 89 Die »Nationale Großloge von Rumänien« wurde nach langer Verbotszeit am 24. Januar 1993 wieder gegründet,
| |
− | besteht aus ca. 300 aktiven Logen und hat gegenwärtig (2010) 7800 Mitglieder, um ein Vielfaches
| |
− | mehr als jede andere Großloge in einem vormals kommunistisch regierten Land (Angabe nach:
| |
− | List of Lodges 2010, hrsg. von der American Canadian Grandlodge A.F.& A. M., United Grand Lodges
| |
− | of Germany, S. 327).
| |
− | 90 Meier, Christian: Das Verschwinden der Gegenwart. Über Geschichte und Politik, München 2001.
| |
− | 91 Marquard, Odo: Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Essays, Stuttgart 2003.
| |
− | 50
| |
− | Immanenz – Transzendenz im Mittelpunkt hält. Und dazu gehört schließlich auch, sich –
| |
− | ohne Überforderung eigener Möglichkeiten – an den wichtigen Diskursen der Gegenwart
| |
− | zu beteiligen. Viele davon haben Beziehungen zur freimaurerischen Tradition, mögen sie
| |
− | auf die Weiterentwicklung der Aufklärung im Sinne einer »reflexiven Aufklärung«92, auf die
| |
− | »Ethosproblematik« (»Weltethos« war auch immer schon ein freimaurerisches Projekt), auf
| |
− | die Aneignung und Umsetzung von Werten (»Einübungsethik« ist eine alte freimaurerische
| |
− | Tugend)93 beziehen oder auf die Reflexionen über Lebenskunst94 – denn Freimaurerei verstand
| |
− | sich ja immer auch – gerade im Sinne von Lebenskunst – als eine »Königliche Kunst«.
| |
− | Apropos Langsamkeit: Freimaurer müssen sich Zeit lassen – ja den Mut zur Umständlichkeit
| |
− | haben –, wenn es um das Erklären dessen geht, was Freimaurerei ist. Freimaurerei
| |
− | lässt sich nicht im Schnellkurs vermitteln. Vorsicht scheint mir insbesondere geboten mit
| |
− | den – im Bunde sehr beliebten – eindimensionalen Kurzdefinitionen wie »Freimaurerei
| |
− | ist eine Geisteshaltung«, »Freimaurerei ist angewandte Aufklärung« oder »Freimaurerei ist
| |
− | eine religiöse Vereinigung«. Dies ist oft falsch und immer missverständlich. Wenn Kurzdefinitionen
| |
− | erforderlich scheinen, dann sollten solche gewählt werden, die bei aller Kürze
| |
− | hinreichend komplex und durch Erläuterungen ausbaufähig sind. Ich arbeite in meinen
| |
− | Vorträgen gern mit folgender vorläufigen Beschreibung:
| |
− | »Freimaurerei versteht sich als eine Lebenskunst, die menschliches Miteinander und
| |
− | ethische Lebensorientierung durch Symbole und rituelle Handlungen in der Gemeinschaft
| |
− | der Loge darstellbar, erlebbar und erlernbar macht.«
| |
− | Die durch die Geschichte der Freimaurerei hindurch identifizierbaren Grundelemente des
| |
− | Bundes, die in ihrer Gesamtheit den Reichtum der Freimaurerei ausmachen: Freundschaft
| |
− | und Geselligkeit, ethische Orientierung und Wertediskurs sowie der rituelle Rahmen einer
| |
− | Initiationsgemeinschaft mit der Stiftung von Freundschaft als dem Kern der kultischen
| |
− | Handlung sind hierdurch ebenso thematisiert wie der Charakter der Freimaurerei als einer
| |
− | Lebenskunst, die sich um die Einübung von Umgangsstilen bemüht: Stilen des Umgangs
| |
− | mit sich selbst, mit anderen Menschen, mit den Dingen der Welt und mit Transzendenz,
| |
− | d.h. mit der Frage der Rückbindung des Menschen an einen tragenden und Sinn gebenden
| |
− | Grund.
| |
− | Zum Schluss:
| |
− | Freimaurerische Geschichte ist bis in die Gegenwart hinein nicht zuletzt die Geschichte des
| |
− | Widerspruchs zwischen den Gestaltern und den Verwaltern der Freimaurerei gewesen. Die
| |
− | Freimaurer leben bis heute vom kreativen Erbe der Gestalter. Dass dieses Erbe nicht von den
| |
− | Verwaltern aufgezehrt wird und lebendiger Bestandteil der Gegenwartsfreimaurerei bleibt, ist
| |
− | eine lohnende Aufgabe für jeden Freimaurer, der es gut meint mit seinem alten, oft arg gebeutelten
| |
− | und doch so erstaunlich vitalen Bund.
| |
− | 92 Reinalter, Helmut: Die Freimaurer, a.a.O., S. 128ff.
| |
− | 93 Hammacher, Klaus: Einübungsethik, a.a.O.
| |
− | 94 Schmid, Wilhelm: Philosophie der Lebenskunst. Eine Grundlegung, Frankfurt am Main 2000.
| |
− | 51
| |
− | Europas verlorener Friede, die nationalvölkische
| |
− | Orientierung innerhalb der
| |
− | deutschen Freimaurerei und die
| |
− | »freimaurerische Erinnerungspolitik«
| |
− | nach dem Zweiten Weltkrieg
| |
− | 1. Weltbürger und Patrioten
| |
− | Dass der Friede in Europa und der Welt insgesamt zwischen 1870 und 1945 in drei sich an
| |
− | Brutalität und Zerstörungswirkung steigernden Kriegen so gründlich verloren gegangen war,
| |
− | hat die Freimaurer in Handeln, Argumentieren und Reflektieren immer wieder intensiv beschäftigt.
| |
− | Denn die Friedensproblematik war von Anfang an Bestandteil ihrer eigenen Entwicklung.
| |
− | Freimaurer – so lehrten es die Alten Pflichten – als Männer »von allen Nationen,
| |
− | Zungen, Geschlechtern und Sprachen« sollten sich zwar aus politischen Streitigkeiten, insbesondere
| |
− | aus internationalen Konflikten heraushalten. Aber sowohl ihre Utopien als auch die
| |
− | Arten und Formen ihrer Einbettung in konkrete gesellschaftliche Verhältnisse und Entwicklungsprozesse
| |
− | von Nationen ließen sie bald (erst auf indirekte, dann immer mehr auf direkte
| |
− | Weise) politisch aktiv werden.
| |
− | Ihrer Utopie nach waren die Freimaurer kosmopolitisch eingestellt. Sie verstanden
| |
− | sich als Weltbund der Brüderlichkeit, als »moralische Internationale« (Reinhart Koselleck).
| |
− | Dies gilt mit unterschiedlicher Akzentuierung für alle frühen Ausprägungen der
| |
− | Freimaurerei. Die ersten deutschen Freimaurer waren anglophil und frankophon, und
| |
− | auch im »klassischen Freimaurerdiskurs«1 der deutschen Spätaufklärung stehen kosmopolitische
| |
− | Anschauungen im Vordergrund: »Der Freimaurer als solcher ist als Bürger ein
| |
− | Weltbürger« rief Christoph Martin Wieland in seinem Vortrag »Über das Fortleben im
| |
− | Andenken der Nachwelt« seinen Brüdern in Weimar zu.2 Lessing wünschte sich in seiner
| |
− | Schrift »Ernst und Falk. Gespräche für Freimäurer«, dass es in jedem Land Männer
| |
− | gäbe, »die über die Vorurteile der Völkerschaft hinweg wären und genau wüssten, wo
| |
− | Patriotismus Tugend zu sein aufhöret«.3 »Ehrwürdig in der größten aller Gesellschaften,
| |
− | der Welt« leitet den wahren Maurer »der Wunsch, der Welt tugendhafte Bürger zu erziehen
| |
− | «, hieß es in einer Logenrede des Berliner Freimaurers Christian Karl Süßmilch.4
| |
− | Karl Christian Friedrich Krause veröffentlichte 1814 nach dem Sieg über Napoleon eine
| |
− | Reihe von Aufsätzen, die danach auch zusammengefasst unter dem programmatischen
| |
− | Titel »Entwurf eines europäischen Staatenbundes als Basis des allgemeinen Friedens« veröffentlicht
| |
− | wurden. Die diesbezüglichen Wirkungsmöglichkeiten der Freimaurerei hatte
| |
− | 1 Vgl. Höhmann, Hans-Hermann: Entwicklung, Reflexion, Wissenschaft. Anmerkungen zum Wechselspiel
| |
− | zwischen freimaurerischer Geschichte und Geschichte der Freimaurerforschung, in: Quatuor Coronati
| |
− | Jahrbuch für Freimaurerforschung, Nr. 41/2004, S. 229–239, hier S. 233f.
| |
− | 2 Zitiert nach Lennhoff, Eugen/Posner, Oskar: Internationales Freimaurerlexikon, Wien 1932, Spalte 865.
| |
− | 3 Lessing: Ernst und Falk. Gespräche für Freimäurer, sammlung insel, Frankfurt am Main 1968, S. 27.
| |
− | 4 Christian Karl Süßmilch: Der wahre Freimaurer, in: Gerlach, Karlheinz (Hrsg.), Berliner Freimaurerreden
| |
− | 1743–1804, Frankfurt am Main 1996, S. 226–235.
| |
− | 52
| |
− | Krause schon einige Jahre zuvor umrissen: »Sofern die Freimaurerbrüderschaft ihrem
| |
− | in ihrer eigenen Geschichte deutlich ausgesprochenen wesentlichen Begriffe gemäß ist,
| |
− | erkenne ich sie in ihrer Grundlage und ihrem reinen Geiste nach für einen nach Zeiten
| |
− | und Orten beschränkten und bis jetzt bewußtlosen, dennoch aber für den bis jetzt einzig
| |
− | bestehenden geselligen Versuch an, die Ideen der Menschheit, des Menschheitslebens und
| |
− | des Menschheitsbundes zur Anschauung zu bringen, in rein menschlichem Geiste zu
| |
− | leben und den offenen Menschheitsbund in abgesonderten Hallen von Vernunftinstinkt
| |
− | geleitet vorzubereiten.«5
| |
− | Die Rhetorik dieser kosmopolitischen Ausrichtung der deutschen Freimaurerei hielt –
| |
− | wenn auch nicht ohne Unterbrechungen und Einschränkungen – bis in die Jahre vor dem
| |
− | deutsch-französischen Krieg von 1870/71, ja teilweise noch darüber hinaus, an.
| |
− | »Nicht enge Grenzen sind’s. O, nein! / Die ganze Erde soll es sein«,
| |
− | so hieß es 1866 in einer freimaurerischen, den Nationalismus des Originals überwindenden
| |
− | Umdichtung des Vaterlandlieds von Ernst Moritz Arndt »Was ist des deutschen Vaterland?«.6
| |
− | Unter »Entwicklung zur Humanität« verstand noch 1889 ein Autor des »Bundesblattes« der
| |
− | Großen National-Mutterloge »Zu den drei Weltkugeln« »die Entwickelung des einzelnen
| |
− | Menschen, des Volkes und der Menschheit zur möglichsten Vollkommenheit«, und er folgerte
| |
− | daraus: »Auf diese Weise sind wir Brüder der Sauerteig, der die Menschenseelen aller
| |
− | Völker und aller Religionen durchdringt, nicht um diese zu zerstören, sondern zu veredeln;
| |
− | nicht um etwas ihnen Fremdes hineinzutragen und so sie äusserlich zu einförmiger Gestaltung
| |
− | zu zwingen, sondern um sie geistig und sittlich
| |
− | zu befreien, indem wir das Wesen derselben
| |
− | zu vertiefen suchen.«7
| |
− | In der Realität freilich identifizierten sich die deutschen – wie generell die europäischen
| |
− | – Freimaurer mehr und mehr mit den Strukturen und Interessen des sich im 19. Jahrhundert
| |
− | entwickelnden und etablierenden bürgerlichen Nationalstaats. Auch dieser Nationalstaat
| |
− | hatte etwas mit der freimaurerischen Utopie zu tun. Denn er bot die organisatorische
| |
− | Klammer und das motivierende Pathos für die Umsetzung von Demokratie, Freiheit und
| |
− | Gerechtigkeit, woraus sich ja auch die Beteiligung vieler Freimaurer an der europäischen
| |
− | Demokratie- und Parlamentsgeschichte erklärt.8
| |
− | Doch als sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Spannungen zwischen den
| |
− | europäischen Nationalstaaten verschärften, als es 1864, 1866 und 1870/71 gar zu Kriegen
| |
− | kam, an denen Freimaurer – ihrer sozialen Stellung nach – oft in Offiziersrängen beteiligt
| |
− | waren, nahm der Grad der Identifizierung mit dem Nationalstaat auch im Sinne einer
| |
− | sich von anderen Nationen abgrenzenden, ja diesen gegenüber aggressiven Einstellung
| |
− | beträchtlich zu.
| |
− | 5 Zitiert nach Lennhoff, Eugen/Posner, Oskar: a.a.O., Spalte 873f.
| |
− | 6 Zitiert nach Hoffmann, Stefan-Ludwig: Politik der Geselligkeit. Freimaurerlogen in der deutschen Bürgergesellschaft
| |
− | 1840–1918, Göttingen 2000, S. 289.
| |
− | 7 Steimmig, Paul: Gedanken über die Darstellung des Humanitätsprinzips der Freimaurerei im äusseren
| |
− | Leben, in: Bundesblatt, Dritter Jahrgang 1889, H. 14, S. 357–363, hier S. 357, 361.
| |
− | 8 Hoede, Roland: Die Paulskirche als Symbol. Freimaurer in ihrem Wirken um Einheit und Freiheit 1833–
| |
− | 1999, Bayreuth 1999.
| |
− | 53
| |
− | Wiederum ins Poetische gewendet, hieß es jetzt:
| |
− | »Als letztes Ziel der Weltenbund / der Brüder auf dem Erdenrund,
| |
− | doch jetzt schon als des Maurers Band / die Liebe zu dem Vaterland.«9
| |
− | Die deutschen Freimaurer verstanden sich dabei als Bewahrer einer ihnen wohl vertrauten
| |
− | konzeptionellen Tradition. Hatte doch bereits Fichte für den deutschen Freimaurer am Beginn
| |
− | des 19. Jahrhunderts auf prägnante, über die folgenden Jahrzehnte hinweg in vielen
| |
− | Logenreden zitierte Weise festgestellt: »Vaterlandsliebe ist seine Tat, Weltbürgersinn sein Gedanke.
| |
− | « Dass bei diesen Zitierungen der ursprüngliche Sinn gelegentlich verkürzt wurde – so
| |
− | zum Beispiel, wenn es hieß »Weltbürgersinn ist zwar sein Gedanke, doch Vaterlandsliebe seine
| |
− | Tat« –, zeigt der volle Text Fichtes, in dem es vom Freimaurer heißt: »In seinem Gemüte
| |
− | sind Vaterlandsliebe und Weltbürgersinn innigst vereinigt; und zwar stehen beide in einem
| |
− | bestimmten Verhältnis. Vaterlandsliebe ist seine Tat, Weltbürgersinn ist sein Gedanke; die
| |
− | erstere die Erscheinung, die zweite der innere Geist dieser Erscheinung, das Unsichtbare in
| |
− | dem Sichtbaren (kursiv im Original).«10
| |
− | Bekenntnisse zu Nation und Welt, patriotische und kosmopolische Einstellungen
| |
− | blieben – wie Stefan Ludwig Hoffmann in seinem schönen Buch über die Freimaurerlogen
| |
− | in der deutschen Bürgergesellschaft hervorgehoben hat – auch im weiteren Verlauf
| |
− | des 19. und im frühen 20. Jahrhundert bestehen. Die Gewichte auf dem Spannungsbogen
| |
− | zwischen »Vaterland« und »Weltenbund« verschoben sich jedoch immer mehr ins Nationale,
| |
− | wobei zunehmend die Auffassung vertreten wurde, gerade das als für das eigene
| |
− | Vaterland typisch Erachtete sei Inbegriff einer übernational anzustrebenden zukünftigen
| |
− | Humanität.
| |
− | So sahen deutsche und französische Freimaurer auch nach 1871 ihre jeweils eigene Nation
| |
− | als »Vaterland der Menschheit«. Hoffmann hat hierzu eindrucksvolle Belege aufbereitet.11 So
| |
− | zitiert er eine französische Logenrede aus dem Jahr 1889, in der es hieß, dass es Frankreichs
| |
− | Aufgabe gewesen sei, für die Welt die Idee des Menschheitsfortschritts zu entwickeln und
| |
− | »dass Frankreich zu lieben, ihm zu dienen, und, falls nötig, dafür zu sterben bedeute, die
| |
− | Menschheit zu lieben, ihr zu dienen und für sie zu sterben«. Denselben Inbegriff des Menschheitsfortschritts
| |
− | beanspruchten deutsche Freimaurer ihrerseits für die deutsche Nation:
| |
− | »Der Menschheit wird durch dich zu Theil / dereinst der wahren Freiheit Heil!«
| |
− | Mit solchen Versen ließ sich im Jahre 1880 der Leipziger Freimaurer Oswald Marbach auf einer
| |
− | Festveranstaltung der Loge »Balduin zur Linde« vernehmen, womit er den Grundgedanken
| |
− | aufnahm, den Emmanuel Geibel zwei Jahrzehnte zuvor in seinem Gedicht »Deutschlands
| |
− | Beruf« in die fatalen Verse gefasst hatte:
| |
− | 9 Zitiert nach Hoffmann: a.a.O., S. 320.
| |
− | 10 Fichte, Johann Gottlieb: Philosophie der Maurerei. Briefe an Konstant (1802/03), Düsseldorf und Bonn
| |
− | 1997, S. 82.
| |
− | 11 Hoffmann: a.a.O., S. 303.
| |
− | 54
| |
− | »Und es mag am deutschen Wesen / einmal noch die Welt genesen.«12
| |
− | Hoffmann gibt auch beredte Beispiele dafür, wie jede Seite der anderen einen überspannten
| |
− | Nationalismus
| |
− | vorwarf, wie er für Freimaurer, die doch Weltbürger sein wollten, zutiefst
| |
− | unwürdig sei. Diejenige Nation sei hingegen die gebildetste – so zitiert er einen deutschen
| |
− | Freimaurer –, »welche neben der entschiedensten Ausprägung
| |
− | ihres eigenen Charakters
| |
− | und der höchsten Entwickelung ihrer eigenen
| |
− | Kräfte am meisten Elemente fremder
| |
− | Nationen in sich aufgenommen und derart in sich verarbeitet habe, dass diese fremden
| |
− | Elemente selbsteigenes und eigenthümliches Element dieser Nation werden«.13 In dieser
| |
− | Lage sei aber allein die deutsche Nation. Ein anderer Freimaurer meinte analog: »Im Großen
| |
− | und Ganzen hat die deutsche Nation, wie es die vergleichende Geschichte nachweist,
| |
− | sich stets human vor allen anderen gezeigt. Frei von jener systematischen Grausamkeit,
| |
− | welcher sich z.B. die Spanier in Amerika gegen die Eingeborenen, zu Haus vorher gegen
| |
− | die Mauren und ›Ketzer‹, die Engländer in Irland, die Franzosen gegen die Hugenotten
| |
− | schuldig gemacht, ist im Charakter der Deutschen ein starker Zug von Gerechtigkeitsgefühl
| |
− | vorhanden, das sie drängt, den Standpunkt der Gleichberechtigung zu bewahren und
| |
− | gerecht, wie gegen sich, so gegen andere zu sein. In dieser Eigenschaft des Volkscharakters
| |
− | ist die civilisatorische Aufgabe der Deutschen vorzugsweise begründet, welche sie, ausser
| |
− | unter sich, auch als Individuen in fremden Ländern, so wie als Volk im Völkerleben
| |
− | erfüllen.«14 Ein »engherziger, fanatischer Nationalhaß« sei hingegen – so das »Bundesblatt«
| |
− | der GNM 3WK in einem anderen Beitrag – dem französischen Volk, insbesondere den
| |
− | dortigen Freimaurern eigen.15
| |
− | Das Fatale an der in Europa vor dem Ersten Weltkrieg weit verbreiteten Sichtweise, die
| |
− | eigene Nation als Inbegriff einer weltweit zu verwirklichenden Humanität aufzufassen, liegt
| |
− | nun insbesondere darin, dass der Begriff einer übergeordneten Humanität als kritischer
| |
− | Maßstab für das eigene nationale Handeln außer Kraft gesetzt worden war. War das Nationale
| |
− | identisch mit dem Humanen, so war vom Humanen her das Nationale nicht mehr
| |
− | kritisierbar und korrigierbar. Im Gegenteil: Im faktischen Wahrnehmen und ideologischen
| |
− | Rechtfertigen nationaler Interessen erfüllte sich geradezu die weltbürgerliche Mission der
| |
− | Freimaurerei.
| |
− | 12 Im Ersten Weltkrieg nimmt August Horneffer diese Sendungsidee im Hinblick auf die zukünftige internationale
| |
− | Rolle der deutschen Freimaurerei in der Nachkriegszeit wieder auf: »Wie die deutschen Kaufleute
| |
− | und Gelehrten, müssen auch sie (die deutschen Freimaurer, H.-H. H.) nach dem Kriege wieder
| |
− | hinaus, müssen zerrissene Fäden neu knüpfen, müssen Aufräumungsarbeiten leisten und alles, was in
| |
− | ihren Kräften steht, tun, um den Fluch der Verirrung, der die feindlichen Völker gebannt hält, wieder
| |
− | aufzuheben … Dann werden sie kommen und schauen und an ihren eigenen Tempeln mit verdoppeltem
| |
− | Eifer arbeiten, um nicht zurückzubleiben. Das ist der rechte Weg zur ›Verständigung‹«. Horneffer, August:
| |
− | Deutsche und ausländische Freimaurerei, München 1915, S. 57, 58; S. 45, 46.
| |
− | 13 Hoffmann: a.a.O., S. 303 mit Angabe der Originalquelle.
| |
− | 14 Ebenda mit Angabe der Originalquelle.
| |
− | 15 Unsere nächsten Ziele, in: Bundesblatt, Jg. 1, 1887, S. 12–29, hier S. 14, zitiert nach Hoffmann: a.a.O., S. 303.
| |
− | 55
| |
− | 2. Den Frieden retten: Pazifistische Aktionen europäischer
| |
− | Freimaurer
| |
− | Bei dieser Ausgangslage hinsichtlich der politischen Einstellungen und ideologischen
| |
− | Grundmuster der Freimaurer als Teil der bürgerlichen Eliten in Europa – und insbesondere
| |
− | in Deutschland und Frankreich – könnte nun gleich geschlossen werden, dass die Freimaurer
| |
− | Europas seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer und insgesamt kräftig daran
| |
− | mitwirkten, dass der europäische Friede verloren ging.
| |
− | So einseitig darf freilich nicht gewertet werden, und es müssen auch die pazifistischen
| |
− | Tendenzen und Aktivitäten, die von der Freimaurerei bzw. von Freimaurergruppen und
| |
− | einzelnen Freimaurern ausgingen, in die Betrachtung einbezogen werden, gab es doch innerhalb
| |
− | der Geschichte der europäischen Freimaurerei im 19. und 20. Jahrhundert Phasen
| |
− | mit stärkerer Friedensorientierung, die durchaus auch in Deutschland Resonanz fanden.
| |
− | Die Leipziger Freimaurer um Clemens Thieme etwa, anstoßgebend und umsetzend
| |
− | beteiligt an Bau und Ausführung des Völkerschlachtdenkmals, wollten – auch dies wird
| |
− | von Hoffmann überzeugend dargelegt16 – für das Jubiläumsjahr 1913 eher einen Ort der
| |
− | Erinnerung und ernster Anmahnung von Frieden schaffen als ein Fanal nationalen Überschwangs,
| |
− | weshalb sich der fast schon depressive Charakter des Denkmals ja auch deutlich
| |
− | von der in Stein gehauenen aggressiven Euphorie anderer deutscher Denkmale abhebt wie
| |
− | dem Hermannsdenkmal, dem Kyffhäuserdenkmal oder der über den Rhein hinüber nach
| |
− | Frankreich drohenden Germania im Niederwald.
| |
− | Es gab – insbesondere bei den »humanitären« und reformistischen deutschen Großlogen
| |
− | (Letztere repräsentiert durch den »Freimaurerbund zur aufgehenden Sonne« und,
| |
− | ab 1930, die »Symbolische Großloge von Deutschland«) – Friedensinitiativen, und es gab
| |
− | das friedens- und freiheitsorientierte Wirken einzelner Freimaurer, deren Zahl weit größer
| |
− | ist als die Zahl der von mir jetzt genannten Beispiele: Gustav Stresemann (der es freilich
| |
− | infolgedessen in seiner altpreußischen Großloge, der Großen National-Mutterloge »Zu den
| |
− | drei Weltkugeln«, nicht leicht hatte17), Wilhelm Leuschner und Carl von Ossietzky. Manchmal
| |
− | standen sich Repräsentanten nationalistischer und pazifistischer Positionen im selben
| |
− | Beruf und am gleichen Ort oppositionell gegenüber, wie der Bremer Historiker Marcus
| |
− | Meyer am Beispiel der beiden Bremer Pastoren Otto Hartwich (»Große Landesloge der
| |
− | Freimaurer von Deutschland«) und Emil Felden (»Freimaurerbund zur aufgehenden Sonne
| |
− | «) anschaulich beschreibt.18
| |
− | Im Gegensatz zur pazifistischen Einstellung der »Großloge von Wien« war nach dem
| |
− | Ersten Weltkrieg in Deutschland allerdings ein Trend vorherrschend, der die Freimaurerei
| |
− | immer stärker mit den Hauptlinien nationalistischer Politik und teilweise auch mit Elementen
| |
− | völkischer Ideologie identifizierte, ja, der Freimaurerei eine tonangebende und
| |
− | führende Rolle dabei zuschrieb. Helmut Neuberger hat diese Entwicklung in seinem Buch
| |
− | »Freimaurerei und Nationalsozialismus« zutreffend beschrieben:
| |
− | 16 Vgl. Hoffmann: a.a.O., S. 317–322.
| |
− | 17 Vgl. Markner, Reinhard: Der Freimaurer Stresemann im Visier der Nationalsozialisten, in: Quatuor Coronati
| |
− | Jahrbuch für Freimaurerforschung, Nr. 42/2005, S. 67–75, hier insbesondere S. 68.
| |
− | 18 Meier, Marcus: Zwischen Volksgemeinschaft und Weltbruderkette: Die Bremer Pastoren Otto Hartwich
| |
− | und Emil Felden im politischen Kampf um die Grundlagen der Freimaurerei in den 20er Jahren, in:
| |
− | Quatuor Coronati Jahrbuch für Freimaurerforschung, Nr. 44/2007, S. 91–108.
| |
− | 56
| |
− | »Je mehr die Vertreter des extremen Nationalismus an politischem Einfluss gewannen,
| |
− | desto krampfhafter versuchten die deutschen Großlogen aller Lehrarten,
| |
− | ihre nationale Gesinnung unter Beweis zu stellen.«19
| |
− | Eine pazifistische, auf Versöhnung und internationale Kooperation angelegte Haltung
| |
− | vertraten als Großlogen nur die als »irregulär« erachteten Reformgroßlogen »Freimaurerbund
| |
− | zur aufgehenden Sonne« (FzaS) und »Symbolische Großloge von Deutschland«.
| |
− | Auch letztere – 1930 gegründet – ließ von Anfang an keinen Zweifel an ihrer prinzipiell
| |
− | pazifistischen Einstellung: So betonte ihr Großmeister, Dr. Leo Müffelmann, in der
| |
− | ersten Nummer der Großlogenzeitschrift, die programmatisch den Namen »Die alten
| |
− | Pflichten« trug, »Internationale Zusammenarbeit in der allgemeinen Weltenkette, Bruderliebe
| |
− | aller Freimaurer der ganzen Welt« als »Wesensinhalt moderner Freimaurerei«.20
| |
− | Doch hob sich die Einstellung des FzaS nicht nur aufgrund der längeren Tradition der
| |
− | Großloge, sondern auch wegen der besonders konsequenten pazifistischen Orientierung,
| |
− | des hohen Niveaus freimaurerischer Veröffentlichungen sowie der Einbettung ihrer
| |
− | Einstellung zu internationalen Fragen in ein politisch-gesellschaftliches Gesamtkonzept,
| |
− | das an einem linken, sozialen Liberalismus orientiert war, in besonderem Maße
| |
− | klar und fortschrittlich hervor. Charakteristisch für die weltanschaulich-politische Orientierung
| |
− | innerhalb des FzaS dürfte Dr. Rudolph Penzig gewesen sein, der von 1919 bis 1926
| |
− | Großmeister war und seit 1903 zum linken Flügel der Fortschrittspartei, ab 1917 zur SPD
| |
− | gehörte. Penzig war in Berlin-Charlottenburg Stadtrat und von Beruf Moralpädagoge. Er
| |
− | wirkte u.a. leitend im Bruno-Bund, in der Deutschen Gesellschaft für Ethische Kultur, im
| |
− | Deutschen Bund für weltliche Schule und Moralunterricht und im Vorstand des Bundes
| |
− | freireligiöser Gemeinden.21
| |
− | Inhalt und Stimmung friedensorientierter Kundgebungen des FzaS lassen sich an einer
| |
− | öffentlichen Veranstaltung exemplifizieren, die im Rahmen des Großlogentages 1928 in
| |
− | Stuttgart stattfand. Beteiligt waren Vertreter beider mit dem FzaS befreundeten französischen
| |
− | Obedienzen, des Grand Orient de France und der Grande Loge de France. In
| |
− | der Stadt waren Anschläge folgenden Inhalts angebracht: Öffentliche Kundgebung für die
| |
− | Verständigung der deutschen und französischen Völker: Sind sie Erbfeinde oder Brüder?
| |
− | – Französische Redner: Major Gaston Moch, Charles Bernardin, Jean Dohm. Deutsche
| |
− | Redner: General Günther von Bresler, Major Franz Carl Endres, Fr. W. Wagner. Das Mitteilungsblatt
| |
− | der Grande Loge de France berichtete über die Veranstaltung. Ein Auszug daraus
| |
− | vermittelt einen lebendigen Eindruck von Tendenz und zeitgeschichtlichem Kolorit:
| |
− | »Die Veranstaltung wurde durch ein Gedicht von Br. Endres, das von Herrn Elwenspoek
| |
− | vorgetragen wurde, eröffnet. Die Ansprachen
| |
− | waren durch verschiedene Gesänge,
| |
− | die von dem Chor wundervoll vorgetragen wurden, umrahmt. Die Ansprachen
| |
− | der Brr. Bernardin und Dohm wurden durch Br. Schoettke, Saarbrücken,
| |
− | über-
| |
− | 19 Neuberger, Helmut: Freimaurerei und Nationalsozialismus. Das Ende der deutschen Freimaurerei,
| |
− | Hamburg 1980, S. 258.
| |
− | 20 Zitiert nach Steffens, Manfred: Freimaurer in Deutschland. Bilanz eines Vierteljahrtausends, Frankfurt
| |
− | 1966, S. 419.
| |
− | 21 Vgl. zu Penzigs freimaurerischen Anschauungen: Penzig, Rudolph: Logengespräche über Politik und Religion,
| |
− | Leipzig o.J. (1923), ders.: Freimaurer-Lehrbuch, Oldenburg o.J.
| |
− | 57
| |
− | setzt, während Br. Moch deutsch sprach. Der Empfang der französischen Redner
| |
− | durch das Publikum war absolut begeistert. Eine einzige Unterbrechung ereignete
| |
− | sich, sie war aber nicht an die französischen Redner gerichtet, sondern galt dem deutschen
| |
− | General von Bresler. Sie war hervorgerufen durch zwei junge Mitglieder der nationalistischen
| |
− | Hitler-Organisation,
| |
− | die sehr ruhig aufgefordert wurden, sich zurückzuziehen.
| |
− | Nach Schluß stimmten ca. 2 Dutzend Mitglieder dieser Organisation,
| |
− | die
| |
− | sich auf dem Platz vor dem Gebäude eingestellt hatten, chauvinistische Gesänge an,
| |
− | die Polizei hat sie sehr schnell zerstreut.«22
| |
− | Insgesamt ist wohl festzustellen, dass Friedensbemühungen, insbesondere Bemühungen um
| |
− | Annäherungen im deutsch-französischen Verhältnis, trotz der Ausnahmestellung des FzaS
| |
− | und (später) der Symbolischen Großloge mehr von französischer als von deutscher Seite ausgingen.
| |
− | Sie fanden nur beim humanitären und Reformflügel der deutschen Freimaurerei Resonanz
| |
− | und stießen beim innerhalb des Bundes dominierenden Sektor der altpreußischen
| |
− | Großlogen23 weitgehend auf Ablehnung.
| |
− | Als Beispiele für pazifistische Bemühungen sind insbesondere die »Freimaurerischen
| |
− | Manifestationen«24, die auf Initiative prominenter kontinentaleuropäischer Freimaurer
| |
− | zwischen 1907 und 1913 jährlich in einer anderen europäischen Stadt stattfanden, um
| |
− | für Weltfrieden und Weltbrüderlichkeit, insbesondere aber für die Verständigung zwischen
| |
− | Deutschland und Frankreich zu »manifestieren«. Für den Sommer 1914 war eine Manifestation
| |
− | in Frankfurt/Main vorgesehen, die wegen des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs nicht
| |
− | stattfinden konnte. Die erste Nachkriegsmanifestation auf alter Grundlage fand im August
| |
− | 1925 in Basel statt. In der Folgezeit wurden übernationale freimaurerische Kongresse mit
| |
− | pazifistischem Programm von der Allgemeinen (Universellen) Freimaurerliga veranstaltet,
| |
− | einer auf die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg (1909/1913) zurückgehenden, aus der Esperanto-
| |
− | Bewegung hervorgegangenen Vereinigung von pazifistisch eingestellten, an Völkerverbindung
| |
− | interessierten Einzelmitgliedern regulärer Großlogen vieler Länder – parallel zu
| |
− | den »Manifestationen«, die von einem neuen, vom Grand Orient und der Grande Loge
| |
− | de France gemeinsam mit dem FzaS gebildeten Komitee mit Veranstaltungen in Verdun
| |
− | (1928), Mannheim (1929), Besançon (1939) und Freiburg (1932) durchgeführt wurden.25
| |
− | Hervorzuheben sind weiter die Aktivitäten der Association Maçonique Internationale
| |
− | (A.M.I.)26, einer internationalen masonischen Vereinigung von Großlogen mit dem Sitz
| |
− | 22 Der Convent der aufgehenden Sonne, in: Das neue Freimaurertum. Zeitschrift des Freimaurerbundes
| |
− | zur aufgehenden Sonne, 22. Jg., H. 10, 1928, S. 290.
| |
− | 23 Das Internationale Freimaurerlexikon von Lennhoff/Posner (Ausgabe 1932, Spalte 340) gibt die Gesamtzahl
| |
− | der Mitglieder »regulärer« deutscher Großlogen für 1930 mit ca. 76.000 an. Davon entfielen
| |
− | ca. 54.000 (ca. 70 %) auf die drei »altpreußischen« Großlogen: Große National-Mutterloge »Zu den drei
| |
− | Weltkugeln« (22.000), Große Landesloge der Freimaurer von Deutschland (20.000) und Große Loge von
| |
− | Preußen, genannt »Zur Freundschaft« (12.000). Zur Gruppe der Reformfreimaurer (FzaS und Symbolische
| |
− | Großloge, zu Letzterer traten 1930 etwa 600 ehemalige FzaS-Mitglieder über) dürften zur gleichen
| |
− | Zeit etwa 2500 Freimaurer gehört haben.
| |
− | 24 Lennhoff, Eugen/Posner, Oskar/Binder, Dieter A.: Internationales Freimaurerlexikon, München 2000,
| |
− | S. 542.
| |
− | 25 Vgl. Berger, Joachim/Grün, Klaus-Jürgen: Weimarer Republik und Nationalsozialismus, in: Geheime Gesellschaft.
| |
− | Weimar und die deutsche Freimaurerei, München/Wien 2002, S. 310 (HDM).
| |
− | 26 Lennhoff/Posner/Binder: a.a.O., S. 70–72.
| |
− | 58
| |
− | in Genf, die 1921 auf Initiative der Schweizerischen Großloge »Alpina« gegründet wurde
| |
− | und bis 1932 eine Reihe von Konventen durchführte, auf denen neben allgemeinen Fragen
| |
− | zu Struktur und Aufgaben der Freimaurerei auch Menschenrechts- und Friedensfragen
| |
− | erörtert wurden. Die A.M.I. war in ihrer Wirkung von Anfang an dadurch begrenzt, dass
| |
− | die englische und nordamerikanische Freimaurerei (mit Ausnahme der Großloge von New
| |
− | York) nicht daran teilnahmen. Insbesondere die Vereinigte Großloge von England (UGLoE)
| |
− | befürchtete, dass sich die Einigungsbemühungen der kontinentalen Großlogen gegen
| |
− | die Aufrechterhaltung der traditionellen Regularitätslandmarken (»belief in a supreme
| |
− | being, renouncement of the political, and exclusion of women«) auswirken könnten, und
| |
− | bemühte sich, vor allem auf Initiative des langjährigen Präsidenten des Board of General
| |
− | Purposes der UGLoE, Sir Alfred Robbins, um die Etablierung einer »Masonic League of
| |
− | Nations«, deren Ziel es war, die »English-speaking Masonry« gegenüber der kontinentaleuropäischen
| |
− | Freimaurerei (im damaligen englischen Sprachgebrauch »Latin Masonry«)
| |
− | abzugrenzen, die im Verdacht stand, Prinzipien der Regularität in Frage zu stellen.27 Doch
| |
− | auch gegenüber der »altpreußischen« Freimaurerei gab es seitens der »English-speaking Masonry
| |
− | « Mitte der 1920er Jahre prinzipielle Abgrenzungen. So heißt es etwa als Erläuterung
| |
− | zur ersten der Alten Pflichten (Concerning God and Religion) im Masonic Text Book der
| |
− | Grandlodge of Maine im Anschluss an eine Zurückweisung der rituellen Eliminierung des
| |
− | Großen Baumeisters aller Welten durch den Grand Orient de France:
| |
− | »Attempts have also been made in the opposite direction. In Prussia, Isrealites have
| |
− | bee excluded. This is equally a violation of the landmark: while a belief in the Fatherhood
| |
− | of God and the Brotherhood of Man is absolutely essential, any additional reqirements
| |
− | are innovations.«28
| |
− | Im Kontext des englischen Abgrenzungsverhaltens gegenüber der A.M.I. ist auch darauf hinzuweisen,
| |
− | dass die Bekanntgabe der Basic Principles of Grandlodge Recognition seitens der
| |
− | UGLoE durch das Board of General Purposes unter der Leitung von Alfred Robbins am 4.
| |
− | September 1929 erfolgte.
| |
− | Die erste offizielle Zusammenkunft zwischen »regulären« deutschen und französischen
| |
− | Freimaurern fand am 27. Februar 1927 in Frankfurt/Main statt.29 Angeregt wurde die »Frankfurter
| |
− | Begegnung« von zwei führenden französischen Freimaurern, Senator Brenier, dem
| |
− | Präsidenten des Ordensrats des Grand Orient de France, und Maurice Monier, dem Großmeister
| |
− | der Grande Loge de France, die sich im Januar 1927 mit gleichlautenden Schreiben
| |
− | an den Großmeister der Großen Mutterloge des Ekklektischen Freimaurerbundes, Ludwig
| |
− | Ries, wandten und diesem eine Zusammenkunft zwecks Erörterung der Möglichkeiten
| |
− | einer Aussöhnung zwischen den deutschen und französischen Freimaurern vorschlugen.
| |
− | Ries akzeptierte, informierte die übrigen deutschen Großmeister über das vorgesehene
| |
− | Treffen und stellte ihnen bzw. von ihnen benannten Vertretern eine Teilnahme anheim.
| |
− | Eine solche Mitwirkung kam jedoch nicht zustande. Der altpreußische Großmeisterverein
| |
− | lehnte eine Beteiligung ab, u.a. mit der Begründung, Verhandlungen mit französischen
| |
− | 27 Vgl. Harland-Jacobs, Jessica L.: Builders of Empire. Freemasons and British Imperialism, 1717–1927,
| |
− | Chapel Hill 2007, S. 289f.
| |
− | 28 The Maine Masonic Text Book for the Use of Lodges, 1923, S. 164.
| |
− | 29 Lennhoff/Posner/Binder: a.a.O., S. 292.
| |
− | 59
| |
− | Freimaurern seien nicht möglich, »solange Deutschland nicht frei ist von der ihm zu Unrecht
| |
− | aufgebürdeten Last, die Schuld am Weltkrieg zu tragen, und solange noch Teile des
| |
− | deutschen Reiches unter dem Druck fremder Besatzung stehen«. So führten die Vertreter
| |
− | des Eklektischen Bundes das Gespräch allein und sprachen die zwischen Deutschland
| |
− | und Frankreich bestehenden Spannungen offen an. Die französischen Vertreter zeigten ein
| |
− | begrenztes Entgegenkommen. Wirkliche Ergebnisse konnten aufgrund des Schwergewichts
| |
− | der Probleme und der auf beiden Seiten unzureichenden Autorisierung der Gesprächspartner
| |
− | jedoch nicht erreicht werden. Immerhin bestätigte auch die Frankfurter Begegnung
| |
− | von 1927, dass das »Rapprochement franco-allemand« aus freimaurerischer Sicht mehr ein
| |
− | Anliegen der französischen als der deutschen Freimaurer gewesen ist.
| |
− | 3. Deutsch-nationale Radikalisierung mit »völkischen«
| |
− | Elementen
| |
− | Die nachfolgenden Feststellungen bedürfen einer Vorbemerkung. Sie implizieren für einen
| |
− | großen Teil der deutschen Freimaurerei, insbesondere die »altpreußische«, erhebliche Abweichungen
| |
− | von dem, was durch die Geschichte der Freimaurerei hindurch das freimaurische
| |
− | Ideal der Weltoffenheit und Toleranz genannt worden ist. Diese Abweichungen müssen
| |
− | im Rahmen einer Geschichte – einer »ganzen« Geschichte – der deutschen Freimaurerei
| |
− | im 20. Jahrhundert sichtbar gemacht werden. Dabei sind Fakten quellenmäßig zu belegen,
| |
− | Aussagen haben sich um Objektivität zu bemühen, Differenzierungen sind vorzunehmen.
| |
− | Die Objektivität des Betrachters und sein Bemühen um ein »Verständnis aus der Zeit heraus
| |
− | « verlangt allerdings keineswegs den Verzicht auf moralisch begründete Urteile über das
| |
− | Gewesene.30 Gewiss gilt für den Betrachter immer ein »Ich weiß nicht, wie ich mich in der
| |
− | damaligen Situation verhalten hätte«. Doch derartige Überlegungen sollten verhaltenskritischen
| |
− | historischen Reflexionen nicht im Wege stehen. Einmal bedeutet, nicht zu wissen,
| |
− | wie man sich selbst verhalten hätte, keineswegs, dass man nicht wüsste, wie man sich hätte
| |
− | verhalten sollen. Zum anderen haben sich andere Teile der deutschen Gesellschaft und auch
| |
− | der deutschen Freimaurerei anders, nämlich ablehnend gegenüber aggressiven, judenfeindlichen
| |
− | und zuletzt völkischen sowie nazistischen Strömungen verhalten. Und schließlich zeigen
| |
− | auch die Beispiele einer Reihe anderer, ebenfalls von Kriegsfolgen und Weltwirtschaftkrise
| |
− | betroffenen europäischen Länder, dass Krisenüberwindung ohne Verzicht auf Demokratie,
| |
− | gesellschaftlichen Pluralismus und Friedensorientierung möglich war und wohl auch
| |
− | in Deutschland möglich gewesen wäre, wenn das deutsche Bürgertum über Kraft und Konzeptionen
| |
− | verfügt hätte, dies wirklich zu wollen.
| |
− | Die Gründe für die verbreitete Abwehrhaltung gegenüber friedens- und versöhnungspolitischen
| |
− | Aktivitäten innerhalb der deutschen Freimaurerei sind leicht zu identifizieren.
| |
− | Sie hängen zunächst und vor allem mit dem Ausgang des Ersten Weltkriegs zusammen,
| |
− | der von der Mehrheit der deutschen Freimaurer – wie von der Mehrheit des deutschen
| |
− | Bürgertums insgesamt – als nationale Schande empfunden wurde, wobei für das Gefühl von
| |
− | Verletzung und Schmerz freimaurerseits zuweilen auch sehr übersteigerte Formulierungen
| |
− | 30 Vgl. hierzu und zum Folgenden Busche, Jürgen: Rezension zu Frei, Norbert: 1945 und Wir – Das Dritte
| |
− | Reich im Bewusstsein der Deutschen, München 2005, in: Deutschland Radio, 4.3.2005.
| |
− | 60
| |
− | gewählt wurden. So beschloss Ernst Horneffer seine nach Kriegsende publizierte Schrift
| |
− | »Erkenntnis. Die Tragödie des deutschen Volkes« mit folgendem Aufschrei:
| |
− | »Wir haben das Recht und die Pflicht, diesen Ausgang des Weltkrieges als Unsinn,
| |
− | Wahnsinn, als gänzliche Umkehrung aller natürlichen, gerechten, heilbringenden
| |
− | Ordnung Europas aufzufassen, als Fälschung der Weltgeschichte.
| |
− | Auf ein derartiges ungeheures Geschehen aber, das uns um unsere Berufung und
| |
− | Bestimmung, um unser idealstes Recht, das Recht unseres Seins und Lebens betrogen
| |
− | hat, können wir nicht nur mit der Erkenntnis und mit dem Urteil antworten.
| |
− | Das muß auch ein Gefühl in uns auslösen. Letzte, schwerste furchtbarste Gefühle
| |
− | aber können keine Worte finden. Sie brechen schließlich nur in einem Schrei empor.
| |
− | Der Schrei des Schmerzes ist es, wenn Mensch es nicht mehr trägt. Und so
| |
− | rufe ich denn als Einziges, Letztes der gequälten Seele hinaus den Schrei – o möchte
| |
− | er alle Deutschen erreichen! – den einen Schrei: Mord, Mord an einem großen
| |
− | Volke! Und solange ich lebe, bis auf mein Totenbett, oder wo mich die Sichel des
| |
− | Todes ereilen wird, bis zum letzten Blick und Atemzug werde ich rufen: Mord,
| |
− | Mord!«31
| |
− | Als unmittelbar nach Ende des Krieges in zunehmendem Maße Kriegsschuldbehauptungen
| |
− | den politischen Diskurs bestimmten, in denen die vermeintliche »jüdisch-freimaurerische
| |
− | Verschwörung« eine dominante Rolle spielte, sahen sich die meisten deutschen Freimaurer
| |
− | in noch stärkerem Maße veranlasst, patriotische Treue zu bekunden und nationale Standpunkte
| |
− | zu vertreten. Als es Mitte der 1920er Jahre zu einem heftigen Angriff des »Nationalverbandes
| |
− | deutscher Offiziere« auf die Freimaurerei kam, wurde aus dem Kreis der Freimaurer
| |
− | u.a. folgendermaßen poetisch repliziert:32
| |
− | »Auch für den deutschen Freimaurer gilt, was der junge Dichter B. v. Selchow sagt:
| |
− | Ich bin geboren, deutsch zu fühlen, / Bin ganz auf deutsches Denken eingestellt, / Erst
| |
− | kommt mein Volk, dann all die andern, vielen, / Erst meine Heimat, dann die Welt.«
| |
− | Der Autor des Beitrags in der Zeitschrift »Am rauhen Stein« (von der Redaktion vorgestellt
| |
− | als Professor, Oberstleutnant a.D. und Direktor der deutschen Heeresbücherei) schloss seinen
| |
− | Beitrag mit folgenden Worten:
| |
− | »Freimaurer und Offiziere, werdet zu rechten Führern unseres Volks … und wenn der
| |
− | Tag kommt, der das letzte von Euch fordert, dann soll er Männer finden, begeistert
| |
− | und einig, kraftvoll und opferwillig und würdig der großen Ahnen, der herrlichen
| |
− | deutschen Männer der Freiheitskriege.«33
| |
− | 31 Horneffer, Ernst: Erkenntnis. Die Trägödie des deutschen Volkes, Kassel o.J. (1919?), S. 207.
| |
− | 32 Klefeker, Siegfried: Freimaurerei und Offizierskorps. Eine Entgegnung auf die Angriffe des Nationalverbandes
| |
− | deutscher Offiziere, in: Am rauhen Stein, Maurerische Zeitschrift der Großen Loge von Preußen
| |
− | genannt »Zur Freundschaft«, Jg. 21, 1924, H. 4, S. 49–57, hier S. 52.
| |
− | 33 Ebenda, S. 57.
| |
− | 61
| |
− | Die Redaktion setzte hinzu:
| |
− | »Der vorliegende Aufsatz eignet sich vortrefflich zur Verbreitung in weiteren Kreisen.
| |
− | Insbesondere den früheren und jetzigen Angehörigen des Offizierskorps sollte er in
| |
− | die Hände gegeben werden.«34
| |
− | Sehr wesentlich hingen die Positionen der deutschen Freimaurer aber auch mit ihrem Platz
| |
− | in der deutschen Gesellschaft und mit der politischen Kultur dieser Gesellschaft selbst zusammen.
| |
− | Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts fungierten die deutschen Logen – unabhängig
| |
− | davon, ob sie den altpreußischen oder den humanitären Großlogen angehörten – als stabile
| |
− | Assoziationsformen der bürgerlichen Mittel- und Oberschichten.35 Sie verstanden sich
| |
− | als Übungsstätten von Bürgertugenden wie Anstand, Respekt, Hilfsbereitschaft und Vaterlandsliebe,
| |
− | spielten – nicht zuletzt aufgrund obrigkeitlicher Protektion – eine anerkannte
| |
− | Rolle in der deutschen Gesellschaft und ordneten sich ihrerseits loyal in die bestehende
| |
− | politische Ordnung ein. Die Logen waren fest im gehobenen Bürgertum verankert, wobei
| |
− | die Anteile der Funktionselite (Beamte, Militärs), der kulturellen Elite (Professoren, Lehrer,
| |
− | Wissenschaftler, schaffende und ausführende Künstler) und der ökonomischen Elite (Unternehmer,
| |
− | Bankiers, leitende Angestellte) von Loge zu Loge unterschiedlich ausfielen. Ausschlaggebend
| |
− | hierfür waren sowohl die spezifischen Milieus der einzelnen Logen als auch
| |
− | der Charakter der Logenstandorte.
| |
− | Wenn auch festgestellt werden kann, dass »Bürgerlichkeit« weltweit ein Grundzug der
| |
− | Freimaurer gewesen ist, so unterschieden sich doch die bürgerlichen Gesellschaften Europas
| |
− | und Nordamerikas, in denen die Freimaurerei als Assoziationsform der Geselligkeit
| |
− | weithin vertreten war, in ihrem gesellschaftlichen Selbstverständnis nicht unwesentlich voneinander.
| |
− | Maßgebend war dabei vor allem der Grad, in welchem in ihnen die »westlichen«
| |
− | Werte von Demokratie und gesellschaftlichem Pluralismus vertreten waren, und hieran
| |
− | gemessen war die deutsche Gesellschaft weniger »westlich« geprägt als die Gesellschaften
| |
− | Frankreichs, Englands oder der Vereinigten Staaten.36 Gewiss, die deutsche Tradition der
| |
− | Aufklärung und des Liberalismus vermittelte bis zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts viele
| |
− | Impulse in andere Länder, und Deutschland war gewiss kein Land, das dem Westen kulturell
| |
− | nicht verbunden gewesen wäre und nicht an seiner Entwicklung teilgenommen hätte.
| |
− | Gleichwohl: Der politischen Wertegemeinschaft westlicher Länder gehörte Deutschland
| |
− | in politisch entscheidenden Phasen der jüngeren Geschichte nicht an – nach 1918 noch
| |
− | weniger als vor 1914, und schon gar nicht nach 1933.
| |
− | Insbesondere seit dem Ersten Weltkrieg wurden den »Ideen von 1789« in Theorie und
| |
− | Praxis die »Ideen von 1914« entgegengesetzt. Eigene Beiträge zur Tradition von Aufklärung
| |
− | und Toleranz traten in den Hintergrund oder wurden gar verleugnet, lange bevor die Nazis
| |
− | Lessings Nathan von den deutschen Bühnen verbannten. »Machtgeschützte Innerlichkeit«
| |
− | (Thomas Mann37) trat an die Stelle demokratischer Offenheit, westliche Zivilisation wurde
| |
− | 34 Ebenda, S. 49.
| |
− | 35 Vgl. Hoffmann, Stefan-Ludwig: Die Politik der Geselligkeit, a.a.O., insbes. S. 128–202.
| |
− | 36 Vgl. Winkler, August Heinrich: Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte 1806–1933, Bonn
| |
− | 2002; ders.: Der lange Weg nach Westen II. Deutsche Geschichte 1933–1990, Bonn 2005.
| |
− | 37 Mann, Thomas: Leiden und Größe Richard Wagners, Gesammelte Werke, Bd. IX, Frankfurt/Main 1990,
| |
− | S. 419.
| |
− | 62
| |
− | gegenüber deutscher Kultur abgewertet, Gemeinschaft wurde verklärt, Gesellschaft verdammt.
| |
− | Der Historiker Heinrich August Winkler hat das Verhältnis Deutschlands zum
| |
− | Westen in seiner Berliner Abschiedsvorlesung im Februar 2007 folgendermaßen zusammengefasst:
| |
− | »In keinem Land des Okzidents stießen die demokratischen Ideen des Westens, und
| |
− | das heißt auch: der europäischen Aufklärung, auf so hartnäckigen Widerstand wie
| |
− | in Deutschland. Es bedurfte der Erfahrung der nationalsozialistischen Diktatur, des
| |
− | Zweiten Weltkriegs, des Holocaust und des ›Zusammenbruchs‹ von 1945, der zweiten
| |
− | Niederlage Deutschlands im 20. Jahrhundert, um den antiwestlichen Vorurteilen
| |
− | von Eliten und breiten Schichten der Bevölkerung allmählich den Boden zu
| |
− | entziehen.«38
| |
− | Die später folgenden Beispiele (Erster Weltkrieg, Antisemitismus, Nationalsozialismus) sollen
| |
− | jeweils spezifische Facetten freimaurerischer Identifizierung mit den Hauptlinien der
| |
− | Orientierung nach Rechts innerhalb des deutschen Bürgertums verdeutlichen und aufzeigen,
| |
− | dass in einige Gruppen der Freimaurerei zunehmend auch völkisches Gedankengut Eingang
| |
− | fand, wenn diese Gruppierungen auch kein Bestandteil der völkischen Bewegung gewesen
| |
− | sind.39 Die Beispiele sind begrenzt, reichen aber aus, um verhängnisvolle Tendenzen zu
| |
− | veranschaulichen. Die Positionen, die dabei innerhalb der deutschen Freimaurerei vertreten
| |
− | wurden, waren nicht einheitlich. Jedoch wurde im Verlauf der 1920er Jahre deutlich, dass die
| |
− | nationalistischen Tendenzen bei den »altpreußischen« Großlogen besonders ausgeprägt waren,
| |
− | insbesondere seitdem diese mit dem 1922 erfolgten Austritt aus dem Deutschen Großlogenbund40
| |
− | eindeutige Signale in Richtung nationale Orientierung, Ablehnung der Weimarer
| |
− | Republik, Absage an alle pazifistischen Tendenzen und Trennung vom internationalen
| |
− | Freimaurerkonsens der »Alten Pflichten« gesetzt hatten. Lennhoff/Posner kommentierten
| |
− | im Jahre 1932:
| |
− | »Der Austritt war also sichtlich vom Bestreben geleitet, der völkischen Zeitströmung
| |
− | Rechnung zu tragen und die Scheidung in ein christliches und ein humanitäres Lager
| |
− | deutlich zu markieren«.41
| |
− | In mancherlei Hinsicht beachtenswert war die Festansprache, die Obr. Rudolf Rosbach anlässlich
| |
− | der Festarbeit zum Johannisfest der GNML »3WK« am 24. Juni 1924 in Berlin gehalten
| |
− | hat und in der es u.a. hieß:
| |
− | 38 Winkler, Heinrich August: Der Westen braucht den Streit. Was heißt westliche Wertegemeinschaft?,
| |
− | Abschiedsvorlesung an der Berliner Humboldt-Universität, zitiert nach Kölner Stadtanzeiger, ksta.de/
| |
− | html/artikel/1171445238540.shtml, Download 26.2.2007.
| |
− | 39 Vgl. Puschner, Uwe: Völkisch. Plädoyer für einen »engen« Begriff, in: Ciupke, Paul/Heuer, Klaus/Jelich,
| |
− | Franz-Josef/Ulbricht, Justus H. (Hrsg.): »Erziehung zum deutschen Menschen«. Völkische und nationalkonservative
| |
− | Erwachsenenbildung in der Weimarer Republik. Geschichte und Erwachsenenbildung, Bd.
| |
− | 23, Essen 2007.
| |
− | 40 Lennhoff, Eugen/Posner, Oskar: Internationales Freimaurerlexikon, Wien 1932, Spalten 346, 347.
| |
− | 41 Ebenda.
| |
− | 63
| |
− | »Es geht eine gewaltige geistige Bewegung durch unser Volk, die auch die christliche
| |
− | deutsche Freimaurerei … nicht unberührt gelassen hat, eine Bewegung, die man kurz
| |
− | als die völkische zu bezeichnen pflegt.
| |
− | Auch die völkische Bewegung geht davon aus, dass der Abfall vom deutschen Geist
| |
− | unser Unglück verschuldet habe und daher nur die Rückkehr zu ihm uns wieder aus
| |
− | unserem Unglück befreien könne. Die völkische Bewegung ist nicht, wie viele glauben,
| |
− | in unseren Tagen künstlich entfacht worden, sondern sie ist sie natürliche Reaktion
| |
− | des deutschen Geistes gegen die Überfremdung unseres staatlichen und geistigen
| |
− | Lebens.«
| |
− | Über den Inhalt der Rede hinaus bemerkenswert ist einmal, dass der am Johannisfest teilnehmende
| |
− | Reichsaußenminister Gustav Stresemann, Mitglied einer 3WK-Loge, einen Tag später,
| |
− | am 25. Juni 1924, in einem Brief an den National-Großmeister Karl Habicht über Inhalt
| |
− | und Tenor der Festrede engagiert Beschwerde führte:
| |
− | »Ich verwahre mich … dagegen, dass in der Weise, in der es geschehen ist, völkisches
| |
− | Denken nach außen und innen so gepredigt wird, dass der Eindruck entstand, als befände
| |
− | man sich in einer Wahlversammlung der Deutschvölkischen Freiheitspartei.«42
| |
− | Bemerkenswert ist weiter, dass das nunmehr von der GNML »3WK« und der »Großen Loge
| |
− | von Preußen« gemeinsam herausgegebene »Ordensblatt« in der Novemberausgabe 1934 –
| |
− | also kurz vor der erzwungenen Einstellung – die Rede Rosbachs mit folgender Einleitung
| |
− | abdruckte:
| |
− | »Die Festrede, die Obr. Rudolf Rosbach hielt, hat diese Feier … zum Erlebnis gemacht
| |
− | … Damals schien die von Adolf Hitler getragene Bewegung fast erledigt zu
| |
− | sein, denn der Führer und seine Mitkämpfer waren … in Haft, und niemand konnte
| |
− | im Juni 1924 voraussehen, dass eine Amnestie dem Führer und seinen Mitkämpfern
| |
− | im Dezember die Freiheit geben und den Aufschwung der Bewegung einleiten werde.
| |
− | Um so höher ist diese Rede zu werten als Zeugnis für den deutschen Geist, wie er in
| |
− | den altpreußischen Logen gepflegt wird. Sie widerlegt schlagend die Leute, die seit
| |
− | Jahren und heute mehr denn je nicht müde werden, die christlichen altpreußischen
| |
− | Logen als undeutsch und international zu verlästern. Wäre dieser Geist damals in allen
| |
− | deutschen Kreisen des Volkes lebendig und gleich stark gewesen – Deutschland
| |
− | hätte nicht neun weitere Jahre auf den Aufbruch warten müssen.«43
| |
− | Bei der nun immer mehr zunehmenden nationalen und zugleich völkischen Orientierung
| |
− | der altpreußischen Freimaurerei spielten der »Bielefelder Ring« und der »Wetzlarer Ring«, die
| |
− | beide 1925 von Logen der Großen National-Mutterloge »Zu den drei Weltkugeln« gegründet
| |
− | wurden, eine besondere Rolle. So beschloss der »Wetzlarer Ring« bereits auf seiner Grün-
| |
− | 42 Wiedergabe des Briefes in: Große National-Mutterloge »Zu den drei Weltkugeln« im Verband der Vereinigten
| |
− | Großlogen von Deutschland, Bruderschaft der Freimaurer: 1933–2000. Versuch einer Standortbestimmung,
| |
− | 3 Bände, Berlin 2002, hier Band III, S. 895–898.
| |
− | 43 Editorial »Vom rechten deutschen Geist«, Wiedergabe ebenda, S. 900.
| |
− | 64
| |
− | dungsversammlung am 4. Juli 1925, den 3WK-Logen für ihre Satzungen folgende Formulierung
| |
− | zur Regelung der Mitgliedschaft vorzuschlagen:
| |
− | »Mitglied unserer Loge kann nur werden, wer deutscher Abstammung ist und sich
| |
− | zur christlichen Weltanschauung bekennt. Suchende, deren Eltern oder Großeltern
| |
− | jüdischer Abstammung sind oder deren Frauen jüdischer Abstammung sind, können
| |
− | nicht aufgenommen werden. Für Annahme ständig Besuchender gilt dasselbe.«44
| |
− | Dass die nationalistische Haltung einschließlich mancher völkischer Elemente insbesondere
| |
− | der »altpreußischen« Freimaurerei keineswegs eine taktische Orientierung zur Überlebenssicherung
| |
− | im »Dritten Reich« gewesen ist – wie später gern behauptet wurde –, sondern
| |
− | eine langfristige konzeptionelle Grundhaltung, bringt auch der »Johannisfestgruß 1930« der
| |
− | »Großen Landesloge« zum Ausdruck, in dem es u.a. heißt:
| |
− | »Wir jedenfalls weisen jeden Humanitätsdusel in jeglicher Form und unter jeglichem
| |
− | Namen, wie Internationalismus, Pazifismus oder wie sonst immer, weit von
| |
− | uns, nicht etwa, weil es unerreichbare Ideale, sondern weil es überhaupt keine erstrebenswerten
| |
− | Ideale sind. Ihre tatsächliche Erreichung würde nicht zum Aufstieg der
| |
− | Menschheit führen, sondern zu ihrem Verderben ausschlagen, weil diese ›Ideale‹ naturwidrig
| |
− | und gegen jede menschliche und göttliche Ordnung sind.«45
| |
− | Diametral entgegengesetzte, sich gegenseitig bekämpfende Interessen stünden sich gegenüber.
| |
− | Dies gelte auch für die Freimaurerei:
| |
− | »In ihr bekämpfen sich die Gegensätze der Volkscharaktere: ›germanisch‹ oder ›romanisch‹,
| |
− | der Zwecke: ›politikfrei oder politisch‹, der Grundsätze: ›vaterländisch oder
| |
− | vaterlandslos‹, der Mittel: ›Vertiefung des Innenlebens oder Betonung der Geselligkeit‹,
| |
− | und darum wäre eine internationale oder ›Weltfreimaurerei‹ ein Unding, ein
| |
− | Widerspruch in sich, eine den Gedanken und die Ziele der Freimaurerei aufhebende
| |
− | Missgeburt, nicht aber ein erstrebenswertes Ideal.«46
| |
− | Auch hier wird deutlich, wie sehr der Denk- und Wahrnehmungsrahmen großer Teile des
| |
− | deutschen Bürgertums – und als Sektor davon der Freimaurerei – die Ausbreitung des Nationalsozialismus
| |
− | begünstigte und wie sehr er verhinderte, diese »Bewegung« rechtzeitig als
| |
− | das zu erkennen, was sie war: ein tödlicher Anschlag auf Frieden, Freiheit und Demokratie –
| |
− | soweit dies überhaupt erkannt werden sollte. Denn Demokratie war, was in diesem Kontext
| |
− | nur gestreift werden kann, für große Teile der deutschen Freimaurer kein politisches Leitbild.
| |
− | Die »nationale« Freimaurerei stand der Weimarer Republik weitgehend ablehnend gegenüber,
| |
− | verunglimpfte ihre Farben als »schwarz, rot, gelb«47, verspottete den »Parteienstreit«
| |
− | 44 Gründungsprotokoll des Wetzlarer Ringes, GNML »3WK« vom 4. Juli 1925, Wiedergabe ebenda, S. 911–916.
| |
− | 45 Zirkelkorrespondenz, 1930, S. 267f., zitiert nach: Große Landesloge: Im Ordenshause der Großen Landesloge
| |
− | der Freimaurer von Deutschland, Deutsch-Christlicher Orden, Berlin 1935, S. 7.
| |
− | 46 Ebenda.
| |
− | 47 Zur Aufklärung, Informationsblatt der Ordensgruppe (früher Loge) »Zu den drei Balken« in Münster,
| |
− | Archiv der Großloge AFuAM, Altenburg, A – 0006.
| |
− | 65
| |
− | und sehnte sich nach Volksgesamtheit und Führerprinzip. Fenner und Schmidt-Sasse fassen
| |
− | die im freimaurerischen Schrifttum vertretenen Positionen zusammen und bilanzieren:48
| |
− | »Die Einheit des Volkes im Deutschtum soll den Grundstein der Erneuerung
| |
− | bilden:49 Gegen die Parteienvielfalt setzen die nationalen Freimaurer die Vorstellung
| |
− | vom Volk als einem homogenen Block, gefasst in das Bild vom Dom aus winkelgerechten
| |
− | Steinen. Die berufenen Führer sollen die Massen zu einem Vaterland neuer
| |
− | deutscher Größe führen.50 Als Errungenschaften eines solchen neuen Vaterlands werden
| |
− | als erstrebenswert genannt: wirtschaftliche Sanierung und Wiedergewinnung der
| |
− | früheren Wehrhaftigkeit und Stärke51 sowie Abkehr von der sozialen Gesellschaft und
| |
− | Schaffung eines Gemeinschaftsstaates. Voraussetzung dieser deutschen Wiedergeburt
| |
− | ist die ›Abwehr alles Undeutschen‹52. Der ›verniggerten Unkultur‹53 soll der Geist
| |
− | deutscher Sittlichkeit entgegen gehalten werden.«
| |
− | 3.1 Stichwort Erster Weltkrieg
| |
− | Als patriotische Bürger identifizierten sich die meisten deutschen Freimaurer unmittelbar
| |
− | nach Kriegsausbruch sowohl mit der vorherrschenden Charakterisierung des Kriege
| |
− | (»Ein furchtbarer, auf die Vernichtung unseres teuren Vaterlandes gerichteter Kampf ist
| |
− | uns aufgedrängt worden«54), als auch mit der begeisterten Stimmung weiter Kreise der Bevölkerung
| |
− | (»In den Reihen der begeistert für die Ehre und Freiheit der heimischen Lande
| |
− | eintretenden deutschen Männer befinden sich zahlreiche Brüder unseres Bundes«55) und
| |
− | nahmen an den Maßnahmen zur materiellen Unterstützung des Krieges teil. Die »Große
| |
− | National-Mutterloge ›Zu den drei Weltkugeln‹« rief für den 15. August 1914 eine außerordentliche
| |
− | Versammlung der Großloge ein mit dem einzigen Tagesordnungspunkt »Bewilligung
| |
− | von Mitteln zur Unterstützung von Kriegsteilnehmern und deren Familien«.56
| |
− | Am 22. August fand eine »gemeinsame patriotische Arbeit« der Berliner 3WK-Logen statt.
| |
− | Großmeister Wegner und Großredner Kleiber hielten die Ansprachen, die die Frontstellungen
| |
− | des Krieges klären sollten:57 Auf der einen Seite standen die Deutschen, deren »kai-
| |
− | 48 Fenner, Wolfgang/Schmidt-Sasse, Joachim: Die Freimaurer als »nationale Kraft« vor 1933, in: Koebner,
| |
− | Thomas (Hrsg.): Weimars Ende. Prognosen und Diagnosen in der deutschen Literatur und politischen
| |
− | Publizistik 1930–1933, Frankfurt 1982, S. 223–244, hier S. 228.
| |
− | 49 »Wahre deutsche Volksgemeinschaft« schreibt August Horneffer in: Was erwarten wir von Nationalsozialismus,
| |
− | in: Am rauhen Stein, Monatsschrift der großen Loge von Preußen genannt zur Freundschaft,
| |
− | Jg. 29, 1932, H. 8/9, S. 226–236, hier S. 230.
| |
− | 50 A. Horneffer: Wer soll uns führen? In: Am rauhen Stein, Jg. 28, 1931, S. 315ff.
| |
− | 51 »Verbreitet den Geist der Wehrhaftigkeit in unserem Volke«, in: Kundgebung der Großloge an die gesamte
| |
− | Bruderschaft, in: Am rauhen Stein, Jg. 29, 1931, S. 3.
| |
− | 52 Vgl. Fußnote 38 bei Fenner und Schmidt-Sasse: a.a.O., S. 240.
| |
− | 53 Die Säulen deutscher Weisheit, Stärke und Schönheit, in: Am rauhen Stein, Jg. 26, 1929, S. 171.
| |
− | 54 Bundesblatt, herausgegeben von der Großen National-Mutterloge »Zu den drei Weltkugeln«, Sonderausgabe,
| |
− | 10. August 1914, S. 465.
| |
− | 55 Ebenda, S. 465–466. Dieselbe Sonderausgabe berichtet von der bevorstehenden »Einberufung zum Feldheer
| |
− | « des National-Großmeisters Br. Wegner.
| |
− | 56 Ebenda, S. 465.
| |
− | 57 Niederschrift der 1143. Sitzung der Großen National-Mutterloge »Zu den drei Weltkugeln«, in: Bundesblatt,
| |
− | 1914, H. 15, S. 486, 489, 490.
| |
− | 66
| |
− | serlicher Herr alles versucht hat, unserem Volk einen ehrenhaften Frieden zu erhalten«,
| |
− | auf der anderen Seite standen Russland (»Ansturm halbasiatischer Barbarenhorden«),
| |
− | Frankreich (»Zorn und Haß und Rachedurst wegen seiner Niederlage in einem Krieg, den
| |
− | einst gallischer Übermut in frevelhafter Leichtfertigkeit gegen uns vom Zaune brach«) sowie
| |
− | das Deutschland vordem doch so nahe stehende England als der eigentliche Drahtzieher
| |
− | des Krieges: »Daß wir so viele Feinde haben in der Welt, das ist zum weitaus größten
| |
− | Teil die Folge ihrer systematischen Verhetzung durch unsere lieben Vettern in England.«
| |
− | Derartige Positionen nationalen Aufbegehrens, die auch seitens »humanitärer« Großlogen
| |
− | vertreten wurden und die keinen Unterschied zu den gemeinhin im deutschen Bürgertum
| |
− | vertretenen Auffassungen erkennen ließen, zogen sich durch den Ersten Weltkrieg
| |
− | hindurch bis in die Nachkriegszeit, in der sie dann – verstärkt durch den in der Tat
| |
− | verhängnisvollen Frieden von Versailles (»Wir werden jahrhuntertelang den Schand- und
| |
− | Schmachvertrag von Versailles nicht vergessen«, hieß es z.B. in der Zeitschrift »Am rauhen
| |
− | Stein«58 ) – an Intensität und bald auch an antisemitischer Einfärbung gewannen.
| |
− | Als der Verein Deutscher Freimaurer 1920 seine erste Nachkriegshauptversammlung abhielt,
| |
− | bilanzierte sein Vorsitzender, Diedrich Bischoff, die Entwicklung seit der letzten
| |
− | Vorkriegstagung u.a. mit folgenden Worten: »Dann kam die Erhebung von 1914, und es
| |
− | rang sich dieses maurerische Wollen empor in unserem deutschen Volk.«59 Die gewählte
| |
− | Formulierung vom »maurerischen Wollen« zeigt, dass für Bischoff und viele andere maurerische
| |
− | Autoren die »Ideen von 1914« durch und durch freimaurerisches Gedankengut
| |
− | waren. Betrachtet man die in acht (reguläre) Großlogen aufgefächerte deutsche Freimaurerei
| |
− | als Gesamtheit, so zeigen sich argumentative und emotionale Grundlinien, die weitgehend
| |
− | übereinstimmen.
| |
− | Es werden jedoch auch bezeichnende Unterschiede sichtbar, die oft, aber keineswegs
| |
− | immer, mit der Trennlinie »altpreußisch« – »humanitär« zu erfassen sind. Diesen Unterschieden
| |
− | detailliert nachzugehen, ist im Rahmen dieses Beitrags nicht möglich. Es soll
| |
− | nur an einem Beispiel auf die Art und Weise eingegangen werden, wie Freimaurer des
| |
− | FzaS mit der Weltkriegsproblematik umgegangen sind. Zwar findet sich auch hier das
| |
− | Bekenntnis zum Zusammenschluss der Deutschen: »Denn wenn je, so ist der Grundsatz
| |
− | ›Right or wrong, – my country!‹ hier ein Prinzip von höchster Sittlichkeit, und das
| |
− | Gegenteil wäre verwerf lich, weil es dem Verrat am eigenen Volke und an der Sache der
| |
− | Kultur gleich käme.« Doch zuvor hatte es im gleichen Beitrag fernab jeder Euphorie
| |
− | geheißen: »Freimaurerei und Weltkrieg! Man kann sich wohl keine zwei Begriffe vorstellen,
| |
− | die zueinander in schärferem Gegensatz stünden! Die größte, den ganzen Erdball
| |
− | umspannende geistige Bewegung zur Verbreitung und Vertiefung des Humanitätsgedankens
| |
− | und der grausame, völkermordende und entmenschende Weltkrieg mit allen seinen
| |
− | Greueln!«60
| |
− | 58 Jänisch, Oskar: Marxismus und Freimaurerei, in: Am rauhen Stein, Maurerische Zeitschrift der Großen
| |
− | Loge von Preußen genannt Zur Freundschaft, Jg. 22, 1925, H. 2, S. 36–41, hier S. 36.
| |
− | 59 Bischoff, Diedrich, 1920: Eröffnungsrede zur Jahresversammlung in Nürnberg, in. Jahrbuch. Mitteilungen
| |
− | aus dem Verein Deutscher Freimaurer 1929/21, S. 5–22, hier S. 5.
| |
− | 60 Wegner, Julius: Der Weltkrieg und die Freimaurerei, in: Sonnenstrahlen, Bundes–Organ des »F. Z. A. S.«,
| |
− | 8. Jg., Oktober 1914, Nr. 3/4, S. 87–94, hier S. 88, 87.
| |
− | 67
| |
− | 3.2 Stichwort Antisemitismus
| |
− | Als Mitte der 20er Jahre rassistische Ideen im deutschen Bürgertum an Boden gewannen,
| |
− | schrieb der Radeberger Freimaurer Paul Wagler: »Wer den ewigen inneren Kern der Seele
| |
− | des deutschen Volkes als die Freimaurernatur des Geistes erlebt und die deutsche Entstehung
| |
− | der Freimaurerei erkannt hat, der muss auch Freimaurerei als germanischen Rassegeist
| |
− | empfinden.«61 Es ist interessant, zum Stichwort Antisemitismus die Diskussionsbeiträge
| |
− | durchzugehen, die 1924 in der »Großen Loge von Preußen genannt zur Freundschaft«62
| |
− | vorgetragen wurden. Auf Antrag einer Münchener Loge, der vor allem von August Horneffer,
| |
− | dem Großsekretär63 der Großloge, propagiert und unterstützt worden war und dann
| |
− | Zustimmung und Umsetzung in der Großloge fand, sollte für die Mitgliedschaft zum
| |
− | »christlichen Prinzip« zurückgekehrt, d.h. jüdischen Bürgern die Mitgliedschaft zukünftig
| |
− | verwehrt werden.64
| |
− | Gewiss gab es Gegenstimmen und Warnungen, so etwa seitens des Berliner Freimaurers Julius
| |
− | Jaeckle:
| |
− | »Rückt man in der deutschen Freimaurerei den Humanitätsgedanken zu Gunsten des
| |
− | nationalen an die zweite Stelle, so ist die deutsche Kultur um eine ihrer schönsten
| |
− | Blüten ärmer. Dann lasset uns den Menschheitsgedanken begraben gehen – und die
| |
− | Königliche Kunst mit.«65
| |
− | Ein anderer Diskussionsteilnehmer war um die Klärung des in seiner Sicht eigentlich Gemeinten,
| |
− | nämlich einer rassischen Ausgrenzung, bemüht:
| |
− | »Die Münchner Forderung einer national-christlichen Einstellung, die ganz unzweideutig
| |
− | auf die Juden hinzielt, gibt nichts anderes als eine Verwischung des Problems.
| |
− | Wenn man in einer Änderung des Grundgesetzes dieses zum Ausdruck bringen will,
| |
− | so kann einzig die Forderung des Rassenproblems zur Grundlage gemacht werden.«66
| |
− | Der antisemitische Hintergrund der im Juni 1924 in Kraft gesetzten Satzungsänderung wird
| |
− | von August Horneffer neun Jahre später bestätigt: Der Beschluss habe darauf abgezielt,
| |
− | »daß unsere Großloge ein ganz enger, vertrauter Kreis von unbedingt heimattreuen
| |
− | und
| |
− | 61 Wagler, Paul: Freimaurerei als germanischer Rassegeist, in: Jahrbücher des Vereins deutscher Freimaurer,
| |
− | 1929–30, S. 57.
| |
− | 62 Die Großloge hatte ihren alten Namensbestandteil »Royal York« zu Beginn des Ersten Weltkriegs abgelegt.
| |
− | 63 Diese Funktion nahm Horneffer de facto wahr. Seine offizielle Amtsbezeichnung war »Großschriftführer
| |
− | und Archivar«.
| |
− | 64 Vgl. aus der Perspektive einer einzelnen Loge: Niemeier, Dirk in Zusammenarbeit mit Papenheim, Martin:
| |
− | Die Freimaurerloge »Friedrich zum weißen Pferde« in Hannover in Weimarer Republik und Nationalsozialismus,
| |
− | in: Quatuor Coronati Jahrbuch für Freimaurerforschung, Nr. 42/2005, S. 77–98.
| |
− | 65 Jaeckle, Julius: Die Freimaurerei am Scheidewege, in: Am rauhen Stein, Maurerische Zeitschrift der
| |
− | Großen Loge von Preußen genannt Zur Freundschaft, Jg. 21, 1924, H. 1, S. 5–6, hier S. 5.
| |
− | 66 Trommsdorf, H.: Die Forderung der Zeit, ebenda, S. 8.
| |
− | 68
| |
− | gottestreuen Männern sein soll, daher wir volks- und artfremde Elemente nicht brauchen
| |
− | können«.67
| |
− | Doch auch hier gab es Gegenentwicklungen, für die das folgende Beispiel stehen mag:
| |
− | Als die Große Loge von Preußen zum christlichen Prinzip zurückkehrt war, mussten auch
| |
− | die jüdischen Brüder der Kasseler Royal-York-Loge »Zur Eintracht und Standhaftigkeit
| |
− | « den
| |
− | Freimaurerbund verlassen. Eine Reihe tolerant orientierter nicht-jüdischer Brüder verließ
| |
− | darauf hin unter Leitung des Bauunternehmers und Kasseler Stadtrats Rudolf Friebe mit
| |
− | den jüdischen Brüdern die Loge. Sie schlossen sich der Leipziger Loge »Apollo« an, die
| |
− | – unter der Obhut der (humanitären) Großen Loge von Sachsen – die Deputationsloge
| |
− | »Herder zu den alten Pflichten« in Kassel gründete, die dann bald als Mitgliedsloge der
| |
− | sächsischen Großloge selbstständig wurde.
| |
− | Antisemitismus (auch rassisch gefärbter) war nun sicher eine Haltung, die sich in großen
| |
− | Teilen des national-konservativen deutschen Bürgertums Ende der 20er Jahre verstärkte.
| |
− | Dass er in der Freimaurerei an Raum gewann, vergrößerte die Distanz des Bundes
| |
− | zu seinem kosmopolitischen Ursprung. Es verwundert dann auch nicht, dass seitens der
| |
− | Leitungen altpreußischer Großlogen schon bald nach der nationalsozialistischen Machtübernahme
| |
− | Zustimmung zur Rassenlehre der NSDAP bekundet wurde. So schrieb der als
| |
− | Autor und Redner im altpreußischen Sektor der deutschen Freimaurerei weithin bekannte
| |
− | Stephan Kekulé von Stradonitz (er war 1932 Kandidat für die Nachfolge von Karl Habicht
| |
− | als Großmeister der GNML 3WK gewesen) im Mai 1933 im »Ordensblatt«:
| |
− | »Der ›nationale Christliche Orden Friedrich der Große‹, in den unsere bisherige
| |
− | ›Große National-Mutterloge Zu den drei Weltkugeln‹ sich in der Osterwoche 1933
| |
− | umwandelte, wird die Mitgliedschaft in Zukunft an die Bedingung der Deutschstämmigkeit
| |
− | der ›Nationalsozialistischen deutschen Arbeiterpartei‹ (Rundschreiben
| |
− | des Großordensrates vom 12. April 1933) knüpfen, womit das Erfordernis des alten,
| |
− | bisherigen Aufnahme-Paragraphen, nämlich dasjenige des Bekenntnis-Christentums,
| |
− | eine wesentliche und grundlegende Veränderung im Sinne einer Verschärfung erfahren
| |
− | hat.«68
| |
− | Kekulé von Stradonitz schloss seinen Beitrag »Deutschstämmigkeit« mit der die Konsequenz
| |
− | der Großlogenführung würdigenden Bemerkung:
| |
− | »Ich kann es deshalb, als genealogischer Fachmann, nur als durchaus sachgemäß
| |
− | erachten, daß das neueste Rundschreiben unseres Ordens-Großmeister (vom 19.
| |
− | April) unter Ziffer 6 ›für die Prüfung der Deutschstämmigkeit‹ empfiehlt, ›nach den
| |
− | Ausführungsbestimmungen über die Wiederherstellung des Berufsbeamtentums zu
| |
− | verfahren.‹«69
| |
− | 67 Horneffer, August: Frühling, ebenda, in: Der rauhe Stein, Monatszeitschrift des Deutsch-Christlichen
| |
− | Ordens Zur Freundschaft, Jg. 30, 1933, H. 4, S. 99–102, hier S. 99.
| |
− | 68 Kekulé von Stradonitz, Stephan: »Deutschstämmigkeit«, in: Ordensblatt, hrsg. vom »Nationalen Christlichen
| |
− | Orden Friedrich der Große« in Berlin, Nr. 5, Mai 1933, S. 136–141, hier S. 136.
| |
− | 69 Ebenda, S. 141. Im »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« vom 7. April 1933 hatte es in
| |
− | § 3 geheißen: »(1) Beamte, die nicht arischer Abstammung sind, sind in den Ruhestand (§§ 8ff.) zu versetzen;
| |
− | soweit es sich um Ehrenbeamte handelt, sind sie aus dem Amtsverhältnis zu entlassen. (2) Abs.
| |
− | 69
| |
− | Die Akzeptanz der neuen Rasseverordnungen fand schließlich auch Eingang in das Ritual
| |
− | und die Statuten. Die 1933 eingeführte neue Form des Brauchtums der Großen Landesloge
| |
− | (jetzt »Deutsch-Christlicher Orden«) sah – ein Kommentar im »Ordensblatt« sprach von
| |
− | einer »durch die Geschehnisse des Jahres 1933 ohne weiteres verständlichen Sprache« – u.a.
| |
− | folgende »neu eingefügte« Frage an den Kandidaten vor: »Sind Sie arischer Abkunft?«70 § 4
| |
− | der neuen Ordensregel erhielt die Fassung: »Aus der deutschen und christlichen Wesensart
| |
− | des Ordens folgt, daß nur Deutsche arischer Abstammung, die christlich getauft sind, Mitglieder
| |
− | werden können.«71
| |
− | Auch diese Regelung entsprang nicht der Absicht einer unter aktuellem politischen
| |
− | Druck zustande gekommenen opportunistischen Anpassung. Bereits 1926 hatte es im »Johannisfestgruß
| |
− | « der Großen Landesloge geheißen:
| |
− | »Die Gemeinsamkeit des Schöpfers beseitigt … nicht die Unterschiede zwischen Rassen,
| |
− | Völkern und Individuen, Unterschiede, die in der Geschichte eine viel zu große
| |
− | und entscheidende Rolle gespielt haben, als dass sie unbeachtet bleiben könnten. Die
| |
− | Verkennung und Unterschätzung dieser Unterschiede, die verhängnisvolle, zwar aus
| |
− | reinsten Beweggründen, aber aus physiologischer und psychologischer Unwissenheit
| |
− | geborene Humanitätsschwärmerei hat zu einer Vermischung und Entartung aller
| |
− | Kulturen, Kunstrichtungen, Rassen und Völker, zu einer Sintflut geführt, die alles
| |
− | in früherer Reinkultur Veredelte und Hochwertige ersticken zu wollen droht. Diesen
| |
− | trüben, schlammigen Fluten sucht der Orden, der von jeher bemüht war, höchste
| |
− | Veredelung durch sorgsamste Auslese und Reinerhaltung seines Bestandes zu erreichen,
| |
− | einen Damm entgegenzusetzen.«72
| |
− | »Entartung«, »Auslese«, »Reinerhaltung« – hier scheint ein Vokabular auf, das später im
| |
− | »Wörterbuch des Unmenschen« (Dolf Sternberger) eine verhängnisvolle Rolle spielen sollte.
| |
− | Im Übrigen war es dann auch nur folgerichtig, wenn in einer Schrift der Großen Landesloge
| |
− | von 1935 festgestellt wurde: »Als drittes Ziel im Kampfes für deutsches Christentum
| |
− | trat die Aufforderung zur Reinhaltung der Rasse.«73
| |
− | Es sei jedoch noch einmal betont, dass sich in der deutschen Freimaurerei auch Stimmen
| |
− | vernehmen ließen, die sich deutlich vom Mainstream der Meinungen abhoben. So
| |
− | hieß es in einem Artikel der unabhängigen Freimaurerzeitung »Auf der Warte« im Jahre
| |
− | 1931: »Der deutsche Tempel, wie ich ihn auffasse, schließt den deutschen Juden nicht aus.«74
| |
− | 1 gilt nicht für Beamte, die bereits seit dem 1. August 1914 Beamte gewesen sind oder die im Weltkrieg
| |
− | an der Front für das Deutsche Reich oder für seine Verbündeten gekämpft haben oder deren Vater oder
| |
− | Söhne im Weltkrieg gefallen sind. Weitere Ausnahmen können der Reichsminister des Innern im Einvernehmen
| |
− | mit dem zuständigen Fachminister oder die obersten Landesbehörden für Beamte im Ausland
| |
− | zulassen.«
| |
− | 70 Bluhm, Johannes: Die neue Form des Brauchtums der I. Stufe im Orden, in: Ordensblatt, 62. Jahrgang
| |
− | Nr. 10, 1933, Oktober-Heft, S. 294–299, hier S. 297.
| |
− | 71 Zitiert nach: 250 Jahre Freimaurer in Oldenburg. 1752–2002, Oldenburg 2002, S. 71.
| |
− | 72 Zirkelkorrespondenz, 1926, S. 245f., zitiert nach: Große Landesloge: Im Ordenshause der Großen Landesloge
| |
− | der Freimaurer von Deutschland, Deutsch-Christlicher Orden, Berlin 1935; S. 8f.
| |
− | 73 Ebenda, S. 8.
| |
− | 74 Neumann, Otto Philipp: Deutsche Freimaurerei und Hochgrade, in: Freimaurerzeitung Auf der Warte,
| |
− | Nr. 2, 15. Jg. 1931, S. 9–10, hier S. 10.
| |
− | 70
| |
− | Trauer und Bestürzung zeigten sich vor allem in einer Reihe humanitärer Logen, die
| |
− | noch 1933 zahlreiche jüdische Mitglieder hatten. So vermerkte etwa der Fürther Stuhlmeister
| |
− | Daniel Lotter (Loge »Zur Wahrheit und Freundschaft« der Großloge »Zur Sonne«, Bayreuth)
| |
− | im Mai 1933, als jüdischen Brüdern der Besuch des Logenhauses untersagt werden
| |
− | sollte, in seinem maurerischen Tagebuch, das nach 1945 auf dem Boden des Logenhauses
| |
− | wiedergefunden wurde, »die Erbitterung der jüdischen Brüder sei zu verstehen und berechtigt.
| |
− | Gerade in der jetzigen für sie so schweren Zeit der Demütigungen hätten sie
| |
− | ein Anrecht darauf gehabt, im Logenhaus ein Asyl und eine Zufluchtstätte zu finden«.75
| |
− | Gleichzeitig verdeutlichen die Aufzeichnungen Lotters die Spannungen und Spaltungen,
| |
− | von denen auch die humanitäre Freimaurerei vor und nach 1933 betroffen und geprägt
| |
− | war.
| |
− | 3.3 Stichwort Nationalsozialismus
| |
− | Schon 1931 hatte das Höchste Ordenskapitel der Großen Landesloge (freilich ohne Erfolg)
| |
− | »um eine Unterredung mit Hitler zwecks Verständigung nachgesucht«76. 1932 – mithin
| |
− | gleichfalls vor allem durch politischen Druck manifest gewordenen Anpassungszwängen
| |
− | – hatte ein so prominenter deutscher Freimaurer wie August Horneffer unter Berufung
| |
− | auf das »wundervoll anschauliche Lebensbuch Hitlers«77 vier Aspekte der NS-Bewegung aus
| |
− | freimaurerischer Sicht ausdrücklich begrüßt – den Willen zur Erneuerung und Wiedergeburt,
| |
− | den Willen zum Bauen, den Willen zur Überwindung des Parteiwesens und den Willen
| |
− | zur Gefolgschaft – und von der NSDAP unter Bezug auf Guido von Lists Armanenlehre
| |
− | gefordert, sich durch Aufbau eines leitenden inneren Ordens eine bessere Organisation zu
| |
− | verschaffen. Auch zu den Grundlagen der Freimaurerei würden »Ein- und Unterordnung«
| |
− | gehören, und nur eine »verwirrte Freimaurerei wie z.B. die italienische hat den Liberalismus
| |
− | zum Prinzip erhoben und sich aus diesem Prinzip heraus Mussolini widersetzt«78. Gewiss,
| |
− | so merkt Horneffer zu Hitler an, seien »alle seine Gedanken schon früher gedacht und ausgesprochen
| |
− | worden, und viele seiner Anhänger und Gegner gebildeter, vielleicht auch klüger
| |
− | als er«, um dann festzustellen: »Aber er ist der gewaltige Motor, der Vulkan, der aus der Tiefe
| |
− | seines urdeutschen und urkräftigen Wesens die Gedanken oder richtiger die Forderungen
| |
− | herausschleudert, die er nicht aus Büchern, sondern aus dem Leben geschöpft hat.«79 Für
| |
− | sich und viele andere altpreußische Freimaurer identifiziert sich Horneffer ein Jahr später
| |
− | mit den von Hitler begeisterten deutschen Jugendlichen (er nennt als Beispiel Horst Wessel
| |
− | und weist stolz darauf hin, »dass der Vater dieses jungen Helden ein altpreußischer Freimaurer
| |
− | war«) und bekennt:
| |
− | 75 Hanke, Roland Martin: Daniel Lotter – Ein Zeugnis über die Freimaurerei nach der nationalsozialistischen
| |
− | Machtübernahme, in: Quatour Coronati Jahrbuch für Freimaurerforschung Nr. 43/2006, S.
| |
− | 219–253, hier S. 238.
| |
− | 76 Zur Geschichte der Großen Landesloge der Freimaurer von Deutschland zu Berlin. 1920–1970, Berlin
| |
− | 1970, S. 39.
| |
− | 77 Horneffer, August: Was erwarten wir von Nationalsozialismus, in: Am rauhen Stein, Monatsschrift der
| |
− | großen Loge von Preußen genannt zur Freundschaft, Jg. 29, 1932, H. 8/9, S. 226–236, hier S. 229.
| |
− | 78 Ebenda, S. 235.
| |
− | 79 Ebenda, S. 231.
| |
− | 71
| |
− | »Unser Herz ist ihnen viel näher als sie ahnen, unser Herz hat die letzten Monate
| |
− | mit vollen Schlägen miterlebt und hat dem genialen Wecker und Erwecker unseres
| |
− | Volkes zugejubelt, – trotz des Schmerzes und der Enttäuschung über die Versuche,
| |
− | uns gleichsam abzuschütteln, die Mitglieder der Deutsch-christlichen Orden gleichsam
| |
− | auszuschließen aus dem Erlebnis unseres Volkes. Ach man kann uns nicht abschütteln,
| |
− | weil wir mit ihnen eins sind, weil unser Blut durch ihre Adern rinnt, weil
| |
− | unser Same in ihnen aufgegangen ist.«80
| |
− | Nationalsozialismus als »Same« altpreußischer Freimaurerei – wozu hätten sich große Teile
| |
− | der deutschen Freimaurerei wohl noch hinreißen lassen, wenn das beklagte »Abschütteln«
| |
− | und »Ausschließen« seitens der NSDAP und der von ihr kontrollierten staatlichen Behörden
| |
− | im Jahre 1935 nicht stattgefunden hätten?
| |
− | Die zuvor dokumentierte Sichtweise Horneffers und anderer führender Freimaurer
| |
− | der späten 20er und frühen 30er Jahre des 20. Jahrhunderts war nicht das Resultat jäh
| |
− | erzwungener Anpassung und »Tarnung«. Sie hat als konzeptionelle Grundlage auch die
| |
− | fortschreitende Orientierung an der zunehmend beschworenen »stolzen, hohen Zeit arischer
| |
− | Kultur«, an völkische Autoren wie John Gorsleben, Herman Wirth und – wie bereits
| |
− | zitert – Guido von List, zeitweiligen Ideengebern von Hitler und anderen Nationalsozialisten,
| |
− | die bereits vor 1933 zunehmend in der Zeitschrift der »Großen Loge von Preußen«
| |
− | mit großer Zustimmung referiert werden.81 Neben Horneffer meldete sich dabei auch der
| |
− | Vorsitzende des »Wetzlarer Kreises« innerhalb der Großen National-Mutterloge »Zu den
| |
− | drei Weltkugeln«, Kurt Schmidt, mit einem Beitrag über Hermann Wirth zu Wort, den er
| |
− | mit folgenden Worten beschloss:
| |
− | »Wer in unsren Tempeln – ›vom Licht geboren, zu Licht erkoren‹ um mit Herman
| |
− | Wirth zu reden – die ganze Tiefe des arischen Lichtmysteriums in seiner deutschen
| |
− | Seele erlebt hat, der weiß sich mit ihm eins auch in den Worten: ›Wir tragen im Herzen
| |
− | in treuer Hut den letzten Funken heilger Glut, den fernen lichten Glauben unserer
| |
− | Ahnen. Nun wollen wir den Weg uns bahnen zur Heimatscholle, zur Gotteserde,
| |
− | dass sie dem Volk Erlösung werde.‹«82
| |
− | Zur »Johannesfeier im Ordensstammhaus«, das von der Großen Landesloge – zusammentreffend
| |
− | mit dem »Fest der Sommersonnenwende« – nach einem neuen Ritual am 24. Juni
| |
− | 1933 gefeiert wurde, wies der Weiseste Ordensmeister auf Notwendigkeit und Folgerichtig-
| |
− | 80 Gemeinsame Feier des Sonnenwendfestes der beiden christlichen Orden »Friedrich der Große« und
| |
− | »Zur Freundschaft« am 24. Juni 1933, in: Ordensblatt. Monatsschrift des Nationalen Christlichen Orden
| |
− | Friedrich der Große, 1. Jg. Juli/August 1933, Nr. 3, S. 41.
| |
− | 81 S. Horneffer, August: Völkische Rechtfertigung des Freimaurertums, in: Am rauhen Stein, Monatsschrift
| |
− | der großen Loge von Preußen genannt zur Freundschaft, Jg. 28, 1931, H. 5, S. 98–105; derselbe:
| |
− | Guido von List, der völkische Philosoph und Prophet, in: Am rauhen Stein, Monatsschrift der großen
| |
− | Loge von Preußen genannt zur Freundschaft, Jg. 29, 1932, H. 2, S. 35–45.
| |
− | 82 Schmidt, Kurt: Herman Wirth und die nordische Kultsymbolik des Stirb und Werde, in: Am rauhen
| |
− | Stein, Monatsschrift der großen Loge von Preußen genannt zur Freundschaft, Jg. 29, 1932, H. 11, S.
| |
− | 303–311, hier S. 311.
| |
− | 72
| |
− | keit auch ritueller Umgestaltungen hin,83 deren Inhalt der Ordenskanzler mit folgenden
| |
− | Worten erläuterte:
| |
− | »Die nordische Weltanschauung, die das Licht als Symbol des lebenschaffenden Wirkens
| |
− | der Gottheit empfindet, ist im Brauchtum des Ordens in ungebrochener Kraft
| |
− | und Reinheit erhalten worden«.84
| |
− | Völkisch-arisierende Tendenzen zeigten sich auch beim gemeinsamen »Sonnwendfest« der
| |
− | beiden christlichen Orden »Friedrich der Große« und »Zur Freundschaft«, das, so hieß es,
| |
− | »an Stelle des früheren Johannisfestes« begangen wurde. Ordensgroßmeister Bordes erklärte,
| |
− | im neuen gemeinsamen Ordensbrauchtum der beiden ehemaligen Großlogen, das etwa
| |
− | auch die Hiramlegende durch die Baldursage ersetzte, seien alte germanische Kultformen
| |
− | »in die Gegenwart herüber gerettet«, und Ordensgroßmeister Feistkorn leitete die gemeinsame
| |
− | Tafel mit folgenden bemerkenswerten Versen ein:
| |
− | »Sonnenwende – Schicksalswende! Ständig nesteln Nornenhände …«85
| |
− | Schließlich fand die im völkischen Milieu populär gewordene Deutung der Externsteine
| |
− | im Teutoburger Wald als altgermanische Kultstätte auch bei altpreußischen Freimaurern
| |
− | Anerkennung. Der Bad Pyrmonter Freimaurer Oskar Zetzsche glaubte Spuren eines alten
| |
− | arischen Lichtkultes erkennen zu können,86 der seiner Auffassung nach »in vieler Beziehung
| |
− | den symbolischen Handlungen des Freimaurertums ähnlich gewesen sein muss«. Zahlreiche
| |
− | altpreußische Freimaurer besuchten die Externsteine im April87 und dann wieder im
| |
− | Juni 1933, diesmal im Rahmen der Jahrestagung der »Freunde germanischer Vorgeschichte
| |
− | « in Bad Pyrmont, und freuten sich über »die richtige Erkenntnis, dass das hohe Licht der
| |
− | Menschheitsgesittung aus dem Norden gekommen ist«.88
| |
− | Zunehmende politische Sympathie für den Nationalsozialismus verband sich so mit ideologischen
| |
− | Konvergenzen auf der Basis einer ariosophen Esoterik, und kein sorgfältiger Leser
| |
− | wird widersprechen, wenn Horneffer rückschauend auf die 20er Jahre feststellen konnte:
| |
− | »Den Lesern unserer Monatsschrift brauche ich nicht in Erinnerung zu rufen, wie
| |
− | hier für das Verständnis der großen nationalsozialistischen Volksbewegung Schritt
| |
− | für Schritt der Boden geebnet worden ist.«89
| |
− | 83 Deutsch-Christlicher Orden. Ordensblatt, 62. Jahrgang, Nr. 7, 1. Juli 1933, S. 217f.
| |
− | 84 Ebenda, S. 220.
| |
− | 85 Ordensblatt, hrsg. vom Nationalen Christlichen Orden Friedrich der Große in Berlin, 1. Jg., Juli/August
| |
− | 1933, Nr. 3, S. 45.
| |
− | 86 Zetzsche, Oskar: Eine germanische Kultstätte. Die Externsteine – und die Freimaurerei, in: Am rauhen
| |
− | Stein, Monatsschrift der großen Loge von Preußen genannt zur Freundschaft, Jg. 29, 1932, H. 5, S. 155–
| |
− | 159.
| |
− | 87 Tagung in Bad Pyrmont mit Pilgerung zu dem altgermanischen Kultheiligtum der Externsteine, in: Der rauhe
| |
− | Stein. Monatsschrift des Deutsch-christlichen Ordens zur Freundschaft, 30. Jg., Mai 1933, S. 141–150.
| |
− | 88 Braune, Heinrich: Die diesjährige Tagung der Freunde germanischer Vorgeschichte in Bad Pyrmont, in:
| |
− | Deutsch-Christlicher Orden. Ordensblatt, 62. Jg. 1933, Juli-Heft, S. 191–203, hier S. 195, 193.
| |
− | 89 Horneffer, August: Frühling, in: Der rauhe Stein, 30. Jg. 1933, S. 99–102, hier S. 102.
| |
− | 73
| |
− | In der Tat, August Horneffer, der Schriftleiter vom »Am rauhen Stein« und de facto Großsekretär
| |
− | der »Großen Loge von Preußen, gen. Zur Freundschaft«, war immer mehr in die Rolle
| |
− | eines »Chefideologen« nationalistischer, dabei durchaus auch völkischer und später nationalsozialistischer
| |
− | Anpassung hineingewachsen – eine Rolle, von der er in seinen späteren
| |
− | Veröffentlichungen nach dem Zweiten Weltkrieg freilich nichts mehr wissen wollte.
| |
− | In ähnlichem Sinne wie Horneffer befand Ferdinand Runkel (Große Landesloge der
| |
− | Freimaurer von Deutschland) zum Abschluss seines dreibändigen Werkes »Geschichte der
| |
− | Freimaurerei in Deutschland«:
| |
− | »Die Bewegung, die unter dem Zeichen des Hakenkreuzes steht, ist von einer Kraft
| |
− | und Schichtentiefe, wie Deutschland sie ähnlich nur in der Erhebung von 1813 erlebt
| |
− | hat … Diese Kräfte zu einer geschlossenen vaterländischen Front zusammenzuschließen,
| |
− | wäre eine erhabene Aufgabe der Freimaurerei Deutschlands.«90
| |
− | Nach der »Machtergreifung« Hitlers im Januar 1933 steigerte sich die Zustimmung zum
| |
− | Nationalsozialismus, wobei immer wieder betont wurde, mit »Tarnung« habe dieser »neue
| |
− | Beginn« nichts zu tun, im Gegenteil, es handele sich vielmehr um eine Aufgabe bisheriger,
| |
− | historisch notwendig gewesener Tarnung: »Denn in der Tat war es nur durch eine Tarnung
| |
− | möglich, das alte Germanenerbe vor dem Unverstand und der Unduldsamkeit römischen
| |
− | Kirchentums zu schützen.«
| |
− | August Horneffer befand nun:
| |
− | »Sollte der Orden für die völlige Hingabe unserer Persönlichkeit nur das kleinste
| |
− | Hindernis bilden, sollte die Zugehörigkeit zu ihm uns nur im geringsten abziehen,
| |
− | ablenken, uns untüchtiger oder unwilliger machen, unser Sein für die von unserem
| |
− | Volkskanzler aufgerichteten Ziele einzusetzen, dann muß er verschwinden.«91
| |
− | Im Oktober 1933 sandten GNML 3WK und Royal York (jetzt Nationaler Christlicher Orden
| |
− | »Friedrich der Große« und Deutsch-christlicher Orden »Zur Freundschaft«) aus Anlass
| |
− | des Austritts Deutschlands aus dem Völkerbund folgendes (von ihnen selbst so genannte)
| |
− | »Treuegelöbnis« an »Reichskanzler Hitler, Obersalzberg«:
| |
− | »Wir begrüßen mit Stolz und Freude den Entschluß der Reichsregierung, der allein
| |
− | der Ehre und Würde des deutschen Volkes entspricht, und stellen uns in treuer Gefolgschaft
| |
− | hinter unseren Reichskanzler.«92
| |
− | Auch in der Großen Landesloge wurde die Absicht der Tarnung als Unterstellung zurückgewiesen
| |
− | und die Kontinuität nationaler Orientierung seit 1918 über die 20er Jahre hinweg
| |
− | betont:
| |
− | 90 Runkel, Ferdinand: Geschichte der Freimaurerei in Deutschland, Berlin 1932, S. 456.
| |
− | 91 Zum neuen Beginn. Festkonvent (Leitung »Ordensgruppe Urania zur Unsterblichkeit«), in: Der rauhe
| |
− | Stein, 30. Jg. 1933, S. 233–241, hier S. 234.
| |
− | 92 Ordensblatt, herausgegeben von dem »Nationalen Christlichen Orden Friedrich der Große« in Berlin,
| |
− | September/Oktober 1933, S. 65.
| |
− | 74
| |
− | »Es ist das, was sich in unserem Orden ereignet hat, ein Vorgang, der sich aus einer
| |
− | inneren Notwendigkeit schon seit 15 Jahren entwickelt hat und sich nun spontan,
| |
− | gleichgesinnt mit den Geschehnissen der nationalsozialistischen Revolution, vollzogen
| |
− | hat … In derselben Form, wie die nationalsozialistischen Führer, hatten schon
| |
− | längst die Führer unseres Ordens auch das Übel erkannt, das in der süßlichen Form
| |
− | des pazifistischen Gedankens auf unserer Seele lastete, unter der diese Seele bis zur
| |
− | vollständigen Entkräftung und Entmannung litt.«93
| |
− | Und kurz vor Schließung der Logen hieß es im Ordensblatt der Großen Landesloge:
| |
− | »Es muss daher als ein Irrtum bezeichnet werden, wenn behauptet wird, unser Orden
| |
− | könne sich in die neue Weltanschauung nicht eingliedern. Das Gegenteil ist der Fall:
| |
− | Wir haben die neue Weltanschauung immer gehabt und werden sie haben, solange
| |
− | unser Orden besteht.«94
| |
− | Anders die Haltung des »Freimaurerbundes zur Aufgehenden Sonne«. In der Artikelserie
| |
− | »Kulturpolitisches Tagebuch von Ernst Falk« heißt es im Herbst 1928 klarsichtig zum Nationalsozialismus:
| |
− | »Der deutsche Fascismus wird heute durch zwei große, von einander unabhängige
| |
− | Organisationen repräsentiert: Von den Nationalsozialisten und vom Stahlhelmbund.
| |
− | Die Nationalsozialistische Partei ist keine Partei im gewöhnlichen Sinne, sondern,
| |
− | eine fascistische Organisation, deren letzter Zweck die Bildung von Sturmabteilungen
| |
− | für den Bürgerkrieg ist. In dieser Partei herrscht heute schon die Diktatur: es
| |
− | gibt keine Mitgliederversammlungen, die Beschlüsse fassen, es gibt nur die willenlose
| |
− | Annahme der von dem Führer Hitler vorgeschriebenen Kundgebungen. So bietet
| |
− | die Organisation der N. S. D. A. P., die alles andere als eine Partei ist, schon das
| |
− | Urbild des fascistischen Staates, in dem lediglich der Wille von Hitler-Mussolini regieren
| |
− | würde. Die Richtlinien der Partei sind dunkel und zweideutig. Neben gestohlenen
| |
− | Sätzen aus dem sozialistischen Programm finden sich plumpe nationalistischmilitaristische
| |
− | Phrasen. Die eigentliche Grundlage der Partei ist der unverhüllte, rohe
| |
− | Rassenhaß, der sich im Inneren gegen die Juden, nach außen gegen Frankreich richtet
| |
− | … Der Nationalsozialismus ist nationalrevolutionär und fascistisch: das heißt: er
| |
− | rechnet nicht darauf, die Volksmehrheit für seine Ziele zu gewinnen, er will vielmehr
| |
− | in einem günstigen Moment die Staatsgewalt durch Terror und Gewalt an sich reißen
| |
− | und die Diktatur seines Führers Hitler aufrichten … Der deutsche Fascismus ist für
| |
− | uns kein Popanz und kein Trugbild, er ist eine vorhandene reale Gefahr.«95
| |
− | 93 Meyer, H. E. August: Zur Aufklärung!, in: Zirkelkorrespondenz-Ordensblatt, 62. Jg., 1933, S. 374–382,
| |
− | hier S. 380f.
| |
− | 94 Klingelhöffer, Wilhelm: Individualismus und Volksgemeinschaft, in Große Landesloge der Freimaurer von
| |
− | Deutschland. Deutsch-Christlicher Orden, Ordensblatt, 64. Jahrgang, Nr. 2, 1935, Februar-Heft, S. 46.
| |
− | 95 Kulturpolitisches Tagebuch von Ernst Falk: Der deutsche Fascismus, in: Das neue Freimaurertum. Zeitschrift
| |
− | des Freimaurerbundes zur aufgehenden Sonne, 22. Jg., H. 10, 1928, S. 298–299.
| |
− | 75
| |
− | Am Ende seiner Publikationstätigkeit veröffentlichte die Zeitschrift des FzaS »Das neue Freimaurertum
| |
− | « Thomas Manns »Bekenntnis zur sozialen Republik«, und der Bremer Pfarrer
| |
− | und ehemalige sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Emil Felden forderte am Schluss
| |
− | seines letzten Artikels – Hitler war bereits Reichskanzler – »Humanität, d.h. Achtung des
| |
− | Nebenmenschen
| |
− | als Menschen, welcher Rasse oder Klasse er auch angehören mag«96. Schon
| |
− | vorher, zur Jahreswende 1932/33, hatte sich Max Seber, der letzte Großmeister des FzaS,
| |
− | mit einem Rundschreiben an seine Brüder gewandt, das er mit folgenden Worten beschloss:
| |
− | »Meine Brr. schwer ist unser Leben heute. Aber mit Bänglichkeit bezwingen wir es
| |
− | nicht. In unseren Händen liegt jetzt die Verantwortung für die kommenden Zeiten.
| |
− | Lassen wir es zu, dass der Barbarismus des Mittelalters von neuem triumphiert, so
| |
− | senkt sich die Nacht des Aberglaubens auf unser Volk hernieder. Es gilt die Güter,
| |
− | die wir von unseren Vätern ererbt, zu erwerben, um sie zu besitzen. Da werden wir
| |
− | erst ihres Wertes gewahr und merken erst, was wir besaßen, im Augenblick, da wir es
| |
− | zu verlieren drohen. Freiheit und Humanität, meine Brr. sind heute in höchster Gefahr!
| |
− | Ich als Euer derzeitiger Großmeister, gebe vor Euch allen das große Notzeichen!
| |
− | Helft und arbeitet, steht Euren Mann! Geht hinein in die Verbände zum Schutz der
| |
− | Verfassung, zum Schutze der Freiheit. Die eiserne Front aller Entschlossenen wartet
| |
− | auf Euch, meine Brr. Noch ist es Zeit, noch ist Raum für entschlossene Kämpferscharen!
| |
− | Tut Eure Pflicht, gedenkt Eures Eides, gebt mir das Meisterzeichen!«97
| |
− | All dieses belegt, dass es vor 1933 durchaus Alternativen zur nationalistischen Anpassung
| |
− | und völkischen Ideologisierung gab. Es ist ein Dilemma der deutschen Freimaurerei, dass sie
| |
− | diese Alternativen größtenteils bei Freimaurern findet, deren Logen und Großlogen in den
| |
− | 1920er und frühen
| |
− | 1930er Jahren als irregulär angesehen und behandelt wurden. Dass man
| |
− | sich heute auch in den ehemals »altpreußischen« Großlogen der widerständigen Brüder des
| |
− | FzaS, insbesondere Tucholskys und Ossietzkys, gern erinnert und sie gleichsam posthum regularisiert,
| |
− | ist eine der Ungereimtheiten freimaurerischer Nachkriegserinnerungskulur, über
| |
− | die im folgenden Abschnitt ausführlicher zu sprechen ist.
| |
− | 4. Erinnerungskultur: Umgang mit der »national-völkischen«
| |
− | Orientierung nach dem Zweiten Weltkrieg
| |
− | Von rühmlichen Ausnahmen wirklichen Widerstands abgesehen, hatte sich die deutsche Gesellschaft
| |
− | in ihrer Gesamtheit vor und nach 1933 auf einer ansteigenden Zustimmungsskala
| |
− | mehr oder weniger ausgeprägt mit dem NS-System identifiziert. Dies gilt auch für beträchtliche
| |
− | Teile der deutschen Freimaurer, und so mussten ihre führenden Repräsentanten nach
| |
− | 1945 für den Umgang mit der Vergangenheit Sprach- und Verhaltensregeln finden. Vor allem
| |
− | ging es um das, was im Kontext der Politik heute gern »Erinnerungspolitik« genannt wird,
| |
− | d.h. es ging um die Art und Weise, wie mit der Vergangenheit der Freimaurerei vor und zu
| |
− | 96 Mann, Thomas: Bekenntnis zur sozialen Republik; Felden, Emil: Zur Judenfrage, in: Das neue Freimaurertum.
| |
− | Zeitschrift des Freimaurerbundes zur aufgehenden Sonne, 27. Jg., H. 3, 1933, S. 74–77, hier S. 77.
| |
− | 97 Zitiert nach http://www.abacus-freimaurer.eu/pageID_10169295.html, Download 27.8.2010.
| |
− | 76
| |
− | Beginn der NS-Zeit umzugehen sei und welche großlogenoffiziellen »Sprachregelungen«
| |
− | sich hierfür anböten.
| |
− | Die analytischen Befunde hierzu sind problematisch: Zwar forderten einzelne Freimaurer
| |
− | bald nach dem Zusammenbruch des NS-Systems am Ende des Zweiten Weltkriegs
| |
− | eine offene Auseinandersetzung mit der völkischen Vergangenheit. Insbesondere von Dr.
| |
− | Bernhard Beyer, Großmeister der Großloge »Zur Sonne« in Bayreuth, wurde gefordert, »es
| |
− | solle jeder Kontakt mit den früheren altpreußischen Großlogen abgelehnt werden, bis sie
| |
− | von sich aus das von ihnen an der Freimaurerei begangene Unrecht eingesehen hätten«.98
| |
− | Zu einer solchen Einsicht ist es weithin nicht gekommen, weder auf Seiten altpreußischer
| |
− | Freimaurer noch bei Brüdern humanitärer Großlogen, die sich dem NS-Regime gegenüber
| |
− | gleichermaßen anpasserisch verhalten hatten. Zwar wurden Irrtümer und Fehlentwicklungen
| |
− | der deutschen Freimaurerei in der Weimarer Republik und den Jahren von 1933 bis
| |
− | 1935 nicht generell geleugnet. Zu wirklichem Mut und ganzer Wahrheit im Umgang mit
| |
− | der völkischen Vergangenheit konnten sich die deutschen Freimaurer freilich nicht entschließen.
| |
− | 99 Forderungen wie die folgende waren nicht selten: »Man sollte endlich einmal
| |
− | die Akten über jene in jeder Hinsicht traurige und verfolgungsreiche Zeit schließen …«100,
| |
− | und so standen statt Aufarbeitung der Fakten vielfältige Apologien im Vordergrund.
| |
− | Die dabei angewandten Strategien, die unterschiedlich akzentuiert waren und sich mischen
| |
− | konnten, waren vor allem die folgenden vier:
| |
− | 1. Verfolgung wurde in Widerstand umgedeutet und als Beleg dafür auf exemplarische Ausnahmeerscheinungen
| |
− | wie Wilhelm Leuschner, Carl von Ossietzky und Kurt Tucholsky
| |
− | verwiesen.
| |
− | 2. Anpassung und geistige Selbstgleichschaltung wurde als Tarnung gekennzeichnet und
| |
− | die generelle Unvereinbarkeit von Freimaurerei und Gewaltherrschaft betont.
| |
− | 3. Bedeutende freimaurerische Persönlichkeiten der Geschichte des 18. und 19. Jahrhunderts
| |
− | wurden gleichsam als Garanten dafür herausgestellt, dass der Bund über jeden Zweifel
| |
− | an seiner politisch-kulturellen Integrität erhaben sei.
| |
− | 4. Schließlich diente das Herausheben toleranter und pazifistischer Tendenzen in der Geschichte
| |
− | der deutschen Freimaurerei zur Zurückweisung oder zumindest Abschwächung
| |
− | des Antisemitismus-Vorwurfs.
| |
− | So lud etwa der spätere VGL-Großmeister, Dr. Theodor Vogel, noch in seiner Zeit als Großmeister
| |
− | der Großloge »Zur Sonne« den Bayerischen Staatskommissar für die politisch und
| |
− | religiös Verfolgten zur Zweihundertjahrfeier der Gründung der Großloge im September
| |
− | 1947 nach Bayreuth ein, teilte mit, dass diese Feier auch als »Hundertjahrfeier des Tages
| |
− | 98 Zitiert nach Steffens, Manfred: Freimaurer in Deutschland, a.a.O., S. 530.
| |
− | 99 Insofern kann auch Reinalter kaum zugestimmt werden, wenn er zur freimaurerischen Toleranz und ihrer
| |
− | Rolle bei der Aufarbeitung der Vergangenheit nach dem Zweiten Weltkrieg schreibt: »Diese Toleranz
| |
− | der Respektierung der Weltanschauung und Religion des Anderen ist auch heute noch Grundlage der
| |
− | Freimaurerei, die allerdings im Verlaufe des 19. und 20. Jahrhunderts sich manchmal von der Idealvorstellung
| |
− | entfernt hat. Hier sei z.B. an den Streit um die Zulassung von Juden bis hin zur Anbiederung
| |
− | einiger Deutscher Großlogen an den Nationalsozialismus erinnert. Sicher war es auch Ausdruck der Toleranzidee,
| |
− | daß es nach dem Zweiten Weltkrieg gelungen ist, diese problematischen Entwicklungen der
| |
− | Vergangenheit kritisch aufzuarbeiten.« Reinalter, Helmut: Die Freimaurer, München 2000, S. 45.
| |
− | 100 Bericht von der Hauptversammlung der GLL in Hamburg, in: Zirkelkorrespondenz, Nr. 4, 1950.
| |
− | 77
| |
− | (31.8.1847)« begangen werden sollte, »an dem unsere Großloge als eine der ersten deutschen
| |
− | Großlogen den jüdischen Brüdern ihr volles Recht bestätigt hat« und bat den Staatskommissar
| |
− | darum, die Einladung auch an Vertreter der Militärregierung weiterzuleiten, »damit wir
| |
− | ihnen zeigen, dass die Kräfte des Guten in Deutschland, die Kräfte, die sich schon vor dem
| |
− | Terror des Dritten Reiches zur Humanität, zur schönen reinen Menschenliebe, zur Brüderlichkeit
| |
− | aller, bekannt haben, dennoch leben und mit Nachdruck und Überzeugung dafür
| |
− | kämpfen wollen«.101
| |
− | Insbesondere den geschickten und beharrlichen Bemühungen Theodor Vogels war es
| |
− | zu verdanken, dass das Misstrauen sowohl der Besatzungsbehörden als auch der amerikanischen,
| |
− | britischen und französischen Großlogen, die über die deutsche Freimaurerei der
| |
− | 1920er und 1930er Jahre zumindest in Grundzügen informiert waren, allmählich abzubauen.
| |
− | Wie sehr dieses Misstrauen die unmittelbare Nachkriegszeit geprägt hatte, lässt sich an
| |
− | zahlreichen Beispielen aufzeigen. So wurde in einer Anordnung der amerikanischen Militärregierung
| |
− | für Groß-Hessen die Zustimmung zur Gründung von Freimaurerlogen davon
| |
− | abhängig gemacht, dass »ein Komitee von drei, als ›Anti-Nazi‹ bekannten Persönlichkeiten
| |
− | die Verantwortung für die Durchkämmung der Mitglieder und für unpolitische Versammlungsziele
| |
− | übernimmt«.102 Gleiches Misstrauen und gleiche Vorkehrungen gehen auch aus
| |
− | dem Schreiben hervor, mit dem die Landesgroßloge Württemberg-Baden durch die amerikanische
| |
− | Militärregierung des Landes am 23. September 1947 offiziell genehmigt wurde:
| |
− | »Die Freimaurer-Großloge Württemberg-Baden wird unter folgenden Voraussetzungen
| |
− | genehmigt: In jeder Wahlperiode muss ein Ausschuss von drei Mitgliedern,
| |
− | die als Anti-Nazi bekannt sind, die Verantwortung übernehmen für (1) eine Überprüfung
| |
− | der Mitglieder, (2) unpolitische Ziele der Zusammenkünfte und (3) die Führung
| |
− | einer Mitgliederliste, die der Militärregierung auf Wunsch zur Verfügung steht.«103
| |
− | Zu einer solchen Überprüfung der Mitglieder ist es allerdings nicht immer gekommen und
| |
− | der Umgang mit ehemaligen Nationalsozialisten bzw. NS-Sympathisanten war kaum konsequent.
| |
− | Die Brüder, die nach 1945 die Freimaurerei neu begründeten, waren ja weitgehend
| |
− | identisch mit den Brüdern aus der Zeit vor 1935, und so schien es nahezuliegen, dass ein Teil
| |
− | der Anwälte einer rechtsautoritären Anpassung der deutschen Freimaurerei in der Schlussphase
| |
− | der Weimarer Republik und im beginnenden NS-Regime nach 1945 eine führende
| |
− | Rolle beim Wiederaufbau der Freimaurerei in Deutschland spielte. Es ist kein Ruhmesblatt
| |
− | der deutschen Nachkriegsfreimaurerei, dies nicht verhindert zu haben. Einer der Unterzeichner
| |
− | nationalsozialistischer Aufrufe zur Bücherverbrennung im Jahre 1933 hätte wohl
| |
− | kaum für das Amt des Großredners der Großloge A.F.u.A.M. kandidieren dürfen (Redner
| |
− | der Distriktsloge Niedersachsen war er bereits gewesen), und auch ehemaligen Mitgliedern
| |
− | der NSDAP sowie der SS und ihrer Untergliederungen hätte bei die Übernahme freimaurerischer
| |
− | Ämter bis in die Großlogenleitungen hinein eher Zurückhaltung angestanden.
| |
− | Dabei hatten viele Brüder das Problem durchaus erkannt. Beispielsweise war es Gegenstand
| |
− | längerer Erörterungen auf der 8. Sitzung der Frankfurter Arbeitsgemeinschaft
| |
− | 101 Archiv der Großloge AFuAM, Altenburg, A – 0005.
| |
− | 102 Ebenda.
| |
− | 103 Ebenda.
| |
− | 78
| |
− | vom 29. März 1947 gewesen. Dem Protokoll der Sitzung nach erklärte der Vorsitzende der
| |
− | Arbeitsgemeinschaft, Br. Pauls, »er halte die damaligen Vorgänge für so bedenklich, dass
| |
− | er für die deutsche Freimaurerei schwere Nachteile befürchte, wenn sie zur Kenntnis der
| |
− | Militärbehörden kämen« und Mitglieder der Sitzung stimmten darin überein, »dass von
| |
− | allen Brüdern, die sich früher in heute als falsch erkannter Richtung exponiert hätten, äußerste
| |
− | Zurückhaltung geübt werden müsse«. Brüder mit ehemals nationalistisch-völkischer
| |
− | Orientierung, insbesondere solche, »die heute noch ihre frühere Tätigkeit als Leiter der
| |
− | berüchtigten Ringe Altpreußischer Logen ihren Namen offenbar als Ehrentitel zufügen,
| |
− | seien als Brüder tragbar, aber nicht an führender Stelle«.104
| |
− | Auf örtlicher Ebene der Logen wurden gleichfalls gelegentlich Auseinandersetzungen
| |
− | geführt, bei denen es um die Frage der Legitimität einer Wiederzulassung von Logen angesichts
| |
− | völkischer Belastungen ging, und es gab Schreiben aus Logenkreisen an die örtlichen
| |
− | Polizeibehörden, andere, ehemals altpreußische Logen wegen massiver Vergangenheitshypotheken
| |
− | nicht wieder zuzulassen.105
| |
− | Auch aus heutiger Sicht muss leider nach wie vor gelten, dass die Beschäftigung mit
| |
− | dem Thema »Freimaurerei und Nationalsozialismus« äußerst zögerlich erfolgt und dass die
| |
− | freimaurerische Selbstdarstellung für diese Zeit immer noch von Mythen und Legenden
| |
− | durchzogen ist.
| |
− | Wie für die deutsche Politik, so war auch für die Freimaurerei in Deutschland der alliierte
| |
− | Nachkriegsrahmen entscheidend. Die Logen konnten sich nur wiedergründen, wenn sie
| |
− | von den Militäradministrationen zugelassen und von ausländischen Großlogen unterstützt
| |
− | wurden. Voraussetzung dafür war, dass sich wie die deutsche Politik im Allgemeinen so
| |
− | auch die deutsche Freimaurerei im Speziellen in ihrer Haltung zu Demokratie und internationaler
| |
− | Verständigung neu definierte – d.h. als für im demokratischen Sinne politisch
| |
− | integer erklärte – und dass zugleich ein Modus Vivendi mit der Vergangenheit zwischen
| |
− | 1918 und 1945, d.h. mit der Zeit rechtskonservativer, nationalpatriotischer und nationalsozialistischer
| |
− | Orientierung gefunden wurde.
| |
− | Die Wege, welche die deutsche Freimaurerei in ihrer »Vergangenheitspolitik« dabei ging,
| |
− | entsprachen dem Mainstream der politischen Selbstverständigung in der deutschen Nachkriegsgesellschaft.
| |
− | Knapp gehaltenen Hinweisen auf »die Verirrungen eines nicht geringen
| |
− | Teiles der deutschen Freimaurerei vor 1933«106 folgten nur allzu oft apologetische Formeln,
| |
− | die mit der Zeit den Charakter dominierender Sprachregelungen annahmen.
| |
− | Die Leitformeln dafür können in ihrem Kern wie folgt umschrieben werden:
| |
− | • Wir deutschen Freimaurer waren und sind geborene Demokraten.
| |
− | • Wir deutschen Freimaurer waren im Hinblick auf das NS-Regime Gegner, Opfer und Verfolgte.
| |
− | • Wir deutschen Freimaurer haben mit unserer Anpassung an den Nationalsozialismus lediglich
| |
− | versucht, den Bund und sein historisches Erbe durch »Tarnung« zu retten.
| |
− | 104 Archiv der Großloge AFuAM, Altenburg, A – 0009.
| |
− | 105 Archiv der Großloge AFuAM, Altenburg, A – 0002.
| |
− | 106 Bernhard, Henry: Die deutsche Freimaurerei und Europa, in: Die Vereinigte Großloge, Juli/August 1951,
| |
− | H. 1–2, S. 38–43, hier S. 39.
| |
− | 79
| |
− | Zwar beschloss der Großmeistertag im zeitlichen Vorfeld der feierlichen Einsetzung der Vereinigten
| |
− | Großloge der Freimaurer von Deutschland am 22. Januar 1949 eine Erklärung, in
| |
− | der es hieß:
| |
− | »Der Nationalsozialismus, der im Jahre 1933 die deutschen Freimaurerlogen hinwegfegte,
| |
− | hat der Kultur der Menschheit furchtbare Wunden geschlagen. Auch wenn
| |
− | sich in unseren Reihen keiner befindet, der an diesem Verbrechen teilhatte, keiner,
| |
− | der sich der tödlichen Gewalt des Dritten Reiches innerlich oder äußerlich verbunden
| |
− | fühlte, auch wenn viele von uns Gegner und Opfer dieses Reiches gewesen sind,
| |
− | so bleiben wir als Deutsche uns doch der Verpflichtung bewusst, an der Heilung der
| |
− | Wunden nach besten Kräften mitzuhelfen.«107
| |
− | Zu einer wirklichen Klarstellung und konsequenten Aufarbeitung im Hinblick auf die völkische
| |
− | Vergangenheit konnten sich die deutschen Freimaurer freilich nicht entschließen.
| |
− | Dies gilt nicht zuletzt für die »altpreußischen« Großlogen, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg
| |
− | neu formierten, und hier insbesondere für die Große Landesloge der Freimaurer von
| |
− | Deutschland. In einer »Generellen Erklärung«, die Ordensmeister Fritz Pauk im Januar 1955
| |
− | abgab, hieß es lediglich: »Wir bitten um Verständnis dafür, dass manches gegen den auch für
| |
− | uns verbindlichen Primat der Freimaurerei geschah, um durch Tarnung dem der deutschen
| |
− | Freimaurerei zugedachten Schicksal zu entgehen.«108
| |
− | Und noch Anfang der 70er Jahre – längst hätte eine kritisch-selbstkritische Aufarbeitung der
| |
− | Quellen beginnen können – hieß es entschuldigend:
| |
− | »Die verantwortlichen BBr. versuchten, trotz aller Gefahren, trotz Diffamierung und
| |
− | persönlicher Abwertung, das gefährdete Schiff durch die Klippen der Zeit zu bringen.
| |
− | Wenn aller unbeirrbarer Glaube letzten Ende doch Schiffbruch erlitt – wer
| |
− | möchte den ersten Stein werfen. Es sind nach 1945 viele Steine geworfen worden.
| |
− | Nach genauer Prüfung aller Berichte ist aber zu sagen: Alle verantwortlichen BBr. haben
| |
− | die härteste Bewährungsprobe über sich ergehen lassen müssen, der je BBr. an
| |
− | verantwortlichen Stellen ausgesetzt waren, und sie haben diese Probe bestanden, vor
| |
− | sich selbst, vor der Bruderschaft und vor der Welt!«109
| |
− | Um das proklamierte »Bestehen der Probe« zu überprüfen, müsste an dieser Stelle eine analytische
| |
− | Aufarbeitung der zahlreichen vorliegenden Dokumente – insbesondere der Beiträge
| |
− | in den vielen neu oder wieder erschienenen freimaurerischen Zeitschriften sowie der Archivalien
| |
− | – vorgenommen werden. Weitere Untersuchungen sind erforderlich und werden – bei
| |
− | wachsendem Zeitabstand und zugänglicher werden Archivmaterialien auch sicher zukünftig
| |
− | vorgenommen. Beim derzeitigen Stand von Forschung und Erschließung der Quellen kann
| |
− | das aus meiner Sicht Bezeichnende nur beispielhaft illustriert werden.
| |
− | 107 Rundschreiben der Vereinigten Großloge der Freimaurer von Deutschland, 1948/49, Archiv der Großloge
| |
− | AFuAM, Altenburg.
| |
− | 108 Text der Erklärung im Archiv der Großloge AFuAM, Altenburg, A – 0009.
| |
− | 109 Zur Geschichte der Großen Landesloge der Freimaurer von Deutschland zu Berlin. 1920–1970, Berlin/
| |
− | Uetersen 1970, S. 39.
| |
− | 80
| |
− | So führten etwa bayerische Logen als Schritt auf dem Wege zur Wiedergründung der
| |
− | Großloge »Zur Sonne« am 4. Oktober 1947 eine »Erste öffentliche Kundgebung der bayerischen
| |
− | Freimaurer« in Bayreuth durch, in deren Mittelpunkt ein Vortrag mit dem Thema
| |
− | »Die wieder erstehenden Freimaurerlogen als Bausteine für Humanität und Demokratie«
| |
− | stand.110 Der Referent bezeichnete »die Verfolgung der Freimaurerei durch die Nazi als das
| |
− | Unerhörteste, was ihr in ihrer 200-jährigen Geschichte begegnet ist«, hob hervor, dass seit
| |
− | dem 18. Jahrhundert »in den Bauhütten des Abendlands und später der ganzen Welt ein
| |
− | sozialer Humanismus als Sinnbild vollkommener Brüderlichkeit, Gleichheit und Freiheit
| |
− | gelebt habe«, und folgerte für die Gegenwart, dass »die Wiedererstarkung der Freimaurerei
| |
− | … für die demokratische Fortentwicklung des deutschen Volkes, innen- und außenpolitisch
| |
− | gesehen, von größter Wichtigkeit« werden könne.
| |
− | Im Mitteilungsblatt der 1949 gegründeten Vereinigten Großloge der Freimaurer von
| |
− | Deutschland hieß es im Leitartikel zum Januar-Heft 1950: »Ein jeder wahre Freimaurer
| |
− | muss sich fühlen und bekennen als ein Glied einer Weltorganisation, deren heiligste Aufgabe
| |
− | es ist, in der ganzen Welt die elementaren Ideale der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit
| |
− | hochzuhalten, für Menschenrechte und Menschenwürde einzustehen, für den
| |
− | Weltfrieden zu kämpfen und alles zu tun, um die menschliche Kultur zu retten, zu erhalten
| |
− | und zu fördern.«111
| |
− | Zum Umgang mit der Vergangenheit sind die Ausführungen beispielhaft, die von Theodor
| |
− | Vogel, dem späteren VGL- und VGLvD-Großmeister, bei der Wiedereinsetzung der
| |
− | Großloge »Zur Sonne« Anfang Mai 1948 vorgetragen wurden:
| |
− | »Wir bekennen uns zu dem Schicksal unseres Volkes, von dem wir uns im Leid
| |
− | so wenig wie im Glück zu trennen begehren. Wir wollen ihm helfen, die Schuld
| |
− | seiner Machthaber, die unsere Feinde waren, zu überwinden durch Dienst an der
| |
− | Gerechtigkeit«.112
| |
− | Theodor Vogel fuhr fort:
| |
− | »Es war nicht Aufgabe der Freimaurerei, den Staat Adolf Hitlers auf politischem Feld
| |
− | zu bekämpfen, so wenig dies Aufgabe der Kirchen oder der Künstler an sich gewesen
| |
− | ist. Dass trotzdem ihre Logen geschlossen, ihre Häuser beschlagnahmt, ihr Vermögen
| |
− | geraubt wurde, dass ihre Angehörigen diffamiert, amtsunwürdig erklärt, von den
| |
− | Lehrstühlen entfernt, entlassen, vertrieben oder in den KZ’s zu Märtyrern gemacht
| |
− | wurden, hat dennoch ein Gutes bewirkt: Die reinliche Scheidung. Wer in den 13 Jahren
| |
− | der Menschheitsferne der Idee der Loge treu blieb und ausharrte, hatte 1945 dennoch
| |
− | gesiegt.«113
| |
− | Der Versuch einer solchen »reinlichen Scheidung« spielte für »Erinnerungskultur« und »Gedächtnispolitik
| |
− | « der deutschen Nachkriegsgesellschaft und auch der deutschen Freimaurerei
| |
− | 110 Rundbrief der hammerführenden Meister der bayer. Freimaurerlogen, Oktober 1947, S. 5.
| |
− | 111 Die heutigen Aufgaben der Freimaurerei, in: Mitteilungsblatt der Vereinigten Großloge der Freimaurer
| |
− | von Deutschland, Januar 1950, S. 79.
| |
− | 112 Bundesblatt der Großloge »Zur Sonne« Bayreuth, Mai 1948, S. 129.
| |
− | 113 Ebenda, S. 130.
| |
− | 81
| |
− | als Teil dieser Gesellschaft eine große Rolle: Nazis, das waren deutlich abgrenzbar jene, d.h.
| |
− | die anderen – Nicht-Nazis, Verfolgte und Opfer, das waren ebenso deutlich abgrenzbar wir.
| |
− | De facto hat es eine solche »reinliche Scheidung« allerdings nicht gegeben: Von der Ausnahme
| |
− | wirklichen Widerstands abgesehen, hatte sich die deutsche Gesellschaft in ihrer Gesamtheit
| |
− | mehr oder weniger mit dem NS-System identifiziert und damit dessen Funktionieren
| |
− | ebenso ermöglicht wie sein Überleben bis zum bitteren Ende der militärischen Niederlage.
| |
− | Da dies nun auch für beträchtliche Teile der deutschen Freimaurer zu gelten hat, mussten
| |
− | ihre führenden Repräsentanten nach 1945 für den Umgang mit der Vergangenheit in
| |
− | einem doppelten Sinne Sprach- und Verhaltensregeln finden: Einmal ging es um die Frage,
| |
− | wie mit der Vergangenheit der Freimaurerei vor und zu Beginn der NS-Zeit umzugehen
| |
− | sei, zum anderen mussten Wege des Umgangs mit ehemaligen Nationalsozialisten bzw. NSSympathisanten
| |
− | gefunden werden.
| |
− | Paradigmatisch für die Haltung vieler Freimaurer, aber auch für weite Teile des deutschen
| |
− | Nachkriegsbürgertums insgesamt kann wiederum auf August Horneffer hingewiesen
| |
− | werden, der 1946 zum Großmeister der »Großen Loge Royal York zur Freundschaft«114
| |
− | gewählt wurde. Er schob in seinem 1955 veröffentlichten Erinnerungsbuch »Aus meinem
| |
− | Freimaurerleben« die Hauptverantwortung für die Wende seiner Großloge zum Nationalsozialismus
| |
− | dem damaligen, mittlerweile verstorbenen Großmeister Oscar Feistkorn zu, der
| |
− | »voll rührenden Eifers (war), mit den neuen Herren zu paktieren …«115, während er selbst
| |
− | die freimaurerische Arbeit hätte einstellen wollen. Zur Kennzeichnung des Hintergrunds
| |
− | und zur Erklärung der Einstellung vieler Freimaurer zum Nationalismus wird von Horneffer
| |
− | – in erstaunlicher Übereinstimmung mit vor 1935 von ihm und anderen »völkischen«
| |
− | Freimaurern vertretenen Auffassungen – angemerkt,
| |
− | »dass im Parteiprogramm und in vielen schönen Reden, die wir hörten oder lasen,
| |
− | Grundsätze und Wendungen vorkamen, die uns Freimaurer angenehm berührten.
| |
− | Besonders die Einheit des Volkes, die Lobpreisung der Arbeit –, das war
| |
− | doch gleichsam eine Verallgemeinerung unserer maurerischen Botschaft! Es war
| |
− | kein Wunder, dass sich nicht wenige Brüder für den ›nationalen Sozialismus‹ zu
| |
− | begeistern anfingen und den dringenden Wunsch hatten, mitzuarbeiten. Übrigens
| |
− | fanden sich solche ›Kollaborateure‹ keineswegs bloß unter den altpreußischen Freimaurern;
| |
− | ebenso heftig strebten viele nicht preußische Brüder nach dem Mitgliedsbuch
| |
− | der Partei …«116.
| |
− | Zum völkischen und nazistischen Antisemitismus – auch in der Freimaurerei – bemerkt
| |
− | Horneffer:
| |
− | »Daß aber die Juden die Kerntruppe aller Zersetzungsarbeit, alles verneinenden, auflösenden
| |
− | verhöhnenden Satanismus seien, stand nicht bloß in Hitlers und Rosenbergs
| |
− | Büchern; es war in einem geradezu unheimlichen Grade zum Volksglauben geworden
| |
− | und wirkte in alle sozialen Verhältnisse und Verbindungen hinein. Ich hätte
| |
− | blind sein müssen, wenn ich auf meinen Logenreisen diesen Zug der Zeit nicht hätte
| |
− | 114 Die Großloge hatte nach 1945 das alte »Royal York« wieder in ihren Namen aufgenommen.
| |
− | 115 Horneffer, August: Aus meinem Freimaurerleben. Erfahrungen und Winke, Hamburg 1957, S. 190.
| |
− | 116 Ebenda, S. 188.
| |
− | 82
| |
− | bemerken sollen … Ich ahnte damals noch nicht, daß unser Volk noch im 20. Jahrhundert
| |
− | fähig sein würde, gesetzliche Ausnahmebestimmungen, Bedrückungen, Austreibungen
| |
− | und schließlich Ausrottungsmaßregeln gegen die Juden gutheißen oder
| |
− | wenigstens geschehen zu lassen. Wenn ich aber auch solche Ausartungen eines übertriebenen
| |
− | Minderwertigkeitsgefühls vorausgesehen hätte, würde ich mich doch niemals
| |
− | haben entschließen können, mich dem übermächtigen Willen meines Volkes
| |
− | entgegenzuwerfen oder in die Emigration zu gehen.«117
| |
− | Und als »bedauernswertes Armutszeugnis« wird es von Horneffer an anderer Stelle bezeichnet,
| |
− | »daß unser Volk mit den Juden nur durch brutale Gewalt fertig werden zu können
| |
− | glaubte«.118 Das in vielerlei Hinsicht lesenwerte, historisch interessante und persönlich
| |
− | anrührende
| |
− | Buch Horneffers, dessen Rang als freimaurerischer Autor nicht in Zweifel gezogen
| |
− | werden soll, macht deutlich, in welch begrenztem Maße deutsche Freimaurer – wie
| |
− | viele andere
| |
− | deutsche Bürger auch – aus der deutschen Katastrophe als »Bürger des Westens«
| |
− | hervorgegangen
| |
− | waren, wie wenig sie in der Lage waren, ihre eigene Rolle selbstkritisch zu
| |
− | reflektieren und wie sehr es den von den siegreichen westlichen Alliierten nach 1945 gesetzten
| |
− | politischen Rahmenbedingungen zu verdanken ist, dass Deutschland im Verlauf der
| |
− | zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer funktionsfähigen »westlichen Demokratie« geworden
| |
− | ist.119
| |
− | Tatsache ist jedenfalls, dass die von Theodor Vogel angemahnte »reinliche Scheidung«
| |
− | in vielen Fällen unterblieb und dass nur allzu oft Opportunismus, Nachsicht und Milde
| |
− | herrschten, die bis zur Gefährdung freimaurerischer Prinzipien reichten.120
| |
− | Bei dieser Feststellung geht es nicht um Schuldzuweisungen, wohl aber bleibt nachdrücklich
| |
− | anzumerken, dass mehr kritische Selbstwahrnehmung, Erinnerungsscham und Mut
| |
− | zu historischer Wahrheit zu wünschen gewesen wären. Wie flott und eindringlich waren
| |
− | die Texte vor und nach 1933 geschrieben worden und wie wenig mochte man sich nach
| |
− | 1945 an sie erinnern, was nicht nur für die Autoren, sondern auch für die Großlogen gilt,
| |
− | zu deren ideologischer Profilierung sie verfasst worden waren. Insgesamt kann jedenfalls
| |
− | konstatiert werden, dass sich die freimaurerische Erinnerungskultur und das Verhalten
| |
− | ehemaligen NS-Sympathisanten gegenüber in der Nachkriegszeit und den Gründerjahren
| |
− | der Bundesrepublik aufs Ganze nicht von den entsprechenden Einstellungen der deutschen
| |
− | Gesellschaft insgesamt unterschieden haben.121
| |
− | Für eine fundierte Aufarbeitung besteht weiterer Forschungsbedarf. Doch bei der in der
| |
− | deutschen Freimaurerei der Gegenwart noch immer verbreiteten Scheu, sich unbequemen
| |
− | historischen Fakten zu stellen, bleibt vielleicht auch hier nur die Möglichkeit, dass sich
| |
− | »externe
| |
− | « Freimaurerforscher der Thematik annehmen.
| |
− | 117 Ebenda, S. 127, 129.
| |
− | 118 Ebenda, S. 124.
| |
− | 119 Ich folge hier wieder der Begrifflichkeit Winklers.
| |
− | 120 Zu Beispielen aus Bremen s. Meyer, Marcus/Hofschen, Heinz-Gerd: Licht ins Dunkel. Die Freimaurer
| |
− | und Bremen, Bremen 2006, S. 115f.
| |
− | 121 Vgl. Frei, Norbert: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit,
| |
− | München 1996; ders.: 1945 und Wir. Das Dritte Reich im Bewußtsein der Deutschen, München
| |
− | 2005; Cornelißen, Christoph/Klinkhammer, Lutz/Schwentker, Wolfgang (Hrsg.): Erinnerungskulturen.
| |
− | Deutschland, Italien und Japan seit 1945, Frankfurt/Main 2003.
| |
− | 83
| |
− | Gewiss: In den vergangenen zwei Jahrzehnten haben sich mehr Freimaurer als in
| |
− | der Nachkriegszeit davor um ein kritisches Aufarbeiten der massiven Annäherung beträchtlicher
| |
− | Teile der deutschen Freimaurerei an Nationalsozialismus und NS-Regime
| |
− | bemüht. So ist etwa hinzuweisen auf die »offenen«, d.h. unter Beteiligung externer Experten
| |
− | durchgeführten Arbeitstagungen
| |
− | der Forschungsloge »Quatuor Coronati« zu
| |
− | den Themen »Von der Reichsgründung
| |
− | bis zum Ende der Weimarer Republik: Interne
| |
− | und internationale Aspekte der deutschen Freimaurerei« (Frankfurt 2005) sowie »Freimaurerei
| |
− | und Friedensfrage in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts« (Salzburg/Anif
| |
− | 2006), die im Quatuor Coronati Jahrbuch dokumentiert wurden, auf einige schon zuvor
| |
− | im QC-Jahrbuch erschienene Artikel (Werner Freudenschuß und Jürgen Luckas),
| |
− | auf einige nachdenkliche Ref lexionen in Bruno Peters Buch über die »Freimaurerei im
| |
− | Deutschen Reich«, auf einige Beiträge in der Zeitschrift »Humanität« (darunter
| |
− | von
| |
− | Rolf Appel122, Gerhard Grossmann123 und vom Autor dieses Beitrags124) sowie auf einige
| |
− | kritisch-differenzierend
| |
− | erinnernde Berichte aus der Perspektive einzelner Brüder
| |
− | (z.B. – wie zitiert – Br. Daniel Lotter) und Logen (z.B. die vorzüglich aufbereitete Erinnerungsschrift
| |
− | »250 Jahre Freimaurerei
| |
− | in Oldenburg, 1752–2002«). Vor allem aber ist
| |
− | das dreibändige Werk über die Große National-
| |
− | Mutterloge »Zu den drei Weltkugeln«
| |
− | zwischen 1933 und 2000 hervorzuheben, das unter der Redaktion von Hans-Werner
| |
− | Schwarz als »Versuch einer Standortbestimmung« in Herausgeberschaft der GNML 3WK
| |
− | im Jahre 2002 erschien.125 Dieses Buch ist deshalb so wichtig,
| |
− | weil es sich hier um den
| |
− | ersten umfassenden, von einer deutschen Großloge unternommenen
| |
− | Versuch handelt,
| |
− | abwägend und zeitkritisch sowie unter Rückgriff auf viele Quellen aufzuarbeiten,
| |
− | was
| |
− | sich innerhalb eines breiten Segments der deutschen Freimaurerei in den 20er und 30er
| |
− | Jahren des 20. Jahrhunderts an Entfernungen vom Ursprungsideal
| |
− | vollzog. Das Werk
| |
− | begründet ein neues Anspruchsniveau, von dem bei weiteren derartigen Bemühungen
| |
− | ausgegangen werden sollte.
| |
− | Insgesamt ist jedoch einzuräumen, dass die analytisch überzeugendsten, materialreichsten
| |
− | und wissenschaftlich unbefangensten Arbeiten zur hier erörterten Thematik von
| |
− | Wissenschaftlern
| |
− | außerhalb der Freimaurerei vorgelegt wurden, wobei vor allem auf drei
| |
− | Arbeiten hinzuweisen ist, deren Lektüre in diesem Zusammenhang unverzichtbar ist: Helmut
| |
− | Neubergers
| |
− | »Freimaurerei und Nationalsozialismus«, Hamburg 1980 (2001 unter dem
| |
− | Titel »Winkelmass und Hakenkreuz. Die Freimaurer und das Dritte Reich« neu ediert),
| |
− | Wolfgang Fenners
| |
− | und Joachim Schmidt-Sasses Studie »Die Freimaurerei als ›nationale
| |
− | Kraft‹ vor 1933« (im Sammelband »Weimars Ende«, herausgegeben von Thomas Koebner,
| |
− | Frankfurt/Main 1982) und Ralf Melzers »Konflikt und Anpassung. Freimaurerei in der Weimarer
| |
− | Republik und im ›Dritten Reich‹«, Wien 1999. Zusätzlich zu verweisen ist auch in
| |
− | diesem Zusammenhang
| |
− | auf Stefan-Ludwig Hoffmanns Buch »Politik der Geselligkeit. Freimaurerlogen
| |
− | in der deutschen Bürgergesellschaft 1840–1918«, Göttingen 2000. Viele Kapitel
| |
− | 122 Appel, Rolf: Zwischen Ungeist und Widerstand: Freimaurerei und Nationalsozialismus, in: Humanität.
| |
− | Das deutsche Freimaurermagazin, Nr. 5, Juli/Aug. 1985, S. 19–22.
| |
− | 123 Grossmann, Gerhard: 1935–1945–1985, ebenda S. 17–18.
| |
− | 124 Höhmann, Hans-Hermann: Erinnern – weil wir Zukunft wollen, ebenda S. 23–24.
| |
− | 125 Große National-Mutterloge »Zu den drei Weltkugeln« im Verband der Vereinigten Großlogen von
| |
− | Deutschland, Bruderschaft der Freimaurer: 1933–2000. Versuch einer Standortbestimmung, 3 Bände,
| |
− | Berlin 2002.
| |
− | 84
| |
− | dieses – von der Forschungsloge für ihre Mitglieder unmittelbar nach seinem Erscheinen
| |
− | als »Jahresgabe« erworbenen
| |
− | Werkes – behandeln die Vorgeschichte und die Grundlagen
| |
− | späterer Entwicklungen,
| |
− | wobei auf das Kapitel »Fremde Brüder: Juden und Freimaurer«
| |
− | besonders zu verweisen ist.126
| |
− | Trotz der zuvor erwähnten Veröffentlichungen von Freimaurern und freimaurerischen
| |
− | Institutionen
| |
− | muss aufs Ganze allerdings nach wie vor gelten, dass die Beschäftigung mit
| |
− | dem Thema »Freimaurerei und Nationalsozialismus« unverändert zögerlich erfolgt und
| |
− | dass die freimaurerische Selbstdarstellung für diese Zeit immer noch von Mythen und
| |
− | Legenden durchzogen ist, vor allem und besonders bedauerlicherweise gegenüber der Öffentlichkeit,
| |
− | der ein besseres Wissen offenbar häufig nicht zugetraut wird.
| |
− | Dies hat nun wiederum mit dem Legitimitätsproblem, vor allem mit der Angst vor
| |
− | Legitimationsdefiziten
| |
− | zu tun. Zwischen dem heutigen Selbstverständnis des Bundes als
| |
− | einem weltoffenen, humanitären Freundschaftsbund und der freimaurerischen Realität und
| |
− | Selbstdarstellung
| |
− | der 20er und frühen 30er Jahre besteht nun einmal eine tiefe Kluft. Humanitäre
| |
− | Grundhaltung und Annäherung an den Nationalsozialismus bis zur Verleugnung
| |
− | der alten Ideale und ihres rituellen Ausdrucks passen nun einmal nicht zusammen. Also
| |
− | lag die Versuchung nahe, im Nachhinein, das heißt im Zuge der Wiedergründung der Freimaurerei
| |
− | nach dem Zweiten Weltkrieg, die zuvor skizzierten Strategien zur Überwindung
| |
− | dieser Kluft anzuwenden, die einem Bemühen um historische Wahrheit in ihrer Gesamtheit
| |
− | kaum entsprachen.
| |
− | Doch es ist nun einmal historische Tatsache, dass sich große Teile der deutschen
| |
− | Freimaurer
| |
− | als Bestandteil eines politisch weitgehend rechtskonservativ orientierten Bürgertums
| |
− | an den Nationalsozialismus anpassten, ja in vielen Fällen mit teils innerer, teils
| |
− | offen artikulierter Zustimmung auf die Nazis zugingen. Was diese Freimaurer störte – dies
| |
− | belegen die Quellen aus den frühen 30er Jahren nur allzu deutlich –, war weit weniger der
| |
− | Nationalsozialismus
| |
− | selbst als der von den Nazis verfügte Umstand, dass sie als Freimaurer
| |
− | – oder gewesene Freimaurer – am Aufbau des neuen Deutschlands nicht teilhaben sollten.
| |
− | Und so mag man schließlich gar die Frage stellen, ob nicht das endgültige »Nein« des NSRegimes
| |
− | nicht nur zur »humanitären«, sondern auch zur völkisch orientierten Freimaurerei
| |
− | im Jahre 1935 nicht vor allem auch das Ende einer weiteren Selbstaufgabe
| |
− | der Freimaurerei
| |
− | bedeutete. Die Frage, wie eine Freimaurerei ausgesehen hätte, die auf Dauer geglaubt hätte,
| |
− | mit dem NS-System koexistieren zu können und die von den Machthabern auch die ersehnte
| |
− | Zustimmung dazu erhalten hätte, ist offenbar so bedrückend, dass sie kaum gestellt
| |
− | wurde.
| |
− | Selbstverständlich verbieten sich Verallgemeinerungen:
| |
− | Es gab in allen Großlogen engagierte Demokraten – oder zumindest doch »Vernunftrepublikaner
| |
− | « –, von denen viele allerdings die Freimaurerei mit fortschreitender Identifizierung
| |
− | mit dem sich breitmachenden NS-Zeitgeist verließen. Auch gab es Kritik am Nationalsozialismus
| |
− | im Großlogenschrifttum, bei den humanitären Großlogen mehr als bei den altpreußischen,
| |
− | und am deutlichsten in den Zeitschriften des »Freimaurerbundes zur aufgehenden
| |
− | Sonne« und der »Symbolischen Großloge von Deutschland«. Als Großlogen standen
| |
− | 126 Hoffmann, Stefan-Ludwig: Die Politik der Geselligkeit. Freimaurerlogen in der deutschen Bürgergesellschaft
| |
− | 1840–1918, Göttingen 2000, S. 176–202.
| |
− | 85
| |
− | die beiden Letztgenannten ohnehin zuletzt weitgehend allein für jene freimaurerischen Tugenden,
| |
− | zu denen sich – dank 1945 – deutsche Freimaurer heute wieder in ihrer Gesamtheit
| |
− | bekennen können: allgemeine Menschenliebe, umfassende Toleranz, Weltbruderkette und
| |
− | Friedensliebe.
| |
− | Ebenso muss zwischen Anpassung von Logen und Großlogen auf der einen und der
| |
− | unveränderten
| |
− | freimaurerischen sowie menschlichen Integrität vieler ihrer Mitglieder auf
| |
− | der anderen
| |
− | Seite unterschieden werden, und es gab bei aller Anpassung auch eine ganz
| |
− | »normale« Freimaurerei, in der sich Freunde trafen, Rituale erlebten und gesellig waren.
| |
− | Gleichfalls gab es persönlichen Widerstand von Freimaurern, und auch Treue zur Menschlichkeit
| |
− | bis in den Tod hat es in der Tat gegeben. Es ist dabei nicht wichtig, ob diese Männer
| |
− | starben, weil sie Freimaurer, Demokraten, Sozialisten oder Pazifisten
| |
− | waren: Namen
| |
− | wie Wilhelm Leuschner, Leo Müffelmann und Carl von Ossietzky stehen für ein anderes
| |
− | Deutschland – und eine andere, nicht angepasste Freimaurerei.
| |
− | Gelegentlich hat die Annäherung an den Nationalsozialismus in der Nachkriegspolemik
| |
− | zwischen Mitgliedern der Partnergroßlogen innerhalb der VGLvD eine Rolle gespielt,
| |
− | in dem allzu rasch allein den altpreußischen Großlogen der Schwarze Peter völkischer
| |
− | Orientierung und die Pflicht der selbstkritischen Aufarbeitung zugeschoben wurde. Dies
| |
− | ist so nicht angängig.
| |
− | Erstens gehören zahlreiche 3WK- und Royal-York-Logen seit 1949
| |
− | der Großloge AFuAM bzw. ihrer Vorgängergroßloge an, und diese Logen (nicht zuletzt
| |
− | die Logen des Bielefelder
| |
− | und des Wetzlarer Ringes) waren in den frühen 30er Jahren
| |
− | vielfach stärker völkisch
| |
− | orientiert und an das NS-System angepasst als die Großlogen
| |
− | in Berlin. Zweitens gab es seit Mitte der 20er Jahre – heutzutage nicht gern erinnerte –
| |
− | Absetzbewegungen namhafter
| |
− | humanitärer Logen von ihren bisherigen Großlogen zu
| |
− | altpreußischen (oder zumindest zu stärker völkisch orientierten) Großlogen.127 Und in
| |
− | der Anpassung zwischen 1933 und 1935 gab es dann drittens kaum noch wirkliche Unterschiede
| |
− | zwischen den noch verbliebenen Logen
| |
− | und Großlogen. Wenn von heute aus
| |
− | an das Ende der Freimaurerei im Jahre 1935 zurückgedacht
| |
− | wird, so sollte daher auch
| |
− | bewusst werden, dass das endgültige Verbot der Freimaurerei
| |
− | durch die Nazis in jenem
| |
− | Jahr wenigstens den weiteren, vermutlich endgültigen Wesens- und Substanzverlust des
| |
− | Bundes verhindert hat.
| |
− | Noch einmal: Es geht nicht um Schuldzuweisungen, es geht darum, zu wissen, wie es war, es
| |
− | geht um Abschied von Legenden, es geht um eine sorgfältig differenzierte Aufarbeitung
| |
− | der
| |
− | Fakten. Es geht für den Freimaurer-Bürger von heute aber auch um die historisch begründete
| |
− | Einsicht, wie nötig es für die Lebensfähigkeit einer Demokratie ist, die breite Mitte der
| |
− | Gesellschaft vor dem Vordringen extremer Vorstellungen zu bewahren.
| |
− | Schließlich geht es auch um die Erinnerung an die Hauptopfer der NS-Gewaltherrschaft
| |
− | unter den deutschen Freimaurern, die Opfer etwa unter den knapp 3000 jüdischen
| |
− | Brüdern, die – nach »sorgfältigen Ermittlungen« des Vereins deutscher Freimaurer128
| |
− | – in
| |
− | 127 Vgl. Schulz-Robinson, Kim: Richtungsstreit und Logenübertritte: Die Große Loge von Hamburg am
| |
− | Rande der Spaltung (1924–1926), in: Quatuor Coronati Jahrbuch für Freimaurerforschung, Nr. 42/2005,
| |
− | S. 99–105.
| |
− | 128 Die Vernichtung der Unwahrheiten über die Freimaurerei durch 116 Antworten auf 116 Fragen, herausgegeben
| |
− | vom Verein deutscher Freimaurer, Leipzig 1928, S. 33. Dieselbe Quelle gibt die Zahl der Mitglieder
| |
− | der »humanitären« deutschen Großlogen mit 24.000 an. Daraus ergibt sich ein Anteil jüdischer
| |
− | 86
| |
− | den 20er Jahren in den Bruderketten der »humanitären« deutschen Großlogen
| |
− | (die »altpreußischen
| |
− | « Großlogen hatten die Mitgliedschaft von Juden ausgeschlossen) gestanden
| |
− | haben: Wer kennt sie, wer weiß, was aus ihnen geworden ist, wer hat ihre Namen aufbewahrt,
| |
− | wer hat nach dem Krieg an sie gedacht oder sich um sie gekümmert? Werden sie
| |
− | nicht abermals aufgegeben, wenn sie namenlos bleiben?
| |
− | Gewiss: Sich an geschichtliche Wahrheiten zu erinnern, kann unbequem sein. Es erfordert
| |
− | Mut und die Bereitschaft,
| |
− | auf bequeme »Neuerfindungen der Vergangenheit« zu
| |
− | verzichten. Es ist dem Politikwissenschaftler Stefan Wolle darin zuzustimmen, dass alles,
| |
− | was gemeinhin unter dem Signum von »Aufarbeitung« und »Vergangenheitsbewältigung«
| |
− | rubriziert wird, der natürlichen
| |
− | Gravitationskraft des Alltagsdenkens widerstrebt und dass
| |
− | die »Schlussstrichzieher
| |
− | aller Zeiten« stets den gesunden Menschverstand auf ihrer Seite zu
| |
− | haben scheinen.
| |
− | Wir Heutigen haben als Bürger und Freimaurer nicht die Vergangenheit der 1920er und
| |
− | -30er Jahre zu verantworten. Wohl aber sind wir verantwortlich für das, was wir aus dieser
| |
− | Vergangenheit in der Gesellschaft von heute weiterwirken bzw. wieder aufleben lassen, und
| |
− | wir haben die Art und Weise zu verantworten, wie wir mit Vergangenheit
| |
− | handelnd und
| |
− | erinnernd umgehen. Eine entlastende und beschönigende »Erinnerungspolitik
| |
− | « wie die der
| |
− | unmittelbaren Nachkriegszeit mag vielleicht dem Wiederaufbau der Freimaurerei nach dem
| |
− | Zusammenbruch des Nazi-Systems förderlich gewesen sein, ja sie war bis einem gewissen
| |
− | Grade wohl unvermeidlich.
| |
− | Doch inzwischen besteht die Gefahr, dass aus Notkonstruktionen Mythen werden, die
| |
− | sich im Bewusstsein heutiger Freimaurer zu Realitäten
| |
− | verdichten, die es so nicht gab. Ein
| |
− | Unterstreichen dieser Gefahr ist durchaus angebracht. Denn jetzt – beinahe zwei Generationen
| |
− | nach der zuvor erörterten »klassischen« Periode der freimaurerischen Erinnerungspolitik
| |
− | in den späten 1940er und frühen 1950er Jahren – muss in Bezug auf den Problemkomplex
| |
− | Freimaurerei und Nationalsozialismus ein neuer Verdrängungsprozess konstatiert
| |
− | werden, der sich über den alten schiebt: ein Prozess der Verdrängung der Verdrängung.
| |
− | Denn während inzwischen zahlreiche Studien vorliegen, die sich mit der Erinnerungspolitik
| |
− | der frühen Bundesrepublik beschäftigen, sind Fragestellungen dieser Art im Diskurs der
| |
− | deutschen Freimaurer kaum präsent.
| |
− | Zum Schluss:
| |
− | Schadet eine offene Reflexion auch belastender Vergangenheiten dem Ansehen der Freimaurerei
| |
− | und ihrer zukünftigen Entwicklung?
| |
− | Wohl kaum.
| |
− | Im Gegenteil:
| |
− | Wenn Freimaurerei heute »reflexive Aufklärung« (Helmut Reinalter) sein will, so muss sie
| |
− | um ihrer Glaubwürdigkeit willen sich selbst und ihre Vergangenheit in diesen
| |
− | Aufklärungsprozess
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− | einbeziehen. Freimaurerei hat viel zu viel Substanz, als dass sie historische
| |
− | Wahrheiten
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− | nicht vertragen könnte. Und wenn Freimaurerei vor allem als Ausdruck von Lebens-
| |
− | Brüder von 12,5 %. In den einzelnen Großlogen, Städten und Logen war dieser Anteil allerdings sehr unterschiedlich.
| |
− | Der Verein deutscher Freimaurer hatte in Anbetracht der zunehmenden antisemitischen
| |
− | Strömungen in der deutschen Gesellschaft und seiner Absicht, den Angriffen Ludendorffs auf die deutsche
| |
− | Freimaurerei entgegenzutreten, sicher keinen Anlass, seine »Ermittlungen« übertrieben hoch ausfallen
| |
− | zu lassen.
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− | 87
| |
− | kultur verstanden wird, so muss Erinnerungskultur einen festen Platz in ihr haben. Das
| |
− | schulden sich die Freimaurer selbst. Aber auch der von ihnen angestrebte Respekt seitens
| |
− | der Öffentlichkeit hängt von der Fähigkeit ab, im Umgang mit der eigenen Vergangenheit
| |
− | redlich und wahrhaftig zu sein.
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− | 88
| |
− | Deutsche Freimaurerei nach 1945 –
| |
− | Wiederaufbau zwischen Neuorientierung
| |
− | und alten Strukturen
| |
− | Nach dem Zusammenbruch der Herrschaft des Nationalsozialismus als Hauptergebnis des
| |
− | Zweiten Weltkrieges und dem daraus folgenden Ende des Verbotes von Existenz und Tätigkeit
| |
− | der Logen stand die deutsche Freimaurerei vor fünf großen Aufgaben:
| |
− | • Erstens mussten die ehemaligen Freimaurer gesammelt, die Logen wieder gegründet, die
| |
− | dafür erforderlichen alliierten Genehmigungen eingeholt und die materiellen, insbesondere
| |
− | die räumlichen Voraussetzungen für die Wiederaufnahme der freimaurerischen Arbeit
| |
− | geschaffen werden.
| |
− | • Zweitens war eine neue und leistungsfähige Großlogenarchitektur zu errichten, die an die
| |
− | Stelle der Aufsplitterung des deutschen Großlogensystems in neun bzw. elf Großlogen
| |
− | treten konnte, wie sie vor 1933/35 bestanden hatte.
| |
− | • Drittens war aufgrund der vor der Verbotszeit fehlenden Übereinstimmung großer Teile
| |
− | der deutschen Freimaurerei mit zentralen Grundlagen der Weltfreimaurerei für Logen
| |
− | und Großlogen eine konzeptionelle Neuorientierung erforderlich geworden.
| |
− | • Viertens musste das Verhältnis zu Öffentlichkeit, Politik, gesellschaftlichen Gruppierungen,
| |
− | Kirchen, Presse und anderen Medien der öffentlichen Information und Meinungsbildung
| |
− | neu geregelt werden.
| |
− | • Fünftens schließlich war eine kritische Auseinandersetzung mit völkischer Orientierung
| |
− | und opportunistischer Haltung zum NS-System erforderlich geworden, zu denen es bei
| |
− | beträchtlichen Teilen der deutschen Freimaurerei vor 1933/35 gekommen war.
| |
− | Aufgabe des folgenden Beitrags ist es, einige von mir für wesentlich gehaltene Aspekte dieser
| |
− | fünf Aufgaben aufzuzeigen und darüber zu berichten, welche Ergebnisse auf den einzelnen
| |
− | Handlungsebenen erreicht wurden. Dabei geht es um eine Gesamtschau. Viele regionale und
| |
− | örtliche Besonderheiten müssen unberücksichtigt bleiben, und es zu hoffen, dass sich bald ein
| |
− | Doktorand der Geschichte findet, der sich des äußerst spannenden und von der Quellenbasis
| |
− | her gut zu bearbeitenden Themas annimmt. Zeitraum der Untersuchung ist im Wesentlichen
| |
− | die für die deutsche Freimaurerei nach dem Zweiten Weltkrieg formative Phase, die Zeit von
| |
− | 1945 bis 1949, dem Gründungsjahr der Vereinigten Großloge der Freimaurer von Deutschland
| |
− | (VGL). Es werden jedoch auch einige Perspektiven aufgezeigt, die die Gründung der Vereinigten
| |
− | Großlogen von Deutschland, Bruderschaft der Freimaurer (VGLvD) im Jahre 1958 betreffen.1
| |
− | 1 Ich verdanke einer Reihe von Veröffentlichungen wichtige Hinweise zur vorliegenden Studie. Insbesondere
| |
− | konnte ich wiederholt auf das von mir immer noch als Standardwerk geschätzte Buch von Manfred
| |
− | Steffens: Freimaurerei in Deutschland. Bilanz eines Vierteljahrtausends, Flensburg 1964, auf die Erinnerungsschrift
| |
− | In memorial Theodor Vogel. Materialien zur Geschichte einer Großen Loge 1945–1975,
| |
− | Bayreuth 1978, und auf den Band Woher, Wohin. Tatsachen und Erkenntnisse im Rückblick auf die
| |
− | Geschichte der Großloge der Alten Freien und Angenommenen Maurer von Deutschland, Berlin 2002,
| |
− | (Text Rolf Appel) zurückgreifen. Hilfreich war auch die Lektüre des Aufsatzes von Thomas Richert: Der
| |
− | Wiederaufstieg der deutschen Großlogen nach 1945, veröffentlicht im QC Jahrbuch 37/2000, S. 135–
| |
− | 151. Vor allem aber stand mir das Altenburger Archiv der Großloge AFuAM von Deutschland zur Verfügung,
| |
− | das zu nutzen bei jeder zukünftigen Forschung zur Zeitgeschichte der Freimaurerei ebenso ergiebig
| |
− | wie erforderlich ist.
| |
− | 89
| |
− | Der Beitrag konzentriert sich auf die Sammlung der Humanitären Freimaurerei im
| |
− | Deutschland der Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, insbesondere auf den Weg zur Gründung
| |
− | der Vereinigten Großloge der Freimaurer von Deutschland im Jahre 1949. Denn es
| |
− | war vor allem dieser Einigungsprozess, in dem neue freimaurerische Strukturen geschaffen
| |
− | wurden und die deutsche Freimaurerei in die Weltfreimaurerei zurückkehren konnte.
| |
− | 1. Wiederaufbau der Logen
| |
− | 1.1 Sammlung der Brüder und Wiedergründung der Logen in
| |
− | Westdeutschland und West-Berlin
| |
− | Zunächst und vor allem mussten die ehemaligen Mitglieder des Freimaurerbundes wieder
| |
− | gesammelt, die spätestens 1935 aufgelösten Logen neu gegründet und ihre vereinsrechtliche
| |
− | Zulassung erreicht werden, erst durch alliierte, später durch deutsche Behörden. Vor
| |
− | allem bei der Sammlung der Freimaurer wurden rasche Erfolge erzielt, denn der Elan der
| |
− | Brüder war beträchtlich. Die Freude darüber, zur alten Gemeinschaft zurückkehren zu können,
| |
− | führte zu einer engagierten Beteiligung einstiger Mitglieder, und der Schwung des Aufbruchs
| |
− | bewirkte – auch über zunehmende Neuaufnahmen – ein beträchtliches Wachstum
| |
− | der Logen, wenn auch die Gesamtzahl der deutschen Freimaurer in der Nachkriegszeit von
| |
− | dem in den 1920er und 1930er Jahre erreichten Mitgliederzahl (Höchststand ca. 83.000 in
| |
− | der Mitte der 1920er Jahre, von denen ca. 65 Prozent den »altpreußischen« Großlogen angehörten)
| |
− | weit entfernt blieb. In den Westzonen spielten die Behörden der alliierten Siegermächte,
| |
− | die nach einigem Zögern den Wiederaufbau zuließen, eine fördernde Rolle, und die
| |
− | Großlogen der Vereinigten Staaten, Englands und Frankreichs halfen beim Aufbau, nicht
| |
− | zuletzt auch der Grand Orient de France. Dass zu ihm als einer international für »irregulär«
| |
− | erklärten Großloge die Beziehungen später abgebrochen werden mussten, führte zu anhaltenden
| |
− | Enttäuschungen und Loyalitätskonflikten bei einer Anzahl südwestdeutscher Logen.
| |
− | Die Bereitschaft der Westalliierten, die Wiedergründung deutscher Logen nach einer vorübergehenden
| |
− | Phase des Misstrauens und des Zögerns zu genehmigen und teilweise auch tatkräftig
| |
− | zu unterstützen, hatte vor allem drei Gründe:
| |
− | • Zunächst beruhte sie auf der festen und prinzipiell unangefochtenen Verwurzelung
| |
− | der Freimaurerei in den Gesellschaften der betreffenden Länder und einer damit verbundenen,
| |
− | gleichsam strukturellen »Grundsympathie« auch für die deutsche Freimaurerei.
| |
− | • Sodann erhielt sie viele Impulse aus der Tatsache, dass von den Repräsentanten der alliierten
| |
− | Militärbehörden in Deutschland nicht wenige der Freimaurerei angehörten, die sich
| |
− | nicht zuletzt um die Logen »vor Ort« bemühten und diesen auch materiell halfen.2
| |
− | 2 Ein Beispiel dafür gibt folgender Bericht aus Duisburg aus dem Jahre 1945: »Der Offizier der maßgeblichen
| |
− | Abteilung war ein äußerst liebenswürdiger Herr, dessen Wesen mich sofort für ihn einnahm. Nach
| |
− | 10 Minuten der Unterhaltung erkannten wir uns als Freimaurer und standen von Stund an in herzlichem
| |
− | Einvernehmen«, Archiv der Großloge A.F.u.A.M., Altenburg, A – 0001.
| |
− | 90
| |
− | • Schließlich kam ein »Widerstandsbonus« dazu: Die Schließung von Logen durch die nationalsozialistischen
| |
− | Behörden wurde auch seitens der Westalliierten als Ausdruck der nationalsozialistischen
| |
− | Freimaurerfeindschaft gewertet, die spätestens 1935 zum Ende der
| |
− | Logen geführt hatte, wenn sie nicht gar als Folge freimaurerischen Widerstands gegen das
| |
− | NS-System gedeutet wurde, den es – von Ausnahmen abgesehen – allerdings nicht gegeben
| |
− | hatte.3
| |
− | Die Aufteilung des deutschen Reichsgebietes in vier Besatzungszonen (und die ehemaligen
| |
− | Ostgebiete unter polnischer Verwaltung) sowie das zunächst unter gemeinsamer alliierter
| |
− | Verwaltung stehende Berlin erlaubte zunächst nur einen örtlichen oder regionalen Wiederaufbau
| |
− | der Logen unabhängig von den früheren Großlogenstrukturen.
| |
− | Dies galt zunächst als Erschwernis, wirkte sich dann aber günstig aus: Wie für Politik
| |
− | und Gesellschaft generell, so konnte auch für die deutsche Freimaurerei der Neuaufbau nur
| |
− | auf der Tabula rasa der Zerstörung alter Strukturen gelingen und zu neuen, den Prinzipien
| |
− | der Weltfreimaurerei entsprechenden konzeptionellen Inhalten und Formen führen.
| |
− | Was die Mitgliederzahlen der deutschen Nachkriegsfreimaurerei betrifft, so war die
| |
− | Zäsur von Verbot und Zweitem Weltkrieg verheerend: Von den rd. 73.300 deutschen Freimaurern,
| |
− | die im Maurerjahr 1932/33 den deutschen Logen (noch) angehört hatten,4 denn
| |
− | es war seit der Wende zu den 1930er Jahren (teils aus Protest gegen völkische Anpassung,
| |
− | teils aus Angst vor beruflichen Nachteilen) zu zahlreichen Austritten gekommen, waren
| |
− | – nach Angaben im Archiv der Großloge A.F.u.A.M. – beim Wiederaufbau nach Verbotszeit
| |
− | und Zweitem Weltkrieg nur noch 9000 freimaurerisch aktiv. 45.000 Brüder galten als
| |
− | verstorben oder durch Luftangriffe umgekommen. Die Verluste durch Emigration, Flucht
| |
− | und Vertreibung wurden auf 8000 Brüder geschätzt. 3000 im Westen Deutschlands lebende
| |
− | ehemalige Mitglieder hatten sich dem Bund nicht wieder angeschlossen und ca. 6000 Freimaurer
| |
− | in der sowjetisch besetzten Zone waren aufgrund des Logenverbots zur Inaktivität
| |
− | verurteilt.5 1949 betrug die Zahl der in der Vereinigten Großloge der Freimaurer (VGL)
| |
− | von Deutschland zusammengefassten Brüder ca. 6800.6 1974 – nach 25 Jahren Großlogenentwicklung
| |
− | – lag die Mitgliederzahl der Großloge (nun Großloge der Alten Freien und
| |
− | Angenommenen Maurer von Deutschland genannt) bei rund 9300. Gegenwärtig (2010)
| |
− | beträgt sie ca. 9200 Brüder.
| |
− | Ebenso verheerend wie der Verlust an Mitgliedern war der materielle Schaden, der die
| |
− | deutsche Freimaurerei betroffen hatte. In einer Schätzung der VGL von 1950 wurden die
| |
− | der deutschen Freimaurerei durch nationalsozialistische Enteignungen entstandenen Verluste
| |
− | auf über 200 Millionen DM beziffert.7 Einer Umfrage der Großloge im Jahre 1949 zufolge
| |
− | verfügten 89 von 120 Auskunft gebenden Logen vor dem Verbot über eigenen Haus-
| |
− | 3 Vgl. vor allem Neuberger, Helmut: Freimaurerei und Nationalsozialismus, Hamburg 1980 (2001 unter
| |
− | dem Titel Winkelmass und Hakenkreuz. Die Freimaurer und das Dritte Reich neu ediert); Melzer, Ralf:
| |
− | Konflikt und Anpassung. Freimaurer in der Weimarer Republik und im »Dritten Reich, Wien 1999;
| |
− | Höhmann, Hans-Hermann: Europas verlorener Friede, die nationalvölkische Orientierung innerhalb
| |
− | der deutschen Freimaurerei und die »freimaurerische Erinnerungspolitik« nach dem Zweiten Weltkrieg,
| |
− | in diesem Band, S. 51–87.
| |
− | 4 C. van Dahlens Kalender für Freimaurer. Statistisches Jahrbuch für 1933/34, Leipzig 1933, S. 184.
| |
− | 5 Archiv der Großloge A.F.u.A.M., Altenburg, A – 000.
| |
− | 6 Rundbrief des VGL-Großmeisters vom Frühjahr 1949, Archiv der Großloge A.F.u.A.M., Altenburg, A – 0001.
| |
− | 7 Archiv der Großloge A.F.u.A.M., Altenburg, A – 0001.
| |
− | 91
| |
− | und Grundbesitz. Nach dem Krieg waren 46 Logenhäuser völlig und 17 teilweise zerstört.
| |
− | Zudem waren 75 der 89 Logenhäuser noch nicht an die Logen zurückgegeben worden.8
| |
− | Dies bedeutete ein Ausweichen in Notquartiere, vor allem Hotels und Restaurants, bevor
| |
− | durch Restitution, Wiederaufbau oder Neuerwerb adäquate räumliche Voraussetzungen für
| |
− | die Arbeit der Logen geschaffen werden konnten.
| |
− | Zu verweisen ist in diesem Zusammenhang auch auf den immensen Wertverlust, den die
| |
− | Logen aufgrund der Beschlagnahmung des größten Teils ihrer Bibliotheken und Archivalien
| |
− | erlitten. Die von den NS-Behörden 1933/35 beschlagnahmten, nach Berlin verbrachten und
| |
− | später im vermeintlich sicheren Osten des Reiches eingelagerten Archivmaterialien fanden
| |
− | meistens auf dem Umweg über Moskau und Merseburg ihren Weg in das Geheime Staatsarchiv
| |
− | preußischer Kulturbesitz in Berlin-Dahlem, wo sie für Forschungszwecke zugänglich
| |
− | sind. Die Buchbestände wurden von polnischen Behörden beschlagnahmt. Sie befinden
| |
− | sich heute größtenteils im Besitz der Universität Posen und werden – gleichfalls nach Voranmeldung
| |
− | für Forscher zugänglich – im Barockschloss von Ciazen an der Warthe, nicht
| |
− | weit entfernt von der Stadt, aufbewahrt.9 Die Vereinigte Großloge von Deutschland wies
| |
− | aber bereits 1949 darauf hin, dass ein Teil der Buchbestände aus früherem Logenbesitz in
| |
− | westdeutschen öffentlichen Bibliotheken aufgetaucht sei und dass sie sich im Interesse einer
| |
− | zu errichtenden »freimaurerischen Zentralbibliothek« um ihre Rückgabe bemühen wolle.10
| |
− | Auch die persönliche wirtschaftliche Lage der Brüder war – so wie die der gesamten
| |
− | deutschen Bevölkerung – in der Regel äußerst unbefriedigend. So freute man sich über
| |
− | wiederholte Übersendung von Care-Paketen aus den USA11 und bemühte sich durch die
| |
− | Einrichtung eigener freimaurerischer »Arbeitsämter« darum, stellungslos gewordenen Brüdern
| |
− | bei der beruflichen Wiedereingliederung zu helfen.12 Auch die Einrichtung eines
| |
− | »Fonds für die Altersversorgung« wurde erörtert.13 Des Weiteren wurde überlegt, eine »Auswanderungsstelle
| |
− | « zu begründen, die im Zusammenwirken mit »befreundeten Obödienzen
| |
− | in Übersee« deutsche Freimaurer beraten sollte, die daran dachten auszuwandern.14 In
| |
− | den Kontext »materielle Not« auf eher amüsante Weise gliedern sich die Versuche des
| |
− | Großmeisters
| |
− | der Großloge »Zur Sonne« (Bayreuth) und späteren VGL-Großmeisters Theodor
| |
− | Vogel ein, beim bayerischen Landwirtschaftsministerium die Lieferung von Wein für
| |
− | Tafellogen der bayerischen Logen zu erreichen.15
| |
− | 8 Archiv der Großloge A.F.u.A.M., Altenburg, A – 0009.
| |
− | 9 Die Biblioteka Uniwersytecka (Universitätsbibliothek) in Posen beschreibt auf ihrer Internetseite die
| |
− | Bestände in Schloß Ciazen wie folgt: »Aus dem Schloß in Sawa Slaska [Schlesiersee], das während
| |
− | des Krieges Residenz von Heinrich Himmler war, kam eine bedeutende Bibliothek, die u.a. eine einzigartige,
| |
− | vorwiegend deutschsprachige Masonica-Sammlung von ca. 80.000 Bdn. enthielt, bei der es
| |
− | sich um beschlagnahmte Bestände der Freimaurerlogen in Deutschland handelt.« (http://www.b2i.de/
| |
− | fabian?Universitaetsbibliothek(Posen), Download 26.7.2008).
| |
− | 10 Archiv der Großloge AFuAM, Altenburg, Rundschreiben der Vereinigten Großloge der Freimaurer von
| |
− | Deutschland, 1948/49.
| |
− | 11 Archiv der Großloge A.F.u.A.M., Altenburg, A – 0001; A – 0005.
| |
− | 12 Pionierfunktion übernahm die Großloge zur Sonne, deren »Freimaurerisches Arbeitsamt« ein Druckblatt
| |
− | »Organisation und Arbeitsweiseder frm. Arbeitsämter« herausgab, das auch an andere Landesgroßlogen
| |
− | weitergegeben werden sollte. Archiv der Großloge AFuAM, Altenburg, A – 0001.
| |
− | 13 Archiv der Großloge A.F.u.A.M., Altenburg, A – 0005.
| |
− | 14 Archivmaterialien des Deutschen Freimaurermuseums Bayreuth, 4756.
| |
− | 15 Archiv der Großloge A.F.u.A.M., A – 0005. Vogel verwies darauf, dass »die Freimaurerlogen in der französisch
| |
− | besetzten Zone und ebenso eine Anzahl lizensierter, regulärer Freimaurerlogen der britischen
| |
− | 92
| |
− | Meistens wurden die bereits vor 1933/35 bestehenden Logen wiedergegründet. In einer
| |
− | Reihe von Städten kam es aber auch zu »Vereinigungslogen«, d.h., dass sich die Brüder in
| |
− | Anbetracht der geschrumpften Zahl der Freimaurer am Logenort entschlossen, anstelle
| |
− | mehrerer ehemaliger Logen gemeinsam nur eine neue Loge ins Leben zu rufen. Zu diesen
| |
− | Logen gehörten beispielsweise die Logen »Furchtlos und Treu« in Stuttgart, »Goethe zur
| |
− | Bruderliebe« in Kassel und »Zum ewigen Dom« in Köln. Seit 1948 kam es dann auch zu
| |
− | echten Neugründungen von Logen, in der Regel als sogenannte »Deputationslogen« bestehender
| |
− | Logen.
| |
− | Die Logen waren stark überaltert. Das Durchschnittsalter der Mitglieder lag bei ca.
| |
− | 65 Jahren, was bedeutete, dass bei einem weiteren Ansteigen längerfristig die Existenz
| |
− | der Logen gefährdet gewesen wäre. So wurde es zu einem besonderen Anliegen des späteren
| |
− | Großmeisters der Vereinigten Großloge von Deutschland, Dr. Theodor Vogel, jüngere
| |
− | Menschen an die Freimaurerei heranzuführen. Dies sollte nicht zuletzt durch die von Vogel
| |
− | propagierte Einsetzung von »Studentenlogen« in einer Anzahl von Universitätsstädten
| |
− | (Würzburg, Erlangen, Köln) erreicht werden.16 Diese Logen sollten dem Vorbild englischer
| |
− | und amerikanischer Universitätslogen folgen, hinsichtlich der Zusammensetzung ihrer Mitglieder
| |
− | aber nicht auf junge Akademiker beschränkt bleiben.
| |
− | Einer größeren geistigen Lebendigkeit der Freimaurerei sollte das sogenannte »Collegium
| |
− | Masonicum« dienen, das Brüder aus verschiedenen Logen und Logenorten zu Klausurtagungen
| |
− | über freimaurerische Themen zusammenführte17 und das sich als feste Einrichtung
| |
− | der Distriktslogen der Großloge A.F.u.A.M. bis in die Gegenwart hinein bewährt hat.
| |
− | 1.2 Freimaurerei in der sowjetischen Besatzungszone
| |
− | Auch viele der in der damaligen sowjetischen Besatzungszone lebenden ehemaligen Freimaurer,
| |
− | die, wie ihre Brüder im Westen, oft auf privater Basis Kontakt gehalten hatten, unternahmen
| |
− | unmittelbar nach Kriegsende große und vielfältige Anstrengungen, ihre Logen
| |
− | wieder zu eröffnen.18 In Leipzig, wo die Freimaurerei bis zum Ende unter der NS-Herrschaft
| |
− | zahlenmäßig stark und gesellschaftlich bedeutend gewesen war, bemühten sich insbesondere
| |
− | die Logen »Minerva zu den drei Palmen«, »Balduin zur Linde« und »Apollo« um die Wiederbelebung
| |
− | der Logenarbeit.19
| |
− | In Dresden setzte der Wiederaufbau der Freimaurerei gleichfalls bald nach der deutschen
| |
− | Kapitulation im Mai 1945 ein. Ein erster – und leider zugleich auch letzter – Höhepunkt
| |
− | war, dass am 26. Juni 1946 mit einer gemeinsamen Feier der traditionsreichen
| |
− | Logen »Zu den drei Schwertern«, »Zum goldenen Apfel« und »Zu den ehernen Säulen«
| |
− | das Johannisfest begangen werden konnte. Der Anwesenheitsliste zufolge haben an dieser
| |
− | Festarbeit 134 Freimaurer aus 14 verschiedenen Logen teilgenommen.20
| |
− | Besatzungszonen Zuwendungen an Wein erhalten« haben und dass der Wein »rituellen Zwecken« diene,
| |
− | so wie etwa bei der gewährten Lieferung von »Abendmahlsweinen«. Das Ministerium lehnte ab, u.a. mit
| |
− | dem Hinweis, dass es »bei Zuteilung von Mess- oder Abendsmahlwein etwas anders« sei.
| |
− | 16 Archiv der Großloge A.F.u.A.M., Altenburg, A – 0009.
| |
− | 17 Archiv der Großloge A.F.u.A.M., Altenburg, A – 0009.
| |
− | 18 Vgl. zum Folgenden: Steffens, Manfred: Freimaurer in Deutschland. Bilanz eines Vierteljahrtausends,
| |
− | Frankfurt 1966, S. 449–450.
| |
− | 19 Ebenda, S. 449.
| |
− | 20 Ebenda.
| |
− | 93
| |
− | Ein weiterer Ort in der sowjetischen Besatzungszone, in dem sich unmittelbar nach
| |
− | Kriegsende wieder freimaurerisches Leben regte, war Cottbus. Seit Herbst 1945 trafen sich
| |
− | mehrere Mitglieder der Loge »Zum Brunnen in der Wüste«, einer Tochterloge der Großen
| |
− | Landesloge der Freimaurer von Deutschland, allwöchentlich, um die Wiederaufnahme der
| |
− | Logentätigkeit vorzubereiten. Auch bemühten sie sich, die zu vielen einstigen Mitgliedern
| |
− | abgerissene Verbindung wiederherzustellen.21
| |
− | Als sich jedoch die Loge in Aue im Frühsommer 1946 an die Behörden in Sachsen
| |
− | wandte, um eine offizielle Erlaubnis zur Wiederaufnahme der freimaurerischen Tätigkeit zu
| |
− | erhalten, teilte die sächsische Landesverwaltung der Loge mit, dass »eine Wiederzulassung
| |
− | von Freimaurerlogen nicht genehmigt und derartige Anträge daher auch nicht an die Sowjetische
| |
− | Militäradministration des Landes Sachsen weitergeleitet« würden.22
| |
− | Insgesamt scheiterte der Wiederaufbau der Freimaurerei in der sowjetisch besetzten
| |
− | Zone sowohl am Einspruch der sowjetischen Besatzungsmacht als auch am Widerstand
| |
− | deutscher Behörden, die seit 1946 zunehmend unter kommunistischen Einfluss geraten
| |
− | waren. Wie in den übrigen kommunistisch beherrschten Ländern untersagten die Kommunisten
| |
− | schließlich auch in der deutschen Sowjetzone jede freimaurerische Tätigkeit. Sie
| |
− | folgten damit einem Beschluss, der bereits im November 1922 auf dem 4. Kongress der
| |
− | Kommunistischen Internationale gefasst worden war:23
| |
− | »Es ist eine unbedingte Notwendigkeit, dass die führenden Organe der Partei alle
| |
− | Brücken abbrechen, die zum Bürgertum führen, und deshalb auch einen radikalen
| |
− | Bruch mit der Freimaurerei vollziehen … Die Freimaurerei ist die unredlichste und
| |
− | infamste Prellerei des Proletariats seitens eines nach der radikalen Seite neigenden
| |
− | Bürgertums. Wir sehen uns gezwungen, sie bis aufs äußerste zu bekämpfen.«
| |
− | 2. Neue Großlogenordnung
| |
− | 2.1 Ausgangssituation und Vorgeschichte der VGL
| |
− | Die zweite Aufgabe der deutschen Nachkriegsfreimaurerei bestand in der Schaffung einer
| |
− | leistungsfähigen Großlogenordnung. Es bestand weitgehend Konsens unter den deutschen
| |
− | Freimaurern, dass die alte Großlogenordnung der Vorverbotszeit weder wiederhergestellt
| |
− | werden konnte noch nach dem Willen der Brüder wiederbelebt werden sollte. Vier Gründe
| |
− | dafür sind erkennbar, die zum Teil auch in den Debatten artikuliert wurden:
| |
− | • Erstens wäre die Zahl der deutschen Freimaurer nach dem Krieg einfach zu gering dafür
| |
− | gewesen. Von den 73.300 Brüdern des Jahres 1932 waren ja nicht einmal 10.000 übrig geblieben;
| |
− | • zweitens bestanden große Hoffnungen, dass das Streben nach Einheit der deutschen Freimaurerei
| |
− | endlich von Erfolg gekrönt sei, war doch die alte Struktur mit der Dominanz
| |
− | 21 Ebenda.
| |
− | 22 Ebenda.
| |
− | 23 Zitiert nach Steffens, Manfred: Freimaurerei in Deutschland, a.a.O., S. 454.
| |
− | 94
| |
− | der »altpreußischen« Großlogen obsolet geworden und durch deren Annäherung an den
| |
− | Nationalsozialismus in starkem Maße national und international kompromittiert;
| |
− | • drittens ließ die von den Alliierten verfügte administrative Neuregelung Deutschlands
| |
− | keine Großlogenorganisationen zu, die über die Grenzen der Besatzungszonen und später
| |
− | der neugeschaffenen Länder hinausgingen, was hätte der Fall sein müssen, wenn versucht
| |
− | worden wäre, die ehemals »reichsweit« operierenden Großlogen wiederherzustellen
| |
− | und
| |
− | • viertens schließlich brachten die räumlichen Strukturen der Besatzungszonen und die
| |
− | Sonderrolle Berlins eine Verlagerung der freimaurerischen Entscheidungskompetenzen
| |
− | von Berlin in die Westzonen Deutschlands mit sich, die sich als folgenreich und im
| |
− | Ganzen positiv erweisen sollte.
| |
− | Dies gab Raum für den Weg der Vereinigung, der über Landesgroßlogen in den Ländern der
| |
− | drei westalliierten Besatzungszonen zur Vereinigten Großloge der Freimaurer von Deutschland
| |
− | führte, die 1949 gegründet wurde. Die konservativ und christlich orientierte Große
| |
− | Landesloge der Freimaurer von Deutschland hat sich an dieser Einigungsbewegung allerdings
| |
− | nicht beteiligt. Dem standen sowohl das unverändert beibehaltene christliche Prinzip
| |
− | der Mitgliedschaft als auch die hierarchische Struktur der Großloge mit ihrer spezifischen,
| |
− | christologisch ausgerichteten Hochgradstruktur im Wege.
| |
− | Auch noch nach Gründung der Vereinigten Großloge im Jahre 1949 war das Verhältnis
| |
− | zur Großen Landesloge nicht ohne Spannungen. Der Großmeister der VGL, Dr. Theodor
| |
− | Vogel, der auf eine Anerkennung seiner Großloge durch die Vereinigte Großloge von England
| |
− | hinarbeitete, befürchtete aufgrund von Schreiben aus London, seine Bemühungen
| |
− | durch ein Übereinkommen mit der Großen Landesloge zu gefährden, und verwies auf
| |
− | deren »immer einseitiger werdende Betonung des christlichen Ordens mit den nur ›angeflickten‹
| |
− | freimaurerischen Formen«.24
| |
− | Die wichtigsten Stationen des Zusammenschlusses der deutschen Freimaurerei von
| |
− | 1945 bis 1949 lassen sich wie folgt beschreiben:25
| |
− | Nachdem zahlreiche der während der Nazizeit verbotenen Freimaurerlogen ihre Arbeit
| |
− | – vielfach noch »inoffiziell« – ab Herbst 1945 wieder aufnehmen konnten, kam es
| |
− | bereits im November 1945 zu einem ersten Versuch, unter dem Namen Bundesgroßloge
| |
− | von Deutschland »Zu den Alten Pflichten« eine Vereinigungsgroßloge zu begründen.26 Der
| |
− | Stuttgarter Freimaurer Dr. Fritz Lichtenberg hatte zu einer Konferenz nach Bensheim an
| |
− | der Bergstraße eingeladen, an der Vertreter von vier ehemaligen und sich im Prozess der
| |
− | Wiederbegründung befindenden Großlogen – der »Großen Loge von Hamburg«, der Großloge
| |
− | »Zur Sonne« (Bayreuth), der »Großen Mutterloge des Eklektischen Freimaurerbundes«
| |
− | (Frankfurt) sowie der »Großen Freimaurerloge Zur Eintracht« (Darmstadt) – teilnahmen.
| |
− | 24 Rundbrief des VGL-Großmeisters vom Frühjahr 1949, Archiv der Großloge A.F.u.A.M., Altenburg, A – 0001.
| |
− | 25 Vgl. In memorial Theodor Vogel. Materialien zur Geschichte einer Großen Loge 1945–1975, Quellenkundliche
| |
− | Arbeit Nr. 13 der Forschungsloge Quatuor Coronati Bayreuth, 1979, S. 7–11; Richert, Thomas:
| |
− | Der Wiederaufstieg der deutschen Großlogen nach 1945, in: Quatuor Coronati Jahrbuch Nr.
| |
− | 37/2000, S. 135–151; Woher - Wohin. Tatsachen und Erkenntnisse im Rückblick auf die Geschichte der
| |
− | Großloge der Alten Freien und Angenommenen Maurer von Deutschland, Berlin 2002.
| |
− | 26 Vgl. In memorial Theodor Vogel. Materialien zur Geschichte einer Großen Loge 1945–1975, a.a.O. Quellenkundliche
| |
− | Arbeit Nr. 13 der Forschungsloge Quatuor Coronati Bayreuth, 1979, S. 7f.
| |
− | 95
| |
− | Die Großloge wurde konstituiert, konnte aber keine Wirksamkeit entfalten und stellte ihre
| |
− | Arbeit im Sommer 1946 praktisch wieder ein. Die formelle Auflösung erfolgte im Juli 1947,
| |
− | als der Nachfolger Lichtenbergs als Großmeister, Br. August Hirscher, erklärte, dass die
| |
− | Bundesgroßloge nicht mehr bestünde.27 Grund für das Scheitern dieses ersten Vereinigungsprojekts
| |
− | war neben dem Tod Fritz Lichtenbergs im März 1946 vor allem der Umstand, dass
| |
− | die Alliierten ihre zunächst erteilte Genehmigung zurückzogen, weil es zwischen ihnen
| |
− | mittlerweile zum Konsens geworden war, keine Zusammenschlüsse von Logen zu genehmigen,
| |
− | deren Zuständigkeitsbereich über die Grenzen ihrer Besatzungszonen bzw. der neu
| |
− | gebildeten deutschen Teilstaaten hinausging.
| |
− | Der Weg zur Vereinigung musste folglich auf eine andere, indirektere und mehr Zeit
| |
− | beanspruchende Weise erfolgen. Dabei waren zwei miteinander verbundene Prozesse von
| |
− | Bedeutung:
| |
− | Einerseits ging die Initiative von den Logen aus. Es bildete sich die Frankfurter Arbeitsgemeinschaft
| |
− | von Freimaurerlogen. Nachdem diese zuerst eine vorwiegend hessische Institution
| |
− | gewesen war, gewann sie eine vorwärtstreibende, überregionale Dynamik nach einem
| |
− | Treffen, zu dem sich am 14. und 15. Juni 1947 in Frankfurt/Main 21 Mitglieder früherer »humanitärer
| |
− | « und »christlicher« Großlogen, jedoch ohne Vertreter der Großen Landesloge, zusammengefunden
| |
− | hatten. Der Frankfurter Arbeitsgemeinschaft sollte die Aufgabe zufallen,
| |
− | • die Verbindung zu allen bereits wieder bestehenden Logen und Großlogen herzustellen
| |
− | bzw. zu halten,
| |
− | • als eine allgemeine Auskunftsstelle zu dienen und
| |
− | • in Ausschüssen die Grundlagen für einen späteren organisatorischen Zusammenschluss
| |
− | der deutschen Freimaurerlogen zu erarbeiten.
| |
− | An die Spitze der Arbeitsgemeinschaft trat der Wiesbadener Rechtsanwalt Dr. August
| |
− | Pauls,28 der auch der erste Großkommandeur des »Alten Angenommenen Schottischen Ritus
| |
− | « (AASR) in der Nachkriegszeit gewesen ist. Zur dominierenden Gestalt der Arbeitsgemeinschaft
| |
− | wurde allerdings bald der Schweinfurter Industrielle Dr. Theodor Vogel, der zukünftige
| |
− | Großmeister der Vereinigten Großloge der Freimaurer von Deutschland. Vogel war
| |
− | die überragende Persönlichkeit der deutschen Nachkriegsfreimaurerei. Es lässt sich wohl sagen,
| |
− | dass ohne Vogel die masonische Nachkriegsgeschichte in Deutschland anders verlaufen
| |
− | wäre und dass er mit Tatkraft, Charisma, Fortune sowie für das Nötige und Mögliche
| |
− | bis zur Gründung der Vereinigten Großloge der Freimaurer von Deutschland alles – oder
| |
− | zumindest doch fast alles – richtig gemacht hat, was dann allerdings für die nächste Etappe
| |
− | der deutschen Großlogenentwicklung, die Entwicklung hin zu den Vereinigten Großlogen
| |
− | von Deutschland, VGLvD (gegründet 1958), bedauerlicherweise nur noch sehr bedingt gesagt
| |
− | werden kann. Zu Beginn der überregionalen Anstrengungen Vogels gab es freilich auch
| |
− | kritische Stimmen zu seinen Aktivitäten, bei denen gar der Terminus »Wühlarbeit« Verwendung
| |
− | fand.29
| |
− | Wie sehr auch die Tätigkeit der Frankfurter Arbeitsgemeinschaft von wirtschaftlichen
| |
− | Schwierigkeiten beeinträchtigt war, zeigt ein Hilferuf ihres Geschäftsführers Georg Geier an
| |
− | 27 Richert, Thomas: Der Wiederaufstieg der deutschen Großlogen nach 1945, a.a.O. S. 137.
| |
− | 28 Ebenda, S. 8.
| |
− | 29 Archiv der Großloge A.F.u.A.M., Altenburg, A – 0009.
| |
− | 96
| |
− | die Mitgliedslogen vom 15. Juli 1948, in dem es heißt: »Die Währungsreform hat unseren
| |
− | Kassenbestand von über 6000,– Mark auf einen vorläufigen Verfügungsbestand von etwas
| |
− | über 300,– Mark reduziert.« Dieser Feststellung schließt sich die Bitte an die Brr. Schatzmeister
| |
− | an, ausstehende Beiträge umgehend zu überweisen.30
| |
− | Der neben den Aktivitäten der Frankfurter Arbeitsgemeinschaft zweite Ansatz zur freimaurerischen
| |
− | Einheit bestand darin, dass die Logen seit 1947 damit begannen, sich zu
| |
− | Landesgroßlogen zusammenzuschließen. Dabei konnten für Hamburg und Bayern die Traditionen
| |
− | früherer Großlogen fortgesetzt werden (Große Loge von Hamburg und Großloge
| |
− | »Zur Sonne« in Bayreuth). Die Neugliederung des ehemaligen Reichsgebietes durch die
| |
− | Besatzungsmächte brachte es aber konsequenterweise mit sich, dass auch dort neue freimaurerische
| |
− | Regionalorganisationen entstanden, wo es früher derartige Zusammenschlüsse
| |
− | nicht gegeben hatte. So beschlossen die Bremer Logen, die sich nach dem Krieg neu konstituiert
| |
− | hatten, im Dezember 1948 eine Landesgroßloge von Bremen zu gründen. Die Bremer
| |
− | Logen, die damit zum Einigungswerk der deutschen Freimaurerei beitragen wollten, gingen
| |
− | offenbar – und wie sich dann zeigte, durchaus zu Recht – davon aus, dass die geplante
| |
− | Vereinigte Großloge von Deutschland sich in ihrer Organisation auf regionale Distriktsgroßlogen
| |
− | stützen würde, deren Wirkungsbereich mit den Grenzen der neu geschaffenen
| |
− | Bundesländer zusammenfiel.
| |
− | 2.2 Die Vereinigte Großloge der Freimaurer von Deutschland (1949)
| |
− | Im Mai 1948 trafen sich die Großmeister dieser Landesgroßlogen in Frankfurt am Main zum
| |
− | ersten Mal, legten ein Bekenntnis zur Einigung der deutschen Freimaurer auf »humanitärer
| |
− | und föderativer Basis« ab, beschlossen die Schaffung eines Großmeistervereins und vereinbarten
| |
− | den Eintritt in Vorbereitungen zur Vereinigung der Landesgroßlogen und ihrer Logen
| |
− | in einer Vereinigungsgroßloge. Im Oktober 1948 fand auf einem 2. deutschen Großmeistertag
| |
− | in Bad Kissingen die Gründung der Vereinigten Großloge der Freimaurer von Deutschland
| |
− | statt. Hierbei wurde ein zukünftiges Grundgesetz der Großloge angenommen und der
| |
− | Großmeister der Großloge von Bayern, Dr. Theodor Vogel, für eine zunächst bis zum Johannistag
| |
− | 1949 währende Amtszeit zum Großmeister der VGL gewählt. Dem Grundgesetz
| |
− | und der Gründung der VGL stimmten von 145 teilnehmenden Freimaurerlogen aus den drei
| |
− | westlichen Besatzungszonen 142 zu.
| |
− | Um die geplante gemeinsame deutsche Großloge zum Sammelbecken ausnahmslos
| |
− | aller deutschen Freimaurer zu machen, sollte sie auch den Mitgliedern derjenigen freimaurerischen
| |
− | Großkörperschaften offen stehen, die vor 1933 von den bestehenden Großlogen
| |
− | nicht als regulär anerkannt worden waren, wie insbesondere der Freimaurerbund zur
| |
− | aufgehenden Sonne und die Symbolische Großloge von Deutschland. Die Großmeister
| |
− | beschlossen dementsprechend: »Die Einverbrüderung von Angehörigen und die Regularisierung
| |
− | von Logen des Freimaurerbundes zur aufgehenden Sonne soll in würdiger und
| |
− | keinesfalls kränkender Form erleichtert erfolgen, sobald die Bibel und der Allmächtige
| |
− | Baumeister aller Welten als Symbole der Freimaurerei bejaht werden. Isolierte Logen, die
| |
− | sich keiner lizenzierten Landesgroßloge angeschlossen haben, sind irregulär.«31
| |
− | 30 Archiv der Großloge A.F.u.A.M., Altenburg, A – 0005.
| |
− | 31 Zitiert nach Steffens, Manfred: Freimaurer in Deutschland, a.a.O., S. 537.
| |
− | 97
| |
− | Am Rande einer freimaurerischen Tagung, die Anfang August 1948 in Baden-Baden stattfand,
| |
− | war es auch zu längeren Aussprachen zwischen Vertretern der späteren Vereinigten
| |
− | Großloge der Freimaurer von Deutschland (VGL) und dem Landesgroßmeister der Großen
| |
− | Landesloge der Freimaurer von Deutschland, Dr. Hans Oehmen, gekommen.32 Als Resultat
| |
− | dieser Gespräche unterbreiteten die Vertreter der späteren VGL dem Landesgroßmeister folgende
| |
− | Verständigungsgrundlage:
| |
− | 1. »Die Große Landesloge hat das Recht, in allen Teilen Deutschlands Johannislogen zu
| |
− | gründen oder bestehende zu reaktivieren.
| |
− | 2. Die nach dem System der Großen Landesloge arbeitenden Johannislogen schließen sich
| |
− | der zu errichtenden Einheitsloge mit allen Rechten und Pflichten an. Die Große Landesloge
| |
− | verzichtet auf eigene Provinzialgroßlogen, überwacht aber Lehre und Brauchtum
| |
− | der nach ihrem System arbeitenden Logen.
| |
− | 3. Die Große Landesloge ermöglicht den Mitgliedern von Johannislogen anderer Systeme
| |
− | Eintritt und Beförderung in ihre Andreaslogen und Kapitel, wobei ihr ein Prüfungsrecht
| |
− | zusteht und die Bewerber auf dem Boden eines dogmenfreien Christentums stehen müssen.
| |
− | «
| |
− | Diese Verhandlungsgrundlage wurde von der Großen Landesloge jedoch nicht aufgegriffen.
| |
− | Grund dafür war die Befürchtung, dass die Annahme der Punkte 2. und 3. die einzelnen Logen
| |
− | der Großen Landesloge ihrer bisherigen Leitung entfremden und sie deren Einfluss entziehen
| |
− | würde.
| |
− | Zwei Jahre später, im Juni 1950 auf dem VGL-Großlogentag in Hannover, musste Großmeister
| |
− | Vogel zum Stand der Verhandlungen der VGL mit der Großen Landesloge bilanzierend
| |
− | feststellen:
| |
− | »Die Versuche …, mit der GLL zu einem Übereinkommen zu gelangen haben zu keinem
| |
− | Erfolg geführt … Zwei wesentliche Punkte trennen uns von der Auffassung der
| |
− | GLL:
| |
− | 1. die Überzeugung, dass die Johannis-Freimaurerei das gesamte Wesen der Freimaurerei
| |
− | umfasst und nicht irgendwie untrennbar in ein System der Hochgrade eingebaut
| |
− | werden kann;
| |
− | 2. die Forderung der GLL, dass die Aufnahme in den Orden das christliche Bekenntnis
| |
− | voraussetzt, während nach unserer Auffassung die Freimaurerei verpflichtet ist,
| |
− | unter voller Würdigung der Symbole des ABaW und der Bibel sich zu der Religion
| |
− | zu bekennen, in der alle Menschen übereinstimmen.
| |
− | Wir anerkennen, dass die GLL aus der Entwicklung der Bruderschaft nicht wegzudenken
| |
− | ist, in freimaurerischer Form arbeitet und dass wir Ehrfurcht vor ihr haben.
| |
− | Wir gestatten unseren Brüdern den brüderlichen Verkehr mit den Bauhütten der GLL
| |
− | unter der Voraussetzung, dass die gleiche freie Entscheidung auch den Angehörigen
| |
− | der GLL gestattet ist.«
| |
− | 32 Vgl. hierzu und zum Folgenden: Steffens, Manfred: Freimaurerei in Deutschland, a.a.O, S. 540.
| |
− | 98
| |
− | Die von Theodor Vogel 1950 umrissene Haltung der Großen Landesloge hat sich auch
| |
− | durch die 1958 erfolgte Gründung der Vereinigten Großlogen von Deutschland (VGLvD)
| |
− | nicht geändert.
| |
− | Die Große Landesloge hätte sich freilich in der Tat nur um den Preis weit reichender
| |
− | konzeptioneller und organisatorischer Veränderungen in eine deutsche Vereinigungsgroßloge
| |
− | eingliedern können. Diese Veränderungen wären zwar nicht unmöglich gewesen, wie
| |
− | auch von einheitswilligen Brüdern der GLL immer wieder – z.B. auch auf der Hamburger
| |
− | Hauptversammlung im Jahre 1950 – hervorgehoben wurde.33 Für die Mehrheit der Mitglieder
| |
− | – und vor allem für die Leitung der Großloge – waren sie jedoch nicht akzeptabel. Ja,
| |
− | man sah in der Situation des sich verschärfenden »Kalten Krieges« geradezu ein weiteres
| |
− | Motiv für die Selbstständigkeit der eigenen, christlich orientierten Großloge. Die Zeitschrift
| |
− | der Großen Landesloge berichtete über die Hamburger Hauptversammlung von
| |
− | 1950, bei der intensiv über die Frage einer gemeinsamen deutschen Großloge diskutiert
| |
− | wurde, in diesem Sinne folgendermaßen:
| |
− | »Mit beredten Worten wurde das Zusammengehen befürwortet, aber ebenso nachdrücklich
| |
− | und unmissverständlich verlangte man, dass die Logen nicht aus dem Verbande
| |
− | der GLL gelöst werden könnten und dürften. Es wurde betont, dass gerade
| |
− | jetzt, wo das Abendland um die Erhaltung und Neubelebung seiner alten, auf christlicher
| |
− | Grundlage beruhenden Kultur ringe, der christlichen Freimaurerei eine Aufgabe
| |
− | von unerhörter Tragweite gestellt sein.«34
| |
− | Was nun nahegelegen hätte, wäre ein befreundetes Nebeneinander einer größeren und einer
| |
− | kleineren deutschen Großloge gewesen. Von diesen beiden Großlogen hätte sich allerdings
| |
− | nur die größere, die Vereinigte Großloge von Deutschland, auf unbeschränkte Weise in den
| |
− | Kontext der Weltfreimaurerei eingliedern lassen, denn gegen das Prinzip einer christlichen
| |
− | Großloge bestanden Bedenken – trotz der guten Beziehungen zwischen der englischen und
| |
− | der schwedischen Großloge – seitens der an den »Alten Pflichten« orientierten Weltbruderkette.
| |
− | 35
| |
− | Die 1958 erfolgte Gründung eines Großlogenbundes unter der Bezeichnung Vereinigte
| |
− | Großlogen von Deutschland, VGLvD, hat der Vitalität innerhalb der deutschen Freimaurerei
| |
− | aufs Ganze gesehen langfristig eher geschadet als genützt und ist auch der Stellung der
| |
− | 33 Der wichtigste Anwalt einer »echten« deutschen Vereinigungsgroßloge innerhalb der GLL war der Wuppertaler
| |
− | Freimaurer und Logenmeister Ernst Walter, der zweimal zum Großmeister der VGLvD gewählt
| |
− | wurde, aber innerhalb seiner eigenen Großloge in konzeptionellen Fragen keine nennenswerte Unterstützung
| |
− | fand.
| |
− | 34 Auszug aus dem Bericht von der Hauptversammlung der GLL in Hamburg (»Zirkelkorrespondenz« Nr.
| |
− | 4/1950), Materialien der Bibliothek des Deutschen Freimaurermuseums Bayreuth, 4756.
| |
− | 35 So gab es insbesondere seit den 1920er Jahren gegenüber der »altpreußischen« Freimaurerei seitens der
| |
− | »English-speaking Masonry« prinzipielle Abgrenzungen. Beispielsweise heißt es als Erläuterung zur ersten
| |
− | der Alten Pflichten (Concerning God and Religion) im Masonic Text Book der Grandlodge of
| |
− | Maine im Anschluss an eine Zurückweisung der rituellen Eliminierung des Großen Baumeisters aller
| |
− | Welten durch den Grand Orient de France: »Attempts have also been made in the opposite direction. In
| |
− | Prussia, Isrealites have been excluded. This is equally a violation of the landmark: while a belief in the
| |
− | Fatherhood of God and the Brotherhood of Man is absolutely additional reqirements are innovations.«
| |
− | (The Maine Masonic Text Book for the Use of Lodges, 1923, S. 164).
| |
− | 99
| |
− | Freimaurerei in der sie umgebenden Gesellschaft nur sehr eingeschränkt zugutegekommen.
| |
− | Die Schaffung des »Dachverbandes« VGLvD kann daher kaum als erfolgreiche Fortsetzung
| |
− | des Vereinigungswerks von 1949 angesehen werden. Dafür stimmt sie strukturell zu sehr mit
| |
− | der alten Zielvorstellung der GLL überein, lediglich einen in seinen Zuständigkeiten und
| |
− | Funktionen begrenzten Großlogenbund zu akzeptieren. Ein Großlogenbund entspricht
| |
− | allerdings kaum den international anerkannten und weltweit praktizierten Standards einer
| |
− | echten Großloge, wie sie in den »Basic Principles for Grandloge Recognition« der United
| |
− | Grandloge of England festgeschrieben wurden, und ist auch kaum in der Lage, für ein
| |
− | klares Profil der in ihm zusammengefassten Freimaurerei zu sorgen. Die unter internationaler
| |
− | Mitwirkung zustande gekommenen Strukturen der VGLvD konnten folglich von
| |
− | Anfang an nicht befriedigen und haben seitens der an der Schaffung einer wirklichen
| |
− | Großloge interessierten Alten Freien und Angenommenen Maurer immer wieder zu Korrekturversuchen
| |
− | geführt, die von der Großen Landesloge allerdings nur so weit akzeptiert
| |
− | wurden, wie ihr dies mit der unveränderten Großlogen- bzw. Autonomievorstellung der
| |
− | GLL vereinbar erschien. Im nächsten Abschnitt dieses Beitrags ist ausführlicher auf die
| |
− | »VGLvD-Problematik« zurückzukommen.
| |
− | So stand die Große Landesloge bewusst und konsequent abseits, als die Vereinigte
| |
− | Großloge der Freimaurer von Deutschland (VGL), auf die sich die Vertreter der westdeutschen
| |
− | Logen und Großlogen in Bad Kissingen geeinigt hatten, am 19. Juni 1949 in der
| |
− | Frankfurter Paulskirche feierlich eingesetzt wurde. Der Zusammenschluss war bis zur Paulskirchenfeier
| |
− | am 19. Juni 1949 auf 174 Freimaurerlogen angewachsen, die – wie die nachfolgende
| |
− | Zusammenstellung zeigt – aus sämtlichen alten Großlogensystemen stammten und
| |
− | 6745 Brüder in den Zusammenschluss einbrachten:36
| |
− | 42 Logen aus der Großen National-Mutterloge »Zu den drei Weltkugeln«, 35 Logen
| |
− | aus der Großen Loge »Royal York zur Freundschaft«, 34 Logen aus der Großloge »Zur
| |
− | Sonne«, 18 Logen aus der »Großen Loge von Hamburg«, 14 Logen aus dem »Eklektischen
| |
− | Freimaurerbund«, sieben Logen aus der Großloge »Zur Eintracht«, fünf Logen aus der
| |
− | »Symbolischen Großloge«, vier Logen aus der »Großen Landesloge«, vier Logen aus der
| |
− | »Großen Landesloge von Sachsen«, eine Loge aus dem Freimaurerbund »Zur aufgehenden
| |
− | Sonne«, zehn Neugründungen aus der Zeit nach 1945.
| |
− | Die umfangreich ausgefallene Beteiligung ehemaliger Logen der Großen National-Mutterloge
| |
− | »Zu den drei Weltkugeln« an der Gründung der Vereinigten Großloge von Deutschland
| |
− | stieß auf Protest seitens der Berliner Großloge. Die aus der Weltkugel-Großloge stammenden,
| |
− | schwerpunktmäßig in Nordrhein-Westfalen beheimateten und inzwischen der
| |
− | dortigen Landesgroßloge angehörenden Logen beschlossen daher auf dem Stuhlmeistertag
| |
− | der Landesgroßloge am 8. Mai 1949 eine Erklärung, in der es hieß:
| |
− | »Alle Logen sind … als unabhängige, selbstständige Logen wieder ins Leben gerufen
| |
− | worden. Sie haben daher das Recht, ihrerseits zu entscheiden, ob sie sich organisatorisch
| |
− | der alten Großloge wieder anschließen oder eine eigene Organisation mit oder
| |
− | ohne Logen anderer Systeme bilden wollen … Den von verschiedenen Seiten uns gemachten
| |
− | Vorwurf der Untreue weisen wir hiermit zurück. Wir wollen nur die seit
| |
− | Jahrzehnten von der deutschen Freimaurerei ersehnte Einheit. Wir sind demnach bei
| |
− | 36 Vgl. In memorial Theodor Vogel, a.a.O., S. 9f.
| |
− | 100
| |
− | aller Anerkennung der Vergangenheit nur dem Gebot der Stunde gefolgt, als wir uns
| |
− | für den Zusammenschluss zum Wohle der deutschen Freimaurerei und unseres Vaterlandes
| |
− | entschieden.«37
| |
− | Mit dem Tag der feierlichen Konstituierung der Vereinigten Großloge gliederten sich die
| |
− | Großlogen der einzelnen Länder Westdeutschlands als Landesgroßlogen der VGL ein, erkannten
| |
− | deren Verfassung auch für sich als verbindlich an und erklärten sich bereit, alle Bestimmungen
| |
− | ihrer seitherigen Gesetze, Statuten und Verfassungen außer Kraft zu setzen, soweit
| |
− | diese zu den Bestimmungen der Verfassung der VGL in Widerspruch standen.38
| |
− | Mit der Gründung der Vereinigten Großloge war der organisatorische Zusammenschluss
| |
− | der Freimaurerei in Deutschland allerdings noch nicht abgeschlossen.39 Zwar war
| |
− | die Mehrzahl der deutschen Logen der Vereinigten Großloge beigetreten, aber neben der
| |
− | Großen Landesloge mit ihren rund 80 Tochterlogen waren auch noch andere Logen dem
| |
− | Zusammenschluss in der Paulskirche ferngeblieben. Dazu gehörten vor allem die Berliner
| |
− | Tochterlogen der Großen National-Mutterloge »Zu den drei Weltkugeln«, die vier verbliebenen
| |
− | Logen der Großen Loge Royal York zur Freundschaft und die knapp zehn Logen
| |
− | der Großloge »Zu den Alten Pflichten«, in der Logen der einstigen Berliner Provinzialloge
| |
− | der Großen Loge von Hamburg nach 1945 zusammengefasst worden waren. Während
| |
− | die 3WK-Logen zunächst außerhalb einer Vereinigung blieben – sie schlossen sich später,
| |
− | zunächst als Einzellogen und dann als Großlogenverband, den Vereinigten Großlogen von
| |
− | Deutschland (VGLvD) an –, gingen die Logen von Royal York und »Alten Pflichten« im
| |
− | Januar 1950 zur »Vereinigten Großloge in Berlin (VGLiB) zusammen. Auf dem Coburger
| |
− | Großlogentag der VGL im September 1954 wurden die Logen der VGLiB in die Vereinigte
| |
− | Großloge von Deutschland eingegliedert, deren Berliner Distriktsloge sie heute bilden.
| |
− | Das sogenannte »Coburger Abkommen« sicherte den Berliner VGL-Logen eine begrenzte
| |
− | Eigenständigkeit, die von der Großen Loge Royal York in ritueller Hinsicht (die Logen
| |
− | konnten weiter Tempelarbeiten unter Leitung eines eigenen Großmeisters abhalten) genutzt
| |
− | wurde sowie als organisatorische und juristische Grundlage für Ansprüche auf Erstattung
| |
− | des von den NS-Behörden und später von den Behörden Ost-Berlins sowie der DDR
| |
− | beschlagnahmten beträchtlichen Vermögens der Großloge. Die Berliner Logen der ehemaligen
| |
− | VGLiB wuchsen allmählich, aber durchaus nicht ohne Spannungen in die Vereinigte
| |
− | Großloge von Deutschland hinein. Diese Spannungen hatten ihre Ursache nicht zuletzt in
| |
− | einer von Berliner Seite aus als unbefriedigend empfundenen finanziellen Unterstützung
| |
− | durch die VGL. So schrieb Br. Erich Rüdiger, der 1947 Großmeister der »Alten Pflichten«
| |
− | geworden war und 1957 Großmeister von »Royal York« wurde, im Januar 1956 an Dr.
| |
− | Werner Mohr, den zug. Großmeister der Vereinigten Großloge: »Ich mache mir große Sorgen,
| |
− | nicht nur um das Geld, das uns zugesagt ist und das wir noch nicht haben, sondern
| |
− | um das Ansehen der VGL … Br. Vogel soll einmal gesagt haben, dass die Berliner nur Geld
| |
− | 37 Erklärung der früher der Großen National-Mutterloge »Zu den dei Weltkugeln« angehörenden Tochterlogen
| |
− | Westdeutschlands, Archiv der Großloge AFuAM, Altenburg, A – 0005.
| |
− | 38 Rundschreiben der Vereinigten Großloge der Freimaurer von Deutschland, 1948/49, Archiv der Großloge
| |
− | A.F.u.A.M., Altenburg.
| |
− | 39 Vgl. hierzu und zum Folgenden Steffens, Manfred: Freimaurerei in Deutschland, a.a.O., S. 546ff.
| |
− | 101
| |
− | bekämen, wenn sie artig wären. Dieses Wort ist schon einige Jahre alt, aber es geistert jetzt
| |
− | wieder herum.«40
| |
− | Schließlich gehörten zu der Gruppe von Logen, die 1949 noch außerhalb der Vereinigten
| |
− | Großloge geblieben waren, auch die auf deutschem Boden arbeitenden Logen von
| |
− | Angehörigen der westlichen Besatzungsmächte (vor allem der in Deutschland stationierten
| |
− | Amerikaner, Kanadier und Briten), die sich nach den Regeln des freimaurerischen Sprengelrechts
| |
− | eigentlich der neuen Großloge hätten unterstellen müssen, diesen Schritt aber
| |
− | hinausschoben, weil die Vereinigte Großloge erst einmal von den regulären Großlogen der
| |
− | anderen Länder anerkannt worden sein musste. Ab Mitte der 1950er Jahre, als die internationale
| |
− | Anerkennung der VGL bedeutende Fortschritte gemacht hatte und die Bundesrepublik
| |
− | Deutschland im Rahmen außenpolitischer Bündnissysteme souverän geworden war,
| |
− | traten die »Feldlogen« der Westalliierten sukzessiv der VGL bei. Deren Mitgliederzahl nahm
| |
− | im Laufe dieser Entwicklung beträchtlich zu und erreichte 1958 mit 12.700 Mitgliedern
| |
− | ihren Höhepunkt. In den 1960er Jahren entstanden als selbstständige Partnergroßlogen der
| |
− | VGLvD die American Canadian Grand Lodge A.F. & A. M. (ACGL) sowie die Grandloge
| |
− | of British Freemasons in Germany (GL BFG). Diese Verselbstständigung ließ nicht nur die
| |
− | Zahl der Alten Freien und Angenommenen Maurer in der VGL und ihren Nachfolgegroßlogen
| |
− | (von 1958–1971 Große Landesloge A.F.u.A.M. von Deutschland, danach Großloge
| |
− | A.F.u.A.M. v.D.) stark zurückgehen, sondern ließ auch eine Großlogenstruktur in Deutschland
| |
− | entstehen, die im Kontext der internationalen Freimaurerei ohne Beispiel ist.
| |
− | Obwohl – wie aufgezeigt – nicht alle deutschen bzw. in Deutschland »arbeitenden« Logen
| |
− | der VGL beigetreten waren, bleibt der Frankfurter Paulskirchentag von 1949 für die deutsche
| |
− | Freimaurerei nicht nur das Ereignis, mit dem der historisch ersehnte Zusammenschluss vollzogen
| |
− | wurde. Mit dem »Ereignis Paulskirche« wurde auch ein Symbol dafür geschaffen, dass
| |
− | die deutsche Freimaurerei, wenn sie nur wollte, in der Lage war, über ihre bedrückenden historischen
| |
− | Schatten zu springen. Die für diesen ersten wirklichen und weit reichenden Zusammenschluss
| |
− | deutscher Freimaurer verantwortlichen Persönlichkeiten, vor allem der erste
| |
− | VGL-Großmeister, Dr. Vogel, hatten es nicht nur verstanden, die Einheit der Mehrzahl der
| |
− | deutschen Freimaurer in klug bedachten Schritten zu erreichen, sie verstanden es auch, die
| |
− | Vereinigung in der Paulskirche so schwungvoll in Szene zu setzen, dass Deutschland in der
| |
− | Weltbruderkette wieder wahrgenommen wurde und dass in den folgenden Jahren der Anschluss
| |
− | der noch abseits stehenden Logen und Großlogen immer unausweichlicher wurde.
| |
− | Theodor Vogel und seine Mitarbeiter nutzten geschickt alle moralischen, emotionalen, sachlichen
| |
− | und maurerisch-institutionellen Vorteile, die ihnen der Zusammenschluss der Vereinigten
| |
− | Großloge bot:41
| |
− | • Die feierliche Einsetzung der »Vereinigten Großloge« in der Frankfurter Paulskirche war
| |
− | mit ihren rund 700 Teilnehmern aus der deutschen und internationalen Freimaurerei
| |
− | nach Form und Symbolgehalt so beeindruckend, dass die von ihr ausgehende Dynamik
| |
− | die Entwicklung der deutschen Freimaurerei in den kommenden Jahren in starkem Maße
| |
− | beeinflusste – freilich auch zu mannigfaltigen Illusionen Anlass gab.
| |
− | 40 Brief an Dr. Werner Mohr vom 16.1.1956, Archiv der Großen Loge Royal York, Berlin.
| |
− | 41 Vgl. hierzu und zum Folgenden Steffens, Manfred: Freimaurerei in Deutschland, a.a.O., S. 541f., dessen
| |
− | Interpretation ich im Wesentlichen zustimmend übernehme.
| |
− | 102
| |
− | • Die Gründung der »Vereinigten Großloge« entsprach einem alten Ziel vieler deutscher Freimaurer:
| |
− | dem Zusammenschluss der deutschen Freimaurer in einer Großloge. Dies wurde
| |
− | auch dadurch unterstrichen, dass der Großlogentag eine Reihe von freimaurerischen Gesetzen
| |
− | des einstigen Deutschen Großlogenbundes im Juni 1949 wieder in Kraft setzte. Was
| |
− | hierdurch gewonnen wurde, war ein erhebliches Maß an historisch begründeter Legitimität.
| |
− | • Die Vereinigte Großloge dokumentierte durch ihre Gründung und durch ihre Struktur,
| |
− | dass eine Vereinigung der deutschen Brüder über die Grenzen der unterschiedlichen freimaurerischen
| |
− | Lehrarten möglich war, und setzte damit diejenigen Logen und Großlogen
| |
− | unter Argumentationszwang, die sich dem Zusammenschluss nach wie vor verweigerten.
| |
− | Insbesondere vielen Diskussionen in der Großen Landesloge war dieser Druck anzumerken.
| |
− | • Da am Zusammenschluss von 1949 Tochterlogen von ausnahmslos allen früheren deutschen
| |
− | Großlogen beteiligt waren, wurde das von manchen Großlogen in der Vergangenheit
| |
− | immer wieder vorgebrachte Argument hinfällig, gerade ihre Lehrart verbiete einen
| |
− | Zusammenschluss.
| |
− | • Auf die Tatsache gestützt, dass sie Tochterlogen aller früheren deutschen Großlogen vereinigte,
| |
− | nahm die Vereinigte Großloge von Anfang an für sich in Deutschland das ausschließliche
| |
− | maurerische Sprengelrecht in Anspruch. Der Gründungsgroßlogentag stellte
| |
− | nämlich ausdrücklich fest, »dass die VGL im Gebiete der freien deutschen Länder ihre
| |
− | Jurisdiktion mit keiner anderen Macht teilt oder zu teilen gewillt ist«. Damit konnte die
| |
− | Vereinigte Großloge von den meisten Großlogen der Welt als einzige Repräsentanz der
| |
− | deutschen Freimaurerei anerkannt werden.
| |
− | In diesem Sinne wurde seitens der VGL-Leitung im Anschluss an den Frankfurter Festakt mit
| |
− | Stolz darauf verwiesen, seitens der Vereinigten Großloge der Freimaurer von Deutschland
| |
− | bestünden nunmehr zu zahlreichen ausländischen Großlogen in Europa und Übersee Anerkennungsverhältnisse.
| |
− | Insgesamt wurde mit dem »Paulskirchenereignis« von 1949 ein Gründungsmythos für
| |
− | die Einigung der humanitären Freimaurerei in Deutschland begründet, dessen motivierende
| |
− | Kraft freilich aus vielen Gründen nur unzureichend genutzt und mit der Gründung
| |
− | der VGLvD im Jahre 1958 gar nachhaltig beschädigt wurde.
| |
− | In diesem Zusammenhang ist auch auf den Beschluss der Masonic Service Association
| |
− | (MSA) von Februar 1949 hinzuweisen, ein Komitee nach Deutschland zu entsenden »mit
| |
− | dem Auftrag, sich über den gegenwärtigen Stand der deutschen Freimaurerei zu orientieren
| |
− | und zur Weiterleitung an alle Großlogen in den USA diejenigen Tatsachen festzustellen, die
| |
− | zur Klärung der Frage der Anerkennung der deutschen Freimaurerei beitragen könnten«.42
| |
− | Der Besuch fand kurz nach der Paulskirchenfeier vom 17. bis 24. Juli 1949 statt. Der
| |
− | Schlussbericht zeigt große Sympathie für das Bemühen der deutschen Freimaurer, die
| |
− | einzelnen Logen und die Großlogenordnung wieder aufzubauen, trägt den großen Schwierigkeiten
| |
− | Rechnung, der die Freimaurerei in Deutschland angesichts der Auswirkungen der
| |
− | Verbotszeit und der großen Kriegsverluste gegenüberstand, macht aber auch einen Umstand
| |
− | deutlich, der im folgenden Abschnitt eingehender zu erörtern ist: das beträchtliche
| |
− | 42 The Masonic Service Association: After Fifteen Years. Freimaurerei in Deutschland. Washington D.C.,
| |
− | October 1949, zitiert nach der deutschen Übersetzung, München 1949, S. 6.
| |
− | 103
| |
− | Ausmaß, in dem es den deutschen Gesprächspartnern gelang, den amerikanischen Brüdern
| |
− | ihre spezifische Sichtweise nahezubringen. Als Beispiel hierfür mag folgender Abschnitt aus
| |
− | dem Schlussteil des Berichtes dienen:
| |
− | »Wenn man sich diese Lage klar vor Augen führt, so ist es fast unbegreiflich, wie die
| |
− | Freimaurerei in Deutschland die 15 Jahre des Hitler-Regimes und den zweiten Weltkrieg
| |
− | hat überleben können. Wir besitzen Informationen aus erster Hand über die
| |
− | Leiden, die über unsere deutschen Brr. gekommen waren. Diese Brr. besitzen unsere
| |
− | uneingeschränkte Sympathie. Fünfzehn Jahre lang haben sie in ständiger Lebensgefahr
| |
− | geschwebt und haben Verfolgungen und KZ-Haft erduldet. Wir kennen persönlich
| |
− | eine Reihe von Großbeamten dieser deutschen Großlogen, die in Konzentrationslagern
| |
− | geschmachtet haben und dort vor ihren Mitmenschen und Freunden lächerlich
| |
− | gemacht worden sind. Es ist nicht leicht, unter solchen Umständen ein Freimaurer
| |
− | zu sein und zu bleiben.«43
| |
− | Wurde so im Bericht der amerikanischen Brüder das Ausmaß der Verfolgung von Freimaurern
| |
− | durch das NS-System übertrieben dargestellt44, so wurde gleichzeitig die nationalistischvölkische
| |
− | Orientierung großer Teile der deutschen Freimaurerei nahezu vollständig ausgeblendet.
| |
− | Gemäß der in Deutschland bis heute vorherrschenden Sprachregelung, die fehlende
| |
− | »freimaurerische Einheit« sei Grund für die Schwäche der deutschen Bruderschaft angesichts
| |
− | des Nationalsozialismus gewesen, stellt der Bericht fest:
| |
− | »Führer der deutschen Freimaurerei lehnten alle Angebote der Anerkennung durch
| |
− | US-Großlogen ab und wandten sich hartnäckig gegen den Vorschlag des Großmeisters
| |
− | einer kontinentalen Großloge, Konferenzen herbeizuführen, in denen die bestehenden
| |
− | Differenzen beigelegt werden sollten. Diese Unterlassungssünde der deutschen
| |
− | Großlogen, zu einer freimaurerischen Einheit zu gelangen, war ohne Zweifel
| |
− | 43 Ebenda, S. 31.
| |
− | 44 Eine eingehende Analyse der Verfolgung und Benachteiligung von Freimaurern in der NS-Zeit steht
| |
− | noch aus. Klar ist jedoch, dass freimaurerische Nachkriegsdarstellungen ihr Ausmaß übertreiben.
| |
− | Beispielsweise kommt Jochen Schuster in einer als Kieler Dissertation durchgeführten Untersuchung
| |
− | der beruflichen Folgen einer Zugehörigkeit zur Freimaurerei für Richter und Staatsanwälte in der NSZeit
| |
− | zu folgendem Ergebnis: »Die Freimaurerei war zwar weltanschaulicher Gegner, die Gegnerschaft der
| |
− | Denksysteme fand in den handelnden Personen jedoch im Regelfall bei weitem keine Entsprechung …
| |
− | Eine generelle und massive Diskriminierung der Richter und Staatsanwälte konnte jedenfalls seitens der
| |
− | Justizverwaltungen nicht festgestellt werden. Die wenigen Fälle, in denen sich eine spezielle Intervention
| |
− | seitens der Parteidienstellen oder des Sicherheitsdienstes gegen einen Richter oder Staatsanwalt in den
| |
− | ausgewerteten Akten nachweisen ließ, zeigten im Gegenteil, dass die Justizverwaltungen allen voran die
| |
− | Präsidenten der Gerichte sich schützend vor ihre Beamten stellten. Im Verhältnis der Gerichtspräsidenten
| |
− | zu ihren Beamten stand das tägliche Geschäft deutlich im Vordergrund gegenüber den politischen
| |
− | Anforderungen durch Partei und Staat. Selbst ein Richter der eher schwach und unterdurchschnittlich
| |
− | talentiert oder befähigt beurteilt wurde, hatte nicht mit Repressalien aufgrund seiner ehemaligen Zugehörigkeit
| |
− | zur Freimaurerei zu rechnen.« Schuster, Jochen: Freimaurer und Justiz in Norddeuschland unter
| |
− | dem Nationalsozialismus. Die beruflichen Folgen der Mitgliedschaft in Logen für Richter und Staatsanwälte,
| |
− | Frankfurt am Main 2007, S. 161f.
| |
− | 104
| |
− | die Kerbe, in die Hitler schlug und so die Macht ergreifen und zum unumschränkten
| |
− | Diktator werden konnte.«45
| |
− | Neben der vermittelten günstigen historischen Perspektive für die Jahre vor und nach 1933
| |
− | war auch das Resultat des Besuchs für die internationale Reputation der neu gegründeten
| |
− | Vereinigten Großloge äußerst erfreulich, konnte doch Großmeister Theodor Vogel in einem
| |
− | Rundschreiben an die Stuhlmeister vom 25. Juli 1949 mitteilen:
| |
− | »Die beiden Brr. Denslow und Lietz haben … ausdrücklich die Erklärung abgegeben,
| |
− | dass sie die Vereinigte Großloge nicht nur als eine reguläre und rechtmäßig entstandene
| |
− | Großloge von ger. und vollk. Freimaurerlogen erkennen, sondern auch als die
| |
− | deutsche Großloge der Freimaurerei in den Westzonen betrachten. Freimaurerlogen
| |
− | in den Westzonen werden also als irregulär behandelt werden, wenn sie nicht binnen
| |
− | Jahresfrist der VGL beigetreten sind.«46
| |
− | Es hat Gegenstand weiterer zeitgeschichtlicher Forschung zu sein, warum die von der VGL erreichte
| |
− | starke internationale Position, die auch im zitierten Resultat des Besuchs des MSA-Komitees
| |
− | deutlich Ausdruck findet, sich nicht prägender auf die Struktur der im Jahre 1958 gegründeten
| |
− | Vereinigten Großlogen von Deutschland. Bruderschaft der Freimaurer (VGLvD), ausgewirkt
| |
− | hat. Arbeitshypothetisch scheint erneut die Frage auf, ob nicht – nicht zuletzt aufgrund
| |
− | der inzwischen erreichten international starken Position der VGL von 1949 – Möglichkeiten bestanden,
| |
− | zu einer wirklich leistungsfähigen Großlogenstruktur zu gelangen und ob nicht diese
| |
− | Möglichkeiten aufgrund noch zu analysierender Ursachen bedauerlicherweise vertan wurden.
| |
− | Zur organisatorischen Neugestaltung der Großlogenordnung und zur Regelung der Beziehungen
| |
− | zwischen der deutschen Bruderschaft und der Weltbruderkette gehörte schließlich
| |
− | auch der Abschluss von Konkordaten47 zwischen der Vereinigten Großloge und Vertretern
| |
− | der sogenannten Hochgradfreimaurerei,48 wie sie auch schon seitens einer Reihe
| |
− | von Landesgroßlogen abgeschlossen worden waren. Treibende Kraft für den Abschluss von
| |
− | Konkordaten mit den Hochgradsystemen war wiederum der spätere VGL-Großmeister Dr.
| |
− | Vogel und zwar bereits in seiner Zeit als Großmeister der Großloge »Zur Sonne«. Vogels
| |
− | Motiv war nicht nur das Bestreben, möglichst rasch Anschluss an die Weltfreimaurerei –
| |
− | insbesondere die Freimaurerei der USA – zu gewinnen, zu der auch die Hochgradsysteme
| |
− | gehörten, sondern auch die Absicht, die Position der von ihm vertretenen Freimaurerei
| |
− | gegenüber der »Großen Landesloge der Freimaurer von Deutschland« zu stärken. In diesem
| |
− | Sinne schrieb Vogel am 8. August 1948 an die »Große Loge von Hamburg«:
| |
− | »Der Abschluss des Konkordates mit dem A.A.S.R. ist für den Aufbau der Freimaurerei
| |
− | von einer gewissen logenpolitischen Bedeutung. Wir schaffen damit das Gegen-
| |
− | 45 The Masonic Service Association: After Fifteen Years, a.a.O., S. 7.
| |
− | 46 Archiv der Großloge A.F.u.A.M., Altenburg, A – 0009.
| |
− | 47 Zu Texten von Übereinkommen mit dem »Deutschen O.R. des AASR«, den »Schottenlogen und
| |
− | Erkenntnisstufen
| |
− | « sowie dem »Rat der Inneren Oriente« s. Archivmaterialien des Deutschen Freimaurermuseums
| |
− | Bayreuth, 4756.
| |
− | 48 Vgl. hierzu und zum Folgenden Steffens, Manfred: Freimaurerei in Deutschland, a.a.O., S. 552ff., S.
| |
− | 556ff.
| |
− | 105
| |
− | gewicht gegenüber der Großen Landesloge, schaffen damit die ausländischen Verbindungen,
| |
− | die wir benötigen, und schaffen vor allem eine klare Grundlage, die auch
| |
− | für die Zusammenarbeit mit den Hochgraden der Großen Landesloge den künftigen
| |
− | Weg andeutet …«49
| |
− | Durch die Konkordate sollte den Brüdern der deutschen Logen die Möglichkeit zur Mitarbeit
| |
− | im »Schottischen Ritus« und einigen anderen Hochgradsystemen eingeräumt werden.
| |
− | Hierzu gewährte die Großlogenverfassung »das Recht der Mitarbeit in Erkenntnisstufen und
| |
− | Hochgraden, soweit deren Verhältnis zur Johannisfreimaurerei geregelt ist«. Dieses Recht zu
| |
− | gewähren, konnte freilich nur heißen, keine Bedenken gegen eine solche Mitarbeit zu haben,
| |
− | denn bei der Freiheit der Mitgliederauswahl, die sich die Hochgradsysteme vorbehielten –
| |
− | und ihrem Selbstverständnis nach auch vorbehalten mussten – konnte die Großloge Rechtsansprüche
| |
− | auf Hochgradmitarbeit für die Mitglieder ihrer Johannislogen ja gar nicht durchsetzen.
| |
− | Auch zeigte sich sogleich, dass nicht alle Logen bereit waren, Hochgradmitgliedschaften
| |
− | zuzulassen. So wurde, um die Einheit der Großloge zu wahren, in die Großlogenverfassung
| |
− | ein Passus aufgenommen, demzufolge jede Loge »in ihrem Hausgesetz … durch
| |
− | die Gesamtheit ihrer Mitglieder den Verzicht auf das (gewährte) Recht aussprechen« kann.
| |
− | Sinnvoll, praktikabel und bis heute gültig hat dann die Verfassung der Großen Landesloge
| |
− | A.F.u.A.M. im Jahre 1964 jeder Tochterloge der Großloge die Möglichkeit eingeräumt, in
| |
− | ihren Hausgesetzen mit satzungsändernder Mehrheit für alle ihre Mitglieder die Annahme
| |
− | von Hochgraden zu untersagen. In der Praxis haben nur wenige Logen von dieser Möglichkeit
| |
− | Gebrauch gemacht, und die Großloge ist aufs Ganze gesehen mit dieser Regelung gut
| |
− | gefahren.
| |
− | 2.3 Die Vereinigten Großlogen von Deutschland. Bruderschaft der
| |
− | Freimaurer (1958)
| |
− | Im Rahmen des Abschnittes »Neue Großlogenordnung« erscheint es sinnvoll, den Zeitrahmen
| |
− | der Betrachtung bis zur Gründung der Vereinigten Großlogen von Deutschland. Bruderschaft
| |
− | der Freimaurer (VGLvD) im Jahre 1958 auszuweiten, die entgegen hochgespannter
| |
− | Hoffnungen und in deutlichem Unterschied zur Gründung der VGL von 1949 die Erwartungen
| |
− | vieler deutscher Freimaurer nicht erfüllt hat, freilich vorwiegend solcher in der GL
| |
− | A.F.u.A.M. Die VGLvD sind zwar kraft der ihnen in ihrer, in übertriebener Bedeutsamkeit
| |
− | »Magna Charta« genannten Satzung zugeschriebenen Hauptfunktion Träger der internationalen
| |
− | Beziehungen der deutschen Freimaurerei. Sie haben aber aufgrund der festgeschriebenen
| |
− | starken Stellung der Partnergroßlogen – erst nur GL A.F.u.A.M. und Große Landesloge,
| |
− | später kamen die GNML »3WK«, die American Canadian Grand Lodge A.F.&A.M. und
| |
− | die Grand Lodge of British Freemasons in Germany hinzu – keine wirklichen Möglichkeiten,
| |
− | den Logen dynamische Impulse zu vermitteln und die deutschen Freimaurer konzeptionell
| |
− | zusammenzuschließen. Sie spielen, nicht zuletzt aufgrund der vorwiegend akklamatorischen
| |
− | Funktion ihrer Hauptversammlung (des Konvents) kaum eine Rolle im brüderlichen Diskurs
| |
− | und verfügen (nach der Einstellung der »Bruderschaft« als Organ der VGlvD) nicht einmal
| |
− | über eine eigene Zeitschrift, die Plattform für Kommunikation und Gedankenaustausch sein
| |
− | 49 Zitiert nach Steffens, Manfred: Freimaurerei in Deutschland, a.a.O., S. 552.
| |
− | 106
| |
− | könnte. Ihre Entscheidungsmechanismen sind sperrig, stets blockadegefährdet, finanziell
| |
− | aufwendig und entsprechen in keiner Weise den organisatorischen und funktionalen Anforderungen,
| |
− | die an eine – legt man international übliche Maßstäbe an – »normale Großloge«
| |
− | zu stellen sind. Freilich sind die VGLvD – teils wegen, teils trotz wechselnder Senatskoalitionen
| |
− | der Partnergroßlogen – institutionell stark genug, um dynamische Initiativen, die aus
| |
− | der deutschen Bruderschaft hervorgehen, immer wieder auszubremsen.
| |
− | Über die Gründe, die zu dieser »unvollendeten«, in vielerlei Hinsicht verkrusteten Organisation
| |
− | geführt haben, können gegenwärtig nur Hypothesen angeboten werden, die
| |
− | bei zukünftigen Forschungsvorhaben zur Zeitgeschichte der deutschen Freimaurerei mit
| |
− | Fakten und Analysen zu konfrontieren sind:
| |
− | Der Schwung, mit der die VGL von 1949 erreicht werden konnte, weckte bei den Brüdern
| |
− | dieser Großloge Hoffnungen, die eine »echte« deutsche Großloge werden schon kommen,
| |
− | wenn erst einmal ein Anfang gemacht worden sei, und veranlasste sie zu zahlreichen
| |
− | Vorleistungen. So wurde eine Reihe von Großlogen-Ausschüssen aufgelöst und die von
| |
− | der VGL verliehenen
| |
− | Auszeichnungen (darunter die Paulskirchen- und die Bernhard-Beyer-
| |
− | Medaille) auf die VGLvD übertragen. Zugunsten der neuen – später wieder eingestellten
| |
− | – VGLvD-Zeitschrift »Bruderschaft« wurde auf ein eigenes Periodikum
| |
− | verzichtet, und man
| |
− | erörterte sogar, die Preise der GL A.F.u.A.M. (Literaturpreis,
| |
− | humanitärer Preis) auf die
| |
− | VGLvD zu übertragen.
| |
− | Ein Grund für diesen Vorleistungskurs der VGL war, dass sie sich zu sehr als »Großloge
| |
− | im Übergang« verstand, um eine als Basis für eine dynamischen Eigenentwicklung geeignete,
| |
− | dauerhafte konzeptionelle Identität zu entwickeln, wie sie für die Große Landesloge
| |
− | der Freimaurer von Deutschland historisch gegeben war. Ein eigenes AFuAM-Ritual, das
| |
− | identitätsstiftend hätte wirken können, wurde erst ab Mitte der 1960er Jahre geschaffen.
| |
− | Man fühlte sich in der alten VGL quasi unvollständig und brachte dies auf den Großlogentagen
| |
− | nach 1958 in Diskussionsbeiträgen und in Anträgen immer wieder zum Ausdruck.
| |
− | Es entstand die paradoxe Situation, gerade unter dem Dach der 1958 begründeten VGLvD,
| |
− | die fehlende wirkliche Einheit schmerzlich zu vermissen. Noch 1979 hieß es in der Erinnerungsschrift
| |
− | für Theodor Vogel:
| |
− | »Die GLL-FO hielt an ihrem Wunsch fest, die Eigenständigkeit zu bewahren. Die GL
| |
− | A.F.u.A.M. musste es deshalb hinnehmen, dass ihr Ziel, die eine und einzige deutsche
| |
− | Großloge, nicht verwirklicht werden konnte.«50
| |
− | Weiter mag eine Rolle gespielt haben, dass die Leiter der VGL um Großmeister Theodor Vogel
| |
− | als die gleichsam endgültigen Einiger der deutschen Freimaurerei in die masonische Geschichte
| |
− | eingehen wollten, auch wenn das Resultat der Einigung nicht dem internationalen
| |
− | Standard einer »echten« Großloge entsprach. Immerhin kam Theodor Vogel die Ehre zu,
| |
− | als erster Großmeister der VGLvD das Vereinigungswerk national und international zu repräsentieren.
| |
− | Nicht zuletzt aber war von großer Bedeutung, dass sich der internationale Druck – vor
| |
− | allem auf und nach der Londoner
| |
− | Großmeisterkonferenz vom Sommer 1957 – als zu stark
| |
− | erwies, um ihm auf Dauer widerstehen
| |
− | zu können, obwohl es hierfür gute maurerische
| |
− | 50 In memoriam Theodor Vogel, a.a.O., S. 24.
| |
− | 107
| |
− | Gründe gegeben
| |
− | hätte. Die »Vereinigte Großloge von England«, die sich offenbar einer
| |
− | kräftigen Einflussnahme seitens der schwedischen Großloge ausgesetzt sah, lud die beiden
| |
− | deutschen Großlogen zu einer Großmeisterkonferenz nach London ein, die dann am
| |
− | 14. Juni 1957 stattfand. Die anwesenden Großmeister,
| |
− | unter ihnen auch die Vertreter der
| |
− | skandinavischen Großlogen, denen sich die »Große Landesloge« auf Grund der gemeinsamen
| |
− | freimaurerischen
| |
− | Lehrart besonders verbunden fühlte, drängten die beiden deutschen
| |
− | Großlogen, sich nun doch endlich zu einigen, ein Wunsch, den der Großkanzler der
| |
− | »Großen Landesloge von Schweden«, von Heidenstam, in die Worte kleidete:
| |
− | »Ihr müsst Euch einigen, Ihr Alten Freien und Angenommenen
| |
− | Maurer und Ihr von
| |
− | der Großen Landesloge unseres Systems.
| |
− | Um der Jugend, um der Zukunft willen.«
| |
− | Der schwedische Großkanzler mag nicht zuletzt auch an die Zukunft der Großen Landesloge
| |
− | gedacht haben, für die nur innerhalb der VGLvD eine umfassende internationale Anerkennung
| |
− | erreichbar war.
| |
− | Es ist in diesem Zusammenhang äußerst aufschlussreich, wie der damalige Großsekretär der
| |
− | »Vereinigten Großloge von England«, Sir James Stubbs, die Londoner Konferenz und ihre
| |
− | Auswirkungen in seinen maurerischen Lebenserinnerungen beschrieben hat:
| |
− | »The raison d‘être of the conference in the Summer of 1957 was to bring the hostile
| |
− | sects together, if by no other means than telling their leaders that there was not going
| |
− | to be full recognition of German Masonry till that happened. In a sense the humanitarians,
| |
− | the United Grand Lodge of Germany (NB the singular is important) were
| |
− | sitting pretty: it was led by Dr Theodore Vogel who had a considerable following in
| |
− | his own and other countries and they had shown much more elasticity of mind than
| |
− | the stubborn successors of the Prussian Grand Lodges with the almost equally stubborn
| |
− | Scandinavians in support. The Scandinavian Grand Lodges themselves, secure
| |
− | in their own system, were not particularly anxious about recognition outside their
| |
− | immediate circle. It came therefore as quite a surprise that the leading figure in that
| |
− | conference should be the Swedish Chancellor, Count Rolf von Heidenstam, who
| |
− | displayed a real talent for negotiation which brought the two German parties much
| |
− | closer to each other than ever before … The next we heard of their relations was the
| |
− | publication of a tortuous document entitled ›Magna Charta‹, which was designed,
| |
− | if all parties could be got to accept it, to produce a kind of super Grand Lodge, or
| |
− | more realistically an umbrella under which they could all shelter without loss of
| |
− | independence.«51
| |
− | Stubbs war sich der Abweichungen von den international üblichen Großlogenstrukturen
| |
− | wohl bewusst, wenn er die VGLvD als »umbrella« bezeichnete, eine Organisation »which,
| |
− | with full power of foreign relations, was sufficientliy close to the normal concept of a Grandloge
| |
− | for it to be capable of recognition ...«.52
| |
− | 51 Stubbs, J. W.: Freemasonry in my Life, Frome and London 1985, S. 84f.
| |
− | 52 Ebenda, S. 94f.
| |
− | 108
| |
− | Der Hinweis des Großsekretärs der Vereinigten Großloge von England auf die günstige Position
| |
− | der Vereinigten Großloge von Deutschland und die beträchtliche Anhängerschaft ihres
| |
− | Großmeisters Theodor Vogel im In- und Ausland (»sitting pretty«) legt freilich den Schluss
| |
− | nahe, dass man sich dem Ansinnen der skandinavischen Großlogen trotz allen Drucks wohl
| |
− | doch hätte entziehen können, wenn nicht die zuvor genannten anderen Gründe eine so große
| |
− | Rolle bei der Entscheidungsfindung auf Seiten der VGL (Singular) gespielt hätten.
| |
− | Die Gründung der Vereinigten Großlogen von Deutschland nützte jedenfalls vor allem
| |
− | der Vereinigten Großloge von England, die auf diese Weise aus einem schwerwiegenden
| |
− | »Anerkennungsdilemma« herauskam, das darin bestanden hatte, nur eine deutsche Großloge
| |
− | anerkennen zu wollen, mit der Wahl der den Prinzipien der Weltfreimaurerei entsprechenden
| |
− | Vereinigten Großloge aber den Schwedischen Freimaurerorden hätte frustrieren
| |
− | müssen, und sie nutzte den heutigen VGLvD-Partnern, der Großen Landesloge und insbesondere
| |
− | der Großen National-Mutterloge »Zu den drei Weltkugeln«. Denn Letztere konnte
| |
− | vermutlich nur auf diese Weise ihren Status als unabhängige Großloge sichern. Der Preis
| |
− | für die gewählten Regelungen ist, dass die mit den »Vereinigten Großlogen von Deutschland
| |
− | « entstandene »gemeinsame nationale Ordnung« in der Tat nur einen »umbrella« darstellt,
| |
− | dessen eigentliches Stukturprinzip – »no loss of independence« – für ausländische
| |
− | Großlogen zwar »ausreichend nahe am Konzept einer Großloge« gewesen sein mag, um
| |
− | Anerkennung zu finden (James Stubbs), aber kaum zu einer wirklichen, international üblichem
| |
− | Großlogenverständnis entsprechenden und hinreichend funktionsfähigen Großloge
| |
− | geführt hat.
| |
− | Eine Vernunftehe sei keine Liebesheirat, hat der Alt-Großmeister der GL A.F.u.A.M.,
| |
− | Jens Oberheide, einmal vermerkt. Dem Nachdenken darüber, ob es sich bei »Vernunftehen«
| |
− | nicht auch um »Unvernunftehen« handeln könnte, stehen freilich viele Reflexionsschwierigkeiten
| |
− | und Tabus innerhalb des Bundes im Wege. Doch kann wohl nicht ernsthaft
| |
− | bezweifelt werden, dass das Positive an der deutschen Freimaurerei, die Zusammenarbeit
| |
− | der Logen und die Freundschaft der Brüder auch ohne das »tortuous document entitled
| |
− | ›Magna Charta‹« mit weit weniger Aufwand und institutionellen Bremsen erreicht werden
| |
− | könnte. Mit anderen Worten: Was funktioniert, ist die »VGLvD von unten«, die »VGLvD
| |
− | der Brüder«, die allenfalls vernünftiger und kostengünstiger Rahmenvereinbarungen, kaum
| |
− | aber der aufwendigen organisatorischen Strukturen und frustrierenden Selbstblockaden der
| |
− | »offiziellen« VGLvD bedürfte.
| |
− | 3. Zurück zur Weltfreimaurerei: Konzeptionelle Neuorientierung
| |
− | Die dritte Aufgabe der Nachkriegsfreimaurerei bestand darin, die deutsche Freimaurerei, die
| |
− | nach dem Ersten Weltkrieg bis 1933/35 in starkem, im Laufe der Zeit zunehmendem Maße
| |
− | völkisch geprägt gewesen war und sich von der Grundlage der »Alten Pflichten« gelöst hatte,
| |
− | auf eine neue, den Prinzipien der Weltfreimaurerei entsprechende konzeptionelle Grundlage
| |
− | zu stellen, die Auseinandersetzung mit dem NS-System und der eigenen völkischen Vergangenheit
| |
− | offensiv zu führen und ehemalige dezidierte Nationalsozialisten von der Bruderschaft
| |
− | fernzuhalten. Im Unterschied zu den anderen Handlungsebenen der deutschen Freimaurerei
| |
− | nach 1945 kann im Hinblick auf die beiden zuletzt genannten Aspekte nur mit
| |
− | Einschränkungen von Erfolg gesprochen werden.
| |
− | 109
| |
− | Was die konzeptionelle Neuorientierung der deutschen Freimaurerei betrifft, die vor
| |
− | allem in ihren zahlenmäßig dominierenden »altpreußischen« Bestandteilen vor dem NSVerbot
| |
− | immer wieder ihre Unterschiede zur Weltbruderkette der »Alten Pflichten« betont
| |
− | hatte und deren führende Repräsentanten schließlich erklärten, überhaupt keine Freimaurer
| |
− | mehr im Sinne der Weltfreimaurerei zu sein, so erwies es sich nach 1945 als hilfreich und
| |
− | positiv, dass neben dem organisatorischen Wiederaufbau auch die konzeptionelle Ausgestaltung
| |
− | der neuen deutschen Großlogenlandschaft vor dem Hintergrund von Reformorientierung
| |
− | und liberaler Tradition der Bayreuther Großloge »Zur Sonne« sehr wesentlich
| |
− | von deren letztem Großmeister, Dr. Theodor Vogel, bestimmt wurde. Als sich die Großloge
| |
− | »Zur Sonne« am 1. Mai 1948 in Erlangen feierlich zur Großloge der Freimaurer für
| |
− | Bayern erklärte, wurde eine Konstitutionsurkunde beschlossen, in der »die alten Pflichten,
| |
− | veröffentlicht im Jahre 1723 in dem englischen Konstitutionsbuch sowie die alten Landmarken,
| |
− | veröffentlicht im Jahre 1806 von unserem Br. John Mackay« zur Grundlage ihrer
| |
− | Arbeit erklärt wurden. Formulierungen dieser Art durchziehen die Veröffentlichungen von
| |
− | Brüdern, Logen und Großlogen in der Nachkriegszeit. Die konzeptionelle Rückkehr der
| |
− | deutschen Freimaurerei in die Weltbruderkette der alten, freien und angenommenen Maurer
| |
− | war zumindest für die Freimaurer der späteren Vereinigten Großloge von Deutschland
| |
− | zum allgemein akzeptierten Konsens geworden. In Artikel 2 der Verfassung der VGL vom
| |
− | 19. Juni 194953 hieß es dann auch folgerichtig:
| |
− | »Glaubens-, Gewissens- und Denkfreiheit sind den Freimaurern höchstes Gut.
| |
− | Die Freimaurer nehmen daher ohne Ansehen des religiösen Bekenntnisses, der Rasse,
| |
− | der Staatszugehörigkeit, der politischen Überzeugung und des Standes vorurteilsfreie
| |
− | Männer von gutem Rufe als Brüder auf.«
| |
− | Auf dem Großlogentag 1953 in Lüneburg wurde eine Erklärung beschlossen, die grundlegende
| |
− | Gestaltungs- und Verfahrensprinzipien der VGL in Übereinstimmung mit den Grundsätzen
| |
− | der universellen Freimaurerei brachten: Eine solche Ausformulierung wurde für erforderlich
| |
− | erachtet, »weil immer noch Vorstellungen aus der Zeit der früheren Großlogen, aus
| |
− | denen die einzelnen Logen stammten, im Umlauf waren«54.
| |
− | Der Beschluss lautete:55
| |
− | 1. In allen der VGL angeschlossenen Bauhütten werden die Arbeiten in Verehrung vor dem
| |
− | Großen Baumeister der Welt geöffnet und geschlossen.
| |
− | 2. Während der Arbeit liegt die Bibel als Buch des Heiligen Gesetzes offen auf.
| |
− | 3. Die VGL weiß sich mit dem Schicksal des deutschen Volkes verbunden, enthält sich aber
| |
− | jeglicher Stellungnahme zu Fragen der Politik. Sie schließt alle religiösen und konfessionellen
| |
− | Streitfragen von den Logenzusammenkünften aus.
| |
− | 53 Vereinigte Großloge von Deutschland: Verfassung und Gesetze, in: Freimaurerische Schriftenreihe Nr. 5,
| |
− | hrsg. von der Arbeitsgemeinschaft frm. Verleger (ohne Jahr und Ort).
| |
− | 54 Oberheide, Jens (Hrsg.): Woher, Wohin. Tatsachen und Erkenntnisse im Rückblick auf die Geschichte
| |
− | der Großloge der Alten Freien und Angenommenen Maurer von Deutschland, Berlin 2002, S. 66.
| |
− | 55 Ebenda.
| |
− | 110
| |
− | 4. Die VGL ist eine souveräne, unabhängige Körperschaft. Sie untersteht keiner Kontrolle
| |
− | irgendwelcher anderer Körperschaften. Mit solchen kann sie nur auf Grund von freien
| |
− | Vereinbarungen zusammenarbeiten.
| |
− | 5. Für die Anerkennung ausländischer Großlogen und die Aufrechterhaltung freimaurerischer
| |
− | Beziehungen mit diesen stellt die VGL die Bedingung, dass sie mit diesen Grundsätzen
| |
− | übereinstimmen.
| |
− | Neben der konzeptionellen Rückkehr der deutschen Freimaurerei in die Weltbruderkette
| |
− | und ihrer festen Verankerung auf der Grundlage der alten Pflichten und Landmarken hielten
| |
− | viele Freimaurer nach 1945 eine Klärung des alten deutschen Dualismus »christliche« und
| |
− | »humanitäre« Freimaurerei für erforderlich. Dies galt vor allem für die Brüder der ehemaligen
| |
− | 3WK- und Royal-York-Logen, die sich der VGL anschließen wollten.
| |
− | Als hilfreich erwies sich hier eine Formulierung des Frankfurter Freimaurers Emil Selter,
| |
− | der später Großredner der VGL wurde:
| |
− | »In der Freimaurerei verhalten sich das humanitäre und das christliche Prinzip wie
| |
− | konzentrische Kreise, von denen der humanitäre den größeren Durchmesser hat.
| |
− | Humanitäre Freimaurerei schließt alle Menschen und nicht zuletzt die Christen ein,
| |
− | christliche Freimaurerei schließt aber alle Nichtchristen aus.«
| |
− | Selter hielt zahlreiche Vorträge, insbesondere in den Logen früherer »altpreußischer« Großlogen
| |
− | – ausgenommen Logen der Großen Landesloge – und war nicht ohne Einfluss auf die
| |
− | Integration dieser Logen in die Vereinigte Großloge.
| |
− | 4. Ein neues Verhältnis zu Politik und Öffentlichkeit
| |
− | Die Beziehungen zwischen der Freimaurerei auf der einen und Gesellschaft sowie Politik auf
| |
− | der anderen Seite waren im Deutschland der Nachkriegszeit und in der späteren Bundesrepublik
| |
− | durch freundliche Koexistenz geprägt, ohne dass die Freimaurerei größere Beachtung
| |
− | gefunden hätte. Beginnend mit den führenden »Freimaurern der ersten Stunde«, die sich
| |
− | um den Einiger der deutschen Bruderschaft und ersten Großmeister sowohl der Vereinigten
| |
− | Großloge von 1949 als auch der Vereinigten Großlogen von 1958, Theodor Vogel, geschart
| |
− | hatten, wurden Beziehungen zum politischen Establishment gepflegt, Repräsentanten der
| |
− | Politik zu freimaurerischen Veranstaltungen geladen, Vogel selbst zum Gespräch mit Bundeskanzler
| |
− | Konrad Adenauer geladen.
| |
− | Die gelegentliche Mitgliedschaft von Bundes- und Landtagsabgeordneten, Kabinettsmitgliedern
| |
− | in Bund und Ländern, führenden Verbandsvertretern, Hochschullehrern sowie
| |
− | generell
| |
− | Repräsentanten der bürgerlichen Oberschicht signalisierte eine verlässliche
| |
− | Vertrauensgrundlage
| |
− | für die Freimaurerei. Die traditionellen Werte des Bundes (Humanität,
| |
− | Brüderlichkeit,
| |
− | Toleranz) entsprachen dem Wertekonsens der neuen deutschen Republik,
| |
− | und die nun wiederum ins öffentliche Bewusstsein gehobenen Beziehungen der kulturellen
| |
− | Elite Deutschlands zur Freimaurerei – von Lessing über Goethe bis zu Ossietzky und Tucholsky
| |
− | – trugen ebenso zur Akzeptanz bei wie wiederum auch hier die Wahrnehmung von
| |
− | Verfolgung und Verbot in der NS-Zeit als einer widerständigen Qualität.
| |
− | 111
| |
− | Das politisch-gesellschaftliche Selbstverständnis der VGL wurde auf dem Großlogentag
| |
− | in Bad Ems am 15. Juni 1951 in der folgenden Erklärung zum Ausdruck gebracht:56
| |
− | »Die zum dritten Großlogentag der Vereinigten Großloge in Bad Ems versammelten
| |
− | Alten Freien und Angenommenen Maurer von Deutschland bekennen sich nachdrücklich
| |
− | zu den in den Alten Pflichten niedergelegten Grundsätzen unserer Bruderschaft.
| |
− | Angewandt auf die gegenwärtige Lage unseres deutschen Volkes und der Welt
| |
− | erstehen daraus für uns folgende Verpflichtungen:
| |
− | I. Wir wollen das geistige Leben in unseren Bauhütten, die mehr noch als bisher zu
| |
− | einem
| |
− | Hort brüderlichen Zusammenhaltens und gedanklicher Sammlung werden
| |
− | müssen,
| |
− | verstärken und vertiefen. Wir wollen insbesondere die Antworten auf die
| |
− | vielfältigen
| |
− | Fragestellungen unserer Zeit finden und den Brüdem wie den Suchenden
| |
− | einen
| |
− | besseren Weg zur Meisterung des Lebens weisen.
| |
− | II. Wir wollen im Dasein unseres Volkes und seines Staates, seiner Kultur und seiner
| |
− | Geschichte wirken. Wir wollen dabei die in der Abgeschlossenheit unserer Bauhütten
| |
− | gepflegten und erarbeiteten Gedanken unbeirrt in die Tat umsetzen.
| |
− | III. Wir wollen mit gesteigerter Kraft allen Mächten und Gewalten entgegenwirken,
| |
− | die mit totalitären Ansprüchen Leben und Freiheit der Menschen bedrohen. Für
| |
− | diese Ziele vertiefen wir die Zusammenarbeit mit unseren Brüdern und Freunden
| |
− | in aller Welt. In diesem Geist sind wir bereit, uns mit allen um die Erhaltung der
| |
− | abendländischen
| |
− | Kultur kämpfenden Kräften zu verbünden.«
| |
− | Freilich blieb es eine bis in die Gegenwart offene Frage, auf welche Weise dieses Wirken »im
| |
− | Dasein unseres Volkes und seines Staates, seiner Kultur und seiner Geschichte« sowie das unbeirrte
| |
− | Umsetzen der »in der Abgeschlossenheit unserer Bauhütten gepflegten und erarbeiteten
| |
− | Gedanken … in die Tat« praktisch zu realisieren waren.
| |
− | Breit war schon bald nach dem Zweiten Weltkrieg – und ist es, von Ausnahmen abgesehen,
| |
− | bis heute geblieben – die Akzeptanz der Logen auf lokaler Ebene. Die starke
| |
− | Verwobenheit von Freimaurern in die örtliche Geschichte, die allein schon ein Blick auf
| |
− | die Straßenschilder mit den zahlreichen Namen prominenter Mitglieder sichtbar machte,
| |
− | verschaffte den Freimaurern geneigte öffentliche Umfelder und den Bürgermeistern Stoff
| |
− | für anerkennende Grußbotschaften.
| |
− | Unproblematisch, wenn auch nicht gerade herzlich, war das Verhältnis zur evangelischen
| |
− | Kirche. Insbesondere die christlich orientierte Große Landesloge konnte auf die
| |
− | eine oder andere Weise an die Tradition des deutschen Kulturprotestantismus anknüpfen.
| |
− | Die Beziehungen zur katholischen Kirche blieben zunächst gespannt. So schrieben
| |
− | etwa die »Aachener Nachrichten« am 13. April 1950:
| |
− | »Über ein Wiederaufleben des Nationalsozialismus befragt, sagte Kardinal Frings
| |
− | (der Kölner Erzbischof), daß heute auf viel grössere Gefahren geachtet werden müsse.
| |
− | ›Denken Sie nur an den Kommunismus, der hier nicht unser einziger Feind ist. Das
| |
− | 56 In memoriam, a.a.O., S. 18.
| |
− | 112
| |
− | Freimaurertum rührt sich wieder gewaltig und was die Zeitschriften, besonders die
| |
− | importierten, an Asphaltgeist bringen, ist wirklich entsetzlich.‹«57
| |
− | Freilich zeichnete sich in den folgenden Jahren eine gewisse Akkommodierung mit der katholischen
| |
− | Kirche ab. Es fanden klärende Gespräche und Annäherungen statt, bis die »Unvereinbarkeitserklärung
| |
− | « der deutschen Bischofskonferenz von 1980 die Hoffnung auf eine
| |
− | endgültige Überwindung alter Feindseligkeiten zunichte machte.58
| |
− | Das Bild, das die deutsche Presse von der Freimaurerei zeichnete, war nicht ohne
| |
− | Ambivalenz. Seit den 50er Jahren sind in überregionalen Zeitungen und Zeitschriften
| |
− | zahlreiche, oft opulent bebilderte Artikel59 erschienen, die sich zwar meist wohlwollend
| |
− | von traditionellen Vorurteilen und Verdächtigungen abgrenzten, historische Verdienste
| |
− | von Freimaurern und soziale Leistungen der Logen anerkannten, gleichzeitig
| |
− | aber fast regelmäßig auch von kritischer (oft auch amüsiert-ironischer) Distanz und
| |
− | Urteilsunsicherheit geprägt waren. Fast routinemäßig wurden Zweifel artikuliert, ob die
| |
− | Freimaurerei in Anbetracht so klarer und vernünftiger Wertbekenntnisse immer noch
| |
− | so viel rituell-inszenatorischen Aufwand betreiben müsse. Diese Zweifel wurden durch
| |
− | das verwendete, in der Regel mit Billigung der Logen erstellte Bildmaterial eher verstärkt:
| |
− | Dunkelheit, brennende Kerzen, schwarze Anzüge, Zylinder und Maurerschurze
| |
− | transportierten Eindrücke, die dem Charakter des freimaurerischen Rituals als eines in
| |
− | die Logengruppe eingebetteten Gesamtvorgangs nicht entsprachen und Perzeptionen
| |
− | zwischen mystisch-magisch und biedermännisch-altmodisch geradezu aufdrängten. Die
| |
− | Freimaurer standen plötzlich vor dem Problem, gerade durch ihre Informationsbereitschaft
| |
− | in nicht unerheblichem Maße zur Verbreitung von Fehlinformationen beizutragen.
| |
− | Heftige Diskussionen in den Logen und Großlogen waren die Folge. Später
| |
− | entschied der Senat der »Vereinigten Großlogen von Deutschland«, Bilder und Filmaufnahmen
| |
− | von rituellen Vorgängen zukünftig nicht mehr zur Veröffentlichung zuzulassen.
| |
− | 60
| |
− | Andererseits war Logen und Großlogen bewusst, dass die deutsche Freimaurerei ein
| |
− | neues Verhältnis zur Öffentlichkeit herzustellen hatte. Bereits die Gründung der Vereinigten
| |
− | Großloge von Deutschland im Juni 1949 war mit einer öffentlichen Vortragsveranstaltung
| |
− | verbunden61, und später wurden unter handlichen Formeln wie »Flagge zeigen« und »Wir
| |
− | stellen uns der Zeit« gar regelrechte »Kommunikationsappelle« erlassen. Die deutsche Freimaurerei
| |
− | verstand sich zunehmend als Bestandteil der demokratisch-pluralistischen Gesellschaft,
| |
− | und dies bedeutete zugleich, sich ihres Platzes in eben dieser Gesellschaft zu
| |
− | versichern und sich ihrer sozialen Umwelt verständlich zu machen.
| |
− | 57 Archivmaterialien des Deutschen Freimaurermuseums Bayreuth, 4756.
| |
− | 58 Darstellung und Wiedergabe von Dokumenten in: Holtorf, Jürgen: Die Logen der Freimaurer, Hamburg
| |
− | o. J. (1991), S. 110ff.
| |
− | 59 Beispielhaft: Der Spiegel, 15, 1963: Titelgeschichte Freimaurer: Brüder im Schurz; Kristall, 10, 1964: Die
| |
− | Königliche Kunst. Freimaurerei in Deutschland; Epoca 9 (1967): 250 Jahre Freimaurertum. Ein Weltbund
| |
− | der Menschlichkeit; ZEITMAGAZIN, 44, 1975: Maurer für das Schöne, Gute und Wahre; GEO 2
| |
− | (1988): Freimaurer in Deutschland. Ehrenmanns Bruderbund.
| |
− | 60 Der »Fall GEO«, in: Humanität, Nr. 2, 1988, S. 4ff.
| |
− | 61 Archiv der Großloge A.F.u.A.M., Altenburg.
| |
− | 113
| |
− | 5. Auseinandersetzung mit der Vergangenheit:
| |
− | Teilbekenntnisse, Erinnerungsscham und Verdrängung
| |
− | Als fünfte Aufgabe der deutschen Nachkriegsfreimaurerei war die kritische Auseinandersetzung
| |
− | mit völkischer Orientierung und opportunistischer Haltung gegenüber dem NS-System
| |
− | bei beträchtlichen Teilen der deutschen Freimaurerei vor 1933/35 bezeichnet worden.
| |
− | Da ich hierüber ausführlich im Schlussabschnitt des vorigen Beitrags berichtet habe, genügt
| |
− | an dieser Stelle der Hinweis auf meine dortige Beschreibung und analytische Erörterung.62
| |
− | 6. Zusammenfassung und Ausblick
| |
− | Misst man die Entwicklung der deutschen Freimaurerei in den Jahren von 1945 bis 1950
| |
− | bzw. 1958 am Grad der Erfüllung der am Anfang dieses Beitrags genannten fünf Hauptaufgaben
| |
− | (Sammlung der Brüder und Wiedergründung der Logen; Herstellung einer neuen
| |
− | und leistungsfähigen Großlogenordnung; konzeptionelle Neuorientierung der deutschen
| |
− | Freimaurerei; Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Freimaurerei, Politik und Gesellschaft
| |
− | sowie kritische Auseinandersetzung mit völkischer Orientierung vor und nach 1933),
| |
− | so konnten, bis auf die zuletzt genannte Aufgabe, gewiss beträchtliche Erfolge erreicht werden.
| |
− | Gleichzeitig waren allerdings auch zahlreiche Defizite zu verzeichnen, die sich bis in
| |
− | die Gegenwart fortsetzen.
| |
− | Die Brüder, welche die Katastrophe von Verbot und Zweitem Weltkrieg überlebt hatten,
| |
− | fanden sich schnell zusammen und gingen mit großem Schwung an die Wiedergründung
| |
− | der Logen. Westliche Besatzungsmächte und ausländische Großlogen unterstützten
| |
− | die Renaissance der deutschen Freimaurerei in Westdeutschland, während die sowjetische
| |
− | Besatzungsmacht und die sich bald etablierenden kommunistisch dominierten deutschen
| |
− | Behörden einen Wiederaufbau im Osten Deutschlands verhinderten.
| |
− | Die Mehrheit der deutschen Freimaurer ließ die national-völkischen Konzeptionen
| |
− | der Vorverbotszeit hinter sich und ordnete sich ideell und organisatorisch in die Weltbruderkette
| |
− | der in der Tradition der »Alten Pflichten« stehenden symbolisch-moralischen
| |
− | Freimaurerei ein. Die Auseinandersetzung mit dem auf tragische Weise in die Irre gehenden
| |
− | Denken und Handeln deutscher Freimaurer in den 1920er und frühen 1930er Jahre erfolgte
| |
− | jedoch allzu zögerlich und schönfärberisch und war mehr auf die Bildung neuer Mythen
| |
− | als auf die Anerkennung historischer Wahrheiten angelegt.
| |
− | Die neue Großlogenordnung stand im Zeichen der Vereinigten Großloge der Freimaurer
| |
− | von Deutschland, VGL und wurde in starkem Maße durch ihren charismatischen Großmeister,
| |
− | Dr. Theodor Vogel, bestimmt. Der Zusammenschluss der deutschen Freimaurer
| |
− | blieb durch das Abseitsstehen der Großen Landesloge der Freimaurer von Deutschland
| |
− | allerdings unvollendet
| |
− | und ist es – dies zeigt die Entwicklung der 1958 geschaffenen Vereinigten
| |
− | Großlogen von Deutschland. Bruderschaft der Freimaurer (VGLvD) – bis heute
| |
− | geblieben.
| |
− | 62 Höhmann, Hans-Hermann: Europas verlorener Friede, die national-völkische Orientierung innerhalb
| |
− | der deutschen Freimaurerei und die »freimaurerische Erinnerungspolitik« nach dem Zweiten Weltkrieg,
| |
− | in diesem Band, S. 51–87, insbesondere S. 75–87.
| |
− | 114
| |
− | Die kräftigen Impulse der Nachkriegsfreimaurerei verebbten freilich nicht nur aufgrund
| |
− | der skizzierten organisatorischen Probleme. Auch der Zeitgeist war der Freimaurerei spätestens
| |
− | seit Mitte der 1960er Jahre nicht günstig. Dies liegt weniger an dem, was man das
| |
− | »Syndrom 1968« nennen könnte, obwohl sich auch dieses eher negativ auf die Freimaurerei
| |
− | ausgewirkt hat. Erklärungskräftiger sind die Strukturen der »postmodernen« Gesellschaft
| |
− | mit ihrer Event- und Multioptionskultur sowie ihrem Trend zu geringerer sozialer Einbindung,
| |
− | worunter alle gesellschaftlichen Gruppierungen leiden.
| |
− | Wem diese Überlegungen nicht genügen, um das jahrzehntelange Pendeln der Gesamtzahl
| |
− | der deutschen Freimaurer um international äußerst bescheidene 12–14.000 Brüder
| |
− | zu erklären, der sei schließlich auf den weiteren Umstand verwiesen, dass im Frühjahr
| |
− | 1945 zwar die politische Unterdrückung durch die NS-Herrschaft hinfällig geworden war,
| |
− | dass aber nach wie vor die auch von den Nationalsozialisten errichtete Vorurteilskulisse
| |
− | wirksam blieb. Die lange Gegnerschaft seitens der katholischen Kirche, die Relikte des mit
| |
− | kirchlicher Verurteilung der Freimaurerei verbundenen Volksaberglaubens, die politischen
| |
− | Verbote unter Nationalsozialismus und Kommunismus, schließlich die in immer neuen Varianten
| |
− | auftretenden »Verschwörungstheorien« mit ihren gegen die Freimaurerei gerichteten
| |
− | pathologischen Fixierungen, machten es der Freimaurerei in Deutschland auch nach ihrer
| |
− | Wiederbegründung schwer, mit gelassener Selbstverständlichkeit und durch quantitatives
| |
− | Wachstum sowie durch gesellschaftliche und intellektuelle Qualität in der deutschen Gesellschaft
| |
− | präsent zu sein.
| |
− | 115
| |
− | Habitus, soziales Feld, Kapital –
| |
− | Freimaurerei im Lichte der Soziologie Pierre
| |
− | Bourdieus
| |
− | 1. Freimaurerforschung auf der Suche nach neuen Paradigmen
| |
− | Freimaurerische Forschung ist traditionell vor allem historische Forschung gewesen. Auch
| |
− | die Symbole und Rituale des Bundes wurden im Rahmen einerseits kunstgeschichtlich,
| |
− | andererseits religionswissenschaftlich orientierter Betrachtungen vorwiegend in geschichtlichen
| |
− | Kontexten behandelt. Dabei haben sich die analytischen Ansätze und Deutungsmuster
| |
− | im Laufe der vergangenen Jahrzehnte nicht unwesentlich verändert, und der »Mainstream
| |
− | « der historischen Forschung ist inzwischen durch neue und vielversprechende Forschungsansätze
| |
− | ergänzt worden, so etwa (und vor allem) durch die neuere Esoterikforschung
| |
− | und die Ritualforschung. Beide Disziplinen haben in den letzten zwei Jahrzehnten einen für
| |
− | die Freimaurerforschung sehr wichtigen, innerhalb des Bundes allerdings nur sehr begrenzt
| |
− | wahrgenommenen Aufschwung erfahren.1
| |
− | Weniger befriedigend steht es dagegen um sozialwissenschaftliche Forschungsansätze
| |
− | und entsprechende empirische Untersuchungen. Es wurden zwar beachtliche Beiträge zur
| |
− | Sozialgeschichte der Freimaurerei veröffentlicht, doch sozialwissenschaftliche Untersuchungen
| |
− | zur Freimaurerei der Gegenwart sind rar.2
| |
− | Inzwischen wurden allerdings zumindest Ansätze zu einer Soziologie der heutigen Freimaurerei
| |
− | vorgelegt, nicht zuletzt im Rahmen des von Jörg Bergmann und mir initiierten
| |
− | Forschungsprojekts »Deutsche Freimaurerei der Gegenwart« an der Universität Bielefeld.
| |
− | U.a. habe ich selbst im Rahmen dieses Projektes eine Arbeit vorgelegt, die Robert Putnams
| |
− | Konzept des Sozialkapitals auf die Freimaurerei anwendet.3
| |
− | Vor allem aus drei Gründen sollten sozialwissenschaftliche Untersuchungen zur Freimaurerei
| |
− | der Gegenwart fortgesetzt und auch versucht werden, weitere, und vor allem jüngere Forscher
| |
− | – etwa auch mit Promotionsvorhaben – für dieses Analysefeld zu interessieren:
| |
− | 1 Vgl. zur Esoterikforschung die zahlreichen Veröffentlichungen von Neugebauer-Wölk, Monika:
| |
− | (http://www.geschichte.uni-halle.de/mitarbeiter/neugebauer-woelk/publikationen/) sowie Hanegraaff,
| |
− | Wouter J.: The Birth of a Discipline, in: Faivre, Antoine/Hanegraaff, Wouter J. (Hrsg.): Western
| |
− | Esotericism and the Science of Religion, Leuven 1998, S. VII–XVII. Zur Ritualforschung vgl.
| |
− | insbesondere die Forschungs-, Veröffentlichungs- und Konferenzaktivitäten des Sonderforschungsbereichs
| |
− | »Ritualdynamik« an der Universität Heidelberg, des »weltweit größten Forschungsverbunds
| |
− | zum Thema Rituale und ihren Veränderungen« (http://www.uni-heidelberg.de/presse/news08/
| |
− | pm281028-2ritu.html); außerdem: Ritualforschung im Internet (http://www.ritualdynamik.uni-hd.de/
| |
− | e-journal/berichte/internetrecherche.pdf).
| |
− | 2 Vgl. Höhmann, Hans-Hermann: Entwicklung, Reflexion, Wissenschaft. Anmerkungen zum Wechselspiel
| |
− | zwischen freimaurerischer Geschichte und Geschichte der Freimaurerforschung, in: Quatuor Coronati
| |
− | Jahrbuch für Freimaurerforschung, Nr. 41, 2004, S. 232–234.
| |
− | 3 Höhmann, Hans-Hermann: »The Means of Conciliating true Friendship« – Freimaurerei als Sozialkapital,
| |
− | in diesem Band, S. 132–151.
| |
− | 116
| |
− | • Zunächst wachsen hierdurch die Möglichkeiten der freimaurerischen Forschung, gegenüber
| |
− | einem wichtigen Sektor der Fachwissenschaft gesprächsfähig zu sein.
| |
− | • Gleichzeitig eröffnen sich Chancen, mit leistungsfähigen Begriffen und Konzeptionen
| |
− | neue theoretisch-konzeptionelle und empirisch-analytische Zugänge zur Gegenwartsfreimaurerei
| |
− | zu erschließen.
| |
− | • Schließlich können leistungsfähige sozialwissenschaftliche Analysekonzepte und entsprechende
| |
− | Forschungsergebnisse dazu beitragen, die Handlungsgrundlagen von Logen und
| |
− | Großlogen zu verbessern und einen Beitrag dazu zu leisten, die heute oft in der Luft
| |
− | hängenden normativen Konzepte für eine Freimaurerei der Gegenwart vom Kopf auf die
| |
− | Füße zu stellen.
| |
− | Dabei muss freilich sorgfältig zwischen analytischen Befunden auf der einen und dem Gewünschten,
| |
− | Gewollten und Angestrebten auf der anderen Seite unterschieden werden. Soziale
| |
− | Wirklichkeit und freimaurerische Norm dürfen nicht gleichgesetzt oder gar verwechselt
| |
− | werden. Freimaurerische Forschung kann den Wert der Freimaurerei und ihrer einzelnen
| |
− | »Lehrarten« nicht beweisen. Kategorische Werturteile darf sie nicht fällen. Sie ist aber zur
| |
− | Formulierung »hypothetischer Werturteile« berechtigt, wenn diese methodisch und empirisch
| |
− | begründet sind und für Kritik offengehalten werden. Hypothetische Werturteile beziehen
| |
− | sich auf die Beurteilung alternativer Vorgehensweisen, die eingeschlagen werden können,
| |
− | wenn bestimmte vorgegebene Ziele erreicht werden sollen. Jede Begutachtungs- und
| |
− | Beratungstätigkeit beruht letztendlich auf dem Prinzip, wissenschaftlich zu erörtern, welche
| |
− | Handlungsoptionen zwecks Zielverwirklichung zur Verfügung stehen, wenn Gewolltes realisiert
| |
− | werden soll.4 Wenn beispielsweise die Zahl der Freimaurer vergrößert werden soll (»Ziel
| |
− | 10.000« der Großloge A.F.u.A.M. von Deutschland), so kann die Forschung erörtern, welche
| |
− | Voraussetzungen hierfür erfüllt sein müssen, wie es um das Vorhandensein dieser Voraussetzungen
| |
− | steht und welche Wege aussichtsreich sind, um die notwendigen Voraussetzungen
| |
− | zu schaffen.
| |
− | 2. Habitus, soziales Feld, Kapital – Grundbegriffe der Soziologie
| |
− | Bourdieus
| |
− | 2.1 Attraktivität und empirische Schwierigkeit einer Anwendung der
| |
− | Soziologie Bourdieus auf die Freimaurerei
| |
− | In diesem Beitrag geht es um die Frage, inwieweit Begrifflichkeiten und Forschungskonzepte
| |
− | des französischen Soziologen Pierre Bourdieu mit Gewinn auf die Freimaurerei anzuwenden
| |
− | wären. Insbesondere denke ich dabei an die von ihm verwendeten Leitbegriffe Habitus, soziales
| |
− | Feld und Kapital, die in der Zusammenschau eine neue empirisch begründete soziologische
| |
− | Theorie ergeben, welche in den heutigen soziologischen Diskursen von großer Bedeutung
| |
− | ist und sich selbst als »Theorie der Praxis« versteht.5
| |
− | 4 Vgl. Höhmann, Hans-Hermann: Entwicklung, Reflexion, Wissenschaft, a.a.O. S. 236f.
| |
− | 5 Vgl. Papilloud, Christian: Bourdieu lesen. Einführung in eine Soziologie des Unterschieds, Bielefeld
| |
− | 2003, S. 29ff.
| |
− | 117
| |
− | Pierre Bourdieu, geboren am 1. August 1930 in Denguin (Département Pyrénées-Atlantiques),
| |
− | gestorben am 23. Januar 2002 in Paris, war der wohl bedeutendste französische
| |
− | Soziologe in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.6 Seit 1964 war Bourdieu Inhaber
| |
− | des Lehrstuhls für Kultursoziologie an der Pariser École des Hautes Études en Sciences
| |
− | Sociales. Seit 1981 hatte er einen Lehrstuhl für Soziologie am Collège de France inne, eine
| |
− | der höchsten Positionen im französischen Universitätssystem. Bourdieu begann seine wissenschaftliche
| |
− | Laufbahn als Ethnologe, durchbrach dann aber die traditionellen Grenzen
| |
− | der Ethnologie mit zwei soziologischen Arbeiten über Algerien. Seit 1960 hat Bourdieu
| |
− | umfangreiche, statistisch fundierte Untersuchungen über soziale Strukturen, gesellschaftliche
| |
− | Dynamik und Bildungs- sowie Erziehungsprobleme der europäischen Gesellschaften
| |
− | unternommen und zahlreiche, in alle Weltsprachen übersetzte Publikationen vorgelegt.
| |
− | 1985 beauftragte ihn Staatspräsident François Mitterrand, Vorschläge zur Reform des französischen
| |
− | Bildungswesens auszuarbeiten. Bourdieu hatte und hat auch im Ausland (nicht
| |
− | zuletzt in Deutschland) einen beträchtlichen Einfluss auf Soziologie, empirische Sozialforschung
| |
− | und Sozialpolitik.
| |
− | Das, was ich im Folgenden aufzeige, sind vorerst freilich weniger Forschungsergebnisse
| |
− | als Hypothesen, die der empirischen Untersuchung harren, wobei ich mich durch
| |
− | Bourdieu ermutigt fühle, die von ihm entwickelten Forschungsansätze an die analytischen
| |
− | Erfordernisse des Erkenntnisobjekts Freimaurerei anzupassen. Ich folge Bourdieu
| |
− | in seiner Auffassung, dass »›Theorien‹ Forschungsprogramme (sind), die nicht zur ›theoretischen
| |
− | Diskussion‹ anregen sollen, sondern zur praktischen Umsetzung, über die sie
| |
− | dann widerlegt oder verallgemeinert werden können«.7 Ich folge ihm auch darin, dass
| |
− | ein Verstehen wissenschaftlicher Texte »heißt, dass man von der Denkweise, die in ihnen
| |
− | zum Ausdruck kommt, an einem anderen Gegenstand praktischen Gebrauch macht, sie
| |
− | in einem neuen Produktionsakt reaktiviert, der ebenso intensiv und originär ist wie der
| |
− | ursprüngliche«.8
| |
− | Allerdings gibt es bei der gegenwartsorientierten Freimaurerforschung gravierende Probleme
| |
− | mit dem Zugang zu empirischem Material, denn dieses Material müsste ja vor allem
| |
− | aus den Logen und Großlogen kommen. Doch die Logen sind häufig besorgt, Informationen
| |
− | über Details des Logenlebens und persönliche Befindlichkeiten der Brüder weiterzugeben,
| |
− | und auch die Leitungen der Großlogen verhalten sich eher zurückhaltend mit
| |
− | der Materialvergabe und scheinen wenig an empirischer Forschung und ihren Ergebnissen
| |
− | interessiert zu sein, insbesondere, wenn diese Forschung kritische Akzente aufweist. Möglicherweise
| |
− | schätzen sie es ganz einfach nicht, wenn außerhalb der etablierten Leitungskreise
| |
− | fachliche Expertise für die freimaurerische Praxis entsteht, die eingeschliffene Verwaltungsroutinen
| |
− | stört und mit der die zuweilen eingeschränkte Effizienz oberer Leitungstätigkeit
| |
− | kritisierbar würde.
| |
− | 6 Fröhlich, Gerhard/Rehbein, Boike (Hrsg.): Bourdieu Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/
| |
− | Weimar 2009, S. 1–9.
| |
− | 7 Bourdieu, Pierre: Inzwischen 1988/1991: »Inzwischen kenne ich alle Krankheiten
| |
− | der soziologischen Vernunft
| |
− | «, Pierre Bourdieu im Gespräch mit Beate Krais, in: Bourdieu, Pierre/Chamboredon, Jean-Claude/
| |
− | Passeron, Jean-Claude: Soziologie als Beruf, Berlin und New York 1991, S. 269–283.
| |
− | 8 Bourdieu, Pierre: Habitus und Feld 1985/1997, S. 65, zit. nach: Fuchs-Heinritz, Werner/König, Alexandra:
| |
− | Pierre Bourdieu. Eine Einführung, Konstanz 2005, S. 9.
| |
− | 118
| |
− | So stütze ich mich im Folgenden nicht zuletzt auf 50 Jahre eigener Beobachtung der
| |
− | Freimaurerei als »actor-spectator« in der Logen- und Großlogenleitung und auf viele Gespräche,
| |
− | die ich – gemäß meinem Lieblingsmotto »Nichts geht über das laut denken mit
| |
− | einem Freunde« – in dieser Zeit bei vielen Logenbesuchen im In- und Ausland geführt
| |
− | habe.
| |
− | Nun zunächst zu einer zusammenfassenden Darstellung der genannten Leitbegriffe
| |
− | Bourdieus, »Habitus«, »soziales Feld« und »Kapital«, um das erforderliche analytische
| |
− | Handwerkszeug aufzuzeigen, woran sich dann die Anwendung der Soziologie Bourdieus
| |
− | auf die Freimaurerei anschließen kann.
| |
− | 2.2 Das Habitus-Konzept
| |
− | Der Begriff des Habitus – dem die vielschichtige Bedeutung von Anlage, Haltung, Erscheinungsbild,
| |
− | Gewohnheit, Lebensweise eignet – hat eine breite philosophische und soziologische
| |
− | Tradition, die hier nicht aufgezeigt werden kann.9 Doch in keiner Sozialtheorie
| |
− | kommt ihm jene zentrale Bedeutung zu, die er in Bourdieus theoretischer Gesamtkonzeption
| |
− | innehat. Kommen doch im Habituskonzept die grundlegenden anthropologischen Annahmen
| |
− | Bourdieus über die soziologisch fundamentalen Eigentümlichkeiten sozialer Akteure
| |
− | zum Tragen.
| |
− | Auf eine sehr allgemeine Weise definiert Bourdieu Habitusformen als
| |
− | »Systeme dauerhafter Dispositionen, strukturierte Strukturen, die geeignet sind, als
| |
− | strukturierende Strukturen zu wirken, mit anderen Worten: als Erzeugungs- und
| |
− | Strukturierungsprinzip von Praxisformen und Repräsentationen«.10
| |
− | Mit anderen Worten: Der Habitus des Menschen ist einerseits eine im Lebensprozess entstandene
| |
− | dauerhafte Prägung, andererseits wirkt er als gestaltende Kraft auf die ihn umgebende
| |
− | gesellschaftliche Wirklichkeit zurück, auf das soziale Feld, auf dem er sich als Akteur
| |
− | bewegt.
| |
− | Im Lebensprozess bestimmt meint, dass vielfältige Faktoren auf die Formierung des Habitus
| |
− | einwirken. Von besonderer Bedeutung sind:11
| |
− | • die Struktur der Familie, in der wir heranwachsen;
| |
− | • die wirtschaftlichen bzw. schichten- und klassenspezifischen Verhältnisse, aus denen wir
| |
− | stammen;
| |
− | • die kulturelle Sozialisation, die wir erfahren haben, einschließlich der religiösen Sozialisation
| |
− | sowie
| |
− | • die Bildung, die uns zuteil wurde.
| |
− | 9 Vgl. Schwingel, Markus: Pierre Bourdieu. Zur Einführung, Hamburg 2000, S. 58f.
| |
− | 10 Bourdieu, Pierre: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen
| |
− | Gesellschaft, Frankfurt/Main 1976, S. 165.
| |
− | 11 Vgl. Fuchs-Heinritz, Werner/König, Alexandra: Pierre Bourdieu, a.a.O., S. 113ff.
| |
− | 119
| |
− | Schließlich schreiben sich die vergangenen und gegenwärtigen Erfahrungen des Lebenslaufes
| |
− | prägend in den Habitus ein. Kurz: Habitus ist »Leib gewordene Lebensgeschichte«
| |
− | (Bourdieu). Doch als Produkt der Lebensgeschichte ist der Habitus gleichzeitig wie die Geschichte
| |
− | selbst »in unaufhörlichem Wandel begriffen« (Bourdieu).
| |
− | Um es freimaurerisch zu sagen: Der Habitus ist ein »Rauher Stein«, träge und schwierig
| |
− | zu bearbeiten, aber doch nicht unveränderbar in seiner Form. Hierauf ist später mit der
| |
− | Frage nach dem freimaurerischen Habitus sowie den Möglichkeiten und Instrumenten
| |
− | einer Habitusformierung in der Loge zurückzukommen.
| |
− | 2.3 Soziales Feld und das Spiel mit und um »Kapital«
| |
− | Menschen agieren nun als vom Habitus geprägte Akteure in unterschiedlichen gesellschaftlichen
| |
− | Realitäten, die Bourdieu als soziale Felder beschreibt. Die Identität jedes Feldes hängt
| |
− | von vier gemeinsamen Bauelementen bzw. Prinzipien ab:
| |
− | • der Konstitution des Feldes als jeweils weitgehend autonomem Feld der Praxis;
| |
− | • der Ordnung im Feld als einer hierarchischen Struktur dieses Feldes;
| |
− | • dem Kampf im Feld als Quelle der Eigendynamik des Feldes sowie
| |
− | • der Reproduktion des Feldes als Bedingung seiner sozialen Dauer in der Praxis.12
| |
− | Bestimmt man auf der Grundlage dieser Prinzipien die Struktur der sozialen Felder, so wird
| |
− | diese durch eine jeweils für das spezifische Feld typische Konstellation von Faktoren gekennzeichnet.
| |
− | Hierzu gehören insbesondere
| |
− | • die im Feld anzutreffenden organisatorischen Formen;
| |
− | • die feldtypischen Institutionen, d.h. die im Feld gültigen Regelsetzungen formeller und
| |
− | informeller Natur;
| |
− | • die auf das Feld bezogenen Wertvorstellungen und Sinndeutungen, von Bourdieu Illusio
| |
− | genannt, sowie
| |
− | • die Struktur der Relationen, d.h. insbesondere die Verteilungsstruktur verschiedener Arten
| |
− | von Macht (oder »Kapital«), welche die Positionen der Akteure oder Institutionen im
| |
− | Feld bestimmt.13
| |
− | Der Terminus Feld bildet gleichsam das Pendant zu Bourdieus Konzept des Habitus: Beide
| |
− | haben mit Entwicklung, mit Geschichte zu tun: Während der Habitus – wie schon gesagt –
| |
− | leibliche Geschichte ist, stellt das Feld verdinglichte Geschichte dar.14
| |
− | Die Gesellschaft, das soziale Feld insgesamt, setzt sich nun aus einzelnen, miteinander
| |
− | mehr oder weniger verflochtenen Einzelfeldern zusammen. Wichtig sind für Bourdieu vor
| |
− | allem die Felder der Politik, der Wirtschaft und der Kultur. Diese Felder gliedern sich wiederum
| |
− | in Subfelder auf. So lassen sich etwa beim Feld Kultur – einem der Hauptbereiche
| |
− | der Soziologie Bourdieus – Unterfelder wie das Feld der Religion, das Feld der Literatur, das
| |
− | Feld der Schule und das Feld der Universität unterscheiden. Auch das Feld der Freimau-
| |
− | 12 Vgl. Papilloud, Christian: Bourdieu lesen, a.a.O., S. 59.
| |
− | 13 Vgl. Fuchs-Heinritz, Werner/König, Alexandra: Pierre Bourdieu, a.a.O., S. 140.
| |
− | 14 Vgl. Bourdieu, Pierre: Reflexive Soziologie 1992/1996, S. 161f., zit. nach: Fuchs-Heinritz, Werner/König,
| |
− | Alexandra: Pierre Bourdieu, a.a.O., S. 141.
| |
− | 120
| |
− | rerei – von dem gleich mehr zu hören ist – kann als ein Unterfeld des kulturellen Feldes
| |
− | betrachtet und analysiert werden.
| |
− | Felder und Subfelder kommunizieren einerseits miteinander, sind auf der anderen Seite
| |
− | jedoch relativ autonom, was es auch möglich macht, jeweils spezifische analytische Zugänge
| |
− | zu ihnen zu suchen. Vor allem aber sind soziale Felder Beziehungsgeflechte und stellen
| |
− | als solche Spielräume für das Handeln sozialer Akteure dar, für Formen der Kooperation,
| |
− | aber auch für Konflikte, für Auseinandersetzungen um Geltung, Einfluss und Macht.
| |
− | Bourdieu analogisiert die Felder immer wieder mit »Spielräumen«, Bereichen, die durch
| |
− | Spielregeln definiert sind und für welche die verschiedenen Spieler ganz unterschiedliche
| |
− | Ressourcen mitbringen:15
| |
− | »Sie verfügen über Trümpfe, mit denen sie andere ausstechen können und deren
| |
− | Wert je nach Spiel variiert: So wie der relative Wert der Karten je nach Spiel ein anderer
| |
− | ist, so variiert auch die Hierarchie der verschiedenen Kapitalsorten (ökonomisch,
| |
− | kulturell, sozial, symbolisch) in den verschiedenen Feldern. Es gibt, mit anderen
| |
− | Worten, Karten, die in allen Feldern stechen und einen Effekt haben – das sind die
| |
− | Kapital-Grundsorten – doch ist ihr relativer Wert als Trumpf je nach Feld und sogar
| |
− | je nach den verschiedenen Zuständen ein und desselben Feldes ein anderer.«16
| |
− | Dabei spielen die von Bourdieu unterschiedenen Formen von Kapital – ökonomisches, kulturelles,
| |
− | soziales Kapital – eine besondere Rolle. Die sozialen Felder sind insbesondere zwischen
| |
− | den arrivierten Akteuren als den Inhabern der jeweiligen Definitionsmacht des Feldes
| |
− | und den Häretikern als Herausforderern und Neulingen des Feldes umstritten und vor allem
| |
− | durch Machtspiele im Hinblick auf Ansehen, Einfluss und Macht und das damit verbundene
| |
− | symbolische Kapital charakterisiert.
| |
− | Welche Theorien taugen zur Analyse dieser Spiele?
| |
− | Zu Recht hält Bourdieu die klassische Spieltheorie (John von Neumann/Oskar Morgenstern)
| |
− | sowie andere analytische Modelle eines »rational choice«-Verhaltens (James Coleman)
| |
− | für wenig geeignet, das Spiel um Macht und Einfluss im sozialen Feld zu erfassen. Anna von
| |
− | Pfeil hat die Grenzen der »klassischen« Spieltheorie treffend auf den Punkt gebracht: »Die
| |
− | Spieltheorie ist ein Modell, das sich häufig nur begrenzt auf realistische Situationen anwenden
| |
− | lässt. Die dem Modell zu Grunde liegenden Annahmen wie z.B. Gewinnstreben und
| |
− | strategisches Verhalten der Beteiligten, sind in der Realität sicherlich oft nicht gegeben, wodurch
| |
− | das gesamte Konzept der Spieltheorie hinfällig wird. Des Weiteren kann man davon
| |
− | ausgehen, dass den Beteiligten ihre individuelle Nutzensmatrix nicht vollständig bewusst ist,
| |
− | d.h. sie treffen Entscheidungen, die nicht rational auf Nutzenspräferenzen zurückzuführen
| |
− | sind.«17
| |
− | 15 Fuchs-Heinritz, Werner/König, Alexandra: Pierre Bourdieu, a.a.O., S. 143.
| |
− | 16 Bourdieu, Pierre: Reflexive Soziologie 1992/1996, S. 128, zit. nach: Fuchs-Heinritz, Werner/König, Alexandra:
| |
− | Pierre Bourdieu, ebenda, S. 143.
| |
− | 17 Von Pfeil, Anna: Spieltheoretische Erklärungsansätze für Kooperations- und Konkurrenzverhalten in sozialen
| |
− | Gruppen, Humboldt Universität Berlin, http://www.leistungsschein.de/archiv/agrarwissenschaften/
| |
− | arbeiten/Pfeil_Anna_von_Spieltheorie.pdf, Download 5.11.2008.
| |
− | 121
| |
− | Im Mittelpunkt der spielanalytischen Betrachtung Bourdieus stehen demgegenüber rational
| |
− | kaum kalkulierbare bzw. nachkalkulierte Verhaltensweisen, die er als Verhaltensweisen
| |
− | »aus dem Habitus heraus« charakterisiert:
| |
− | »Der Spieler, der die Regeln eines Spiels zutiefst verinnerlicht hat, tut, was er muss, zu
| |
− | dem Zeitpunkt, zu dem er es muss, ohne sich das, was zu tun ist, explizit als Zweck
| |
− | setzen zu müssen. Er braucht nicht bewusst zu wissen, was er tut, um es zu tun, und
| |
− | er braucht sich (außer in kritischen Situationen) erst recht nicht explizit die Frage zu
| |
− | stellen, ob er explizit weiß, was die anderen im Gegenzug tun werden«.18
| |
− | Das heißt, dass nicht die Rationalität mit ihren vielen prinzipiell möglichen Optionen,
| |
− | sondern der Habitus mit den jeweils habitusspezifisch eingeengten Wahlmöglichkeiten die
| |
− | Spielzüge eines Akteurs bestimmt, die folglich in einem hohen Maße sozialer Programmierung
| |
− | unterliegen. Bourdieu zitiert in diesem Zusammenhang Leibniz mit der Feststellung,
| |
− | dass wir »in Dreiviertel unserer Handlungen Automaten sind«.19 Das Habitus-Konzept bedeutet
| |
− | folglich »nichts anderes als einen Paradigmenwechsel im sozialwissenschaftlichen
| |
− | Denken, nämlich die Abkehr von einer Vorstellung vom sozialen Handeln, die dieses als Resultat
| |
− | bewusster Entscheidungen bzw. als das Befolgen von Regeln begreift«.20
| |
− | Worum geht es den Akteuren im sozialen Spiel? Es geht ihnen um Einsatz und Vermehrung
| |
− | spezifischer und keineswegs vorrangig ökonomisch zu verstehender Formen von
| |
− | Kapital.
| |
− | 2.4 Die Arten des »Kapitals«
| |
− | Als Kapital bezeichnet Bourdieu die verschiedenen Ressourcen, die den Menschen für die
| |
− | Durchsetzung ihrer Ziele zur Verfügung stehen, die nutzbar sind als »soziale Energie«21, als
| |
− | Einsätze im Spiel um Positionsgewinne im sozialen Raum, die im Spiel vermehrt oder in
| |
− | andere Arten von Kapital umgewandelt werden sollen. Dabei werden von ihm vier Formen
| |
− | von Kapital unterschieden: das ökonomische Kapital, das kulturelle Kapital, das soziale Kapital
| |
− | und das symbolische Kapital.
| |
− | Das ökonomisches Kapital ist nach Bourdieu materieller Reichtum, also das, was man
| |
− | auch im herkömmlichen Sinn unter Kapital versteht.22 Bourdieu ist der Meinung, dass
| |
− | ökonomischem Kapital auch in der heutigen Zeit eine große Bedeutung zukommt, dass
| |
− | wirkliche Macht damit aber nur in Verbindung mit den beiden anderen Kapitalformen des
| |
− | kulturellen und des sozialen Kapitals ausgeübt werden kann.
| |
− | Das kulturelle Kapital wird von Bourdieu in eine inkorporierte und eine institutionalisierte
| |
− | Form unterschieden.23 Inkorporiertes kulturelles Kapital besteht in erworbener
| |
− | 18 Bourdieu, Pierre: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt am Main 1998, S. 168.
| |
− | 19 Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main
| |
− | 1982, S. 740. Vgl. auch Schwingel, Markus: Pierre Bourdieu. Zur Einführung, a.a.O., S. 62f.
| |
− | 20 Krais, Beate/Gebauer, Günter: Habitus, Bielefeld 2002, S. 5.
| |
− | 21 Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede, a.a.O., S. 194.
| |
− | 22 Bourdieu, Pierre: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Kreckel, Reinhard
| |
− | (Hrsg.): Soziale Ungleichheiten. Sonderband 2 der Sozialen Welt, Göttingen 1983, S. 183–198.
| |
− | 23 Bourdieu, Pierre: ebenda.
| |
− | 122
| |
− | Bildung, in angeeignetem Wissen, in persönlichen Fertigkeiten. Institutionalisiertes Kulturkapital
| |
− | existiert in Form von legitim erworbenen Titeln wie z.B. Schul- oder Universitätsabschlüssen.
| |
− | Während Titel die Eigenschaft einer gewissen »Bestandsgarantie« von
| |
− | kulturellem Kapital besitzen, steht das inkorporierte kulturelle Kapital von »Autodidakten«
| |
− | unter einem permanenten Beweiszwang.
| |
− | Unter sozialem Kapital versteht Bourdieu die Summe der Beziehungen, auf die ein Individuum
| |
− | zurückgreifen kann, das dauerhafte Netzwerk von mehr oder weniger institutionalisierten
| |
− | Verbindungen mit anderen Individuen, das man beim Agieren im sozialen Feld nutzen
| |
− | kann.24 Im Gegensatz zum ökonomischen und zum kulturellen Kapital bezieht sich das
| |
− | soziale Kapital also nicht auf einen Akteur an sich, sondern auf die sozialen Beziehungen,
| |
− | die von einem Akteur im Spiel um Ansehen, Einfluss und Macht mobilisierbar sind.
| |
− | Bourdieus Sozialkapital-Konzept unterschiedet sich damit nicht unbeträchtlich von
| |
− | dem Robert Putnams,25 für den Sozialkapital ein für Demokratie und soziale Verträglichkeit
| |
− | unverzichtbares öffentliches Gut darstellt.
| |
− | Das symbolische Kapital schließlich, verstanden »als wahrgenommene und als legitim
| |
− | anerkannte Form der drei vorgenannten Kapitalien«, ist für Bourdieu eine den anderen
| |
− | Kapitalarten übergeordnete Ressource.26 Sie kommt durch gesellschaftliche Anerkennung
| |
− | zustande und schlägt sich in Charisma, Prestige und Ansehen einer Person nieder. Ökonomisches,
| |
− | kulturelles und soziales Kapital haben im Machtspiel vor allem die Funktion, den
| |
− | Bestand an symbolischem Kapital zu vergrößern. Allerdings bedürfen auch diese anderen
| |
− | Kapitalarten der Anerkennung im Sinne einer Zuschreibung von Legitimität, da sie sonst
| |
− | als Grundlage für symbolisches Kapital nicht brauchbar sind.
| |
− | Im Spätwerk Bourdieus – Fuchs-Heinritz und König verweisen darauf27 – findet in
| |
− | anthropologischer Perspektive eine Erweiterung des Verständnisses vom symbolischen Kapital
| |
− | statt. Die Menschen seien, da die Religion kaum noch sinnstiftend ist, immer mehr
| |
− | darauf angewiesen, Lebenssinn und Daseinsrechtfertigung bei den anderen Menschen zu
| |
− | suchen. Der »späte« Bourdieu wörtlich:
| |
− | »Die soziale Welt vergibt das seltenste Gut überhaupt: Anerkennung, Ansehen, das
| |
− | heißt ganz einfach Daseinsberechtigung. Sie ist imstande, dem Leben Sinn zu verleihen,
| |
− | und, indem sie ihn zum höchsten Opfer weiht, selbst noch dem Tod. Weniges
| |
− | ist so ungleich und wohl nichts grausamer verteilt als das symbolische Kapital, das
| |
− | heißt die soziale Bedeutung und die Lebensberechtigung.«28
| |
− | Schon bei der hiermit zunächst abgeschlossenen Vorstellung der Begrifflichkeiten und Analyseansätze
| |
− | Bourdieus scheinen Anwendungen auf die Freimaurerei nahezuliegen, ja sich
| |
− | förmlich aufzudrängen.
| |
− | 24 Bourdieu, Pierre: ebenda.
| |
− | 25 Putnam, Robert D.: Making Democracy Work: Civic Traditions in Modern Italy, Princeton 1993; ders.:
| |
− | Bowling Alone: The Collapse and Revival of American Community, New York 2000; ders. (Hrsg.): Gesellschaft
| |
− | und Gemeinsinn. Sozialkapital im internationalen Vergleich, Gütersloh 2001.
| |
− | 26 Bourdieu, Pierre: Sozialer Raum und »Klassen«. Leçon sur la Leçon. Zwei Vorlesungen, Frankfurt am
| |
− | Main 1985, S. 11.
| |
− | 27 Fuchs-Heinritz, Werner/König, Alexandra: Pierre Bourdieu, a.a.O., S. 171.
| |
− | 28 Bourdieu, Pierre: Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, Frankfurt am Main 2001, S. 309f.
| |
− | 123
| |
− | 3. Anwendung auf die Freimaurerei
| |
− | 3.1 Habitus
| |
− | Kommen wir also zur Anwendung der skizzierten Konzepte Bourdieus auf die Freimaurerei
| |
− | und beginnen wir mit dem Habitus-Konzept:
| |
− | Zunächst haben wir es in der Freimaurerei mit »Habitus« in zwei Erscheinungsformen
| |
− | zu tun: Einerseits beschreibt »Habitus« einen empirisch-analytischen Befund, der sich auf
| |
− | die Mitglieder des Bundes bezieht, wie sie nun einmal sind.
| |
− | Andererseits ist »Habitus« ein normatives Konzept, das ein ideales Modell dafür entwirft,
| |
− | wie Freimaurer fühlen, wahrnehmen, denken und handeln sollen.
| |
− | Das normative Konzept wird von uns Freimaurern oft und gern propagiert. Es hat
| |
− | Leitbildcharakter für uns, und wir fühlen uns in ihm zu Hause. Mit dem anderen, dem
| |
− | empirisch-analytischen Befund, dem Habitus des Freimaurers, wie er ist, setzen Freimaurer
| |
− | sich nur zögerlich und ungern auseinander – es sei denn, sie sind gerade von einem ihrer
| |
− | Mitbrüder geärgert oder verletzt worden.
| |
− | Normativ betrachtet bedeutet freimaurerischer Habitus, dass der Bruder Freimaurer Wertüberzeugungen
| |
− | besitzen soll, die dem Formenkreis bürgerlicher Wertorientierungen zugehörig
| |
− | und untrennbar mit moralischen Verhaltensqualitäten verbunden sind:
| |
− | • Wertüberzeugungen wie Mitmenschlichkeit, Solidarität, kritische Distanz zur eigenen
| |
− | Person, Gerechtigkeit, Sittlichkeit;
| |
− | • Verhaltensqualitäten wie gegenseitige Wertschätzung, respektvoller Umgang miteinander,
| |
− | hohe Diskursqualität, Toleranz in Reden und Handlungen, praktizierte Hilfe (Wohltätigkeit).
| |
− | Der Gedanke, dass Freimaurerei vor allem Habitusstrukturierung bewirken soll, ist regelmäßiger
| |
− | Bestandteil der Rituale und taucht schon früh in der Geschichte des Bundes auf.29
| |
− | Als frühes Beispiel möchte ich eine Rede des Londoner Freimaurers Martin Clare von
| |
− | 1735 zitieren. Clare war als Meister vom Stuhl der »Loge of Friendship« sowie als Großaufseher
| |
− | und deputierter Großmeister der Londoner Großloge seinerzeit durchaus ein Maurer
| |
− | von Rang.
| |
− | »Die innerliche, geistige Höflichkeit drückt sich im allgemeinen im äußerlichen Benehmen
| |
− | aus, dessen Art, Weise und Umstände … in der Regel und der Praxis durch
| |
− | Beobachtung derjenigen Menschen und ihres Benehmens erlernt werden müssen, denen
| |
− | zuzugestehen ist, dass sie höflich und wohlerzogen sind. Aber der wesentlichere
| |
− | Teil der Höflichkeit liegt tiefer als das Äußere und ist jenes allgemeine Wohlwollen,
| |
− | jene anständige Hochachtung und persönliche Wertschätzung für jedermann, die
| |
− | uns davor warnt, in unserem Benehmen anderen gegenüber Geringschätzung, Miss-
| |
− | 29 Vgl. zuletzt Hasselmann, Kristiane: Die Rituale der Freimaurer. Zur Konstitution eines bürgerlichen Habitus
| |
− | im England des 18. Jahrhunderts, Bielefeld 2008.
| |
− | 124
| |
− | achtung oder Nachlässigkeit zu zeigen … Er ist, mit einem Worte gesagt, eine geistige
| |
− | Gesinnung, die im Benehmen sichtbar wird.«30
| |
− | Eine schöne Definition von Freimaurerei: eine Gesinnung, die im Benehmen sichtbar wird.
| |
− | Die Ausbildung eines freimaurerischen Habitus soll nicht nur durch die Teilnahme
| |
− | am Ritual, sondern auch durch den sozialen Kontakt in der Loge bewirkt werden. Dieser
| |
− | Aspekt wurde vor allem in den Freimaurerdiskursen am Ende des 18. Jahrhunderts betont,
| |
− | als – nach dem Zusammenbruch der »Strikten Observanz« – nach neuen Formen und
| |
− | Aufgaben für die Freimaurerei in Deutschland gesucht wurde. Der Freimaurer Karl Philipp
| |
− | Moritz beschrieb den Zusammenhang zwischen Habitusformierung und geselliger Logenpraxis
| |
− | in einer seiner Berliner Freimaurerreden auf folgende Weise:
| |
− | »Die höchstmögliche moralische Vervollkommnung ist also das Ziel, wonach der
| |
− | Maurer strebt, und diese besteht in der zweckmäßigsten und uneigennützigsten Tätigkeit.
| |
− | Denn die bloßen Gesinnungen machen die Moralität nicht aus.
| |
− | Wer edel denkt, muß auch edel handeln …, und edel handeln lernt man nicht anders
| |
− | als durch Übung und durch Beispiel, und beide, wer das Beispiel gibt sowohl als wer
| |
− | es nimmt, gewinnen wechselseitig dadurch. Weil nun in der Welt die guten Beispiele
| |
− | so zerstreut sind, so sollten sie in unsern Logen zusammengedrängt sein, damit dieselben
| |
− | die eigentliche Schule der Weisheit des Lebens würden.
| |
− | Dazu müssen denn die einzelnen Mitglieder freilich so viel Umgang wie möglich
| |
− | miteinander haben, denn die Maurerei soll uns ja aus unserm kleinen Umgangszirkel
| |
− | in einen größern ziehen, wo wir mehr mannigfaltiges Gute sehen, als wir sonst Gelegenheit
| |
− | haben.
| |
− | Wo wir uns in alle Rechte der Menschheit wieder eingesetzt fühlen.
| |
− | Wo alle an der Wohlfahrt eines jeden einzelnen teilnehmen und bei seinen Schicksalen
| |
− | nicht gleichgültig sind. Wo das, was unsere wahre Glückseligkeit ausmacht, zur
| |
− | Sprache kömmt.
| |
− | Wo ein jeder die Vorteile, die er durch eigne Erfahrung zu einer wahren Glückseligkeit
| |
− | ausfindig gemacht hat, und seine mißlungenen Versuche dem andern mitteilt.
| |
− | Wo alles uns abmahnen soll, das Leben zu genießen und den Tod nicht zu fürchten,
| |
− | uns zu unterwerfen, wo wir müssen, und die Rechte der Menschheit zu verteidigen,
| |
− | wo wir können.
| |
− | Wo wir lernen, daß wir nicht tätig sein müssen, um zu genießen, sondern nur genießen,
| |
− | um wieder tätig sein zu können.«31
| |
− | 30 Möller, Dieter (Hrsg.): Fünf frühe Freimaurerreden 1726–1737, Quellenkundliche Arbeiten der Freimaurerischen
| |
− | Forschungsgesellschaft e.V und der Forschungsloge Quatuor Coronati der Vereinigten Großlogen
| |
− | von Deutschland. Bruderschaft der deutschen Freimaurer, Frankfurt/Main 1966, Heft Nr. 2, S.
| |
− | 41–46, hier S. 41.
| |
− | 31 Moritz, Karl Philipp: Des Maurergesellen Wanderschaft (zuerst veröffentlicht Berlin 1793), zitiert nach:
| |
− | Gerlach, Karlheinz (Hrsg.): Berliner Freimaurerreden 1743–1804, Frankfurt am Main 1996, S. 300f.
| |
− | 125
| |
− | Gern zitiert wird bis heute – so auch als Motto auf der Homepage der Großen Landesloge
| |
− | der Freimaurer von Deutschland32 – folgende aus dem 19. Jahrhundert stammende Beschreibung
| |
− | des (normativen) freimaurerischen Habitus:
| |
− | Was ist Freimaurerei?
| |
− | Daheim ist sie Güte,
| |
− | Im Geschäft ist sie Ehrenhaftigkeit,
| |
− | In Gesellschaft ist sie Höflichkeit,
| |
− | In der Arbeit ist sie Anständigkeit,
| |
− | Für den Unglücklichen ist sie Mitleid,
| |
− | Gegen das Unrecht ist sie Widerstand,
| |
− | Für das Schwache ist sie Hilfe,
| |
− | Dem Gesetz gegenüber ist sie Treue,
| |
− | Gegen den Unrechttuenden ist sie Vergessen,
| |
− | Für den Glücklichen ist sie Mitfreude,
| |
− | Vor Gott ist sie Ehrfurcht und Liebe.
| |
− | Die Freimaurer haben nun drei große Gruppen von Praxisformen bzw. von Instrumenten,
| |
− | um den hergebrachten, ursprünglichen Habitus in einen freimaurerischen Habitus umzuformen:
| |
− | • die soziale Praxis, d.h. die Partizipation an der spezifischen Kultur der freimaurerischen
| |
− | Geselligkeit;
| |
− | • die diskursethische Praxis, d.h. die Beteiligung an der für Freimaurer – normativ! – typischen
| |
− | Art und Weise, ethische Diskurse zu führen, und – vor allem –
| |
− | • die symbolisch-rituelle Praxis, d.h. die Teilnahme an ihren, Symbole in dramatische Vollzüge
| |
− | umsetzenden wert-, sinn- und verhaltensorientierten Ritualen.
| |
− | Eine Freimaurerei, die dem skizzierten Normkonzept entspricht, lässt sich leicht beschreiben:
| |
− | Sie ist gekennzeichnet durch Logen,
| |
− | • die harmonisch sind, wo die Regulierung von Konflikten die Arbeitsfähigkeit der Bruderschaft
| |
− | nicht beeinträchtigt,
| |
− | • wo Diskurse geführt werden, an denen sich auch Externe gern beteiligen,
| |
− | • die auf gutem Niveau gesellig sind,
| |
− | • die rituell überzeugend arbeiten,
| |
− | • die ein klares Identitätsbewusstsein haben, d.h. die sich darüber klar sind, wie Freimaurerei
| |
− | verstanden und praktiziert werden soll und wie sie sich nach außen vermitteln lässt.
| |
− | Solche Logen weisen in der Regel auch ein solides, d.h. auf menschlicher und intellektueller
| |
− | Qualität beruhendes Wachstum ihrer Mitgliederzahlen auf.
| |
− | Es gibt freilich auch Logen, in denen manches fehlt, was dem skizzierten Normkonzept
| |
− | entspricht, wo weder die innere Praxis noch die Außendarstellung dem Wesen einer
| |
− | durchdachten, konsistenten, ohne Blamage-Risiko auch von außen befragbaren Freimaurerei
| |
− | entspricht.
| |
− | 32 www.freimaurerorden.de, Download 10.10.2008.
| |
− | 126
| |
− | Und dasselbe gilt für die übergeordneten Einheiten des Aufbaus der Freimaurerei: die
| |
− | Distrikts-, Provinzial- und Großlogen, die bruderschaftlichen Vereinigungen, die Stiftungen
| |
− | und dergleichen mehr. Auch hier gibt es auf der einen Seite Leitungscharisma und eindrucksvolle
| |
− | Gestaltungskraft, auf der anderen Seite konzeptionelle Irritation, administrativer
| |
− | Leerlauf und Führungsschwäche. Hin und wieder entstehen gar Ämterkartelle, deren
| |
− | Mitglieder nicht der Versuchung widerstehen, formelle, satzungsgemäße Entscheidungsstrukturen
| |
− | zu umgehen und Großlogenleitung im Stil von »Küchenkabinetten« zu betreiben.
| |
− | Wie lassen sich solche Fehlentwicklungen erklären?
| |
− | Zumindest teilweise dadurch, dass sich in der Freimaurerei auch Struktur- und Praxisformen
| |
− | antreffen lassen, die – gelinde gesagt – zumindest »problemverdächtig« sind.
| |
− | Hierzu gehören insbesondere
| |
− | • Ämterhierarchien,
| |
− | • Titel, Orden und Ehrenzeichen sowie
| |
− | • vielgliedrige Gradsysteme.
| |
− | Diese Formen sind geeignet, Widersprüche auszulösen zwischen einer Logenrealität, die
| |
− | »bürgerliche« Unterschiede und Rangstufen verfestigt statt sie zu überwinden, und dem freimaurerischen
| |
− | Konzept des Menschen, der – so Lessing – als »bloßer Mensch« anderen »bloßen
| |
− | Menschen« in der Loge begegnet. Werden diese Formen nicht kritisch reflektiert und in
| |
− | ihren Auswirkungen kontrolliert, so können sie statt zur Herausbildung eines Habitus der
| |
− | Mitmenschlichkeit und Gleichberechtigung zur Generierung und Verfestigung eines narzisstischen
| |
− | Habitus, eines Habitus der Anmaßung und Eitelkeit führen.
| |
− | Schlussbemerkung zum Verhältnis zwischen Habitus und Entwicklung der Freimaurerei:
| |
− | Habitus als Inbegriff von Wahrnehmen, Denken, Entscheiden und Handeln ist eine
| |
− | langfristig gewachsene Kategorie. Habitus ist nur schwer veränderbar. Und so ist die Wahrscheinlichkeit,
| |
− | dass neue Mitglieder des Bundes ihren hergebrachten – und, salopp gesagt,
| |
− | nicht immer »freimaurertauglichen« – Habitus auf die Bruderschaft übertragen, nicht gering
| |
− | und der umgekehrte Fall einer positiven Habitusformierung durch Mitwirken in der
| |
− | Freimaurerei nur unter großen Anstrengungen zu erreichen.
| |
− | Für die Auswahl neuer Mitglieder ließe sich infolgedessen überspitzt formuliert
| |
− | empfehlen, nur den, der habituell zumindest die Anlage erkennen lässt, sich in der
| |
− | Freimaurerei weiterzuentwickeln, zum Bruder Freimaurer aufzunehmen! Auf alle Fälle
| |
− | gilt es, bei der Auswahl von Kandidaten die folgende Feststellung Bourdieus im Kopfe
| |
− | zu behalten:
| |
− | »Der Begriff Habitus bezeichnet im Grunde eine recht simple Sache: Wer den Habitus
| |
− | einer Person kennt, der spürt oder weiß intuitiv, welches Verhalten dieser Person
| |
− | versperrt ist.«
| |
− | Auf die Loge angewendet hieße dies:
| |
− | 127
| |
− | Um zu wissen, was die Loge entgegen optimistischer Annahmen von einem neuen Mitglied
| |
− | nicht erwarten kann, muss sie seinen Habitus kennen und beachten, sonst bleiben die Erwartungen
| |
− | auf beiden Seiten unerfüllt und Enttäuschung ist programmiert. Daraus folgt einmal
| |
− | mehr: Mitgliederauswahl ist notwendigerweise ein langer, qualitätsorientierter Prozess.
| |
− | 3.2 Freimaurerei als »soziales Feld« und Spiel um »symbolisches«
| |
− | Kapital
| |
− | Kommen wir zum sozialen Feld, zum Feld Freimaurerei, und beschreiben wir zunächst seine
| |
− | Struktur.
| |
− | Folgende drei Elemente sind von besonderer Bedeutung:
| |
− | • Die Organisationen. Zu diesen gehören die Logen, Distrikts- bzw. Provinziallogen und
| |
− | Großlogen, die bruderschaftlichen Vereinigungen (sprich Hochgradsysteme und besondere
| |
− | freimaurerische Assoziationen, Quatuor Coronati, Pegasus) sowie die Leitungsgremien,
| |
− | Vorstände, Ordensräte, Ehrenräte aller Ebenen.
| |
− | • Die Institutionen, d.h. die Regelsysteme. Diese können formeller Art sein, wie Satzungen
| |
− | und Verfassungen der verschiedenen Ebenen, oder informeller Art, wie die konsensual
| |
− | und längerfristig entstandenen Modalitäten des Verhaltens.
| |
− | • Die Sinnzuschreibungen. Hierbei geht es um die Einschätzung und Wertschätzung, die
| |
− | die Brüder als Akteure im freimaurerischen Feld mitbringen, die freimaurerische Idee, mit
| |
− | der wir unser Ideal von Freimaurerei identifizieren. Bourdieu spricht hier – ich erwähnte es
| |
− | schon – bezeichnender- und entlarvenderweise von »Illusio«. Zur freimaurerischen Illusio
| |
− | gehört auch die Überzeugung, dass der Bund im Vergleich zu anderen Gemeinschaften etwas
| |
− | Besonderes, etwas Ehrwürdiges, etwas Geheimnisvolles ist, das für die Freimaurerei insgesamt
| |
− | wie für den einzelnen Bruder ein hohes Maß an symbolischem Kapital generiert.
| |
− | Deshalb ist nicht zuletzt das Aufrechterhalten der Illusio, der permanenten, ungebrochenen
| |
− | positiven Sinnzuschreibung, für Bestand und Beständigkeit der Freimaurerei entscheidend.
| |
− | Umgekehrt – so beschreiben Fuchs-Heinritz und König in einem allgemeinen Sinne die Folgen
| |
− | eines Zusammenbruchs der Illusio –:
| |
− | »Verliert ein Spieler oder verlieren viele – aus welchen Gründen auch immer – den
| |
− | Glauben an die Sinnhaftigkeit des Spiels …, dann brechen Sinnfragen auf, die sich zuvor
| |
− | nicht gestellt hatten. Normalerweise reagieren alle Gruppen in einem Feld, auch
| |
− | wenn sie darin sonst gegensätzliche Positionen vertreten, außerordentlich empfindlich
| |
− | und aggressiv auf Individuen oder Gruppen, die den Sinn des Spiels in Frage
| |
− | stellen und dadurch dazu beitragen könnten, dass der Fortgang des Spiels in Zweifel
| |
− | gezogen werden muss.«33
| |
− | Viele Austritte aus dem Bund der Freimaurer werden mit dem Zusammenbruch der Illusio begründet.
| |
− | »Ich dachte« – so heißt es dann –, »ich wäre in einem Bunde, der sich guten Zielen ver-
| |
− | 33 Fuchs-Heinritz, Werner/König, Alexandra: Pierre Bourdieu, a.a.O., S. 147. Vgl. auch Bourdieu, Pierre:
| |
− | Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt am Main 1999, S. 123.
| |
− | 128
| |
− | schrieben hat, und nun sieht alles ganz anders aus.« In der Regel wird dieser Zusammenbruch
| |
− | der Illusio personalisiert. Klassisch hierfür ist die Formel: »Die Freimaurerei ist eine gute Sache
| |
− | – aber die Brüder, aber die Brüder«!
| |
− | Ein Zusammenbruch der Illusio findet sich nicht zuletzt bei vielen führenden Freimaurern
| |
− | der klassischen Periode unseres Bundes, der Jahrzehnte um das Jahr 1800. Knigge, Feßler
| |
− | und Fichte sind prominente Beispiele, aber auch Goethe und Herder sind hier einzuordnen,
| |
− | allerdings mit Einschränkungen.
| |
− | Für die Sinnzuschreibung der Freimaurerei gibt es nun verschiedene idealtypische Möglichkeiten,
| |
− | die jeweils mit bestimmten Auswirkungen auf die Formen freimaurerischer Praxis
| |
− | verbunden sind.
| |
− | So kann Freimaurerei zunächst in Übereinstimmung mit der vorherrschenden (normativen)
| |
− | Illusio als System verstanden werden, in dem und durch das Aufgaben verwirklicht
| |
− | werden, die hohen Wertvorstellungen entsprechen. In Deutschland werden diese Aufgaben
| |
− | gegenwärtig je nach »Lehrart« humanitär (Großloge AFuAM: »Freie Entfaltung der Persönlichkeit,
| |
− | Brüderlichkeit, Toleranz, Hilfsbereitschaft und Erziehung hierzu«) oder christlich
| |
− | (Große Landesloge: Orientierung an der »Lehre Jesu Christi, wie sie in der Heiligen Schrift
| |
− | enthalten ist«) pointiert. Bei diesen Sinnzuschreibungen erscheint Freimaurerei dann als
| |
− | Produzentin und Anbieterin eines hohen moralischen bzw. religiösen Gutes, das nicht nur
| |
− | ein persönliches oder gruppenspezifisches, sondern ein allgemeines öffentliches Gut ist.
| |
− | Da jedoch diesen Wertvorstellungen aufgrund des freimaurerischen Grundgedankens, Menschen
| |
− | unterschiedlicher Herkunft und weltanschaulicher Überzeugung zusammenzuführen,
| |
− | kein gemeinsames Programm zugrunde liegt und kein konkreter Zweck zugeschrieben werden
| |
− | kann, schiebt sich die Innenperspektive, die Beschäftigung mit sich selber stark in den
| |
− | Vordergrund.
| |
− | Dann kann sich die freimaurerische Sinnzuschreibung deutlich verändern und hauptsächlich
| |
− | darin bestehen, in der Freimaurerei – zumindest auch – ein subjektives System der
| |
− | Selbstverwirklichung zu sehen, einen Modus zur Generierung und zur Aufrechterhaltung
| |
− | eines positiven Selbstbildes. In diesem Falle ginge es den Brüder Freimaurern nicht allein und
| |
− | nicht vor allem um Wertorientierung und Wertpraxis, sondern um Möglichkeiten, sich in
| |
− | Szene zu setzen, nach Ämtern zu streben und Auszeichnungen zu erlangen, kurz: es ginge um
| |
− | den Erwerb von persönlichem symbolischen Kapital.
| |
− | Wenn im Folgenden der Analyseschwerpunkt hier gesetzt wird, so soll keineswegs konstatiert
| |
− | werden, dass maurerischer Idealismus keine große Rolle in der Freimaurerei spielt. Im
| |
− | Gegenteil: Es gibt viele Beispiele dafür und jeder Freimaurer kann an ihnen teilhaben. Es soll
| |
− | aber mit der von Bourdieu angeregten Hypothese von Freimaurerei als Wettbewerb, als Spiel
| |
− | um symbolisches Kapital, eine Erklärung für bestimmte Erscheinungsformen, Verhaltensweisen
| |
− | und Entwicklungstendenzen im Bund angeboten werden, mit denen wir nicht zufrieden
| |
− | sind und sein können.
| |
− | Das symbolische Kapital, das die Freimaurerei vermittelt, tritt wie das kulturelle Kapital in inkorporierter
| |
− | und in institutionalisierter Form in Erscheinung.
| |
− | • In inkorporierter Form wird es dem Freimaurer als Wertschätzung zuteil, die er bei seinen
| |
− | Brüdern aufgrund seiner persönlichen charakterlichen, kulturellen und intellektuellen
| |
− | Qualitäten genießt.
| |
− | 129
| |
− | • In institutionalisierter Form besteht symbolisches Kapital in den in der Freimaurerei
| |
− | sozahlreichen Ämtern, Titeln, Orden und Graden, die wir selbst oft als irgendwie unpassend,
| |
− | anachronistisch oder gar lächerlich empfinden, von denen wir dann aber doch,
| |
− | trotz der Witze, die wir selbst darüber machen, nicht lassen wollen.
| |
− | Zwischen beiden Formen von symbolischem Kapital besteht ein Zusammenhang: Einerseits
| |
− | kann sich persönliche Wertschätzung in der Betrauung mit Ämtern und der Verleihung
| |
− | von Auszeichnungen niederschlagen, andererseits tragen Ämter und Orden zur persönlichen
| |
− | Rangerhöhung
| |
− | und Wertschätzung bei.34
| |
− | Freilich unterliegen Erwerb und Erhalt von symbolischem Kapital durch Ämter und
| |
− | Auszeichnungen des Öfteren der Entscheidung seitens leitender Gremien, die nicht immer
| |
− | der Versuchung widerstehen, die Vergabe von symbolischem Kapital, aber auch seine
| |
− | Vorenthaltung, als Teil ihrer »Erhaltungsstrategien«35 zu verwenden, d.h. als Mittel ihrer
| |
− | Absicht, eigene Positionen im Feld Freimaurerei aufrechtzuerhalten und gleichsam symbolisches
| |
− | Kapital gegen Loyalität einzutauschen. Werden dagegen bei Brüdern Strategien der
| |
− | Häresie vermutet, d.h. wird angenommen, dass diese etablierte Strukturen und Denkweisen
| |
− | infrage stellen oder gar verdrängen wollen, so kann ihnen institutionalisiertes symbolisches
| |
− | Kapital vorenthalten werden, auch wenn sie sich bei vielen ihrer Brüder hoher Wertschätzung
| |
− | erfreuen.
| |
− | Bei hierarchischen Freimaurersystemen ist das symbolische Kapital auf den oberen Ebenen
| |
− | der Hierarchie konzentriert. Daher sind diese Systeme auf besondere Weise strukturbedingt
| |
− | konservativ. Denn jede Reform ginge zu Lasten des symbolischen Kapitals der
| |
− | oberen Ebenen der Hierarchie. Ein solcher freimaurerischer Konservatismus hat auch gute
| |
− | Chancen, sich zu erhalten, selbst wenn er sich überlebt hätte bzw. von den Brüdern Freimaurer
| |
− | als überlebt angesehen würde. Denn die Abhängigkeit von denen, die über Besitz und
| |
− | Vergabemöglichkeiten von symbolischem Kapital verfügen, veranlasst Anwärter darauf, sich
| |
− | anzupassen und auf häretische Strategien des Spiels zu verzichten.36
| |
− | 34 Dieser Zusammenhang hat eine lange Tradition im Freimaurerbund. Bereits in August Siegfried Friedrich
| |
− | von Goués Freimaurerroman »Ueber das Ganze der Maurerey« von 1782 berichtet einer der Helden
| |
− | nach einer maurerischen Ehrung: »Als ich mit dem Ringe zurück kam, mein lieber Stralenberg, oh wie
| |
− | feierten mich die hiesigen Brüder der untern Stufen. Sie tragen eine wahre Verehrung für diesen Ring,
| |
− | und wenn mich der Kayser in den Grafen=Stand erhoben hätte, so wär ich dadurch das in ihren Augen
| |
− | nicht geworden, wozu ich in Frankfurt gestiegen bin.« Zitiert nach Voges, Michael: Aufklärung und Geheimnis.
| |
− | Untersuchungen zur Vermittlung von Literatur- und Sozialgeschichte am Beispiel der Aneignung
| |
− | des Geheimbundmaterials im Roman des späten 18. Jahrhunderts, Tübingen 1987, S. 88f.
| |
− | 35 Bourdieu, Pierre: Soziologische Fragen, Frankfurt/Main 1993, S. 109.
| |
− | 36 In Bezug auf das System der »Strikten Observanz« hatte Adolph Freiherr Knigge, in den 1780er Jahren
| |
− | führender Freimaurer und Illuminat, kritisch vermerkt: »Statt daß bis itzt Freiheit, Gleichheit und Bruderhand
| |
− | die Stützen des Ordens gewesen waren …, so führte man nun eine unerhörte … Subordination
| |
− | ein; die hohen inneren Ordensbrüder oder Ritter gaben sich ein solches Ansehen vor den Brüdern der
| |
− | unteren Grade voraus, daß jeder mit Eifer Beförderung suchte, um gleicher Ehre zu genießen« (»Beitrag
| |
− | zur neuesten Geschichte des Freimaurerordens in neun Gesprächen« mit Erlaubnis meiner Oberen
| |
− | herausgegeben, Berlin 1786, in: Über Freimaurer, Illuminaten und echte Freunde der Wahrheit, hrsg.
| |
− | von Wolfgang Fenner, Wiesbaden 2008, S. 21–119, hier S. 60f.). Gewiss, die »Strikte Observanz« hatte
| |
− | sich bald überlebt, doch es ist zu fragen, ob nicht einige ihrer Struktur- und Funktionsprinzipien allen
| |
− | hierarchischen
| |
− | Systemen der Freimaurerei eigen sind.
| |
− | 130
| |
− | 3.3 Andere Kapitalarten und ihre (abnehmende) Bedeutung für die
| |
− | Freimaurerei
| |
− | Bisher wurde Kapital als Ressource bzw. als Ziel einzelner freimaurerischer Akteure behandelt.
| |
− | Der Bestand an Ressourcen spielt jedoch auch eine beträchtliche Rolle für die Kommunikation
| |
− | der Freimaurerei mit anderen Feldern der Gesellschaft. Hier geht es um die
| |
− | Wertschätzung und Aufmerksamkeit, die der Freimaurerei zuteil wird. Freimaurerei wird als
| |
− | geheimnisvolle Welt wahrgenommen und dargestellt, ihr symbolisches Kapital ist das eines
| |
− | schwer zu entschlüsselnden Geheimnisses. Dass sie ein wichtiger und seriöser Partner sein
| |
− | könnte, tritt dahinter zurück. Dies liegt an einer unzureichenden gesellschaftlichen Vernetzung
| |
− | der Freimaurerei, am Fehlen ihrer Stimme in öffentlichen Diskursen – obwohl es doch
| |
− | in diesen Diskursen oft um zutiefst freimaurerische Anliegen geht, um Menschenwürde, Gerechtigkeit,
| |
− | Brüderlichkeit und Toleranz, kurz: an Defiziten auf Seiten ihres sozialen Kapitals.
| |
− | Dahinter wiederum machen sich weitere Kapitaldefizite negativ bemerkbar.
| |
− | Hierbei spielen vor allem das
| |
− | • ökonomisches Kapital (Vermögen, Beitragsaufkommen, Logenhaus, Stiftungen),
| |
− | • das kulturelle Kapital (Tradition, Ansehen, kulturelle und künstlerische Fähigkeiten) sowie
| |
− | • das Humankapital (Bestand an »Persönlichkeiten«, Mitgliederrekrutierung aus Eliten)
| |
− | eine wichtige Rolle.
| |
− | In der Vergangenheit (sowohl in der sich transformierenden Ständegesellschaft des 18. und
| |
− | frühen 19. Jahrhunderts als auch in der klassischen »bürgerlichen« Gesellschaft der zweiten
| |
− | Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts) ließen sich jeweils recht hohe Kapitalbestände
| |
− | beobachten.37 Ein bedeutender Schritt der Logenentwicklung seit Beginn und
| |
− | mehr noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war der Bau bzw. Erwerb von Logenhäusern38,
| |
− | die vielfach den Rang örtlicher Kulturstätten erwarben. Im Zuge der Schließung
| |
− | der Logen im Jahre 1935 mussten die Logenhäuser zwangsverkauft werden oder wurden von
| |
− | NS-Behörden beschlagnahmt. Durch Kriegszerstörungen, unzureichende Entschädigungen,
| |
− | anhaltenden Eigentumsentzug in der DDR und steigende Kosten, die von den Logen nicht
| |
− | immer verkraftet werden konnten, wurde der Immobilienbesitz weiter beeinträchtigt. Die
| |
− | Rückgabe von Logenhäusern in den neuen Bundesländern nach 1990 hat den Substanzverlust
| |
− | nur teilweise kompensieren können.
| |
− | Zur Abnahme des ökonomischen Kapitals kommen Defizite beim kulturellen Kapital,
| |
− | wenn es hier auch einen beträchtlichen Fundus an Tradition und Ansehen gibt, der
| |
− | durch »externe Ressourcen« vermehrt werden könnte. Doch die deutsche Freimaurerei
| |
− | der Gegenwart leidet nicht zuletzt an der zu geringen Zahl wirklich »charismatischer«
| |
− | Persönlichkeiten. Kulturelles Kapital ging der Freimaurerei ja nicht zuletzt auch dadurch
| |
− | verloren, dass die dem traditionellen Bildungsbürgertum vergleichbaren sozialen Gruppen
| |
− | 37 Vgl. Höhmann, Hans-Hermann: »The Means of Conciliating true Friendship« – Freimaurerei als Sozialkapital,
| |
− | in diesem Band, S. 132–151.
| |
− | 38 Vgl. Hoffmann, Stefan-Ludwig: Die Politik der Geselligkeit. Freimaurerlogen in der deutschen Bürgergesellschaft,
| |
− | 1840–1918, Göttingen 2000, S. 213ff.
| |
− | 131
| |
− | der heutigen Gesellschaft nicht mehr in früherer Größenordnung in der Freimaurerei vertreten
| |
− | sind.
| |
− | Zum Schluss noch einmal die Frage, warum es sinnvoll sein mag, Freimaurerei auch mit Methoden
| |
− | und Paradigmen der modernen Sozialwissenschaft zu analysieren. Gewiss nicht, um
| |
− | ihren Wert als Kulturträger und als persönliche spirituelle sowie soziale Heimat zu beschädigen,
| |
− | wohl aber, um sie besser zu verstehen und um in der Lage zu sein, sie zu verbessern.
| |
− | Die moderne Sozialwissenschaft ist – so gesehen – ein Spitzhammer am »Rauhen Stein« der
| |
− | Freimaurerei.
| |
− | 132
| |
− | »The Means of Conciliating true Friendship«–
| |
− | Freimaurerei als Sozialkapital1
| |
− | Zu den Begriffen, denen in der jüngeren Vergangenheit eine erhebliche Karriere gelang,
| |
− | zählt auch der Terminus »Sozialkapital«. Kaum ein anderer sozialwissenschaftlicher Begriff
| |
− | errege, so hieß es 2003 in einer Studie der Universität Hannover2, derzeit so viel Aufmerksamkeit
| |
− | und würde gleichzeitig derart flexibel in verschiedenen Zusammenhängen verwendet
| |
− | wie der des Sozialkapitals. Die Biographien erfolgreicher Manager würden damit genauso
| |
− | in Verbindung gebracht wie die Reduzierung der Gewaltbereitschaft an Schulen und die
| |
− | ökonomische Innovationsfähigkeit von Städten und Regionen. Auch auf der Makroebene
| |
− | der Gesellschaft sei es gang und gäbe geworden, so wünschenswerte Erscheinungen wie die
| |
− | wirtschaftliche Prosperität von Nationen, ein hohes Maß an sozialem Engagement der Bevölkerung
| |
− | und eine niedrige Rate der Kriminalität mit dem Vorhandensein von Sozialkapital
| |
− | zu erklären.
| |
− | Dimensionen und Elemente des Sozialkapitals
| |
− | Es sind vor allem zwei Dimensionen des Sozialkapital-Konzepts, die gegenwärtig in den
| |
− | Mittelpunkt der Diskussion um erfolgreiche gesellschaftliche Entwicklung gerückt werden:3
| |
− | 1. Die Rolle von Sozialkapital als »Bindemittel« für ein wertorientiertes kollektives Handeln
| |
− | in komplexen modernen Gesellschaften: Jede Gesellschaft benötige, so wird
| |
− | argumentiert,4 zur Organisation des Zusammenlebens eine Ordnung, deren Humanität
| |
− | und Vitalität auch vom Einsatz des Einzelnen, seiner Motivation und seiner
| |
− | Mitsorge für die Gemeinschaft abhängig sei. Gemeinsinn und Gemeinschaftsfähigkeit
| |
− | seien Grundvoraussetzungen für den sozialen Zusammenhalt. Gesellschaftliche Bindekräfte
| |
− | wirkten als zentrale Ressource jeder Gesellschaft.
| |
− | 2. Die Eigenschaft von Sozialkapital als Disposition und Bereitschaft zum zivilgesellschaftlichen
| |
− | Engagement in Assoziationen verschiedener Art (Vereinen, Initiativen, Clubs, aber
| |
− | auch Parteien und Interessenverbänden) sowie als statisches und dynamisches Strukturelement
| |
− | von Assoziationen: Diese Verknüpfung von Sozialkapital und Assoziationen aller
| |
− | Art erfährt gegenwärtig sowohl in der lokalen Sozial- und Politikforschung als auch
| |
− | auf makropolitischer Ebene große Aufmerksamkeit.5 Es werden dabei Formen von Sozialkapital
| |
− | untersucht, die Menschen in Situationen relativer Gleichheit zusammenführen,
| |
− | die auf Vertrauen und Gegenseitigkeit beruhen und die sich auf die Mitgliedschaft in eh-
| |
− | 1 Der Verfasser dankt Frau Diplom-Soziologin Lisa Hürter, Universität Bielefeld, für Durchsicht des Manuskripts
| |
− | und Übertragung der Grafiken aus der Datenbank des Bielefelder Forschungsprojekts (s. Fußnote
| |
− | 30).
| |
− | 2 Zimmermann, Karsten: Sozialkapital – Grundlage der Entwicklung von sozialen Systemen?, Studie des
| |
− | Instituts für Landesplanung und Raumforschung, Hannover 2003, S. 1.
| |
− | 3 Ebenda.
| |
− | 4 Vgl. hierzu und zum Folgenden: Weidenfeld, Werner: Vorwort, in: Putnam, Robert D. (Hrsg.), Gesellschaft
| |
− | und Gemeinsinn. Sozialkapital im internationalen Vergleich, Gütersloh 2001, S. 11ff.
| |
− | 5 Zimmermann, Karsten: Sozialkapital, a.a.O., S. 1.
| |
− | 133
| |
− | renamtlichen geselligen, politischen, religiösen und ethisch orientierten Vereinigungen
| |
− | beziehen.6
| |
− | Wenn nun Sozialkapital mit Assoziationen zu tun hat und die Freimaurerloge als ein struktureller
| |
− | und historischer Grundtyp der Assoziationsbildung gelten kann, so erscheint es
| |
− | schon von hierher fruchtbar, das Konzept »Sozialkapital« auf die Freimaurerei anzuwenden,
| |
− | zumal sich – wie bereits für die Soziologie Pierre Bourdieus angemerkt wurde – hierdurch die
| |
− | Möglichkeiten zum Gespräch mit einem für die Analyse der Gegenwartsfreimaurerei wichtigen
| |
− | Sektor der Fachwissenschaft zunehmen.
| |
− | Doch vor einer ausführlichen Anwendung auf die Freimaurerei zum Konzept selbst:
| |
− | Das Konzept »Sozialkapital« wurde von einer Anzahl von Sozialwissenschaftlern entwickelt,
| |
− | wobei Soziologen wie Pierre Bourdieu7, James S. Coleman8 und Robert D. Putnam9
| |
− | besondere Bedeutung zukommt. Der Begriff »Kapital« beschreibt im Allgemeinen die Ressourcen,
| |
− | die Gemeinschaften oder einzelnen Akteuren in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik
| |
− | zur Verfügung stehen, um die von ihnen verfolgten Zwecke zu realisieren. Kapital wird
| |
− | dabei als Ressource in Transaktionsbeziehungen verstanden.10 Eigentum und Besitz für sich
| |
− | genommen stellen noch kein Kapital dar, sie werden erst dadurch zu Kapital, dass sie in
| |
− | horizontalen und vertikalen Transaktionen für den Prozess ihrer Reproduktion eingesetzt
| |
− | werden. Verschiedene Arten von Kapital lassen sich unterscheiden. Zunächst existiert Kapital
| |
− | in »materialisierter« Form als physisches Kapital (Gebäude, Maschinen, Infrastruktur),
| |
− | Finanzkapital (Ersparnisse, Kredite) und Humankapital (Menschen und ihre Fähigkeiten).
| |
− | Dazu kommen aber auch Kapitalarten, die nicht materiellen Charakters sind und doch
| |
− | eine große Rolle in der Gesellschaft spielen. Hierzu gehören das kulturelle Kapital, das
| |
− | insbesondere von Bourdieu11 in verschiedenen Erscheinungsformen (Kulturgüter, kulturelle
| |
− | Kompetenz, Bildungstitel) beschrieben wurde,12 und das Sozialkapital, das im Zentrum der
| |
− | vorliegenden Analyse steht.
| |
− | 6 Vgl. Hall, Peter: Sozialkapital in Großbritannien, in: Putnam, Robert D. (Hrsg.), Gesellschaft und Gemeinsinn,
| |
− | a.a.O., S. 47f.
| |
− | 7 Bourdieu, Pierre: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Kreckel/Reinhardt
| |
− | (Hrsg.): Soziale Ungleichheiten, Soziale Welt, Sonderband 2, Göttingen 1983, S. 183–198; ders.: The
| |
− | Forms of Capital, in: Richardson, J. G.: Handbook of Theory and Research for Sociology of Education,
| |
− | New York 1986; ders.: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am
| |
− | Main 1987; ders.: Die verborgenen Mechanismen der Macht, Hamburg 1992.
| |
− | 8 Coleman, James S.: Social Capital in the Creation of Human Capital, in: American Journal of Sociology,
| |
− | 94/1988, S. 95–120; ders.: Foundations of Social Theory, Cambridge/Mass. 1990.
| |
− | 9 Putnam, Robert D.: Making Democracy Work: Civil Traditions in Modern Italy, Princeton 1993; ders.:
| |
− | Bowling Alone: The Collapse and Revival of Amerian Community, New York 2000: ders. (Hrsg.): Gesellschaft
| |
− | und Gemeinsinn: Sozialkapital im internationalen Vergleich, Gütersloh 2001.
| |
− | 10 Dieser Gesichtspunkt wurde nachdrücklich von Karl Marx betont, für den ökonomisches Kapital eine
| |
− | soziale Kategorie darstellt, die kapitalistische Unternehmer und proletarische Lohnarbeiter auf eine spezifische,
| |
− | die Ausbeutung der Letzteren ermöglichende Weise verbindet.
| |
− | 11 Vgl. Höhmann, Hans-Hermann: Habitus, soziales Feld, Kapital – Freimaurerei im Lichte der Soziologie
| |
− | Pierre Bourdieus, in diesem Band, S. 115–131.
| |
− | 12 Vgl. Bourdieu, Pierre: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, a.a.O., S. 183ff.; ders.:
| |
− | Die verborgenen Mechanismen der Macht, a.a.O., S. 52ff.
| |
− | 134
| |
− | Allgemein werden unter Sozialkapital zwischenmenschliche Netzwerke verstanden, die
| |
− | auf Vertrauen,13 Solidarität und gemeinsam akzeptierten Normen beruhen. Sozialkapital
| |
− | ermöglicht und fördert gemeinsames Handeln, erhöht die Risikobereitschaft der Netzwerkmitglieder,
| |
− | führt zu Kreativität und Innovationen, vermittelt Motivationen und gestattet es,
| |
− | weniger Energie für die Abwendung negativer Erscheinungen wie Betrug und Korruption
| |
− | aufzuwenden.14 Zugleich beruht Sozialkapital auf Einstellungsmustern und Verhaltensweisen,
| |
− | die aufgezehrt und zerstört werden können, wenn sie nicht ständig durch konstruktive
| |
− | interpersonale Beziehungen (freimaurerisch gesagt: »Mitmenschlichkeit«) erneuert, weiterentwickelt
| |
− | und gepflegt werden.
| |
− | Sozialkapitel gilt als wichtig für die Stabilität der Demokratie15, die Lebensfähigkeit
| |
− | der pluralistische Gesellschaft, die Entwicklung von Kultur und Bildung, die Förderung
| |
− | von Sport und physischer Gesundheit sowie die Gewährleistung von Glück und seelischer
| |
− | Gesundheit. Sozialkapital dient auch der gesellschaftlichen Integration von Minderheiten:
| |
− | Armen, Obdachlosen, Waisen, Kranken, Behinderten, Aussiedlern und Ausländern.
| |
− | Sozialkapital hat verschiedene Erscheinungsformen, die sich unter verschiedenen Gesichtspunkten
| |
− | gegenüberstellen lassen:16
| |
− | Formelles Sozialkapital versus informelles Sozialkapital. Während manche Formen von
| |
− | Sozialkapital formell organisiert sind (Familie, Kirche, Verein, Loge, Verband, Partei), d.h.
| |
− | durch formelle Organisation, offizielle Mitgliedschaft, Mitgliedsbeiträge, Satzungen, Vorstände
| |
− | und Funktionäre, regelmäßige Sitzungen und dergl. mehr gekennzeichnet sind,
| |
− | haben andere Formen von Sozialkapital einen vorwiegend informellen Charakter. Beispiele
| |
− | hierfür sind gemeinsame Wanderungen von Bekanntenkreisen, spontane sportliche
| |
− | Betätigung in Gruppen, Teilnahme an Nachbarschaftsfesten und Protestversammlungen.
| |
− | Beide Arten von Sozialkapital stellen zwischenmenschliche Vernetzungen dar und können
| |
− | sich überschneiden. So sind Logen und Großlogen formelles Sozialkapital, das spontane
| |
− | Treffen von Brüdern im Rahmen der Logen- und Großlogenorganisation hat informellen
| |
− | Charakter.
| |
− | Langfristiges Sozialkapital versus kurzfristiges Sozialkapital. Verwandt, aber nicht identisch
| |
− | mit der zuvor genannten Unterscheidung ist die Gegenüberstellung von Sozialkapital,
| |
− | das auf Dauer angelegt ist (etwa Logenzugehörigkeit, die – idealiter – vom Lebensbundprinzip
| |
− | bestimmt wird), und Sozialkapital, das – etwa in Form von Bürgerinitiativen und
| |
− | Notgemeinschaften – lediglich vorübergehend wirkt. Insbesondere das formelle Sozialkapital
| |
− | nimmt gegenwärtig an Dauer ab, etwa dadurch, dass die Zugehörigkeit zu Parteien und
| |
− | Vereinen kurzfristiger wird. Mit der Entwicklung moderner Gesellschaften hin zur Postmoderne
| |
− | scheint die Bereitschaft der Bürger, sich mit Mitbürgern auf dauerhafte soziale
| |
− | Beziehungen einzulassen und sich um andere zu kümmern, abzunehmen. Zwar finden sich
| |
− | zahlreiche in diese Richtung zielende Überlegungen bereits im 19. Jahrhundert, und die
| |
− | 13 S. zu verschiedenen Aspekten von Vertrauen: Welter, Friederike: Vertrauen und Unternehmertum im
| |
− | Ost-West-Vergleich, in: Meier, Christian/Pleines, Heiko/Schröder, Hans-Henning (Hrsg.): Ökonomie –
| |
− | Kultur – Politik, Festschrift für Hans-Hermann Höhmann, Bremen 2003, S. 127ff.
| |
− | 14 Vgl. hierzu und zum Folgenden Zimmermann, Karsten: Sozialkapital, a.a.O., S. 1ff.
| |
− | 15 Ein Gesichtspunkt, der schon in den Überlegungen von Alexis de Tocqueville auftaucht. Vgl. de Tocqueville,
| |
− | Alexis: De la démocratie en Amérique, 2 Bde., Paris 1835/1840 (dt.: Über die Demokratie in
| |
− | Amerika, Stuttgart 1959).
| |
− | 16 Die Darstellung folgt weitgehend Putnam, Robert D./Goss, Kristin A.: Einleitung, in: Putnam, Robert
| |
− | D. (Hrsg.): Gesellschaft und Gemeinsinn, a.a.O., S. 25ff.
| |
− | 135
| |
− | Entstehung des Fachs Soziologie hat nicht wenig mit eben dieser Diagnose zu tun. Doch
| |
− | ist gerade in jüngster Zeit eine breite Diskussion über diese Thematik entstanden. Unter
| |
− | dem Stichwort »Schwächung des Sozialkapitals« werden in dieser, insbesondere von Robert
| |
− | D. Putnam (»Bowling alone«)17 initiierten Debatte verschiedenartige Befunde erörtert, die
| |
− | sich auf die zurückgehende Vereinstätigkeit, auf das schwindende politische Engagement
| |
− | und allgemein auf den abnehmenden Gemeinsinn der Bürger in modernen Gesellschaften
| |
− | beziehen. Putnams Buch enthält auch anschauliches Material zum starken Rückgang der
| |
− | Mitgliedschaft in Freimaurerlogen und bruderschaftlichen Vereinigungen in den USA seit
| |
− | Mitte der 60er Jahre.
| |
− | Brückenbildendes Sozialkapital versus abschottendes (bindendes) Sozialkapital. Brückenbildendes
| |
− | Sozialkapital bezieht sich auf soziale Netzwerke, die unterschiedliche (heterogene)
| |
− | Menschen zusammenbringen. Für die Freimaurerei formulieren dies geradezu
| |
− | klassisch die »Alten Pflichten«, wenn sie konstatieren, der Bund sei ein Mittel, »treue
| |
− | Freundschaft unter Personen zu stiften, welche sonst in ständiger Entfernung voneinander
| |
− | hätten bleiben müssen«18 (kursiv von H.-H. H.). Bindendes Sozialkapital hält dagegen homogene
| |
− | Mitgliedergruppen zusammen und schottet diese gegen die soziale Umwelt oder
| |
− | – innerhalb der Gruppe – gegen andere Teile der Gruppe ab. Logen verstehen sich ihrer
| |
− | konzeptionellen Legitimierung nach als brückenbildendes Sozialkapital, die »Menschen,
| |
− | Menschen, immer neue Menschen«19 einbeziehen wollen. Logen können in der Realität
| |
− | allerdings auch ausgrenzend wirken und weisen zudem in ihrer Binnenstruktur Elemente
| |
− | auf, die bei unzureichender Reflexion und Kommunikation geeignet sind, Trennungen und
| |
− | Entfremdungen innerhalb der Logengruppe zu bewirken.
| |
− | Innenorientiertes Sozialkapital versus außenorientiertes Sozialkapital. Innenorientiertes
| |
− | Sozialkapital ist primär auf die Förderung von materiellen, sozialen und politischen Interessen
| |
− | der Netzwerkmitglieder orientiert. Es ist damit auf die Gewährleistung von privatem
| |
− | oder gruppenspezifischem Nutzen angelegt. Die Absicht, der Förderung des Gemeinwohls
| |
− | zu dienen und »öffentliche« Güter anzubieten, tritt dagegen in den Hintergrund. Diese
| |
− | aber dominiert beim außenorientierten Sozialkapital. Das Sozialkapital der Freimaurerei ist
| |
− | der Idee nach außenorientiert. Auch die Rituale enthalten deutliche Appelle in dieser Richtung:
| |
− | »Geht nun zurück in die Welt und bewährt Euch als Freimaurer. Wehret dem Unrecht,
| |
− | wo es sich zeigt. Kehrt niemals der Not und dem Elend den Rücken. Seid wachsam
| |
− | auf Euch selbst.«20 De facto bietet die Loge aber auch Gruppen- und individuelle Güter an
| |
− | (Selbstverwirklichung, Statuserhöhung durch Ämter und Orden), die nicht immer mit der
| |
− | postulierten Außenorientierung und deren Wertgrundlage kompatibel sind.
| |
− | 17 Putnam, Robert D.: Bowling alone, a.a.O., S. 367ff.
| |
− | 18 »But though in ancient Times Masons were charg’d in every Country to be of the Religion of that
| |
− | Country or Nation, whatever it was, yet ’tis now thought more expedient only to oblige them to that
| |
− | Religion in which all Men agree, leaving their particular Opinions to themselves; that is, to be good
| |
− | Men and true, or Men of Honour and Honesty, by whatever Denominations or Persuasions they may
| |
− | be distinguish’d; whereby Masonry becomes the Center of Union, and the Means of conciliating true
| |
− | Friendship among Persons that must have remain’d at a perpetual Distance«, zitiert nach Lennhoff, Eugen/
| |
− | Posner, Oskar/Binder, Dieter A.: Internationales Freimaurerlexikon, München 2000, S. 12, deutsche
| |
− | Übersetzung, ebenda S. 19.
| |
− | 19 Formel aus dem Ritual der Loge »Ver Sacrum«, Köln.
| |
− | 20 Schlussformel der Rituale der Großloge A.F.u.A.M. von Deutschland.
| |
− | 136
| |
− | Sozialkapital hoher Dichte versus Sozialkapital geringer Dichte. Dichtes Sozialkapital
| |
− | wird von Putnam und Goss am Beispiel einer Gruppe von Stahlarbeitern beschrieben,
| |
− | »die tagsüber in der Firma zusammenarbeitet, sich am Samstag zum Kegeln trifft und am
| |
− | Sonntag die katholische Messe besucht«.21 Es besteht also aus einer vielfältigen, intensiven
| |
− | Verbindung der Gruppenmitglieder. Sozialkapital geringer Dichte ist dagegen durch eindimensionale,
| |
− | lockere und oft flüchtige Verbindung zwischen Menschen gekennzeichnet,
| |
− | für deren Verhältnis ansonsten eine weitgehende soziale Distanz typisch ist. Dass sich das
| |
− | Sozialkapital der Freimaurerei offenkundig von größerer zu geringerer Dichte entwickelt,
| |
− | macht einen Teil ihrer Gegenwartsprobleme aus und wird später ausführlicher erörtert.
| |
− | Unterscheiden lässt sich ferner positives Sozialkapital, das Nutzen im Sinne einer Förderung
| |
− | von Gemeinwohl schafft, ohne Schaden für andere mit sich zu bringen, und negatives
| |
− | Sozialkapital, das Nutzen für bestimmte Gruppen und Personen bringt, aber anderen
| |
− | schadet, bis hin zu kriminellen Verhaltensweisen (Korruptionsnetzwerke, organisierte Kriminalität).
| |
− | Kriminelles Sozialkapital ist in hohem Maße innenorientiert und abschottend
| |
− | (bindend). Im Maße der Intensivierung und Professionalisierung der kriminellen Aktivitäten
| |
− | nimmt zudem seine Dichte zu. Dies resultiert aus dem umfassenden Bestreben, innerhalb
| |
− | einer kriminellen Vereinigung alle Tätigkeitsfelder der Mitglieder zu kontrollieren. Gesichtspunkte
| |
− | negativen Sozialkapitals tauchen regelmäßig in Verschwörungsvorstellungen
| |
− | auf, die sich gegen die Freimaurerei wenden.22
| |
− | Sozialkapital in den Freimaurerlogen
| |
− | Die mannigfaltigen Beziehungen, die zwischen Freimaurerlogen und dem Sozialkapital-
| |
− | Konzept bestehen, wurden bereits mehrfach angesprochen. Im Folgenden soll diesen Beziehungen
| |
− | ausführlicher und systematischer nachgegangen werden. Zwei Gesichtspunkte vor
| |
− | allem sind bedeutsam:
| |
− | • Erstens haben sich Freimaurerlogen im Selbstverständnis schon frühzeitig als »Agenturen
| |
− | für Sozialkapital« verstanden.
| |
− | • Zweitens stellen Logen enge interpersonelle Vernetzungen dar, die mit Begriffen und
| |
− | Konzepten der Sozialkapitaltheorie analysierbar sind.
| |
− | Beide Gesichtspunkte sind miteinander verbunden: Logen tragen in dem Maße zu dem in
| |
− | der Gesellschaft wirksamen Sozialkapital bei, in dem ihnen zum einen die Fähigkeit zugesprochen
| |
− | werden kann, in sich selbst (positives) Sozialkapital zu produzieren und zu steigern
| |
− | und in dem sie zum anderen in der Gesellschaft quantitativ und qualitativ signifikant
| |
− | vertreten sind, um mit ihrem Bestand an Sozialkapital wahrnehmbar zum Angebot an »öffentlichen
| |
− | « Gütern beizutragen, die das Gemeinwohl fördern und dazu beitragen, das Sozialkapital
| |
− | der Freimaurerei durch Außenbewährung erweitert zu reproduzieren.
| |
− | Zum ersten Gesichtspunkt – Sozialkapital in den Logen – kann festgehalten werden,
| |
− | dass sein Bestand und seine Entwicklung von mindestens drei zentralen Faktoren abhängen:
| |
− | 21 Putnam, Robert D./Goss, Kristin A.: Einleitung, in: Putnam, Robert D. (Hrsg.): Gesellschaft und Gemeinsinn,
| |
− | a.a.O., S. 26.
| |
− | 22 Unter neueren Veröffentlichungen hierzu vgl. insbesondere die Beiträge in: Reinalter, Helmut (Hrsg.):
| |
− | Verschwörungstheorien. Theorie, Geschichte, Wirkung, Innsbruck 2003.
| |
− | 137
| |
− | Der erste Faktor ist die Dichte der Vernetzung innerhalb der Loge. Hierzu gehören vor allem
| |
− | der Grad der Partizipation der Brüder an Logenveranstaltungen, das Ausmaß der zwischen
| |
− | ihnen bestehenden Freundschaftsbeziehungen, der Grad des gegenseitigen Vertrauens sowie
| |
− | die Fähigkeit zur Austragung und Überwindung von Konflikten. Die vielfältige Palette
| |
− | an Bindungen der Logenmitglieder und Einbindungen des einzelnen Freimaurers wurde
| |
− | und wird immer wieder als Hauptelement der Logengemeinschaft erlebt und beschrieben.
| |
− | In Anbetracht der geringen Aussagekraft subjektiver Einsichten in die Logenpraxis und des
| |
− | bisherigen Fehlens eingehender empirischer Untersuchungen für Deutschland kommt einer
| |
− | Repräsentativerhebung größere Bedeutung zu, die Ende der 90er Jahre unter dem Titel
| |
− | »Sinn-Dimensionen der Freimaurerei« im Rahmen der Freimaurer-Akademie der Großloge
| |
− | von Österreich durchgeführt wurde.23 Dabei wurden in 42 Logen Befragungen durchgeführt
| |
− | und 800 Fragebögen in die Analyse einbezogen. Es sollte u.a. ermittelt werden, in welcher
| |
− | Abfolge »freimaurerische Sinn-Dimensionen« festzustellen sind (verstanden als der einer
| |
− | Mitgliedschaft in der Loge beigemessene subjektive »Sinn«). Nach der Häufigkeit ihrer
| |
− | Nennung in den Befragungen geordnet ergab sich eine Abfolge folgender Sinndimensionen:
| |
− | Soziale Nähe; Lebenssinn; Esoterik; Selbstentfaltung und Bildung. Die an erster Stelle genannte
| |
− | Sinndimension »Soziale Nähe« wird im Wesentlichen als »Erlebnis von Freundschaft
| |
− | und menschlichen Beziehungen im Gespräch und anderen sozialen Kontakten zu gleichgesinnten,
| |
− | interessanten Menschen« verstanden. Sie wurde von einer »überwältigenden Mehrheit
| |
− | « aller Befragten als wesentlich genannt.
| |
− | Meine durch Gespräche, Beobachtungen und Untersuchungen gestützte Hypothese
| |
− | zur Dichte des Sozialkapitals der Logen ist allerdings, dass die gegenseitige Vernetzung der
| |
− | Brüder gegenüber früheren Perioden (konkret bis in die 60er Jahre hinein) in vielen Fällen,
| |
− | wenn auch keineswegs in allen, als abnehmend zu kennzeichnen ist. Es kommt gehäuft
| |
− | zu Austritten, zu einer Zunahme der »inneren« Deckung (abnehmende Partizipation der
| |
− | Mitglieder an Logenveranstaltungen, die im Allgemeinen zwischen 25–40 Prozent liegen
| |
− | dürfte), zu rückläufigen Kontakten der Brüder außerhalb der Logenveranstaltungen, zu
| |
− | abnehmenden Freundschaftsbeziehungen zwischen den Mitgliedern. War man früher oft
| |
− | erst Freund (Verwandter, Bekannter, Berufskollege) und dann Bruder, so hat sich – u.a.
| |
− | auch aufgrund eines veränderten Rekrutierungsmusters24 – die Reihenfolge verändert: Heute
| |
− | werden durch Initiation von Suchenden, mit denen man oft wenig vertraut ist, weil sie in
| |
− | der Regel über »Schleppnetze« (öffentliche Veranstaltungen, Internet) zur Loge gekommen
| |
− | sind, zuerst »rituelle« Brüder gewonnen, die dann – manchmal! – zu Freunden werden. Zu
| |
− | geringe Umsetzung deklarierter freimaurerischer Werte in den Stil des Umgangs miteinander
| |
− | führen nicht selten zu Konflikten. Diese Konflikte haben unterschiedliche Ursachen.
| |
− | Teils sind sie in persönlicher Spannungen begründet, etwa in Auseinandersetzungen um
| |
− | die Besetzung von Ämtern, teils sind sie auf Unstimmigkeiten zwischen Teilgruppen innerhalb
| |
− | der Logengemeinschaft zurückzuführen, wobei Mitgliedschaft bzw. Nichtmitgliedschaft
| |
− | in bruderschaftlichen Vereinigungen (»Hochgradsystemen«) eine auslösende bzw.
| |
− | verstärkende Rolle spielen kann, teils handelt es sich um Zielkonflikte, die mit bestimmten
| |
− | 23 Gehmacher, Ernst/Russ, Kurt: Sinn-Dimensionen der Freimaurerei. Eine Studie zur Katalysator-Wirkung
| |
− | der Freimaurerei in Österreich, Wien 1999, hier vor allem S. 5ff.
| |
− | 24 Vgl. Höhmann, Hans-Hermann: Freimaurerei und gesellschaftliche Gegenwart: Umfeld, Identität, Perspektiven,
| |
− | in: Berger, Joachim/Grün, Klaus-Jürgen (Hrsg.): Geheime Gesellschaft. Weimar und die deutsche
| |
− | Freimaurerei, München/Wien 2002, S. 343–350, hier S. 345.
| |
− | 138
| |
− | Logenaktivitäten, z.B. dem Erwerb oder Umbau eines Logenhauses zusammenhängen. Die
| |
− | genannten Konfliktkonstellationen können sich mischen und überlagern und lassen zudem
| |
− | Einflüsse erkennen, die von logenübergeordneten Disputen, etwa von Reform- und
| |
− | Regularitätsfragen, ausgehen, welche zu Stellungnahmen und Verfügungen übergeordneter
| |
− | freimaurerischer Körperschaften (Distrikts-, Provinzial- und Großlogen) führen, die wiederum
| |
− | innerhalb der Logen auf Widersprüche stoßen und Konflikte auslösen können. Die
| |
− | genannten Konflikte sind keineswegs neu: Sie haben vielmehr die Freimaurerei seit ihrer
| |
− | Gründung begleitet und sind letztlich auch darauf zurückzuführen, dass Freimaurerei sich
| |
− | in ihrer gesamten Geschichte als Raum repräsentierte, »in dem vieles möglich war«25, der
| |
− | folglich institutionell, konzeptionell und rituell unterschiedlich ausgefüllt wurde, was dazu
| |
− | führte, dass es nie die eine Freimaurerei, sondern immer viele Freimaurereien gab, um deren
| |
− | Gestaltung von zahlreichen Gruppierungen und Personen mit sehr verschiedenen persönlichen
| |
− | Auffassungen gerungen wurde.
| |
− | Der zweite Faktor hängt mit dem Verhältnis von Brückenbildung und Abschottung
| |
− | im Inneren und nach außen sowie mit den relativen Anteilen von außen- und innenorientiertem
| |
− | Sozialkapital in den Logen zusammen. Positiv zu werten wären hier vor allem
| |
− | das Ausmaß der Offenheit für »neue Menschen«, der Grad der Aufmerksamkeit für Angelegenheiten
| |
− | des Gemeinwesens (das Vorhandensein der »Dimension Gemeinsinn« in
| |
− | der Freimaurerei) sowie das gesellschaftliche Aktivitätsniveau von Logen und einzelnen
| |
− | Freimaurern. Meine beobachtungsgestützte Hypothese deutet auch hier auf Stärken, aber
| |
− | auch auf Schwachstellen hin: zu geringe Neugier auf »neue Menschen« (Beispiel: das nicht
| |
− | selten festzustellende menschliche Desinteresse der Brüder an Besuchern auf Gästeabenden,
| |
− | zu dem die gelegentliche Überhäufung mit Informationen und Aufnahmeangeboten nur
| |
− | scheinbar kontrastiert), Fehlen eines bewährten Konzepts für Öffnung zur Gesellschaft,
| |
− | Probleme mit der Balance zwischen Esoterik und Exoterik. Andererseits bemühen sich die
| |
− | Logen um Öffnung. Soziales Handeln innerhalb der Kommunen in verschiedenen Formen
| |
− | findet ebenso statt wie regionales und überregionales karikatives Engagement. Auch ist
| |
− | die Beschäftigung mit politischen und gesellschaftlichen Fragen bei bewusster Vermeidung
| |
− | partei- und verbandspolitischer Positionen immer mehr zum Gegenstand von Reflexionen
| |
− | in den Logen geworden.
| |
− | Eine im Rahmen des Bielefelder Forschungsprojekts26 für die Jahre 1991–2003 vorgenommene
| |
− | Auswertung27 von rd. 2000 monatlichen Veranstaltungsplänen (»Arbeitskalendern
| |
− | «) von ca. 60 Logen aus den Regionen Niedersachsen, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern,
| |
− | Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen ergab für »öffentliche« Veranstaltungen
| |
− | (d.h. für Veranstaltungen mit meist geladenen Gästen, die nicht dem Freimaurerbund angehören)
| |
− | einen Anteil von 15–20 Prozent an der Zahl aller Veranstaltungen. Dieser – für
| |
− | Außenstehende gering erscheinende – Anteil ist darauf zurückzuführen, dass wesensgemäß
| |
− | auf Veranstaltungen mit freimaurerischem Brauchtum (Tempelarbeiten) und Treffen im
| |
− | Mitgliederkreis ohne Gäste ein hoher Anteil der Logenveranstaltungen entfällt. Die in
| |
− | geschlossenen und offenen Logenveranstaltungen behandelten Themen (etwa 900 Themen
| |
− | 25 Neugebauer-Wölk, Monika: Einführung zu Maurice, Florian: Freimaurerei um 1800. Ignaz Aurelius Feßler
| |
− | und die Reform der Großloge Royal York in Berlin, Tübingen 1997, S. XVIII.
| |
− | 26 Forschungsprojekt »Deutsche Freimaurerei der Gegenwart« an der soziologischen Fakultät der Universität
| |
− | Bielefeld (2000–2005), Leitung: Prof. Dr. Jörg Bergmann, Prof. Dr. Hans-Hermann Höhmann.
| |
− | 27 Bearbeiterinnen Susanne Baginski und Lisa Hürter.
| |
− | 139
| |
− | von Vorträgen und »Zeichnungen« wurden erfasst) sind auf sogenannte »freimaurerische
| |
− | Themen« konzentriert, d.h. auf Themen, die Geschichte, Symbole und Rituale bzw. Einzelaspekte
| |
− | davon zum Gegenstand haben. Im Sinne der oben angesprochenen zunehmenden
| |
− | Beschäftigung mit politischen und gesellschaftlichen Fragen ist jedoch bemerkenswert,
| |
− | dass auf Themen, die in einem weiteren Sinne politisch, gesellschaftspolitisch und kulturpolitisch
| |
− | orientiert waren, ein Anteil von zwischen 20 und 25 Prozent entfällt und dass
| |
− | Themen mit politischer Aktualität im engeren Sinne unter allen behandelten Themen
| |
− | immerhin mit einem Anteil von 5–12,5 Prozent vertreten sind.
| |
− | Der dritte Faktor betrifft das Verhältnis von Sozialkapital zu anderen Ressourcen (Formen
| |
− | von Kapital) der Loge. Hierbei spielen das finanzielle Kapital (Vermögen, Beitragsaufkommen,
| |
− | Logenhaus, Stiftungen), das kulturelle Kapital (Tradition, Ansehen, kulturelle
| |
− | und künstlerische Fähigkeiten) sowie das Humankapital (Bestand an »Persönlichkeiten«,
| |
− | Mitgliederrekrutierung aus Eliten) eine besondere Rolle. In der Vergangenheit (sowohl
| |
− | in der sich transformierenden Ständegesellschaft des 18. und frühen 19. Jahrhunderts als
| |
− | auch in der klassischen »bürgerlichen« Gesellschaft der 2. Hälfte des 19. und der 1. Hälfte
| |
− | des 20. Jahrhunderts) ließen sich jeweils recht hohe Kapitalbestände beobachten. Heute
| |
− | herrscht dagegen in der deutschen Freimaurerei »Kapitalmangel« auch in Bezug auf alle
| |
− | anderen Kapitale neben dem Sozialkapital: geringe materielle Ressourcen, Probleme mit
| |
− | dem Bestand an Logenhäusern, Defizite beim kulturellen Kapital (wenn es hier auch einen
| |
− | beträchtlichen Fundus an Tradition und Ansehen gibt, der durch »externe Ressourcen« vermehrt
| |
− | werden könnte), Mangel an »charismatischen« Persönlichkeiten. Kulturelles Kapital
| |
− | ging nicht zuletzt auch dadurch verloren, dass die dem traditionellen Bildungsbürgertum
| |
− | vergleichbaren sozialen Gruppen der heutigen Gesellschaft nicht mehr in früherer Größenordnung
| |
− | in der Freimaurerei vertreten sind.
| |
− | So kann man sich dem Fazit wohl kaum verschließen, dass das Sozialkapital innerhalb
| |
− | der Logen (wie auch die anderen genannten Ressourcen) im historischen Vergleich
| |
− | zurückgegangen ist. Andererseits: Die Sozialform Loge mit ihrem permanenten Angebot
| |
− | an menschlich kommunikativer Geselligkeit, die Ideenwelt der Freimaurerei mit der für sie
| |
− | kennzeichnenden Betonung humanitärer Werte sowie die rituelle Praxis mit der durch sie
| |
− | vermittelten spirituellen Erfahrung und ständigen Einübung in mitmenschliche Verhaltensstile
| |
− | machen die Loge zumindest potenziell zu einem gewichtigen Träger von sozialem
| |
− | Kapital auch in der gegenwärtigen Gesellschaft.
| |
− | Freimaurerei in der deutschen Gesellschaft
| |
− | Als zweite Voraussetzung, für einen positiven Beitrag der Freimaurerei zu dem in der Gesellschaft
| |
− | wirksamen Sozialkapital beizutragen, war die Fähigkeit der Logen genannt worden, in
| |
− | der Gesellschaft quantitativ und qualitativ signifikant vertreten zu sein, um das Angebot an
| |
− | »öffentlichen« Gütern, die für die Förderung des Gemeinwohls geeignet sind, mit ihrem Bestand
| |
− | an Sozialkapital wahrnehmbar zu vergrößern.
| |
− | Hier ist gleichfalls aus verschiedenen Gründen Skepsis angebracht, doch es ist zunächst
| |
− | zu betonen, dass die Lage der Freimaurerei in Deutschland auch durch eine
| |
− | Reihe positiver Grundzüge gekennzeichnet ist, die auf absehbare Zeit eine solide Entwicklungsbasis
| |
− | repräsentieren: Die Freimaurerei, vertreten vor allem durch die Sozial140
| |
− | form Loge, ist offenbar stabil, die Logen leben und arbeiten, wenn auch gewiss mit
| |
− | unterschiedlicher Intensität und Ausstrahlung. Die lokale Beachtung des Bundes ist
| |
− | beachtlich: Wohlmeinende Worte der Oberbürgermeister und positive Erwähnungen
| |
− | in der örtlichen Presse sind eher Regel als Ausnahme, und auch das generelle, regional
| |
− | übergreifende Beurteilungsklima ist nicht ungünstig, wie nicht zuletzt die großen Freimaurerausstellungen
| |
− | (u.a. in Weimar, Jena und Bremen) nachdrücklich gezeigt haben.28
| |
− | Die Forschung an Universitäten und Instituten hat die Freimaurerei entdeckt: Die Zahl
| |
− | der Habilitationen, Dissertationen und Magisterarbeiten zu freimaurerischen oder zumindest
| |
− | freimaurerrelevanten Themen steigt, es bilden sich Brücken zwischen externuniversitärer
| |
− | und intern-freimaurerischer Forschung, die dem Ansehen der Bruderschaft
| |
− | zugutekommen.29 Die deutschen Großlogen repräsentieren aufs Ganze gesehen funktionsgemäß.
| |
− | Vor allem aber lieben viele Mitglieder den Bund, hängen an ihm und setzen
| |
− | sich für ihn ein. All das macht deutlich, dass die deutsche Freimaurerei in ihrer schlichten
| |
− | Lebensfähigkeit nicht bedroht ist und auf absehbare Zeit ein tragfähiges personelles
| |
− | und finanzielles Fundament besitzt.
| |
− | Dennoch ist, wie zuvor erwähnt, Skepsis angebracht, vor allem unter den folgenden fünf
| |
− | Gesichtspunkten:
| |
− | • Stagnierende Zahl der Freimaurer,
| |
− | • problematische Logengründungen,
| |
− | • ungünstige Altersstruktur,
| |
− | • Teilverlust gewünschter Zielgruppen, und
| |
− | • Entwicklungsprobleme in den östlichen Bundesländern
| |
− | Erstens: Die Zahl der Freimaurer in Deutschland stagniert, vermutlich ist sie aufs Ganze
| |
− | gesehen sogar eher rückläufig, wobei sich deutliche regionale Aktivitätsunterschiede zeigen.
| |
− | 30 Nach den Angaben über die Mitgliedszahlen der Logen in den »Jahrbüchern der Vereinigten
| |
− | Großlogen von Deutschland« (VGLvD), die allerdings nur als annähernd genau
| |
− | gelten können, nahm die Gesamtzahl der Mitglieder der drei in den VGLvD zusammengefassten
| |
− | deutschen Großlogen zwischen 1960 und 2008 von knapp 18.000 auf ca. 13.000,
| |
− | d.h. um ca. 27 Prozent ab. Dabei verlor die Großloge A.F.u.A.M. von Deutschland (2008
| |
− | ca. 8930 Mitglieder) ca. 16,5 Prozent, die Große Landesloge der Freimaurer von Deutschland
| |
− | (2008 ca. 3120 Mitglieder) ca. 30 Prozent und die Große National-Mutterloge »Zu den
| |
− | drei Weltkugeln« (2008 ca. 750 Mitglieder) ca. 37,5 Prozent ihres Mitgliederbestandes. Die
| |
− | GL A.F.u.A.M. weist allerdings seit 2005 wieder zunehmende Mitgliederzahlen aus. Unterschiedlich
| |
− | verlief die Entwicklung auch in den einzelnen Städten. Unter den fünf großen
| |
− | städtischen Zentren der deutschen Freimaurerei mit einem Mitgliederbestand von jeweils
| |
− | über 400 Maurern im Jahre 2008 (und einem Anteil am gesamten deutschen Mitgliederbe-
| |
− | 28 Geheime Gesellschaft. Weimar und die deutsche Freimaurerei, Ausstellung der Stiftung Weimarer Klassik,
| |
− | 21. Juni bis 31. Dezember 2002, Schiller-Museum; Logenbrüder, Alchemisten und Studenten. Jena
| |
− | und seine geheimen Gesellschaften im 18. Jahrhundert, Stadtmuseum Jena, 2002; Licht ins Dunkel. Die
| |
− | Freimaurer und Bremen, 2. Juli bis 29 Oktober 2006, Focke-Museum.
| |
− | 29 Vgl. hierzu Höhmann, Hans-Hermann: Entwicklung, Reflexion, Wissenschaft, a.a.O., S. 229–239.
| |
− | 30 Statistische Angaben nach Datenbank des Forschungsprojekts »Deutsche Freimaurerei der Gegenwart«,
| |
− | Bearbeiterinnen Susanne Baginski, Lisa Hürter und Maja Kandzorra.
| |
− | 141
| |
− | stand von knapp 30 Prozent) hatten Hamburg ca. 52 Prozent, Berlin ca. 40 Prozent und
| |
− | Hannover ca. 25 Prozent ihrer Mitglieder seit 1960 verloren. In Bremen ist die Mitgliederzahl
| |
− | im gleichen Zeitraum nur um etwa elf Prozent gesunken. Dagegen zählten die Logen
| |
− | in München im Jahre 2008 ca. 48 Prozent mehr Freimaurer als 1960. Allerdings verlief die
| |
− | Entwicklung zwischen 1960 und 2000 auch für die expandierenden Logen nicht gleichförmig.
| |
− | Teilweise verfügten sie zwar im Vergleich mit 1960 im Jahre 2008 einen höheren Mitgliederbestand,
| |
− | hatten jedoch zuletzt gegenüber höheren Beständen in der Zwischenzeit
| |
− | wieder an Mitgliedern verloren. Die Mitgliederzahlen sind nicht nur kennzeichnend für die
| |
− | Lage der Freimaurerei in Deutschland, sie charakterisieren auch die Situation der einzelnen
| |
− | Logen. Gliedert man die Logen in die fünf Kategorien sehr groß (über 100 Mitglieder), groß
| |
− | (51–100 Mitglieder), mittelgroß (31–50 Mitglieder), klein (21–30 Mitglieder) und sehr klein
| |
− | (über 1–20 Mitglieder), so ergibt sich für die fünf großen städtischen Zentren der deutschen
| |
− | Freimaurerei folgende Verteilung:
| |
− | Berlin, 38 Logen, davon sehr groß 0, groß 3, mittelgroß 5, klein 18, sehr klein 12;
| |
− | Hamburg, 34 Logen, davon sehr groß 1, groß 5, mittelgroß 12, klein 9, sehr klein 7;
| |
− | Hannover, 8 Logen, davon sehr groß 1, groß 3, mittelgroß 4, klein 0, sehr klein 0;
| |
− | Bremen, 7 Logen, davon sehr groß 1, groß 3, mittelgroß 3, klein 0, sehr klein 0;
| |
− | München, 9 Logen, davon sehr groß 1, groß 3, mittelgroß 2, klein 2, sehr klein 1.
| |
− | Geht man davon aus, dass für eine sichere Zukunftsentwicklung mindestens der Status »mittelgroße
| |
− | Loge« erreicht werden sollte, so sind Lage und Perspektiven der Freimaurerei in Berlin
| |
− | (Anteil kleiner und sehr kleiner Logen = 79 Prozent) und Hamburg (Anteil kleiner und
| |
− | sehr kleiner Logen = 47 Prozent als nicht günstig einzuschätzen, während die Logenstruktur
| |
− | in Hannover und Bremen als stabil und dynamisch bezeichnet werden kann. Freilich unterscheiden
| |
− | sich die Entwicklungsperspektiven einzelner Logen nicht unbeträchtlich voneinander,
| |
− | und auch in Regionalbereichen mit ungünstiger Gesamtperspektive sind große und
| |
− | dynamische Logen anzutreffen, denen es allerdings schwerfällt, ungünstige Tendenzen in ihren
| |
− | Umfeldern zu kompensieren. Mehr als 100 Mitglieder haben innerhalb der deutschen
| |
− | VGLvD-
| |
− | Großlogen gegenwärtig neun Logen, sieben davon gehören zur GL A.F.u.A.M., zwei
| |
− | zur GL FvD.
| |
− | Die Gründe für den fallenden Gesamttrend wurden schon im Zusammenhang mit
| |
− | der auch im internationalen Vergleich weithin zu konstatierenden abnehmenden Bereitschaft
| |
− | zum formellen Engagement in Assoziationen aller Art, darunter auch in Logen
| |
− | und anderen ethisch orientierten Vereinigungen, erörtert. Interessant sind darüber hinaus
| |
− | die beträchtlichen örtlichen Unterschiede. Sie erklären sich einmal aus der Stärke der
| |
− | Freimaurer in der Zeit vor dem Einsetzen der Abnahmetendenzen: je stärker die Freimaurerei
| |
− | war (Hamburg, Berlin), desto stärker ist sie von Rückgang betroffen. Je mehr
| |
− | sie gleichsam »historischen Nachholbedarf« hatte (München), desto besser konnte sie
| |
− | sich stabilisieren. Dazu kommen als Erklärungsfaktoren Aktivität und Ausstrahlung der
| |
− | Logen, insbesondere Aktivität und Charisma der leitenden Meister. Logen unterscheiden
| |
− | sich nicht nur nach Sinn- und Aktivitätsmustern sowie nach Mitgliederprofilen, sondern
| |
− | auch nach Dynamik und Erfolg ihrer Arbeit. Aktiven Logen mit deutlich wahrnehmbarer
| |
− | sozialer und kultureller Ausstrahlung, wachsenden Mitgliederzahlen und einem beträchtlichen
| |
− | Maß von sozialer Anerkennung im öffentlichen Umfeld (insbesondere seitens der
| |
− | 142
| |
− | kommunalen Öffentlichkeit) stehen Logen gegenüber, deren Mitgliederbestand rückläufig
| |
− | und in besonderem Maße überaltert ist und in denen die Partizipation an Logenveranstaltungen
| |
− | überdurchschnittlich gering ausfällt. Die Beispiele Bad Reichenhall, Bad Pyrmont
| |
− | und Hameln mit einer gemessen an der Bevölkerungszahl günstigen Mitgliederentwicklung
| |
− | lassen vermuten, dass die Freimaurerei gerade in kleinen und mittleren Städten gute
| |
− | Entwicklungschancen besitzt, sofern es den Logen gelingt, die öffentliche Meinung der
| |
− | Kommunen durch Leistung und persönliches Ansehen von Logenmitgliedern nachhaltig
| |
− | für sich einzunehmen. Dann funktionieren auch die alten Rekrutierungsmuster wieder:
| |
− | Freunde, Verwandte und Berufskollegen werden häufiger in die Loge eingeladen und nicht
| |
− | selten auch zu neuen Mitgliedern.
| |
− | Die folgenden Grafiken (S. 143–145) sollen die Mitgliederbewegung deutscher Großlogen
| |
− | und Logen für die Periode 1960–2008 sowie die Entwicklung der Zahl der Logen im
| |
− | gleichen Zeitraum veranschaulichen. Für die Gesamtheit der Mitglieder der drei deutschen
| |
− | VGLvD-Großlogen (Summe I, II, III) und die Mitgliederzahlen der einzelnen Großlogen
| |
− | (GL A.F.u.A.M. v.D, GLL FvD, GNML 3WK) ist zu berücksichtigen, dass der in den
| |
− | Schaubildern aufgezeigte Aufschwung nach 1990 vor allem auf die Zunahme von Doppelmitgliedschaften,
| |
− | die im Zuge des Wieder- bzw. Neugründungsprozesses in den neuen
| |
− | Bundesländern eingegangen wurden, zurückzuführen ist und keine Zunahme der Zahl der
| |
− | Freimaurer in Deutschland beinhaltet. Die sich daran anschließenden Schaubilder mit den
| |
− | Daten der Logen im Westen (alte Bundesländer) sind dagegen kaum durch Doppelzählungen
| |
− | verzerrt.
| |
− | 143
| |
− | Schaubilder zur Entwicklung der deutschen Freimaurerei
| |
− | 1960–200831
| |
− | 31 Vgl. Anmerkung 30.
| |
− | 144
| |
− | 145
| |
− | 146
| |
− | Um die Ergebnisse der quantitativen Untersuchungen national, international und zeitlich
| |
− | vergleichbarer zu machen, empfiehlt es sich, für die Freimaurerei nationale und regionale
| |
− | »Membership Rates« zu ermitteln. Dies Verfahren wählt Robert D. Putnam in seinem schon
| |
− | verschiedentlich in diesem Beitrag zitierten und für die Sozialkapitalforschung maßgeblich
| |
− | gewordenen Buch »Bowling alone. The Collapse and Revival of American Community«.
| |
− | Putnam untersucht die soziale Einbindung und kommunikative Vernetzung der amerikanischen
| |
− | Bevölkerung und weist dabei u.a. nach, dass die formelle Mitgliedschaft in gesellschaftlichen
| |
− | Organisationen im Verlauf der letzten 30–40 Jahre beträchtlich zurückgegangen
| |
− | ist. Dies gilt auch für die Mitgliedschaft in Logen, anderen freimaurerischen Gruppierungen
| |
− | (Shriners) sowie sonstigen ethisch orientierten Assoziationen wie Lyons, Rotary und
| |
− | Kiwanis. Putnam veranschaulicht diesen Trend an der Entwicklung der zuvor erwähnten
| |
− | »Membership Rates« (im Falle der genannten Vereinigungen Zahl der Mitglieder je 1000
| |
− | Männer über 20 Jahre). Nach seinen Ermittlungen sank die »Membership Rate« der Freimaurerlogen
| |
− | in den USA von ca. 80 im Jahre 1960 auf ca. 20 im Jahre 2000.32 Bis 2008 ist die
| |
− | Rate weiter abgesunken und liegt nur noch bei 13,4.
| |
− | Wendet man das Membership-Rate-Konzept auf Deutschland an, so ergibt sich aufgrund
| |
− | der Einwohnerstatistik und der Daten des Bielefelder Forschungsprojekts für das
| |
− | Jahr 2008 eine Membership Rate von ca. 0,4 für die deutsche Freimaurerei insgesamt. Für
| |
− | die erfassten großen Städte ergeben sich – in abnehmender Reihenfolge – folgende (ungefähre
| |
− | und vorläufige!) Raten: Bremen = 2,6; Hannover = 2,6; Hamburg = 2,0; Frankfurt
| |
− | = 1,2; München = 0,9; Berlin = 0,7. Wesentlich höher sind die Raten in einigen kleineren
| |
− | Städten, wo nur eine Loge die Freimaurerei vertritt und es offenbar vermocht hat, den
| |
− | Bund im gesellschaftlichen und kulturellen Milieu der Stadt zu verwurzeln. Als Beispiele
| |
− | können folgende Städte mit für deutsche Verhältnisse hohen »Membership Rates« genannt
| |
− | werden: Bad Reichenhall (9,6), Bad Pyrmont (7,9) und Hameln (4,3).
| |
− | Zweitens: Gegenüber der Gesamtzahl der Mitglieder nimmt die Zahl der Logen zu. Gab es
| |
− | 1960 322 »deutsche« Logen in den VGLvD, so war ihre Zahl bis 2008 auf 406 angestiegen
| |
− | (+
| |
− | 26 Prozent). Diese Entwicklung ist zwar zum größten Teil auf Wieder- und Neugründungen
| |
− | von Logen in den östlichen Bundesländern zurückzuführen. So wurden zwischen
| |
− | 1990 und 2002 knapp 60 Logen installiert, von denen 50 Wiedereinsetzungen und neun
| |
− | Neugründungen waren. Das VGLvD-Jahrbuch gibt für das Jahr 2008 einen Mitgliederbestand
| |
− | von ca. 1300 an (ca. zehn Prozent der Gesamtzahl deutscher Freimaurer).33 Davon
| |
− | dürfte etwa ein Viertel Doppelmitglieder mit Logenmitgliedschaft in den »alten« Bundesländern
| |
− | sein, so dass die Zahl »echter« Mitglieder in den »neuen« Bundesländern knapp unter
| |
− | 1000 liegen dürfte (zu diesen gehören sowohl aus den östlichen Bundesländern stammende
| |
− | und dort wohnende als auch nach dort aus den alten Bundesländern verzogene Mitglieder).
| |
− | Für die deutschen VGLvD-Großlogen ergibt sich folgende Verteilung:
| |
− | • GL A.F.u.A.M. v.D.: insgesamt 25 Logen, wiedergegründet 18 Logen, neugegründet sieben
| |
− | Logen, Gesamtmitgliederzahl 680;
| |
− | 32 Putnam, Robert D.: Bowling alone, a.a.O., S. 438ff.
| |
− | 33 Während die Zahl der Logen genau zu ermitteln ist und die Zahl der Mitglieder insgesamt relativ zuverlässig
| |
− | sein dürfte, musste die Zahl der »echten« Mitglieder in den neuen Bundesländern aufgrund von
| |
− | Einzelangaben geschätzt werden und ist vermutlich mehr oder weniger korrekturbedürftig.
| |
− | 147
| |
− | • GLL FvD: insgesamt 21 Logen, wiedergegründet 21 Logen, neugegründet 0 Logen, Gesamtmitgliederzahl
| |
− | 420;
| |
− | • GNML 3WK: insgesamt 13 Logen, wiedergegründet 13 Logen, neugegründet 0 Logen,
| |
− | Gesamtmitgliederzahl 230.
| |
− | Der oben erwähnte Trend zur Zunahme der Zahl der Logen setzte jedoch im Westen
| |
− | Deutschlands schon früher ein als 1990/91, war auch in den »alten« Bundesländern nur teilweise
| |
− | mit einem Wachstum der Mitgliederzahlen verbunden und lässt als Ursachen nicht
| |
− | nur Pioniergeist, sondern auch innere Spannungen, Spaltungen und persönliche Ambitionen
| |
− | erkennen.
| |
− | Drittens: Die Altersstruktur ist ungünstig, das Durchschnittsalter der Mitglieder liegt bei
| |
− | knapp 60 Jahren, es hat sich seit Ende der 1970er Jahre um etwa fünf Jahre erhöht.34 Ob die
| |
− | zuletzt zumindest bei der GL A.F.u.A.M. spürbare Tendenz einer leichten Absenkung des
| |
− | Durchschnittsalters den bisher dominierenden Überalterungstrend bricht, bleibt abzuwarten.
| |
− | Nun lag das Durchschnittsalter der Logenmitglieder – mit der möglichen Ausnahme der
| |
− | ersten Jahrzehnte der Logengeschichte im 18. Jahrhundert – aufgrund der Anforderungen,
| |
− | die im Hinblick auf persönliche Reife und bürgerliche Etablierung der »freien Männer von
| |
− | gutem Ruf« an die Beitrittskandidaten gestellt wurden, in der Regel über dem Durchschnitt
| |
− | »bürgerlicher« Vereine. Das hohe Durchschnittsalter als solches ist auch noch nicht bedrohlich
| |
− | für den Bestand der Freimaurerei, schließlich gibt es »junge Alte« und der »Dialog zwischen
| |
− | den Generationen« mag für jüngere Mitglieder sogar verlockend sein. Außerdem darf
| |
− | nicht vergessen werden, dass zunehmende Veralterung ein generelles Kennzeichen der deutschen
| |
− | Gesellschaft ist. Der Anteil der über 60-Jährigen an der deutschen Bevölkerung hat
| |
− | sich von 17,4 Prozent (1960) auf 26,2 Prozent (2010) erhöht und soll bis 2050 auf 38,9 Prozent
| |
− | ansteigen.35 Zusammengenommen mit der steigenden Tendenz stellt die gegenwärtige
| |
− | Altersstruktur der Logen jedoch keine Normalität dar, an die sich die Freimaurerei gewöhnen
| |
− | könnte, insbesondere, wenn die Perspektiven der kommenden zehn oder 20 Jahre in Betracht
| |
− | gezogen werden.
| |
− | Viertens: Berufliche Geltung, Bildung und durchschnittliches Einkommen der Mitglieder haben
| |
− | (wiederum mit deutlichen Unterschieden) tendenziell abgenommen, was nicht zuletzt
| |
− | im Zusammenhang mit einer Entwicklung zu sehen ist, auf die bereits im Zusammenhang
| |
− | mit dem Aspekt Dichte des Sozialkapitals innerhalb der Loge hingewiesen wurde: die veränderten
| |
− | Formen der Mitgliedergewinnung. Das traditionelle Rekrutierungsschema der Freimaurerei,
| |
− | das neue Logenmitglieder aus bereits vorhandenen gesellschaftlichen Vernetzungen
| |
− | (Verwandtschaft, Freundeskreis, Berufskollegenschaft) gewann und das noch beim Wiederaufbau
| |
− | der deutschen Logen in der Aufbauzeit nach dem Zweiten Weltkrieg brauchbar gewesen
| |
− | war, hat seine Leistungsfähigkeit weitgehend verloren. Heute sehen sich die Logen vor
| |
− | die Notwendigkeit einer Rekrutierung von Suchenden am (gleichsam) »freien Markt« gestellt,
| |
− | etwa durch Artikel, öffentliche Vorträge und Annoncen in Zeitungen mit Einladungen zu
| |
− | Gästeabenden, durch moderne PR-Maßnahmen insgesamt, deren Legitimität allerdings bis
| |
− | 34 Datenbank des Forschungsprojekts »Deutsche Freimaurerei der Gegenwart«.
| |
− | 35 Angaben nach bpb: 2008 Bundeszentrale für Politische Bildung, nach: Statistisches Bundesamt, Bevölkerung
| |
− | Deutschlands bis 2050.
| |
− | 148
| |
− | heute in der deutschen Bruderschaft umstritten ist. Folge der veränderten Rekrutierungsstrategie
| |
− | war eine zunehmend zufällige Kandidatenauslese, was gelegentlich nicht ohne negative
| |
− | Auswirkungen auf die Substanz der Logengruppe blieb, andererseits aber auch eine Mitgliedermischung
| |
− | mit sich brachte, die mehr als je zuvor dem Ideal einer schichtenübergreifenden
| |
− | sozialen Aufgeschlossenheit entsprach. Diese soziale Öffnung der Logen – wiewohl im Einklang
| |
− | mit dem traditionellen freimaurerischen Wertekanon einer Orientierung auf den »bloßen
| |
− | « Menschen – verändert ihren Platz in der »Bürgergesellschaft«, nicht zuletzt im Vergleich
| |
− | mit anderen »ethisch orientierten Vereinigungen« wie Rotary und Lions.
| |
− | Fünftens: Die Entwicklung in den aus der DDR hervorgegangenen östlichen Bundesländern36
| |
− | zeigt, dass es trotz beachtlicher Aufbauerfolge und anhaltend guter Entwicklung eines Teils
| |
− | der Logen bei mehr als der Hälfte der Logen inzwischen zu beträchtlichen Konsolidierungsschwierigkeiten
| |
− | gekommen ist. So haben mehr als 40 Prozent der Logen in Mittel- und Ostdeutschland
| |
− | eine Mitgliederzahl von unter 20, gehören somit zu den sehr kleinen Logen, so
| |
− | dass Arbeitsfähigkeit und Bestand gefährdet sind. Einerseits wirken sich Gesellschaftsumbruch
| |
− | sowie Wirtschaftslage auf dem Hintergrund ganz bestimmter kollektiver und individueller Erfahrungen
| |
− | negativ aus – nicht nur auf die Entwicklung der Logen. Andererseits zeigen sich die
| |
− | gravierenden Folgen einer 55 Jahre andauernden Unterbrechung freimaurerischer Aktivitäten.
| |
− | Diesen Kontinuitäts- bzw. Traditionsbruch von fast zwei Generationen hatte es nach dem
| |
− | Zweiten Weltkrieg in Westdeutschland nicht gegeben. Zwar mussten auch hier die ehemaligen
| |
− | Mitglieder wieder gesammelt, die spätestens 1935 aufgelösten Logen neu gegründet und leistungsfähige
| |
− | Großlogenordnungen geschaffen werden. Doch der Elan der Brüder Freimaurer,
| |
− | die Verbot und Krieg überlebt hatten, war beträchtlich. Die Freude darüber, zur alten Gemeinschaft
| |
− | zurückkehren zu können, führte zu einer großen Beteiligung einstiger Mitglieder an den
| |
− | Neubegründungen, und der Schwung des Aufbruchs bewirkte – auch über zahlreiche Neuaufnahmen
| |
− | – ein beträchtliches Wachstum der Logen. In der sowjetisch besetzten Zone und später
| |
− | in der DDR war trotz einiger früher Versuche ein Wiederaufbau der Logen nicht möglich.
| |
− | Die Neuerrichtung der Freimaurerei konnte erst im Zuge der deutsch-deutschen Vereinigung
| |
− | ab 1990 erfolgen. Die anfängliche Gründungsdynamik beruhte auf dem Enthusiasmus der »Pioniere
| |
− | «, die von Westdeutschland aus, begünstigt durch persönliche Beziehungen, berufliche
| |
− | Verbindungen, Städtepartnerschaften und traditionelle Großlogenstrukturen, alte Logen belebten,
| |
− | neue gründeten und bald auch die ersten
| |
− | »Suchenden« in den neuen Bundesländern
| |
− | aufnehmen konnten. Inzwischen ist die Zahl der mittel- und ostdeutschen Logen wie die Zahl
| |
− | der dortigen Freimaurerei, wie oben schon gezeigt, weiter angewachsen. Der Aufbau gestaltet
| |
− | sich aber auch deshalb schwierig, weil die ostdeutschen Logen und ihre Brüder sowohl innerhalb
| |
− | des Bundes als auch in der umgebenden »profanen« Gesellschaft einer tragenden Einbindung
| |
− | in soziale, kulturelle und persönliche Kontinuitäten oft entbehren müssen. Dies spiegelt
| |
− | sich u.a. auch darin, dass zu Beginn des neuen Jahrhunderts noch viele Logenleiter ihren
| |
− | Wohnsitz in den alten Logenländern hatten: bei der GL A.F.u.A.M. drei von 23, bei der GL
| |
− | FvD zehn von 20 und bei der GNML 3WK sieben von 15. Für die GL A.F.u.A.M. bedeutete
| |
− | dies andererseits bereits relativ früh eine weitgehende Selbstleitung der Logen in den östlichen
| |
− | Bundesländern.
| |
− | 36 Vgl. Templin, Rüdiger: 10 Jahre Freimaurerei im Osten Deutschlands, in: Humanität. Das deutsche Freimaurermagazin,
| |
− | Nr. 3, 2003, S. 10–13.
| |
− | 149
| |
− | Zu den Ursachen der negativen Phänomene
| |
− | Fragt man nach den Ursachen dieser für die Freimaurerei negativen Phänomene, so sinddiese
| |
− | sowohl außerhalb als auch innerhalb des Bundes zu suchen.
| |
− | Schwierigkeiten von außen – aus der Struktur der Gesellschaft heraus – kommen deshalb
| |
− | auf die Freimaurerei zu, weil sich die Strukturen und Tendenzen der heutigen modernen –
| |
− | in der Regel als »postmodern« gekennzeichneten – Gesellschaft offenbar ungünstig auf die
| |
− | Freimaurerei auswirken.
| |
− | Um dies zu verdeutlichen, soll noch einmal pointierend auf vier für die Entwicklung der
| |
− | Freimaurerei besonders relevante Grundgegebenheiten der gegenwärtigen Moderne bzw.
| |
− | Postmoderne verwiesen (eine gemeinsam mit Jörg Bergmann verfasste Studie dazu ist im
| |
− | Jahrbuch 2003 der Forschungsloge »Quatuor Coronati« erschienen)37 und ihre Auswirkungen
| |
− | auf die Entwicklung unseres Bundes in Stichworten umrissen werden:
| |
− | 1. Postmoderne bedeutet Veränderungen von Glaubenssystemen, Wertorientierungen und
| |
− | Lebensstilen im Sinne einer immer heterogener, unverbindlicher und flüchtiger werdenden
| |
− | »Multioptionsgesellschaft« (P. Gross)38. An die Stelle überkommener Verhaltensbindungen
| |
− | trat für die Menschen mehr und mehr die Möglichkeit der Wahl. Zudem sind
| |
− | moralische Haltungen und ethische Begründungen in der gegenwärtigen Gesellschaft erheblich
| |
− | in Misskredit geraten. Freimaurerei ist aber auf Stabilität von sozialer Bindung,
| |
− | anhaltende Verbindlichkeit ethischer Überzeugung und andauernde spirituelle Erfahrung
| |
− | in der »rituellen Wiederkehr des Gleichen« angelegt.
| |
− | 2. Postmoderne bedeutet Veränderung von Wahrnehmungen und Interessen im Sinne einer
| |
− | »Erlebnisgesellschaft« (G. Schulze)39, die sich auf unterhaltsame Events und wechselnde
| |
− | Oberflächenreize orientiert. Auch hiermit sind grundlegende »Essentials« der Freimaurerei
| |
− | schwer vereinbar. So etwa das unspektakuläre Ausloten eigener Befindlichkeiten
| |
− | durch ethisch orientierte Diskurse (»Selbsterkenntnis«), die Entfaltung tradierter Wertvorstellungen
| |
− | und die Kontinuität der rituellen Einübungspraxis. (Nebenbei: Eine besondere
| |
− | Facette der »Erlebnisgesellschaft« ist, dass Freimaurerei in der medialen Öffentlichkeit
| |
− | wieder verstärkt aus dem Blickwinkel von »Verschwörungstheorien« heraus wahrgenommen
| |
− | wird: Verschwörung ist eben spannend, Ethik erscheint demgegenüber als eher
| |
− | langweilig.)
| |
− | 3. Moderne heute bedeutet Umstrukturierung und Neuformierung der Realgesellschaft,
| |
− | geprägt durch Wandlungen in der Arbeitswelt (deren Instabilität gerade junge Berufsanfänger,
| |
− | insbesondere junge Akademiker als potenzielle Mitglieder des Freimaurerbundes
| |
− | stark belastet), ein verändertes Verhältnis der Geschlechter zueinander (mit einer Neudefinition
| |
− | von Rechten, Pflichten und Partnerschaft in Beziehungen, was insgesamt nicht
| |
− | ohne Auswirkungen auf männerbündisches Engagement bleiben kann) sowie veränderte
| |
− | Formen sozialer Einbindung bzw. Vernetzung der Menschen, d.h. in der Struktur des
| |
− | 37 Bergmann, Jörg/Höhmann, Hans-Hermann: Die Freimaurer im Prozeß der Modernisierung heute, in:
| |
− | Quatuor Coronati Jahrbuch Nr. 40/2003, S. 93–102.
| |
− | 38 Vgl. Gross, Peter: Die Multioptionsgesellschaft, Frankfurt/Main 1994.
| |
− | 39 Vgl. Schulze, Gerhard: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankurt/M. 1992;
| |
− | ders.: Kulissen des Glücks. Streifzüge durch die Eventkultur, Frankfurt/M. 1999.
| |
− | 150
| |
− | »Sozialkapitals« (geringere Bereitschaft zu dauerhafter Bindung an hergebrachte bürgergesellschaftliche
| |
− | Assoziationen, d.h. das »Putnam-Syndrom«).
| |
− | 4. Insgesamt gesehen bedeuten Moderne heute bzw. Postmoderne das Ende der traditionellen
| |
− | bürgerlichen Gesellschaft, in der die Freimaurerei entstand und sich entwickelte.
| |
− | So stellt sich die Frage: Freimaurerei als Sozial- und Kulturform der bürgerlichen Gesellschaft
| |
− | – hat sie eine Chance gedeihlicher Entwicklung, wenn eben diese Gesellschaft
| |
− | offenkundig an ihr Ende gekommen ist? Die Freimaurerei hat sich auf das umrissene
| |
− | Grundproblem, – dass sich der Bund als bürgerliche Reaktion auf vormals aktuelle gesellschaftliche
| |
− | Problemlagen entwickelt hat, dass die Problemlagen der modernen Gesellschaft
| |
− | heute jedoch ganz anderer Art sind, – in ihren Selbstthematisierungen bisher nur
| |
− | unzureichend eingestellt.
| |
− | Dabei gibt es durchaus Chancen für ihre weitere Entwicklung: Mit der Reizüberflutung verbindet
| |
− | sich die Sehnsucht nach Nachdenklichkeit, nach Kontemplation, nach Langsamkeit,
| |
− | nach einem anderen, weniger hektischen Begriff von Zeit, kurz nach Strukturelementen der
| |
− | Freimaurerei. Menschen suchen – gleichsam entgegengesetzt zum Zeitgeist – Einbindung
| |
− | und Orientierung. Zwar haben die Strukturen der gegenwärtigen Moderne die für frühes
| |
− | Bürgertum und entfaltete Bürgergesellschaft selbstverständliche und weit verbreitete Option
| |
− | der Logenmitgliedschaft weitgehend hinfällig gemacht, doch bleibt die Chance, jene Nachfragenischen
| |
− | zu nutzen, die die Vielfalt der Postmoderne für Assoziationsformen bereithält,
| |
− | die eher quer zum herrschenden Trend positioniert sind. Aktive Logen nutzen die hier erkennbaren
| |
− | Potenziale aus und sind bemerkenswert erfolgreich in ihrer Entwicklung. Auch
| |
− | die ausgeprägte Dynamik der Frauenlogen in Deutschand40 deutet auf Entwicklungsmöglichkeiten
| |
− | hin, die eine gründliche Analyse verdienen.
| |
− | Wenn die erörterten »Nischen« gegenwärtig nur partiell und aufs Ganze gesehen unzureichend
| |
− | genutzt werden, so ist dies auf Struktur- und Handlungsschwächen des Freimaurerbundes
| |
− | zurückzuführen, wobei Substanz- und Vermittlungsprobleme unterschieden
| |
− | werden können.
| |
− | Was die Substanzprobleme betrifft, so leidet der Freimaurerbund in Deutschland –
| |
− | aufs Ganze gesehen und trotz einer beeindruckenden Reihe von Gegenbeispielen – an
| |
− | einem Mangel an Lebenskraft und Ausstrahlung, an Identität und Profil, an gründlichem
| |
− | freimaurerischen Wissen und Verständnis für das Zusammenspiel von Gemeinschaft, Idee
| |
− | und Ritual. Oft machen sich menschliche Schwächen bemerkbar, wie man sie eigentlich
| |
− | in einem ethisch orientierten Bund nicht erwarten sollte. Es gibt Grundstörungen in der
| |
− | Gruppensituation der Logen, die mit Stichwörtern wie unzureichende Einbindung von
| |
− | Brüdern, fehlende Harmonie zwischen ihnen, Abhandenkommen von Freundschaft sowie
| |
− | mangelnde Lebendigkeit der Loge (geistig, rituell, sozial, kulturell), kurz Routinisierung
| |
− | des Logenlebens innerhalb und außerhalb des rituellen Bereichs, umrissen werden können.
| |
− | Die Vermittlungsprobleme beziehen sich auf den Umgang mit der Öffentlichkeit, mit
| |
− | den Menschen um sich herum. Die Freimaurer lassen sich in starkem Maße auf einen
| |
− | doppelten Vergrößerungseffekt ein: Von außen wird die Freimaurerei traditionell verschwörerisch
| |
− | überhöht und dämonisiert, von innen reagieren die Freimaurer allzu sehr mit einer
| |
− | 40 Lanik, Monika/Widmann, Helga: Frauen und Freimaurerei: Feminine Freimaurerei in Deutschland im
| |
− | Spiegel ihrer Entwicklung, in: Quatuor Coronati Jahrbuch 2003, S. 103–120.
| |
− | 151
| |
− | Attitüde humanitärer Überlegenheit, die im Hinblick auf die Möglichkeit einer nachhaltigen
| |
− | Realisierung nicht hinreichend hinterfragt wird. Beides sind Fehlverständnisse, die auf
| |
− | ein flaches, zu wenig auf Wissen begründetes, im ersten Fall aggressives, im zweiten Fall
| |
− | apologetisches Freimaurerbild zurückzuführen sind.
| |
− | Zum Schluss lässt sich als Fazit formulieren, dass die Freimaurerei auch in der Postmoderne
| |
− | eine Chance hat, gesellschaftliche Nachfrage auf sich zu ziehen. Allerdings muss
| |
− | ihr Angebot an »Sozialkapital« nach Qualität und Substanz attraktiv sein. Freimaurerlogen
| |
− | haben kein Defizit an gehaltvollen Formen und überzeugenden Ideen: Menschlichkeit,
| |
− | Geschwisterlichkeit und Toleranz, in redlichen Diskursen aufgearbeitet und in der Logenpraxis
| |
− | konkretisiert, reichen aus. Freimaurer hätten nach außen und innen an klarer
| |
− | freimaurerischer Identität zu arbeiten und dabei auf allzu glatte Bilder von Freimaurerei
| |
− | zu verzichten. Freimaurerei hat aus ihrer Geschichte heraus eine innere Gebrochenheit,
| |
− | die sich nicht wegdefinieren lässt. Nötig ist deshalb Auseinandersetzung mit Mängeln und
| |
− | Widersprüchen, die sich in und mit der Geschichte der Freimaurerei entwickelt haben.
| |
− | Freimaurerei »der Ordnung nach« (heute eher ein Produkt von Reglementierungen und
| |
− | Ad-hoc-Interventionen) wäre positiv zu bestimmen, die Einordnung in die deutsche und
| |
− | die internationale Freimaurerei zu klären. Es wäre Eigenes zu leisten und herauszustellen,
| |
− | beim »Anhängen« an die Humanität anderer (etwa in Form von Preisverleihungen) ist
| |
− | Vorsicht und Geschmack zu bewahren. Nötig ist Konzentration auf das, was Freimaurerei
| |
− | ist, nicht auf das, was die Freimaurer wollen. Besonders wichtig ist die Hebung des brüderlichen
| |
− | Umgangsniveaus durch eine kreative »Logenbaukunst« und – unverzichtbar für den
| |
− | einzelnen Freimaurer – wirklich ernst genommene und nicht nur deklaratorische Arbeit an
| |
− | der eigenen maurerischen Verhaltenskultur.
| |
− | 152
| |
− | Der deutsche Freimaurerdiskurs der
| |
− | Gegenwart: Was ist, was will, was soll die
| |
− | Freimaurerei?
| |
− | Zu den mannigfaltigen Geheimnissen der Freimaurerei gehört offenbar auch dieses: Die
| |
− | Freimaurerei war nicht nur von Anbeginn an für ihre Umwelt geheimnisvoll, sie ist immer
| |
− | auch für sich selber ein Stück Geheimnis geblieben, das es in immer neuen Ansätzen zu entschlüsseln
| |
− | galt. Die Entwicklung der Freimaurerei wurde von den Mitgliedern des Bundes
| |
− | zwar immer primär als Gestaltungsaufgabe verstanden, aber hin zu Reflexion und Diskurs
| |
− | ist es stets nur ein kleiner Schritt gewesen. Gewiss wollten die Brüder – genauer gesagt: die
| |
− | konzeptionell tonangebenden und administrativ führenden unter ihnen – vor allem das Leben
| |
− | ihrer Logen gestalten, Großlogen bilden sowie neue rituelle Erlebnisformen und Grade
| |
− | in die Freimaurerei einführen. Doch in Verbindung damit setzte sehr früh eine intensive
| |
− | Reflexion über Ideenwelt, Rituale, Stilprinzipien und Organisationsstrukturen der Freimaurerei
| |
− | ein. Kurz: Die Entwicklung der Freimaurerei und die Entwicklung des Freimaurerdiskurses
| |
− | haben sich ständig begleitet. Diskurse reflektierten die Wirklichkeiten der Freimaurerei,
| |
− | aber auch die Auffassungen der Autoren und wirkten auf den Gang der freimaurerischen
| |
− | Realität zurück.
| |
− | 1. Zur Diskursanalyse und ihrer Anwendung auf Freimaurerei
| |
− | Soziale Einrichtungen aller Art wie Parteien, Kirchen, ethische Assoziationen wie die Freimaurerei,
| |
− | aber auch Prozesse und Ereignisse wie politische Konflikte, Zuwanderung aus
| |
− | dem Ausland, Wirtschaftskrisen, Fußballweltmeisterschaften begegnen dem Betrachter stets
| |
− | in zwei Erscheinungsformen der Realität.
| |
− | Auf der einen Seite steht die Welt der Fakten, die mit geeigneten analytischen Methoden
| |
− | transparent gemacht und erforscht werden können. Auf der anderen Seite stehen die
| |
− | Gedanken der Menschen über Fakten, die Perzeptionen davon, die geschriebenen Texte
| |
− | und Reden darüber, kurz: die Diskurse.
| |
− | Diskurse entstehen, wenn Menschen im Reden, Schreiben und Bedeuten durch Texte
| |
− | und Zeichen miteinander kommunizieren, wenn sie sich etwas mitteilen wollen, was für sie
| |
− | Bedeutung hat, wenn sie etwas zu begründen, zu rechtfertigen oder zu verteidigen haben,
| |
− | wenn sie Wissen weitergeben wollen, das sie für wahr und wichtig halten.
| |
− | Diskurse sind gleichermaßen Bestandteile semantischer, kultureller und sozialer Prozesse.
| |
− | 1 Sie finden in bestimmten Rahmenkonstellationen statt und sind damit an die institutionellen
| |
− | Strukturen der Gesellschaft gebunden. Doch gleichzeitig entfalten Diskurse
| |
− | eine beträchtliche Eigendynamik und erweisen sich als eine Macht, die »aus puren Worten
| |
− | 1 Vgl. hierzu und zum Folgenden: Jäger, Siegfried: Bemerkungen zur Durchführung von Diskursanlanalysen,
| |
− | http.//diss-Duisburg.de/Internetbibliothek/Artikel, download 15.6.2006; derselbe: Die Wirklichkeit
| |
− | ist diskursiv, http.//diss-Duisburg.de/Internetbibliothek/Artikel, download 15.6.2006; Theorien
| |
− | der Medienkommunikation. 3: Diskurstheorien, in: MedienWiki, file://C:/Windows/Temp/Theorien
| |
− | der Diskurstheorien.htm, Download 26.7.2006.
| |
− | 153
| |
− | neue oder veränderte Welten schaffen« kann2, oder – mit einer Beschreibung Michel Foucaults3
| |
− | – »Diskurse sind Praktiken, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen
| |
− | sie sprechen«. Norman Fairclough hat diese Eigenschaft von Diskursen folgendermaßen
| |
− | beschrieben:
| |
− | »Discourse is socially constitutive. Discourse contributes to the constitution of all
| |
− | those dimensions of social structure which directly or indirectly shape and constrain
| |
− | it: its own norms and conventions, as well as the relations, identities and institutions
| |
− | which lie behind them. Discourse is a practice not just of representing
| |
− | the world, but of signifying the world, constituting and constructing the world in
| |
− | meaning.«4
| |
− | Wenn Diskurse eng mit dem zusammenhängen, wovon sie sprechen, so bedeutet dies allerdings
| |
− | nicht, dass sie Realitäten struktur- und maßstabsgetreu widerspiegeln. Gerade in den
| |
− | Diskursen, die um die Freimaurerei und in der Freimaurerei geführt werden – zusammenfassend:
| |
− | im »Freimaurerdiskurs« –, bemerken wir immer wieder Übertreibungen, die von den
| |
− | Realitäten abdriften:
| |
− | Von außen – etwa im »Verschwörungsdiskurs« – erscheint die Freimaurerei im Vergrößerungsglas
| |
− | ihrer Gegner als eine dämonische Macht, als allgegenwärtiger Drahtzieher
| |
− | der Weltverschwörung, als Anführer immer wieder wechselnder »Koalitionen
| |
− | des Bösen«, als Verderber christlicher Religion und als Hauptquelle weltanschaulicher
| |
− | Irrtümer.
| |
− | Im Inneren des Bundes vergrößern sich die Freimaurer gern selbst zum Inbegriff der
| |
− | Humanität, zum Heilmittel gegen allumfassende Sinnkrisen, zu einer segensreich wirkenden
| |
− | Institution, die – so wird oft gesagt und geschrieben – »schleunigst erfunden werden
| |
− | müsste, wen es sie nicht gäbe«. Aber auch zum Negativen hin wird in freimaurerischer
| |
− | Selbstdarstellung übertrieben: Anflüge von tiefem Pessimismus (manchmal sogar von
| |
− | unverkennbarem Selbsthass) lassen die Freimaurerei dann als Sanierungsfall oder gar als
| |
− | Auslaufmodell erscheinen, dessen Zustand jedenfalls ebenso unverzügliche wie nachhaltige
| |
− | Rettungsmaßnahmen erforderlich macht.
| |
− | 2. Strukturen des Freimaurerdiskurses
| |
− | Um den Strukturen des gegenwärtigen Freimaurerdiskurses ausführlicher nachgehen zu können,
| |
− | möchte ich – den Ansätzen der Diskurstheorie folgend – etappenweise vorgehen und
| |
− | eine Reihe von Unterscheidungen vornehmen.
| |
− | 2 Vgl. Keller, Reiner/Hirseland, Andreas/Schneider, Werner/Viehöver, Willy (Hrsg.): Die diskursive Konstruktion
| |
− | von Wirklichkeit. Zum Verhältnis von Wissenssoziologie und Diskursforschung (Reihe: Erfahrung
| |
− | – Wissen – Imagination Band 10, hrsg. von Soeffner, H.-G./Knoblauch, H./Reichertz, J.), Konstanz
| |
− | 2005.
| |
− | 3 Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, 3. Aufl. Frankfurt/M. 1988, S. 74.
| |
− | 4 Fairclough; Norman: Discourse and Social Change, Cambridge 1992, S. 64.
| |
− | 154
| |
− | Grundsätzlich sind zunächst nach dem Ort der Diskurse drei Gruppen zu unterscheiden:
| |
− | 1. Diskurse, die zwischen der Freimaurerei und der sie umgebenden Gesellschaft stattfinden;
| |
− | 2. Diskurse, die außerhalb der Freimaurerei, in der Öffentlichkeit oder Teilen davon wie
| |
− | Kirchen oder politischen Gruppen in Bezug auf die Freimaurerei geführt werden, und
| |
− | 3. Diskurse, die sich innerhalb der Freimaurerei abspielen und bei denen dann immer wieder
| |
− | die im Titel dieses Beitrags genannten Fragen im Vordergrund stehen: Was ist, was will,
| |
− | was soll die Freimaurerei?
| |
− | Ich werde den internen Diskursen der Freimaurer nachgehen, die beiden anderen Gruppen,
| |
− | insbesondere den Diskurs zwischen der Freimaurerei und ihrer Umwelt, aber immer mit im
| |
− | Auge behalten. Denn ein »Innen« und »Außen« in Bezug auf die Freimaurerei ist für Vergangenheit
| |
− | und Gegenwart des Bundes nicht voneinander zu scheiden.
| |
− | 2.1 Zur Dialektik von Innen- und Außensichten der Freimaurerei
| |
− | Seit dem Beginn der Geschichte des Freimaurerbundes als neuzeitlicher Assoziation ist das
| |
− | Bild der Freimaurerei in der Öffentlichkeit nicht vom inneren Diskurs der Freimaurer zu
| |
− | trennen. Was immer in der Öffentlichkeit über den Bund gesagt wurde und wird, es war und
| |
− | ist – selbst noch im Zerrspiegel der Verschwörungs«theorien« – nicht unabhängig von den
| |
− | Selbstdarstellungen des Bundes und seiner Mitglieder. Sein, sich selber sehen und gesehen
| |
− | werden gehörten stets zusammen.
| |
− | Selbstbilder und Fremdbilder der Freimaurerei, Innen- und Außensichten des Bundes
| |
− | bedingen sich gegenseitig und bilden trotz aller Widersprüche einen Gesamtkomplex, von
| |
− | dem jede das Verhältnis von Freimaurerei und Öffentlichkeit thematisierende Analyse auszugehen
| |
− | hat.
| |
− | Dieser Dialektik von Selbstbildern und Fremdbildern liegen drei von Anfang an gegebene
| |
− | Grundbefindlichkeiten der Freimaurerei zugrunde, deren Auswirkungen gleichfalls
| |
− | analytischer Aufarbeitung bedürfen:
| |
− | Da ist zunächst die inhaltliche und formale Unbestimmtheit der Freimaurerei. Gewiss,
| |
− | der Bund hat einige zentrale Merkmale, die ihn als Freimaurerei konstituieren und unterscheidbar
| |
− | machen. Dennoch existierte von Anfang eine zur Auffüllung einladende, gleichsam
| |
− | »fordernde« Leere (Michael Voges) der Freimaurerei im Hinblick auf die Ausgestaltung
| |
− | der Rituale, die organisatorischen Strukturen des Bundes, seine Gradhierarchien sowie seine
| |
− | konkreten Aufgaben und Zwecke. Dies gilt in einer durch harmonisierende Formeln und
| |
− | Interventionen freimaurerischer Leitungsorgane freilich oft überdeckten Weise auch noch
| |
− | für die Freimaurerei der Gegenwart.
| |
− | Um es mit einem Wort von Monika Neugebauer-Wölk zu sagen: »Freimaurerei war
| |
− | immer ein Raum, in dem vieles möglich war.«5 In diesem Raum entwickelten sich mannigfaltige
| |
− | Spielarten des Bundes, teils ethisch-moralischer, teils esoterischer, teils christlicher
| |
− | Orientierung, teils mit einfachen, teils mit weit aufgefächerten Gradstrukturen. Reformen
| |
− | standen immer wieder auf der Tagesordnung, und im Grunde genommen befindet sich die
| |
− | Freimaurerei bis heute auf der Suche nach ihrer eigenen Identität.
| |
− | 5 Neugebauer-Wölk, Monika: »Einführung« zu Maurice, Florian: Freimaurerei um 1800, a.a.O., S. XVIII.
| |
− | 155
| |
− | Da ist zweitens der von Anfang an in Verbergen und Mitteilen, Verschweigen und Ausplaudern
| |
− | gespaltene halböffentliche Charakter der Freimaurerei.6 Trotz ihres Rückzugs in
| |
− | die Sphäre des Geheimnisvollen fand Freimaurerei stets unter Beteiligung der Öffentlichkeit
| |
− | statt.
| |
− | Hinweise auf Logentreffen in der Londoner Presse, Theaterbesuche und Prozessionen
| |
− | in maurerischer Bekleidung, Publikationen in großer Zahl, Abbildungen prominenter Mitglieder
| |
− | in masonischem Outfit waren schon bald nach Gründung der Londoner Großloge
| |
− | an der Tagesordnung, und im Grunde genommen ist dies ja auch bis heute so geblieben.
| |
− | Allerdings: Es sind nicht mehr deutsche Kaiser und amerikanische Präsidenten, deren Porträts
| |
− | die Öffentlichkeit als Ausdruck korporativen Stolzes erreichen sollen, sondern beispielsweise
| |
− | Abbildungen hoher Würdenträger der VGLvD in Schwarz mit Schurz in der
| |
− | Zeitschrift »Focus« oder einer Gruppe gleichfalls schurzbekleideter Berliner Freimaurer mit
| |
− | einem Anflug von »Wir sind die glorreichen Fünf« im Berliner Tagesspiegel.
| |
− | Auch freimaurerische Prozessionen mit voller Bekleidung und hohem Hut sind nicht
| |
− | aus der Öffentlichkeit verschwunden. Sie finden zwar nicht mehr in natura statt, doch
| |
− | sie sind in Fernsehfilmen zu sehen, wie etwa in der von Freimaurern mitgestalteten ARDProduktion
| |
− | »Tempel, Logen, Rituale«, die die Brüder wiederum in Schwarz, wiederum mit
| |
− | Schurz und hohem Hut beim Einzug in die Krypta des Völkerschlachtdenkmals zeigt.
| |
− | Schauen wir einen Augenblick von einem Ort außerhalb der Freimaurerei auf dieses Bild:
| |
− | Freimaurer beim feierlich-pathetischen Einzug in ein Monument der Geschichte. Da stellt
| |
− | sich dann doch die Frage, ob für so manche Verschwörungsprojektion, die von den Freimaurern
| |
− | beklagt wird, wirklich immer nur die verantwortlich sind, die den Freimaurern den Hang
| |
− | zur Verschwörung unterstellen, oder ob nicht auch diejenigen zur Zählebigkeit alter Mythen
| |
− | beitragen, die vorsätzlich oder leichtfertig Stoff und Ankerplätze dafür zur Verfügung stellen.
| |
− | Zu den optisch wahrnehmbaren Demonstrationen der Freimaurerei kam seit ihrer Begründung
| |
− | als moderner Assoziation ein reichhaltiges Schrifttum hinzu. Um dem »Geheimnis
| |
− | der Freimaurerei« selbst auf die Spur zu kommen, haben die Freimaurer immer
| |
− | außerordentlich viel publiziert, gedruckte Texte waren ein wesentliches Medium ihrer
| |
− | Selbstverständigung, und die Öffentlichkeit war meist als Leser dabei.
| |
− | Im April 1785 – dies und das Folgende nach Michael Voges7 – richtete die angesehene
| |
− | Jenaische Allgemeine Litteratur Zeitung eine eigene Sparte für die Besprechung freimaurerischer
| |
− | Schriften ein. Die Herausgeber begründeten ihre Entscheidung damit, dass
| |
− | »die innern Angelegenheiten des ehrwürdigen Ordens der Freymaurer seit einiger
| |
− | Zeit eine ganz besondere Publicität bekommen haben, und mehr als eine Ihrer öffentlichen
| |
− | Schriften … das Publikum … gleichsam auffordern, Theil an ihren Fehden
| |
− | über das Wesentliche ihres Ordens zu nehmen«.
| |
− | Schon ein Jahr zuvor hatte die Berliner Allgemeine Deutsche Bibliothek ihr bisheriges
| |
− | Schweigen in freimaurerischen Dingen gebrochen und zwar mit einer deutlich kritischen
| |
− | Tendenz:
| |
− | 6 Voges, Michael: Aufklärung und Geheimnis. Untersuchungen zur Vermittlung von Literatur- und Sozialgeschichte
| |
− | am Beispiel der Aneignung des Geheimbundmaterials im Roman des späten 18. Jahrhunderts,
| |
− | Tübingen 1987, S. 82.
| |
− | 7 Voges, Michael: Aufklärung und Geheimnis, a.a.O., S. 126.
| |
− | 156
| |
− | »Wir haben uns bisher enthalten, eigentliche Freymaurerschriften in unserer Bibliothek
| |
− | anzuführen … Aber es fängt doch an nöthig zu werden, von einigen dieser
| |
− | Schriften zu reden, besonders von solchen, worin mit unerhörter Unverschämtheit
| |
− | Unsinn und Aberglauben unter dem Scheine von großen Geheimnissen fortgepflanzt,
| |
− | und noch dazu Katholicismus unter einer verdeckten … geheimnißvollen
| |
− | Sprache empfohlen wird.«
| |
− | Zu den Essays und Freimaurerreden, zu den Texten der Lessing, Knigge, Herder und Fichte
| |
− | kamen bald die belletristischen Schriften hinzu, die Freimaurer- und Geheimbundromane,
| |
− | die Außenstehende an der emotionalen Wirkung der Rituale und an den mit den
| |
− | höheren Graden verbundenen subjektiven Selbstwertsteigerungen der Brüder teilnehmen
| |
− | ließen.
| |
− | Ein Beispiel, das ich wiederum Michael Voges verdanke8:
| |
− | 1782 veröffentlichte August Siegfried Friedrich von Goué einen Freimaurerroman mit dem
| |
− | Titel »Ueber das Ganze der Maurerey« und dem bezeichnenden Untertitel »Zum Ersatz aller
| |
− | bisher von Maurern und Profanen herausgegebenen unnützen Schriften«.
| |
− | Einer der Helden des Romans, Stralenberg, schreibt an einen Freund:
| |
− | »Aber die Aufnahme ist so schön, so feierlich, daß ich drey Tage gebrauchte mich in
| |
− | meine vorige Fassung zurück zu setzen … Die Maurerey muß gut seyn, und erhabene
| |
− | Vorwürfe haben, das beweiset die Meister=Aufnahme.«
| |
− | Sein Freund Fürstenberg sekundiert nach der Einweihung in einen Hochgrad:
| |
− | »Als ich mit dem Ringe zurück kam, mein lieber Stralenberg, o! wie feierten mich die
| |
− | hiesigen Brüder der untern Stufen. Sie tragen eine wahre Verehrung für diesen Ring,
| |
− | und wenn mich der Kayser in den Grafen-Stand erhoben hätte, so wäre ich dadurch
| |
− | das in ihren Augen nicht geworden, wozu ich in Frankfurt gestiegen bin.«
| |
− | Eine besondere Kategorie bildeten und bilden die »Verräterschriften«, oder besser vielleicht
| |
− | »Enthüllungsschriften« ehemaliger Freimaurer von Samuel Pritchard über Leo Taxil bis hin zu
| |
− | Burkhardt Gorissen. Diese Schriften versuchen nach dem Motto »Ich bin dabei gewesen, und
| |
− | ich weiß, wovon ich rede« den Anschein authentischer Erfahrung zu vermitteln, und wenn
| |
− | sich heutzutage kritische, skeptische oder amüsierte Beobachter der Freimaurerei im »Focus«
| |
− | oder in der FAZ auf Gorissens Buch berufen, so folgen sie einem ebenso alten wie naheliegenden
| |
− | anti-masonischen Enthüllungsschema.
| |
− | Von welcher Seite man es betrachtet: Die Freimaurerei war nie ein Geheimbund im strikten
| |
− | Sinne, aber sie war auch nie lediglich ein schlicht geselliger Verein oder ein Service-Club
| |
− | vom Lions-Rotary-Typ. Sie war immer eine Assoziation zwischen Geheimbund und geselliger
| |
− | Institution. Das bedeutete, dass sie im Inneren auf einer breiten Skala unterschiedlicher Gewichte
| |
− | von Geheimnis und Geselligkeit gestaltet werden konnte und auf der gleichen Skala
| |
− | 8 Ebenda, S. 88f.
| |
− | 157
| |
− | auch von außen eingeschätzt wurde. Für die Freimaurerei galt nicht nur in Bezug auf ihre
| |
− | rituellen, konzeptionellen und organisatorischen Inhalte, sondern auch im Hinblick auf die
| |
− | relativen Gewichte von Geheimnis und Öffentlichkeit – sei es bei der inneren Gestaltung, sei
| |
− | es bei der Betrachtung von außen – immer ein Element von »Wie es Euch gefällt«.
| |
− | Und dennoch gab und gibt es – dies ist mein dritter Gesichtspunkt in diesem Kontext
| |
− | – trotz Präsenz in der Öffentlichkeit und trotz aller Inkonsequenz bei seiner Handhabung
| |
− | stets das sowohl von den Freimaurern selbst als auch von Außenstehenden – Freunden wie
| |
− | Gegnern – reklamierte und proklamierte freimaurerische Geheimnis.
| |
− | Weder lassen die Freimaurer davon und flüchten notfalls in Formeln wie die Freimaurerei
| |
− | hat kein Geheimnis, die Freimaurerei ist ein Geheimnis, noch wollen die Gegner der
| |
− | Freimaurerei darauf verzichten, die den Freimaurern in ihren extremen Verschwörungsvarianten
| |
− | vorhalten, dass es gerade die vermeintliche Offenheit der Freimaurerei ist, die ihren
| |
− | Charakter als geheime Verschwörung verbergen soll, ihn aber gerade hierdurch – wie die
| |
− | Verschwörungs«theoretiker« immer wieder zu wissen meinen – erst recht klar erkennbar
| |
− | macht.
| |
− | Das maurerische Geheimnis ist vor allem das Geheimnis der verschwiegenen Rituale, und
| |
− | nicht nur die positiven Selbstzuschreibungen der Freimaurerei, auch alle Formen von Kritik,
| |
− | Ablehnung und Verurteilung machen sich am Geheimnis der Rituale fest:
| |
− | • Für die Kirchen verhüllen sich in den Ritualen Elemente einer alternativen Religiosität,
| |
− | wenn nicht gar einer anderen Religion, zumindest aber der Ungeist des religiösen Relativismus.
| |
− | • Für die Vertreter der Verschwörungsmythen bietet der geheime Raum des Rituals den Rahmen
| |
− | für das Aushecken mannigfaltiger Verbrechen und Anschläge gegen die gesellschaftliche
| |
− | Ordnung, gegen Volk und Staat.
| |
− | • Für den Volksaberglauben konstituiert das Ritual die besser strikt zu meidende Welt des
| |
− | Makaber-Gruseligen, in der vielleicht gar Satanisches im Spiele ist.
| |
− | • In der Sicht intellektueller Kritiker kaschieren Ritual und Geheimnis Ansprüche auf
| |
− | Selbsterhöhung
| |
− | und persönliches symbolisches Kapital, wenn sie nicht gar als Ausdruck
| |
− | des Lächerlichen gelten, in vielen Variationen der Charakterisierung durch den Philosophen
| |
− | Ernst Bloch, Freimaurerei sei nichts als eine »wahnhaft gesittete Mummerei«.9
| |
− | Auf dem skizzierten Hintergrund
| |
− | • der inhaltlichen Unbestimmtheit der Freimaurerei,
| |
− | • ihres halböffentlichen Charakters und
| |
− | • des dennoch mit ihr verbundenen Mythos vom Geheimnis
| |
− | vollzog sich nun nicht nur die Geschichte der Freimaurerei und ihrer Verurteilungen, sondern
| |
− | – gleichsam als Ausdruck eines historischen Pingpong-Spiels – auch die Geschichte der
| |
− | Erwiderungen und Apologien, mit der die Freimaurer auf Angriffe und Verurteilungen reagierten.
| |
− | 9 Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung, Zweiter Band, S. 838.
| |
− | 158
| |
− | 1770 fasste eine zunächst anonym erschienene, wiederholt aufgelegte kleine Schrift von
| |
− | Johann August von Starck unter dem Titel »Apologie des Ordens der Frey Maurer« die
| |
− | Antworten der Freimaurerei auf folgende – im Prinzip bis heute unverändert gebliebene –
| |
− | Hauptpunkte der Kritik zusammen:10
| |
− | • Das Geheimnis der Freimaurer als solches widerspräche der Aufklärung, denn was nützlich
| |
− | und gut sei, könne offen und klar dargelegt werden,
| |
− | • die Freimaurerei bilde einen Staat im Staate (statum in statu),
| |
− | • der Eid der Maurer sei schrecklich, er schränke durch die angedrohten, unmenschlichen
| |
− | Sanktionen die natürliche Freiheit des Menschen ein,
| |
− | • das Abfordern eines Eides sei zudem ein Monopol der Obrigkeit, und die Freimaurerei verbreite
| |
− | unter seinem Schutz eine gefährliche Gleichgültigkeit gegenüber Nation und Religion,
| |
− | • schließlich sei der Orden der Freimaurer ohne wahren Nutzen und daher überflüssig, es
| |
− | sei denn, er betreibe unerlaubte Zusammenkünfte, die einen Herd für Verschwörungen
| |
− | bilden könnten.
| |
− | Doch auch dies gilt bis heute: Die Freimaurer litten nicht nur an der sie umgebenden
| |
− | Mythologie, der faszinierenden Aura des Geheimen, sie profitierten auch davon (Michael
| |
− | Voges). Denn die Mythen hielten die Freimaurerei im Gespräch, führten ihnen – bis hin zu
| |
− | den Dan-Brown-Fans – viele Neugierige zu und veranlassten die Maurer selbst, immer wieder
| |
− | darüber nachzudenken, ob hinter ihrem Orden nicht doch mehr stecke, ob das Geheimnis
| |
− | nicht doch einen anderen Inhalt habe als bisher in seiner schlichten englischen Ausformung
| |
− | zu erkennen war.
| |
− | Im Laufe der Zeit wurde das Geflecht der antimasonischen Mythen immer dichter.
| |
− | Doch immer wieder waren es Auffassungen, die aus der Freimaurerei selbst hervorgingen,
| |
− | die den Stoff dazu lieferten:
| |
− | Wenn beispielsweise Herder in seiner Korrespondenz mit Schröder an der Wende zum
| |
− | 19. Jahrhundert die beiden Grundvoraussetzungen einer von ihm mitgetragenen Reform
| |
− | der Freimaurerei formuliert – nämlich Wiederherstellung des »alten Rituals in seiner reinsten
| |
− | Gestalt« und eine angemessene rituelle Praxis – und seinen Brief dann mit den Worten
| |
− | schließt
| |
− | »Die geheimen Gesellschaften sind bisher ein fressendes Gift, Höhlen des Betrugs,
| |
− | der Halbwisserei und … eines despotischen, kleingeistigen Egoismus gewesen! Oh,
| |
− | daß eine (von ihnen – nämlich die alte englische Form, H.-H.H.) in allem Glanz der
| |
− | Redlichkeit und Wahrheit Beispiel und Vorbild werde«,
| |
− | so argumentiert er gegen die damals aktuellen Formen der Freimaurerei nicht anders als viele
| |
− | antimasonische Schriften.11
| |
− | Die eigenen Mythen der Freimaurer sollten sich allerdings in den folgenden Jahrzehnten
| |
− | im öffentlichen Raum mehr und mehr verselbstständigen und schließlich die Freimaurerei
| |
− | 10 Apologie des Ordens der Frey Maurer, von dem Bruder *** (Johann August von Starck), Philadelphia
| |
− | 1778, S. 30–83.
| |
− | 11 Voges, Michael: Aufklärung und Geheimnis, a.a.O., S. 209. Herder-Zitat ebenda.
| |
− | 159
| |
− | von außen überholen: »Das Geheimnis eröffnete eine Spirale der Spekulation und Verdächtigung,
| |
− | die tendenziell ohne Ende war.«12
| |
− | Werfen wir zum Schluss dieses Abschnitts noch einmal einen Blick auf die verschiedenen
| |
− | Freimaurer-Images oder Außenbewertungen der Freimaurerei, mit denen wir es heutzutage
| |
− | in Deutschland zu tun haben, und auf die die deutschen Freimaurer reagieren
| |
− | sollten, wenn auch auf verschiedene, der jeweiligen Herausforderung angemessene Weise.
| |
− | Vielleicht lassen sich für diese Images acht wichtige Vertreter-Gruppen unterscheiden:
| |
− | • Da sind erstens die Anhänger alter und neuer Verschwörungsmythen, die das »Objekt ihrer
| |
− | Begierde« – die bösen Freimaurer und ihre Bundesgenossen – keinesfalls verlieren wollen
| |
− | und mit denen man weder diskutieren kann noch soll.
| |
− | • Da sind zweitens die nicht wenigen Menschen, die auf irgendeine Weise immer noch
| |
− | Denkvorstellungen und Befürchtungen des Volksaberglaubens anhängen, woraus dann
| |
− | eine diffuse Abwehrhaltung und Berührungsangst gegenüber der Freimaurerei resultiert:
| |
− | Ein Wohltätigkeitsbuffet des Rotary-Clubs? »Prächtig, da gehen wir hin.« Eine ebenso
| |
− | wohltätige Reibekuchenbude der Freimaurer? »Nein danke, lieber nicht, man kann
| |
− | schließlich nicht wissen, was die da alles hineinbacken.« Da gilt es für die Freimaurer nur,
| |
− | mit schlichter, bürgerlicher Normalität zu überzeugen.
| |
− | • Da sind drittens die Kirchen, die – wie die katholische – entweder wissen, aber nicht mögen,
| |
− | wie die Freimaurerei es mit der Religion hält, oder die es – wie die evangelische – bei
| |
− | allem Wohlwollen doch noch etwas genauer wissen will: Hier sollte die deutsche Freimaurerei
| |
− | auf redlich-seriöse Weise gesprächsbereit sein, zuvor allerdings das Verhältnis zwischen
| |
− | Freimaurerei und Religion in ihren eigenen Kolonnen sorgfältiger klären.
| |
− | • Da ist viertens die Wissenschaft, die sich mehr und mehr und mehr mit der Freimaurerei
| |
− | beschäftigt und die Unterstützung verdient, wie und wo immer Freimaurer dazu in der
| |
− | Lage sind. Die externe Freimaurerforschung ist das Gewissen der Freimaurerei, weil sie
| |
− | hilft, Eigenverdunkelungen zu überwinden und sich selbst besser zu erkennen.
| |
− | • Da sind fünftens die Vertreter der Politik, des Staates und der Kommunen, die der Freimaurerei
| |
− | meist wohlgesonnen sind und deren redliche und offene Gesprächspartner
| |
− | Großlogen und Logen zu sein haben.
| |
− | • Da sind sechstens die Medien, in denen angemessen vertreten zu sein, Freimaurer sich auf
| |
− | seriöse Weise bemühen sollten, wobei im Hinblick auf die Welt der bunten und bewegten
| |
− | Bilder Zurückhaltung am Platze ist. Arkandisziplin heute sollte nicht zuletzt bedeuten,
| |
− | sich in der Öffentlichkeit nicht lächerlich zu machen.
| |
− | • Da ist siebtens die intellektuelle, die kulturelle Öffentlichkeit, die Öffentlichkeit gesellschaftlich
| |
− | relevanter Diskurse. Hier sollten sich die Freimaurer um gehaltvolle Präsenz
| |
− | bemühen, denn wenn sie etwas zu sagen haben, dann sollten sie es auch sagen.
| |
− | • Schließlich und achtens ist da so etwas wie die Gesellschaft im Allgemeinen, die u.a. aus
| |
− | den Menschen zusammengesetzt ist, die in die Logen kommen und fragen, wer die Freimaurer
| |
− | sind und was sie zu sagen haben, und die vielleicht in den Logen als zukünftige
| |
− | Brüder mittun wollen.
| |
− | 12 Ebenda, S. 129.
| |
− | 160
| |
− | Nicht zuletzt in der Kommunikation mit diesen Menschen käme es darauf an, sich der eigenen
| |
− | maurerischen Identitäten klarer bewusst zu werden und ein deutliches Bild davon zu
| |
− | vermitteln, was Freimaurerei ist und was sie nicht ist. Gerade die »Suchenden« müssen rechtzeitig
| |
− | erkennen können, dass es unterschiedliche Formen und Verständnisse von Freimaurerei
| |
− | gibt, die der Redlichkeit halber nicht verwischt werden sollten und die nicht erst nach
| |
− | der Aufnahme sichtbar werden dürfen.
| |
− | 2.2 Freimaurerei und Internet
| |
− | Keine Analyse der Gegenwartsfreimaurerei und der in ihr und um sie herum geführten
| |
− | Diskurse kann auf eine Beschäftigung mit dem Internet verzichten. Das Internet hat die
| |
− | Welt der Freimaurerei zutiefst verändert, wenn auch Zweifel erlaubt sein mögen, ob Brüder,
| |
− | Logen und Großlogen in ihrer Gesamtheit dies bereits hinreichend wahrgenommen
| |
− | haben.
| |
− | Sechs Gesichtspunkte scheinen mir von besonderer Bedeutung:
| |
− | 1. Durch das Internet kam es zu einer verstärkten, förmlich explosionsartig gesteigerten Präsenz
| |
− | der Freimaurerei in der Öffentlichkeit über die Homepages von Logen und Großlogen,
| |
− | der Forschungsloge »Quatuor Coronati«, des »Netzwerks Freimaurerforschung«
| |
− | und so weiter und so fort. Diese umfangreiche und ständig weiter zunehmende Internetpräsenz
| |
− | eröffnet mannigfaltige, völlig neue Kommunikationsmöglichkeiten zwischen
| |
− | Freimaurerei und Öffentlichkeit.
| |
− | 2. Durch das Internet entwickelte sich ein neuer Mechanismus der Mitgliederrekrutierung.
| |
− | Alte Mechanismen der Ansprache von Kandidaten für eine zukünftige Logenmitgliedschaft
| |
− | über Verwandte und Bekannte, oder auch das Ausfindigmachen von Interessenten
| |
− | durch traditionelle »Schleppnetze« wie Annoncen in der Tagespresse und öffentliche
| |
− | Veranstaltungen sind vom »Superschleppnetz Internet« wohl endgültig abgelöst worden.
| |
− | Logenberichte weisen inzwischen auf eine Internet-Rekrutierungsquote von bis zu 90
| |
− | Prozent hin. Dies kann zu Mengenwachstum, Qualitätssteigerung und Verjüngung der
| |
− | Mitgliederstruktur der Logen beitragen – allerdings nur dann, wenn es gelingt, die zweifellos
| |
− | auch angezogenen obskuren Interessenten rechtzeitig als solche zu erkennen und als
| |
− | Kandidaten auszuscheiden.
| |
− | 3. Das Internet eröffnet neue Möglichkeiten für die Kommunikation unter Brüdern – national
| |
− | und weltweit – und erhöht auf diese Weise die Dichte der intern geführten Freimaurerdiskurse.
| |
− | Es eröffnet freilich auch neue Möglichkeiten, sich in der Anonymität des
| |
− | Netzes unbrüderlich zu beschimpfen und lässt darüber nachdenken, wie innerhalb der
| |
− | Freimaurerei Stil und Ethik der Führung von Diskursen – hierzu weiter unten mehr – verbessert
| |
− | werden können.
| |
− | 4. Durch das Internet sind die Informationen über die Freimaurerei ins völlig Unüberschaubare
| |
− | angewachsen, und zwar durch Texte sowohl von Freimaurern und Nichtfreimaurern
| |
− | als auch von ehemaligen Freimaurern, womit ein neuer Typus von »Verräter-
| |
− | Publikationen« entstanden ist. Die Internet-Darstellungen zur Freimaurerei beinhalten
| |
− | seriöse Informationen, sie transportieren aber auch masonisches Halbwissen sowie alte
| |
− | und neue Fantasie- und Verschwörungswelten, auf die die Freimaurer und ihre Institutionen
| |
− | angemessen zu reagieren haben.
| |
− | 161
| |
− | 5. Durch das Internet ist die Freimaurerei auf noch nie da gewesene Weise der Macht der
| |
− | bunten
| |
− | und bewegten Bilder ausgesetzt. Freimaurerfilme im You-Tube-Format – vor allem
| |
− | solche antimasonischen Inhalts – geistern durch das Netz und ziehen Betrachter an. Ist
| |
− | das schon problematisch genug, so wird es nur selten besser, wenn Freimaurer mit Filmen
| |
− | darauf zu reagieren versuchen. Film ist ein »ritualsüchtiges« Medium, das mit großer Vorsicht
| |
− | gehandhabt werden sollte und das selten so gut gelingt wie das großartige Gespräch
| |
− | mit dem »maurerischen Urgestein« Rolf Appel. Ich wiederhole mit Nachdruck: Sich in
| |
− | und vor der Öffentlichkeit nicht zu blamieren, – das vor allem ist heutzutage das Gebot
| |
− | freimaurerischer Arkandisziplin.
| |
− | 6. Doch ob mit oder ohne Bilder: Nicht zuletzt bietet das Internet in einem Ausmaß ohne
| |
− | jede historische Präzedenz Informationsmöglichkeiten über die freimaurerischen Rituale.
| |
− | Mit wenig Zeitaufwand für Recherchen lassen sich die Texte vieler Rituale unterschiedlicher
| |
− | Systeme und Grade ausfindig machen und zwecks Speicherung auf der Festplatte
| |
− | des eigenen Computers »downloaden«.
| |
− | Insbesondere:
| |
− | Wenn Außenstehende sich detailliert über Rituale informieren können und wenn sie mit
| |
− | Freimaurern darüber kommunizieren wollen, dann benötigen die freimaurerischen Gesprächspartner
| |
− | nicht nur mehr Wissen über Inhalt und Funktion von Ritualen in Freimaurerei,
| |
− | Kultur und Gesellschaft. Erforderlich ist auch eine neue Schwerpunktsetzung im Umgang
| |
− | mit dem Ritual: Anstelle einer Begriffswelt, die um »Arkandisziplin« und »Geheimnis«
| |
− | angesiedelt ist, hätte eine Begriffswelt zu treten, die um Begrifflichkeiten wie Privatheit, Intimität,
| |
− | Diskretion und Schutz des persönlichen Vertrauens kreist.
| |
− | Insgesamt hat das Internet die Ausgangslage für den Diskurs mit der Öffentlichkeit gründlich
| |
− | verändert. Einerseits muss mit einem Aufblühen alter und neuer Verschwörungs- und
| |
− | Fantasy-Welten gerechnet werden. Andererseits kann – zumindest partiell – von einer besser
| |
− | informierten Öffentlichkeit ausgegangen werden, und die Kommunikation zwischen innen
| |
− | und außen gewinnt an Niveau. Dies setzt allerdings, wenn es Gewinn bringen soll, in jedem
| |
− | Fall den besser informierten Freimaurer voraus.
| |
− | 2.3 Der Freimaurerdiskurs der Kirchen
| |
− | Ohne Zweifel hat sich das Interesse der Kirchen an der Freimaurerei in der jüngsten Vergangenheit
| |
− | belebt. Dies gilt auch für die katholische Kirche, die ihre Positionen gegenüber der
| |
− | Freimaurerei seit den 80er Jahren zwar kaum revidiert hat13, aber doch daran interessiert ist,
| |
− | insbesondere in ihren Akademien mit Vertretern des Freimaurerbundes ins Gespräch zukommen.
| |
− | Für das Interesse der evangelischen Kirche sprechen vor allem die Aktivitäten des
| |
− | Zentrums für Weltanschauungsfragen (ZWF) in Berlin, dessen Referent für Sekten (!), Mathias
| |
− | Pöhlmann, zwei auch in Freimaurerkreisen geschätzte Schriften veröffentlicht hat, in de-
| |
− | 13 Ausführlicher dazu Höhmann, Hans-Hermann: Freimaurerei in Deutschland: Ein Überblick im Kontext
| |
− | von Geschichte, internationalen Entwicklungen und freimaurerischen Konzeptionen, in diesem
| |
− | Band, S. 12–50.
| |
− | 162
| |
− | nen er sich darum bemüht, der Freimaurerei gerecht zu werden.14 Im Dezember 2006 führte
| |
− | das ZWF einen »Studientag« zur Freimaurerei durch, an dem u.a. Mathias Pöhlmann und
| |
− | ich selbst als Referenten teilnahmen. In der Zeitschrift des Zentrums wurden die Beiträge
| |
− | publiziert.15 Die Erfahrungen der Diskurse zeigen, wie sehr es erforderlich ist, das Verhältnis
| |
− | der Freimaurerei zur Religion aus der Sicht der deutschen Logen deutlich zu machen und
| |
− | die dabei zwischen den deutschen Großlogen bestehenden Unterschiede nicht auszublenden.
| |
− | Ausführlicher bin ich hierauf im nächsten Beitrag dieses Bandes eingegangen, der den
| |
− | Religionsdiskurs der Freimaurer in Deutschland aus historischer und gegenwärtiger Perspektive
| |
− | behandelt.16
| |
− | 2.4 Der Freimaurerdiskurs der Wissenschaft und seine Bedeutung für
| |
− | das Verhältnis zwischen Freimaurerei und Gesellschaft
| |
− | Ursprünglich waren es meist Freimaurer gewesen, die sich der freimaurerischen Forschung
| |
− | verschrieben hatten und zwar in allen Ländern, in denen sich der Bund in seinen unterschiedlichen
| |
− | Formen entfalten konnte. Auf den weiteren internationalen Kontext kann hier
| |
− | allerdings nicht eingegangen werden. Eine kommentierte Übersicht dazu hat Ludwig Hammermayer
| |
− | gegeben17, und hinzuweisen ist in diesem Kontext auch auf die Beiträge zur 2. Internationalen
| |
− | Konferenz der Wissenschaftlichen Kommission zur Erforschung der Freimaurerei
| |
− | (Innsbruck, 19.–21 Mai 1995) zum Thema »Freimaurerische Historiographie im 19.
| |
− | und 20. Jahrhundert«.18 Für die Geschichte der freimaurerischen Forschung in Deutschland
| |
− | ist eine ganze Anzahl von Namen zu nennen, die ihren Rang auch aus heutiger Sicht bewahren
| |
− | konnten. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sei hingewiesen auf Georg Kloß, Christian
| |
− | Carl von Nettelbladt, Josef Findel, Adolf Schiffmann, Ludwig Keller, Wilhelm Begemann,
| |
− | August Wolfstieg, Friedrich Kneisner, Ferdinand Runkel, Eugen Lennhoff, Oskar Posner
| |
− | und Adolf Pauls. Diese Brüder waren aber nicht nur Forscher, sie kamen aus unterschiedlichen
| |
− | freimaurerischen Systemen, und sie hatten auch bestimmte Einstellungen dazu, was
| |
− | das »Wesen« der Freimaurerei sei und wie man sie zu gestalten habe. So blieb es nicht aus,
| |
− | dass ihre Auffassungen des Öfteren voneinander abwichen und es zu gegenseitigen Vorwürfen
| |
− | der Einseitigkeit, der Voreingenommenheit, ja der Unwissenschaftlichkeit kam. Modern
| |
− | gesagt, die Autoren stellten sich wechselseitig unter »Ideologieverdacht«. Ein geradezu klassisches
| |
− | Beispiel war der Konflikt um Grundpositionen freimaurerischer Geschichtsdeutung
| |
− | 14 Pöhlmann, Mathias: Verschwiegene Männer. Freimaurer in Deutschland, EZWTexte 182, Berlin 2008;
| |
− | ders.: Freimaurer. Wissen was stimmt, Freiburg/Basel/Wien 2008.
| |
− | 15 Pöhlmann, Mathias/Höhmann, Hans-Hermann: Zwischen Geheimnis und Öffentlichkeit. Freimaurerei
| |
− | in Deutschland – von außen und innen betrachtet, in: Materialdienst. Zeitschrift für Religions- und
| |
− | Weltanschauungsfragen, 70. Jg., H. 6/2007, S. 205–222.
| |
− | 16 Höhmann, Hans-Hermann: »Von Gott und der Religion«. Zum Religionsdiskurs in der deutschen Freimaurerei,
| |
− | in diesem Band, S. 179–197.
| |
− | 17 Hammermayer, Ludwig: Zur Geschichte der europäischen Freimaurerei und der Geheimgesellschaften
| |
− | im 18. Jahrhundert, in: Éva H. Balázs, Ludwig Hammermayer, Hans Wagner und Jerzy Wojtowicz: Beförderer
| |
− | der Aufklärung in Mittel- und Osteuropa. Freimaurer, Gesellschaften, Clubs, S. 17ff.
| |
− | 18 Helmut Reinalter (Hrsg.): Freimaurerische Historiographie im 19. und 20. Jahrhundert. Forschungsbilanz
| |
− | – Aspekte – Problemschwerpunkte, Bayreuth 1996.
| |
− | 163
| |
− | zwischen Keller und Begemann, in den auch Wolfstieg eingriff und den Monika Neugebauer-
| |
− | Wölk im Kontext ihres Beitrags zur Hallenser QC-Arbeitstagung behandelt hat.19
| |
− | Nun ist die Beeinflussung von Forschungsresultaten durch die »kognitiven Modelle«
| |
− | der Wissenschaftler ein allgemeines Phänomen der Forschung, insbesondere in den Geistesund
| |
− | Sozialwissenschaften, wo individuelle und gruppenspezifische Bindungen an Denkschulen
| |
− | und Paradigmensysteme eher die Regel als die Ausnahme sind. Auch Freimaurerforscher,
| |
− | die nicht dem Bund angehören, können miteinander in den wissenschaftlichen
| |
− | Streit geraten, wie in jüngerer Zeit beispielsweise die Auseinandersetzung um die Thesen des
| |
− | amerikanischen Germanisten W. Daniel Wilson zur Mitgliedschaft Goethes im Freimaurerund
| |
− | im Illuminatenbund gezeigt hat.20
| |
− | Für Forscher, die dem Bund angehören, besteht jedoch eine spezifische Versuchung,
| |
− | Analyse und Wertung zu vermischen und subjektiv Normatives (»So sehe ich die Freimaurerei
| |
− | «) als objektive Beschreibung der Wirklichkeit (»So ist die Freimaurerei«) auszugeben.
| |
− | Dieses »Ineinander-verwoben-Sein« analytischer und normativer Sichtweisen bei
| |
− | Darstellungen durch Freimaurer ist der externen, d.h. der von Nichtfreimaurern betriebenen
| |
− | Forschung natürlich nicht verborgen geblieben. Die externen Forscherinnen und
| |
− | Forscher erkennen zwar an, dass der internen freimaurerischen Forschung durchaus wissenschaftlicher
| |
− | Wert zukommt. Die Forschungsergebnisse gelten aber oft als so sehr von
| |
− | den freimaurerischen Standorten der Autoren beeinflusst, als dass sie generell als verlässlich
| |
− | eingeschätzt werden könnten. (Dieselbe Standortgebundenheit gilt allerdings meist auch
| |
− | für das freimaurerkritische Schrifttum, selbst, wenn es sich wissenschaftlich ausgibt.)
| |
− | Als sich seit der Mitte des 20. Jahrhunderts immer mehr externe Forscher, vor allem
| |
− | Historiker,
| |
− | mit der Erforschung der Freimaurerei beschäftigten und/oder sie in weitere
| |
− | Kontexte ihrer Untersuchungen rückten, bekam die freimaurerische Forschung einen neuen
| |
− | Auftrieb. Ein wesentlicher Anstoß kam von Reinhart Koselleck, dem in Bielefeld lehrenden
| |
− | Neuhistoriker, der es in seiner, zuerst 1959 erschienenen bahnbrechenden Studie »Kritik
| |
− | und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt« unternommen hatte, die
| |
− | Freimaurerlogen in den bürgerlichen Emanzipationsprozess des 18. Jahrhunderts einzuordnen
| |
− | und die bisher nur unzureichend berücksichtigte gesellschaftliche und politische Funktion
| |
− | der Freimaurerlogen herauszuarbeiten.21 Die Ansätze Kosellecks sind inzwischen von
| |
− | anderen Wissenschaftlern weitergeführt, modifiziert und korrigiert worden. Neue Fokussierungen
| |
− | kamen hinzu. Ludwig Hammermayer und Monika Neugebauer-Wölk, selbst durch
| |
− | grundlegende Beiträge zur Freimaurerforschung ausgewiesen, haben wichtige Aspekte und
| |
− | Entwicklungsstufen der Geschichte der Freimaurerforschung beschrieben.22 Heute erstreckt
| |
− | 19 Neugebauer-Wölk, Monika: Esoterik als Element freimaurerischer Geschichte und Geschichtsforschung,
| |
− | in: Quatuor Coronati Jahrbuch 2003, S. 12ff.
| |
− | 20 Wilson, Daniel W.: Unterirdische Gänge: Goethe, Freimaurerei und Politik, Göttingen 1999. Zur Kritik
| |
− | an Wilson: Joachim Bauer, Gerhard Müller: »Des Maurers Wandeln, es gleicht dem Leben«. Tempelmaurerei,
| |
− | Aufkärung und Politik im klassischen Weimar, Jena 2000.
| |
− | 21 Koselleck, Reinhart: Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, 2. Auflage,
| |
− | Freiburg/München 1969, insbes. S. 55ff.
| |
− | 22 Hammermayer, Ludwig: Zur Geschichte der europäischen Freimaurerei und der Geheimgesellschaften
| |
− | im 18. Jahrhundert, a.a.O, S. 17ff.; Monika Neugebauer-Wölk: Die Geheimnisse der Maurer: Plädoyer
| |
− | für die Akzeptanz des Esoterischen in der historischen Aufklärungsforschung, in: Quatuor Coronati
| |
− | Jahrbuch 39/2002, S. 7ff.; dies.: Esoterik als Element freimaurerischer Geschichte und Geschichtsforschung,
| |
− | in: Quatuor Coronati Jahrbuch 40/2003.
| |
− | 164
| |
− | sich das Interesse der Forschung auf ein breites Spektrum wissenschaftlicher Disziplinen.
| |
− | Nicht nur Historiker, sondern auch Literaturwissenschaftler, Religionswissenschaftler, Ritualforscher,
| |
− | Theaterwissenschaftler, Kommunikationsforscher, Politologen und Soziologen
| |
− | entdeckten im Kontext ihrer Forschungsfelder interessante Aspekte der Freimaurerei. Die
| |
− | Zahl der wissenschaftlichen Veröffentlichungen wuchs an, die Zahl der Habilitationen23,
| |
− | Dissertationen24 und Magisterarbeiten zu freimaurerischen oder zumindest freimaurerrelevanten
| |
− | Themen ist angestiegen. Es bildeten sich Brücken zwischen extern-universitärer und
| |
− | intern-freimaurerischer Forschung, die dem Ansehen der Bruderschaft zugutekommen, und
| |
− | bei denen in ihren Disziplinen ausgewiesene Forscher, die der Freimaurerei angehören, wie
| |
− | etwa der Frankfurter Philosoph Alfred Schmidt, der Aachener Philosoph Klaus Hammacher
| |
− | und der Innsbrucker Historiker Helmut Reinalter, eine impulsgebende Rolle spielten.
| |
− | Fasst man thematisch zusammen, so lässt die stärkere Berücksichtigung der Freimaurerei in
| |
− | der wissenschaftlichen Forschung seit den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts vier Hauptansätze
| |
− | erkennen, vier wissenschaftliche Diskursstränge, an denen als Forscher Nicht-Freimaurer
| |
− | wie Freimaurer beteiligt waren:
| |
− | 1. Thematisierung der Rolle der Freimaurerei als ein auf zukünftige Offenheit und Freiheit angelegter
| |
− | moralischer Innenraum im politisch-sozialen Umfeld des Absolutismus. Hier ist
| |
− | vor allem auf Reinhart Koselleck mit seiner bereits erwähnten Studie »Kritik und Krise«
| |
− | hinzuweisen. Zu nennen sind aber auch Forscher wie Ludwig Hammermayer, Rudolf
| |
− | Vierhaus25, Jürgen Habermas26, Michael Voges27, Norbert Schindler28 – die beiden Letzteren
| |
− | mit vorzüglichen Beiträgen zur Vermittlung zwischen Kultur- und Sozialgeschichte
| |
− | – sowie – als dem Bund angehörende Forscher – Helmut Reinalter29 und Winfried
| |
− | Dotzauer30.
| |
− | 23 Unter den Habilitationsschriften sei insbesondere hingewiesen auf: Westerbarkey, Joachim: Das Geheimnis.
| |
− | Zur funktionalen Ambivalenz von Kommunikationsstrukturen, Opladen 1991, sowie Simonis,
| |
− | Linda: Die Kunst des Geheimen. Esoterische Kommunikation und ästhetische Darstellung im 18. Jahrhundert,
| |
− | Heidelberg 2000.
| |
− | 24 Unter den neueren Dissertationenen sind von herausragender Qualität: Maurice, Florian: Freimaurerei
| |
− | um 1800. Ignaz Aurelius Feßler und die Reform der Großloge Royal York in Berlin, Tübingen 1997;
| |
− | Hoffmann, Stefan-Ludwig: Die Politik der Geselligkeit. Freimaurerlogen in der deutschen Bürgergesellschaft,
| |
− | 1840–1918, Göttingen 2000.
| |
− | 25 Vierhaus, Rudolf: Aufklärung und Freimaurerei in Deutschland, in: ders.: Deutschland im 18. Jahrhundert,
| |
− | Göttingen 1987, S. 110–125.
| |
− | 26 Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit, Frankfurt/M. 1990, suhrkamp taschenbuch wissenschaft
| |
− | (Erstveröffentlichung 1962).
| |
− | 27 Voges, Michael: Aufklärung und Geheimnis. Untersuchungen zur Vermittlung von Literatur und Sozialgeschichte
| |
− | am Beispiel der Aneignung des Geheimbundmaterials im Rahmen des späten 18. Jahrhunderts,
| |
− | Tübingen 1987.
| |
− | 28 Schindler, Norbert: Freimaurerkultur im 18. Jahrhundert. Zur sozialen Funktion des Geheimnisses in
| |
− | der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft, in: Berdahl/Lüdtke/Medick/Poni/Reddy/Sabean/Schindler/
| |
− | Sider: Klassen und Kultur. Sozialanthropologische Perspektiven in der Geschichtsschreibung, Frankfurt
| |
− | am Main 1 1982, S. 205–262.
| |
− | 29 Reinalter, Helmut: Die Freimaurer, München 2000.
| |
− | 30 Dotzauer, Winfried (Hrsg.): Quellen zur Geschichte der deutschen Freimaurerei im 18. Jahrhundert,
| |
− | Frankfurt/M. 1991.
| |
− | 165
| |
− | 2. Wiederentdeckung der Esoterik und des Spannungsverhältnisses zwischen Esoterik und
| |
− | Aufklärung als Gegenstand historischer Forschung. Diese Entwicklung der Freimaurerforschung
| |
− | ist vor allem Monika Neugebauer-Wölk in Halle zu verdanken31 und wird inzwischen
| |
− | in zahlreichen Forschungsprojekten weitergeführt.
| |
− | 3. Aufschwung der Ritualforschung32 im Kontext historischer und vor allem religionswissenschaftlicher
| |
− | Forschung. Aus dem Freimaurerbund heraus hat hierzu vor allem Jan
| |
− | Snoek33 entscheidend beigetragen, insbesondere durch eine Integration engerer freimaurerischer
| |
− | Gesichtspunkte in den allgemeinen Kontext der Ritualforschung.
| |
− | 4. Weiterentwicklung dessen, was man, Fichte folgend, Philosophie der Freimaurerei nennen
| |
− | kann und wofür aus dem Bund prominente Namen wie Alfred Schmidt34, Klaus Hammacher35
| |
− | und Klaus-Jürgen Grün36 zu nennen sind.
| |
− | Die Forschungsloge »Quatuor Coronati« hat sich sehr um eine enge Verzahnung der externen
| |
− | und internen Freimaurerforschung bemüht. Hinzuweisen ist auf:
| |
− | • die »offenen« Arbeitstagungen der Forschungsloge mit interner und externer Beteiligung37,
| |
− | • die Beiträge externer Forscher im Quatuor Coronati Jahrbuch,
| |
− | • die Aufnahme von Dissertationen in das Publikationsprogramm der Forschungsloge,
| |
− | wobei zuletzt Stefan-Ludwig Hoffmanns38 preisgekrönte Arbeit »Politik der Geselligkeit«,
| |
− | Kristiane Hasselmanns39 Berliner Dissertation »Die Rituale der Freimaurer« und Marcus
| |
− | Meyers40 Hamburger Dissertation »Bruder und Bürger« besonders hervorzuheben sind,
| |
− | • das Forschungsprojekt »Deutsche Freimaurerei der Gegenwart« an der soziologischen Fakultät
| |
− | der Bielefelder Universität,
| |
− | • das Netzwerk Freimaurerforschung (www.freimaurerforschung.de).
| |
− | 31 Neugebauer-Wölk, Monika (Hrsg.): Aufklärung und Esoterik a.a.O.; dies.: Esoterik als Element freimaurerischer
| |
− | Geschichte und Geschichtsforschung, in: Quatuor Coronati Jahrbuch, Nr. 40/2003, S. 9–32.
| |
− | 32 S. unter den deutschsprachigen Veröffentlichungen: Belliger, Andréa/Krieger, David J. (Hrsg.): Ritualtheorien.
| |
− | Ein einführendes Handbuch, Opladen/Wiesbaden 1998, sowie Wulf, Christoph/Zirfas, Jörg
| |
− | (Hrsg.): Rituelle Welten, Paragrana 12/2003.
| |
− | 33 Snoek, Jan: Die historische Entwicklung der Auffassungen über Geheimhaltung in der Freimaurerei, in:
| |
− | Quatuor Coronati Jahrbuch Nr. 40/2003, S. 51–60; ders.: Drei Entwicklungsstufen des Meistergrades,
| |
− | in: Quatuor Coronati Jahrbuch für Freimaurerforschung, Nr. 41/2004, S. 21–46.
| |
− | 34 Schmidt, Alfred: Freimaurerei und Religion: Historisch-philosophische Grundlagen ihres Verhältnisses,
| |
− | in: Quatuor Coronati Jahrbuch für Freimaurerforschung, Nr. 41/2004, S. 11–20.
| |
− | 35 Hammacher, Klaus: Einübungsethik. Überlegungen zu einer freimaurerischen Verhaltenslehre, Bayreuth
| |
− | 2005.
| |
− | 36 Grün, Klaus-Jürgen: Philosophie der Freimaurerei. Eine interkulturelle Perspektive, Interkulturelle Bibliothek,
| |
− | Band 124, Nordhausen 2006.
| |
− | 37 Texte der Beiträge veröffentlicht in verschiedenen Ausgaben von »Quatuor Coronati Jahrbuch für Freimaurerforschung
| |
− | «.
| |
− | 38 Hoffmann, Stefan-Ludwig: Die Politik der Geselligkeit. Freimaurerlogen in der deutschen Bürgergesellschaft,
| |
− | 1840–1918, Göttingen 2000.
| |
− | 39 Hasselmann, Kristiane: Die Rituale der Freimaurer. Performative Grundlegungen eines freimaurerischen
| |
− | Habitus im 18. Jahrhundert, Bielefeld 2008.
| |
− | 40 Meyer, Marcus: Bruder und Bürger. Freimaurerei und Bürgerlichkeit in Bremen, Bremen 2010.
| |
− | 166
| |
− | Die nachhaltige Entdeckung der Freimaurerei für die universitäre Forschung hat nicht nur
| |
− | wissenschaftliche Bedeutung. Sie steigert auch das Interesse an der Freimaurerei und das
| |
− | Wissen über die Freimaurerei innerhalb der deutschen Gesellschaft auch außerhalb der Wissenschaft:
| |
− | • Zunächst ist es auch in einem weiteren – d.h. über den engeren wissenschaftlichen Kontext
| |
− | hinausgehenden – Sinne von beträchtlicher Relevanz, dass Freimaurerforschung inzwischen
| |
− | einen legitimen Platz in der wissenschaftlichen Forschung einnimmt, und dies
| |
− | in einer multidisziplinären Perspektive, die sich gleichermaßen auf Geschichte, Philosophie,
| |
− | Religionswissenschaften und Sozialwissenschaften erstreckt. Wichtig aber ist vor
| |
− | allem auch, dass jüngere Forscher und Forscherinnen angesprochen werden und sich die
| |
− | Zahl der Diplom- und Magisterarbeiten, Dissertationen und Habilitationsschriften zu
| |
− | freimaurerischen oder freimaurerrelevanten Themen beträchtlich erhöht hat.
| |
− | • In diesem Zusammenhang ist auf zahlreiche internationale Konferenzen zur Freimaurerforschung
| |
− | hinzuweisen, an denen Freimaurer und Nichtfreimaurer, Forscherinnen
| |
− | und Forscher sowie jüngere und ältere Wissenschaftler beteiligt sind, und unter denen
| |
− | die im zweijährigen Turnus abgehaltene »Conference on the History of Freemasonry«
| |
− | (2007 und 2009 in Edinburgh, 2011 in Alexandria, Virginia, USA) besondere Bedeutung
| |
− | zukommt.
| |
− | • Es ist gleichfalls von Relevanz für die öffentliche Wahrnehmung des Bundes, dass Freimaurerei
| |
− | zunehmend Eingang in die universitäre Lehre findet41.
| |
− | • Ebenfalls ist bedeutsam, dass sich im Zusammenhang mit der Ausweitung freimaurerischer
| |
− | Forschung eine erhöhte Aufmerksamkeit einer weiteren kulturellen Öffentlichkeit
| |
− | zeigt, wobei vor allem die Medien, die Bibliotheken und die Museen zu nennen sind:
| |
− | Die bedeutenden Freimaurerausstellungen der jüngeren Vergangenheit – ich nenne nur
| |
− | die Ausstellungen in Weimar42, Jena43 und Bremen44 – wären ohne das erhöhte Interesse
| |
− | und eine vorbereitende bzw. begleitende Rolle der Wissenschaft nicht möglich gewesen.
| |
− | Insgesamt ist das Ineinandergreifen von öffentlicher Aufklärung über die Freimaurerei und
| |
− | wissenschaftlicher Kooperation zwischen Freimaurerei und Freimaurerforschung für eine
| |
− | gedeihliche Entwicklung des Bundes unverzichtbar geworden – auch in Anbetracht der parallel
| |
− | zur wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Freimaurerei zunehmenden Belebung
| |
− | oder Wiederbelebung von Verschwörungswelten und Fantasievorstellungen.
| |
− | Bedauerlich ist freilich, dass die freimaurerische Gegenwart bis jetzt nur wenig Interesse
| |
− | bei der externen Forschung gefunden hat. Der Ruf der Freimaurerei ist vielfach eben doch
| |
− | eher der eines Verwalters historisch-kultureller Tradition. So ist freimaurerische Gegenwartsforschung,
| |
− | wenn sie gewollt ist, die eigene Aufgabe von Forschung betreibenden Freimaurern.
| |
− | 41 S. Internetrecherche zu »Lehrveranstaltungen über freimaurerische Kontexte an deutschen Universitäten
| |
− | «, Netzwerk Freimaurerforschung, www.freimaurerforschung.de.
| |
− | 42 Geheime Gesellschaft. Weimar und die deutsche Freimaurerei. Ausstellung im Schiller-Museum Weimar,
| |
− | 21. Juni bis 31. Dezember 2002.
| |
− | 43 Bausteine zur Stadtgeschichte: Logenbrüder, Alchemisten und Studenten – Jena und seine geheimen Gesellschaften
| |
− | im 18. Jahrhundert, Ausstellung im Romantikerhaus Jena, 16. Juni bis 15. September 2002.
| |
− | 44 Licht ins Dunkel. Die Freimaurerei und Bremen, Focke-Museum Bremen, 2. Juli bis 29. Oktober 2006.
| |
− | 167
| |
− | Was kann freimaurerische Gegenwartsforschung leisten?
| |
− | Nicht das, was manche Freimaurer erhoffen und andere befürchten: nämlich ein wissenschaftlich
| |
− | begründetes freimaurerisches Leitbild zu erstellen, Modelle zu entwerfen oder gar
| |
− | Großlogen ideologisch-konzeptionell zu beraten.
| |
− | Entscheidungen über Selbstverständnis, Profil und Ziel ihres Bundes müssen die Brüder
| |
− | Freimaurer selber treffen und zwar vor allem durch das, wovon dieser Beitrag handelt:
| |
− | ihre Diskurse. Forschung kann jedoch Handlungsfelder transparenter machen, kann Ausgangslagen
| |
− | klären, kann Widersprüche deutlich machen, kann vor Selbstüberforderungen
| |
− | schützen, kann das Freimaurerbild komplexer machen.
| |
− | Ich stehe für ein Ja zu einer gegenwartsorientierten Freimaurerforschung, gerade auch
| |
− | weil ich ein engagierter Freimaurer bin und weil es mich bedrückt, wenn der Freimaurerbund
| |
− | sich überflüssigerweise gleichsam auf Wissens- und Aufklärungsdiät setzt. »Wissensdiät«
| |
− | schadet dem Bund, weil die Ressource der Vielgestaltigkeit und Komplexität der Freimaurerei,
| |
− | ihres kulturgeschichtlichen und historischen Reichtums (wozu durchaus auch Ungereimtheiten
| |
− | und Widersprüche gehören) nicht genutzt wird und Chancen zum Gespräch
| |
− | mit Wissenschaft, Kultur und Gesellschaft verpasst werden. »Aufklärungsdiät« bremst den
| |
− | Schwung der inneren Auseinandersetzung und beeinträchtigt die Intensität der Diskurse, die
| |
− | zum Thema »Was ist, was will, was soll die Freimaurerei?« geführt werden müssen.
| |
− | Müssen? Ja müssen: Freimaurerei, wie sie heute ist und morgen gestaltet werden soll,
| |
− | lässt sich nicht in Lehrbüchern beschreiben und durch Großlogenbeschlüsse umsetzen.
| |
− | Lebendige Freimaurerei entsteht ausschließlich durch die Kommunikation der Brüder. Ein
| |
− | lebendiger Diskurs muss zu einer Freimaurerei beitragen, die nach innen und außen überzeugend
| |
− | und identitätsstiftend wirkt.
| |
− | Wie steht es also um die freimaurerischen Diskurse heute?
| |
− | 3. Der Freimaurerdiskurs der Gegenwart
| |
− | Die folgenden Ausführungen sind mehr Bestandteile eines Arbeitsprogramms als Ergebnisse
| |
− | intensiver Forschungsarbeit. Die Fülle der Texte, die es auszuwerten gilt, ist überwältigend.
| |
− | Zugleich wird deutlich, das ein diskursanalytisches Herangehen erfolgversprechend ist. Freimaurer
| |
− | produzieren nun einmal vor allem Worte, mit denen sie für sich selbst und andere
| |
− | die Freimaurerei konstituieren. Taten der Freimaurer sind spärlich. Aber wir haben ja von
| |
− | Lessing, dem uns liebsten aller freimaurerischen Klassiker, gelernt, dass die eigentlichen Taten
| |
− | der Freimaurer gerade darin bestehen, am richtigen Ort, zur rechten Zeit, mit den richtigen
| |
− | Partnern die richtigen Worte zu wechseln, ein »gemeinschaftliches Gefühl sympathisierender
| |
− | Geister« zu entwickeln, laut mit dem Freunde zu denken und hierdurch die Grenzen
| |
− | zu überwinden, die das Leben in komplexen Gesellschaften so bedrohlich machen.45
| |
− | Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf die Freimaurerei in Deutschland
| |
− | und behandeln dabei wiederum vor allem das Diskursgeschehen innerhalb der Großloge
| |
− | AFuAM, der weitaus größten unter den Partnergroßlogen der Vereinigten Großlogen von
| |
− | 45 Vgl. Höhmann, Hans-Hermann: »Ernst und Falk« und die Freimaurerei der Gegenwart, Schriften der
| |
− | Lessinggesellschaft, Hamburg 2005.
| |
− | 168
| |
− | Deutschland, und der deutschen Großloge, mit der ich selbst durch Mitwirkung in vielen
| |
− | Gremien am meisten verbunden bin.
| |
− | 3.1 Grundsätzliches
| |
− | Definitionen und Unterscheidungen helfen bei der analytischen Ordnung der Diskurse. Zunächst:
| |
− | Im Freimaurerdiskurs tauchen die verschiedensten Themen auf, und thematisch einheitliche
| |
− | Diskursverläufe können jeweils als Diskursstränge bezeichnet werden.46 So lassen
| |
− | sich etwa Ritual-, Reform- und Regularitätsdiskurse unterscheiden.
| |
− | Jeder der thematischen Diskursstränge hat eine synchrone und eine diachrone Dimension:
| |
− | Synchron bezieht sich auf die Frage, was beispielsweise in einem bestimmten Zeitabschnitt
| |
− | – an der Wende zum 19. Jahrhundert etwa oder heute – zum Ritual gesagt wird und
| |
− | wie sich der Ritualdiskurs zu anderen thematischen Diskurssträngen der gleichen Periode
| |
− | verhält.
| |
− | Diachron bezieht sich auf die Frage, welche (gleichen oder verschiedenen) Inhalte der
| |
− | Ritualdiskurs beim »Fließen durch die Zeit«47 hatte, beim Vergleich von heute, gestern und
| |
− | vorgestern, wenn wir etwa den Ritualdiskurs bei Feßler und Schröder mit dem heutigen –
| |
− | sagen wir bei Klaus Horneffer oder Alfried Lehner – vergleichen.
| |
− | Diskurse verändern sich im Verlauf der Zeit, ja, sie machen zuweilen regelrechte Sprünge.
| |
− | Solche Richtungswechsel von Diskursen sind abhängig
| |
− | • von der Situation des Bundes, von Ereignissen im Bund, wie es etwa die Reformdebatte
| |
− | nach dem Zusammenbruch der »Strikten Observanz« zeigt,
| |
− | • vom Auftreten charismatischer Persönlichkeiten, die den Diskursen eine neue Richtung
| |
− | geben (als Beispiel hierfür kann der von Lessing, Herder, Fichte und Krause geprägte
| |
− | »klassische« Freimaurerdiskurs48 gelten), und nicht zuletzt
| |
− | • von den politisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, in die Freimaurerdiskurse
| |
− | eingebettet sind und deren bestimmende Kraft die Folgerung nahelegt, dass die Zeit
| |
− | die Freimaurerei immer in einem stärkeren Maße bestimmt hat als die Freimaurerei die
| |
− | Zeit.
| |
− | Vergleichen wir einmal die drei Fünfjahresperioden 1927–1932, 1947–1952 und 1967–1972.
| |
− | 1927–1932 erfasste die rechts-völkische Wende große Teile des deutschen Bürgertums
| |
− | und der Freimaurerei, und die Diskurse in Freimaurerei und Gesellschaft waren gleichermaßen
| |
− | in starkem Maße auf nationale Apologie ausgerichtet.49
| |
− | 46 Jäger, Siegfried: Theoretische und methodische Aspekte einer kritischen Diskurs- und Dispositivanalyse,
| |
− | http.//diss-Duisburg.de/Internetbibliothek/Artikel, Download 15.6.2006.
| |
− | 47 Jäger, Siegfried: Kritische Diskursanalyse: Eine Einführung, 4. Auflage, Münster 2004.
| |
− | 48 Vgl. Höhmann, Hans-Hermann: Entwicklung, Reflexion, Wissenschaft. Anmerkungen zum Wechselspiel
| |
− | zwischen freimaurerischer Geschichte und Geschichte der Freimaurerforschung, in: Quatuor Coronati
| |
− | Jahrbuch Nr. 41/2004, S. 232–234.
| |
− | 49 Vgl. Höhmann, Hans-Hermann: Europas verlorener Friede, die nationalvölkische Orientierung innerhalb
| |
− | der deutschen Freimaurerei und die »freimaurerische Erinnerungspolitik« nach dem Zweiten Weltkrieg,
| |
− | in diesem Band, S. 51–57.
| |
− | 169
| |
− | 1947–1952 dominierten in der deutschen Gesellschaft und Freimaurerei die Bemühungen
| |
− | um Anschluss an das westliche Modell der Demokratie und internationale Versöhnung.
| |
− | Beiderseits – in Gesellschaft wie Freimaurerei – kam es folglich zur Verdrängung der
| |
− | Erinnerung an nationalsozialistische Anpassung, beiderseits war der Erinnerungsdiskurs
| |
− | defizitär.50 Auch der »Kalte Krieg« wurde in der Freimaurerei ganz typisch westdeutsch
| |
− | thematisiert: So hieß es im Jahre 1951 auf dem Großlogentag der Vereinigten Großloge
| |
− | von Deutschland in Bad Ems: »Der Großmeister hat den Kreis derer umrissen, die dazu
| |
− | berufen sind, den geistig-sittlichen Kampf gegen die furchtbare totalitäre Macht des Ostens
| |
− | als Aufgabe der Gegenwart gemeinsam zu führen.«51
| |
− | 1967–1972 zeigten sich in der Freimaurerei und ihren Diskursen von der 1968er-Bewegung
| |
− | zwar insgesamt nur moderate, aber doch deutlich spürbare Reaktionen. So erklärte
| |
− | beispielsweise Hans Gemünd, Großmeister der Alten, Freien und Angenommenen Maurer,
| |
− | das Thema »Demokratie und Opposition« zweimal hintereinander zum Jahresthema der
| |
− | Großloge und zum Thema eines Podiumsgesprächs auf dem Würzburger Großlogentag im
| |
− | Jahre 1969.52
| |
− | Im Großen und Ganzen weist der Freimaurerdiskurs der Nachkriegszeit – trotz gelegentlicher
| |
− | Akzentverlagerungen, trotz Veränderungen im Stil des Sprechens und Schreibens
| |
− | – ein hohes Maß an Redundanz auf. Die gleichen Themen kehren immer wieder, Konstanz
| |
− | der Diskursstränge überwiegt und auch im Einzelnen stimmen viele Argumente und
| |
− | Schlagworte in diachroner Perspektive überein.
| |
− | Insbesondere Lagebeschreibungen wie »Die Zeit der Selbstzufriedenheit unserer Bruderschaft
| |
− | ist längst vorbei« und Appelle wie »Wir wollen die in der Abgeschlossenheit unserer
| |
− | Bauhütten gepflegten und erarbeiteten Gedanken unbeirrt in die Tat umsetzen« durchziehen
| |
− | die letzten Jahrzehnte. Es ist schwer auszumachen, ob die genannten Zitate aus 1950,
| |
− | 1975 oder dem Jahr 2000 stammen.
| |
− | Die Auswahl von Diskursen für analytische Zwecke ist nun abhängig vom jeweiligen
| |
− | Anliegen der Forschung. Ihre eingehende Untersuchung verspricht sowohl Gewinn für die
| |
− | Beantwortung der (empirischen) Frage, was Freimaurerei war und ist, als auch für (normative)
| |
− | Überlegungen, was Freimaurerei sein und leisten kann.
| |
− | 3.2 Diskursstränge
| |
− | Identifizierbar unter den Freimaurerdiskursen der Gegenwart ist zunächst ein Diskursstrang,
| |
− | der sich durch die ganze Geschichte der Freimaurerei gezogen hat, den man daher als den
| |
− | »freimaurerischen Grunddiskurs« bezeichnen kann und der immer auf die Erörterung der
| |
− | im Titel meines Beitrags genannten Frage »Was ist, was will, was soll die Freimaurerei?« hinausläuft.
| |
− | 50 Vgl. Höhmann, Hans-Hermann: Freimaurerische Erinnerungskultur, in TAU, Zeitschrift der Forschungsloge
| |
− | Quatuor Coronati, I/2005, S. 4–12.
| |
− | 51 Protokoll des Großlogentages 1951 der Vereinigten Großloge von Deutschland in Bad Ems, Bibliothek
| |
− | des Deutschen Freimaurermuseums Bayreuth.
| |
− | 52 Demokratie und Opposition, Hamburg 1969.
| |
− | 170
| |
− | Geht man den Verästelungen des freimaurerischen Grunddiskurses in seine verschiedenen
| |
− | thematischen Diskursstränge nach, so lassen sich Diskurse über folgende thematische Komplexe
| |
− | unterscheiden:
| |
− | 1. Nationale Struktur der deutschen Freimaurerei und ihre internationale Einordnung:
| |
− | • Einheitsdiskurs:
| |
− | Frage nach der einen deutschen Großloge, Vereinigte Großlogen von Deutschland (VGLvD)
| |
− | als Übergangsmodell oder als langfristig gültige Organisationsform der Freimaurerei
| |
− | in Deutschland? Der »Einheitsdiskurs« ist allerdings in der jüngeren Vergangenheit fast
| |
− | vollständig zum Erliegen gekommen. Dies ist auf die gegensätzlichen Einstellungen der
| |
− | Hauptpartner der VGLvD, der Großloge AfuAM und der Großen Landesloge der Freimaurer
| |
− | von Deutschland zurückzuführen. Während die GL AFuAM weitgehend intergrationsfreundlich
| |
− | orientiert war und den Integrationsprozess bis hin zu einer »wirklichen«
| |
− | Großloge im Verständnis der internationalen Freimaurerei weiterführen wollte, fürchtet
| |
− | die Große Landesloge um den Bestand ihrer institutionellen Struktur und konzeptionellen
| |
− | Identität, hält die Zusammenführung der deutschen Freimaurer unter einem Dach
| |
− | für abgeschlossen und steht weiteren Integrationschritten bisher ablehnend gegenüber.
| |
− | Um Fortschritte auf dem Weg zu einer internationalen Maßstäben genügenden Großloge
| |
− | zu erreichen, wäre deshalb zunächst der »Einheitsdiskurs« wieder nachhaltig zu beleben.
| |
− | • Regularitätsdiskurs:
| |
− | Wie soll und kann sich das Verhältnis zwischen deutscher und französischer Freimaurerei
| |
− | (Grand Orient de France und Grande Loge de France) weiterentwickeln? Genderproblematik:
| |
− | Wie soll die Freimaurerei der Männer mit der Freimaurerei der Frauen umgehen?
| |
− | 2. Soziale Struktur der Freimaurerei:
| |
− | • Elitediskurs:
| |
− | Ist der Freimaurerbund eine Elite, und wenn ja, in welchem Sinne (dem Anspruch nach,
| |
− | in der Realität, eine Statuselite, eine Habituselite, eine Verantwortungselite)?
| |
− | 3. Ideenwelt und Werte:
| |
− | • Wertediskurs:
| |
− | Zu welchen Werten bekennt sich die Freimaurerei, und wie sind diese Werte in die heutige
| |
− | Praxis des Bundes umzusetzen?
| |
− | 4. Symbole und Rituale:
| |
− | • Ritualdiskurs:
| |
− | Hier geht es um Herkunft, Bestandteile und Rolle der freimaurerischen Symbole und Rituale
| |
− | sowie um ihre Bedeutung für Konstituierung und Selbstverständnis der Freimaurerei,
| |
− | beispielsweise um die zuletzt von Klaus Horneffer, Großmeister der Vereinigten
| |
− | Großlogen von Deutschland bis Oktober 2006, in einem vom NDR gesendeten Podiumsgespräch
| |
− | aufgeworfene (und im positiven Sinne beantwortete) Frage, ob die zentrale
| |
− | Stellung des Rituals die Freimaurerei zu einer religiösen Vereinigung macht.53
| |
− | 53 »Man missversteht die Freimaurerei, wenn man nicht erkennt, dass es sich in Wirklichkeit um einen religiösen
| |
− | Bund handelt. Das Religiöse steht im Mittelpunkt der Freimaurerei, nicht die Ideale, nicht die
| |
− | Ziele.« »Streng geheim!« – Perspektiven der Freimaurerei, NDR-Literarisches Caféhaus, 19.2.2006.
| |
− | 171
| |
− | 5. Öffentlichkeitsarbeit und öffentliche Aufgaben:
| |
− | • Diskurs Öffentlichkeitsarbeit:
| |
− | Wie soll in Bezug auf Außendarstellung und öffentliche Vermittlung der Freimaurerei
| |
− | verfahren werden?
| |
− | • Aufgabendiskurs:
| |
− | Was sind die Taten der Freimaurer? Hat die Freimaurerei »öffentliche Aufgaben«? Wie
| |
− | steht es um öffentliche Präsenz, gesellschaftliche Partizipation und politisches Engagement
| |
− | des Freimaurerbundes?
| |
− | Auf einen dieser Diskurse will ich ausführlicher eingehen: den Diskurs um das Verhältnis
| |
− | zwischen Freimaurerei und Politik. Dabei möchte ich auch meinen eigenen Standpunkt darlegen,
| |
− | d.h. vom Diskursanalytiker zum Diskursteilnehmer mutieren.
| |
− | 3.3 Diffenzierende Begrifflichkeiten
| |
− | Doch zuvor empfiehlt es sich, einige weiter differenzierende Begrifflichkeiten einzuführen,
| |
− | die bis auf die letzte (Diskurshoheit), die von mir – weil für den Kontext unverzichtbar – ergänzt
| |
− | wurde, der Diskursanalyse Siegfried Jägers54 entnommen und auf die Freimaurerei zu
| |
− | bezogen wurden.
| |
− | Neben den schon erörterten Diskurssträngen mit ihren synchronen und diachronen Aspekten
| |
− | lassen sich unterscheiden:
| |
− | Diskursfragmente:
| |
− | Jeder Diskursstrang setzt sich aus einer Fülle von Elementen zusammen, die man traditionell
| |
− | auch als »Texte« bezeichnet. Diskursfragment ist ein Text oder ein Textteil, der ein bestimmtes
| |
− | Thema behandelt. Diskursfragmente verbinden sich zu Diskurssträngen. Schlüsseltexte
| |
− | spielen eine besondere Rolle: Die »Alten Pflichten« sind ein gutes Beispiel dafür. Gleichzeitig
| |
− | verdeutlichen die »Alten Pflichten«, dass ein Text mehrere verschiedene Diskursfragmente
| |
− | enthalten kann, die unterschiedlichen Diskurssträngen zugeordnet werden können.
| |
− | So thematisiert der Abschnitt »Von Gott und der Religion« das Verhältnis zwischen Freimaurerei
| |
− | und Religion, während der Abschnitt »Betragen, wenn die Loge vorüber ist, die Brüder
| |
− | aber noch nicht auseinandergegangen sind« das Verhältnis zwischen Freimaurerei und Politik
| |
− | anspricht. Ein Schlüsseltext der Gegenwart sind – jedenfalls für die Mitglieder der Großloge
| |
− | AFuAM von Deutschland – die sogenannten »Leitgedanken zur Freimaurerei«55. Fast
| |
− | keine Homepage der AFuAM-Logen kommt heute ohne sie aus. Wiederum handelt es sich
| |
− | um einen Text, der mehrere Diskursfragmente enthält.
| |
− | Diskursebenen:
| |
− | Diskursstränge operieren auf verschiedenen diskursiven Ebenen. Diskursebenen lassen sich
| |
− | als soziale Orte bezeichnen, von denen aus jeweils gesprochen wird, wobei verschiedene
| |
− | Ebenen des Diskurses aufeinander einwirken können. Für die Freimaurerei lassen sich u.a.
| |
− | 54 Jäger, Siegfried: Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung, Münster 2009.
| |
− | 55 Text im Internet unter: http://www.freimaurerei.de/index.php?id=9.
| |
− | 172
| |
− | folgende Diskursebenen unterscheiden: Großlogengremien und Großlogenveranstaltungen
| |
− | (Großlogentage, Großlogentreffen), Logen, Collegia Masonica, freimaurerische Zeitschriften,
| |
− | Buchpublikationen, Filme, Videos, Internetpräsenz (Homepages), Internet-Chaträume
| |
− | u.s.w.
| |
− | Diskursive Ereignisse:
| |
− | Diskursive Ereignisse prägen den Verlauf von Diskursen, lösen Diskurse aus: rechtsradikale
| |
− | Gewalt, Wertewandel und Literatur darüber, vermittelt durch provozierende Artikel in der
| |
− | freimaurerischen Presse oder Feststellungen prominenter Freimaurer.
| |
− | Diskurspositionen:
| |
− | Diskursposition meint die spezifischen argumentativen Standorte von Institutionen, Personen,
| |
− | Gruppen, Medien: für oder gegen Aufarbeitung völkischer Traditionen in der Freimaurerei,
| |
− | für oder gegen mehr Ritual in der Logenpraxis, für oder gegen mehr Öffnung zur
| |
− | Gesellschaft, für oder gegen Prinzipien der »Regularität«, für oder gegen ein politisches Engagement
| |
− | der Freimaurerei.
| |
− | Diskurshoheit:
| |
− | Die Teilnehmer am Diskurs sind zwar alle gleich, de facto aber sind Unterschiede da. Höhere
| |
− | Gremien, leitende Personen, ausgewiesene Autoritäten beanspruchen entweder eine größere
| |
− | Autorität für sich oder es wird ihnen eine solche von anderen Diskursteilnehmern zugeschrieben.
| |
− | Ein Großmeister etwa nimmt folglich vermutlich mit größerer Wirkung am Diskurs
| |
− | teil als andere Teilnehmer, auch wenn ihm nicht zugestimmt wird. Schließlich gehört zur
| |
− | Diskurshoheit, dass mancher Bruder mit innovativen, wenn nicht gar unbequemen Auffassungen
| |
− | gar nicht mehr an den Diskursen der freimaurerischen Leitungsorgane beteiligt wird.
| |
− | 3.4 Ethisch-normative Aspekte des Freimaurerdiskurses
| |
− | Bevor ich zu inhaltlichen Aspekten des Freimaurerdiskurses der Gegenwart zurückkehre,
| |
− | zuvor noch ein Wort zum normativen Umgang mit Diskursen, zu Diskursniveau und Diskursstil.
| |
− | Hier scheint mir ein Arbeitsfeld des Freimaurerbundes gegeben zu sein, daß unsere
| |
− | Aufmerksamkeit verdient.
| |
− | Ein – zugegebenermaßen drastisches – Beispiel: Im Jahre 1980 wurden in der »Humanität
| |
− | « sogenannte »Thesen bis zum Jahr 2000« veröffentlicht, die nicht allein auf die Freimaurerei
| |
− | bezogen waren, sondern im allgemein Bereich von Werten und Weltbildern angesiedelt
| |
− | waren. Diese Thesen erhielten Zustimmung. Sie stießen jedoch auch auf Kritik, die
| |
− | von den Autoren (den Frankfurter Freimaurern Gerhard Grossmann und Alfred Schmidt)
| |
− | wie folgt zusammengefasst wurde56: »Andere Brüder äußern sich anders. Einige verdammen
| |
− | die Thesenaktion und die Autoren, wobei Ausdrücke wie ›Kathedergeschwätz‹, ›bedauernswerte
| |
− | Thesen‹, ›unfreimaurerische Sprache‹, ›Gemeinplätze‹, ›mieseste Theologenpraxis und
| |
− | -predigt‹, ›Unfug‹, ›krampfhaftes Bemühen‹, ›Blödsinn‹, ›halbgares Aufklärungsgeschwätz‹
| |
− | sowie ›geistige Blähungen‹ fallen und uns Ungeistigkeit vorgeworfen wird.«
| |
− | 56 Grossmann, Gerhard/Schmidt, Alfred: Thesen bis zum Jahr 2000: Ein Entwurf und seine Kritiker, in:
| |
− | Humanität, Das deutsche Freimaurermagazin, 6. Jg., Heft 2/1980, S. 8.
| |
− | 173
| |
− | Damit stellt sich in der Tat die Frage: wann und wie Diskurse als Mittel der Verständigung
| |
− | taugen, welcher normativen Diskursethik sie zu entsprechen haben und ob es in der
| |
− | Freimaurerei eine »ideale Sprechsituation« (J. Habermas) gibt oder geben kann.
| |
− | Anstoßgebend für das Bemühen um eine »ideale Sprechsituation« waren vor allem die
| |
− | Beiträge zur Diskursethik von Jürgen Habermas, deren zentrales ethisches Kriterium der
| |
− | Diskurs ist. Die Diskursethik beansprucht einerseits den Status einer allgemeinen Ethik57
| |
− | und ist insofern z.B. mit der Ethik Kants, dem Kontraktualismus oder dem Utilitarismus
| |
− | zu vergleichen; andererseits soll die Diskursethik aber auch klären, wie innerhalb von
| |
− | Diskursen ethisch angemessen zu verfahren ist. Als »ideal« im Sinne von Habermas gilt
| |
− | »eine Sprechsituation, in der Kommunikationen nicht nur nicht durch äußere kontingente
| |
− | Einwirkungen, sondern auch nicht durch Zwänge behindert werden, die sich aus der Struktur
| |
− | der Kommunikation selbst ergeben«.58 Freiheit von den von Habermas so genannten
| |
− | »strukturellen Zwängen« ist dann gegeben, wenn alle Diskursteilnehmer die gleichen Chancen
| |
− | haben, »Sprechakte zu wählen und auszuführen«, Geltungsansprüche anzunehmen
| |
− | oder zurückzuweisen, die eigenen Gründe gelten zu lassen, die fremden eigenständig und
| |
− | jenseits äußerer Nötigung zu prüfen. Die Symmetrie der Diskurssituation, also die Herrschaftsfreiheit,
| |
− | zeichnet diese als eine ideale Diskurssituation aus.59
| |
− | Was steht diskursethischen Postulaten in der Freimaurerei im Wege?
| |
− | Auf drei Arten von Störfaktoren kann verwiesen werden:
| |
− | 1. Zunächst leiden Diskurse in starkem Maße unter persönlichen Befindlichkeiten (Frustrationen,
| |
− | Missverständnissen, Streitlust, Abwesenheit postulierter freimaurerischer Tugenden,
| |
− | problematisches intellektuelles Niveau) sowie unter ungünstigen Diskursbedingungen
| |
− | (fehlende »Face-to-face-Situationen, Aggressionen enthemmende Anonymität
| |
− | von Internetforen).
| |
− | 2. Weiter wirken sich die der Freimaurerei nicht fremden hierarchischen Strukturen und die
| |
− | unterschiedliche Diskursautorität sowie die damit verbundenen Versuchungen negativ
| |
− | auf die Sprechsituation aus: Auf der einen Seite wird nicht auf Diskurs, sondern auf Dekret
| |
− | gesetzt, auf der anderen Seite wird Zurückhaltung geübt und Vorsicht praktiziert,
| |
− | ohne dass diese Schieflagen der Sprechsituation hinreichend thematisiert und reflektiert
| |
− | werden.60
| |
− | 3. Schließlich gibt es gleichsam schon institutionell gewordene internationale Rücksichten
| |
− | (Regularitätsfrage, Genderdiskurs, Verhältnis von Männer- und Frauenlogen) sowie interne
| |
− | Harmoniegebote, die einerseits mit der Struktur der VGLvD und den dort mühsam
| |
− | gefundenen Meinungs- und Entscheidungsgleichgewichten, andererseits mit dem par-
| |
− | 57 Werner, Micha H.: Diskursethik, in: Düwell, Marcus/Hübenthal, Christoph/Werner, Micha H. (Hrsg.):
| |
− | Handbuch Ethik, Stuttgart/Weimar 2002, S. 140.
| |
− | 58 Habermas, Jürgen: Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns,
| |
− | Frankfurt/M. 1995, S. 177.
| |
− | 59 De Angelis, Gabriele: Die Vernunft der Kommunikation und das Problem einer diskursiven Ethik. Überlegungen
| |
− | über Vernunft, Kommunikation und Ethik im kritischen Anschluss an die Diskursethik von
| |
− | Jürgen Habermas, 1999, http://www.ub.uni-heidelberg.de/archiv/1813, zitiert nach: Renner, Katharina:
| |
− | Jürgen Habermas’ Diskurstheorie in der Anwendung, Heidelberg 2004, http://mirjam.ktf.univie.ac.at/
| |
− | page/fileadmin/pdf/ wissenschaftliche_texte/HabermasArbeit.pdf.
| |
− | 60 Ausführlicher hierzu: Höhmann, Hans-Hermann: Habitus, soziales Feld, Kapital – Freimaurerei im
| |
− | Lichte der Soziologie Pierre Bourdieus, in diesem Band, S. 115–131.
| |
− | 174
| |
− | tiell und periodisch immer wieder einmal prekären Verhältnis zwischen blauen Logen
| |
− | und Hochgradsystemen zusammenhängen. Die genannten Rücksichten und Harmoniegebote
| |
− | begrenzen nicht nur die Spielräume der Diskurse, sondern machen auch eine behutsame,
| |
− | gleichsam »wattierte« Sprache erforderlich, die dem Bemühen um Aufklärung
| |
− | abträglich ist. Letztlich mischen sich bei all diesen Fragen Identitätsunsicherheiten, Legitimitätsängste
| |
− | und fehlende Gelassenheit. Gewiss, Rücksichtnahme auf den Charakter
| |
− | des Gesprächsgegenstands und den Partner ist erforderlich, doch setzen »Gesprächsbremsen
| |
− | « des Öfteren bereits ein, bevor sie der Sache und Personen nach erforderlich wären.
| |
− | Es ist Aufgabe der Freimaurerei, es ist gerade eine ihrer wichtigsten Aufgaben, sich um einen hohen
| |
− | Standard der Diskursethik zu bemühen, sich klarzumachen, dass es nicht nur auf das »Was«
| |
− | der Gespräche, sondern vor allem auch auf das »Wie« der Gespräche ankommt, dass zur Einübungsethik
| |
− | der Freimaurerei auch die Einübung in gedeihliche Kommunikationsstile gehört.
| |
− | Bei der diskursethischen Einübung hilft
| |
− | • einerseits das Bevorzugen von Face-to-Face-Gesprächen,
| |
− | • andererseits die Bereitschaft, bei anderen Formen der Kommunikation den Face-to-Face-
| |
− | Test anzuwenden, d.h. sich die Frage zu stellen, inwieweit ich meinen Beitrag zum Diskurs
| |
− | in einer Face-to-Face-Situation ändern müsste.
| |
− | 4. Der Diskurs über das politische Engagement der Freimaurerei
| |
− | Als einer der beständigsten und zugleich engagiertesten Diskurse in Gegenwart und jüngerer
| |
− | Vergangenheit kann das Verhältnis zwischen Freimaurerei und Politik gelten. Immer wieder
| |
− | wurden Forderungen angemeldet, die Freimaurerei müsse präsent sein im politischen Raum
| |
− | und in den großen Auseinandersetzungen der Zeit.
| |
− | Schon Ende der 50er Jahre im 1. Heft des 1. Jahrgangs der Zeitschrift »Die Bruderschaft
| |
− | « fragte und antwortete Br. Eberhard Hornig61:
| |
− | »Hat die Politik in der Freimaurerei etwas zu suchen? Nein!«
| |
− | »Hat die Freimaurerei etwas in der Politik zu suchen? Ja!«
| |
− | Und er erläuterte dazu:
| |
− | »Wenn auch die Politik in der Freimaurerei nichts zu suchen hat, so hat, recht verstanden,
| |
− | die Freimaurerei sehr wohl etwas in der Politik zu suchen. … Die Freimaurerei
| |
− | kann und soll aus dem moralischen Gehalt ihres Wesens die Ideale der Toleranz
| |
− | und der Humanität auch in das Spiel der politischen Kräfte hineintragen.«
| |
− | Einerseits – andererseits. Die Freimaurerei darf und darf nicht, sie soll und sie soll nicht.
| |
− | Offensichtlich ist dem Freimaurerbund der Impuls zum öffentlichen Wirken ebenso
| |
− | eigen wie die Grenze, die es aus dem Wesen des Bundes heraus für ein solches Wirken gibt.
| |
− | 61 Hornig, Erhard: Ohne politische Scheuklappen, in: Die Bruderschaft, 1. Jahrgang 1959, S. 70–71.
| |
− | 175
| |
− | Viele Beispiele ließen sich geben, und eine wichtige Forschungsaufgabe ist zu entdecken.
| |
− | Die Forschungsloge »Quatuor Coronati« hat sich der Problematik auf einer ihrer letzten
| |
− | Arbeitstagungen angenommen. Die Referate sind in der Zeitschrift »TAU« veröffentlicht.62
| |
− | Insgesamt war das Verhältnis zwischen Freimaurerei und Politik in der Nachkriegszeit
| |
− | immer wieder – wenn auch mit unterschiedlicher Intensität – Gegenstand der publizistischen
| |
− | Selbstverständigung in der freimaurerischen Presse.
| |
− | Sechs verschiedene Ebenen dieses Verhältnisses sind dabei erkennbar. Es mag zweckmäßig
| |
− | sein, diese Ebenen auch bei der weiteren Behandlung des politischen Freimaurerdiskurses
| |
− | zu unterscheiden:
| |
− | 1. Beziehungen zur Politik im Sinne von Beziehungen zu den Repräsentanten von Politik (den
| |
− | »politischen Räumen« sozusagen: Bundespolitik, Landespolitik, Kommunalpolitik);
| |
− | 2. Beziehungen zur Politik im Sinne der Identifizierung mit gesellschaftlich und politisch
| |
− | relevanten
| |
− | Werten und Überzeugungen (Menschenwürde, Freiheit, soziale Gerechtigkeit,
| |
− | Toleranz und Friedensliebe);
| |
− | 3. Beziehungen zur Politik im Sinne von Stellungnehmen und Sicheinmischen, kurz eines
| |
− | Engagements, das die Freimaurerei als Institution ins Spiel bringt und über bloße Reflexion
| |
− | hinausgeht;
| |
− | 4. Beziehungen zur Politik im Sinne von sozialem und karikativem Handeln;
| |
− | 5. Beziehungen zur Politik im Sinne eines Einbeziehens von politischen Fragen in die Diskurse
| |
− | der Logen, Großlogen und der anderen Formen bruderschaftlicher Organisation (etwa
| |
− | die Akademie des AASR oder die Arbeitstagungen der Forschungsloge »Quatuor Coronati«);
| |
− | 6. Beziehungen zur Politik im Sinne von publizistischen Beiträgen, d.h. im Sinne von
| |
− | »veröffentlichter Meinung der Freimaurer« in den Zeitschriften der Großlogen.
| |
− | Für all diese Ebenen wären interessante Entwicklungen aufzuzeigen, denn überall gab es Anstöße,
| |
− | die mehr oder weniger weit reichten, mehr oder weniger erfolgreich waren und mehr
| |
− | oder weniger Konsens für sich beanspruchen konnten.
| |
− | Ihre eingehende Behandlung muss weiteren Untersuchungen vorbehalten bleiben.
| |
− | Doch auf eine letzte Zuspitzung möchte ich noch eingehen, weil sie unterschiedliche, ja
| |
− | entgegengesetzte Diskurspositionen auf anschauliche Weise deutlich macht.
| |
− | Br. Rüdiger Oppers, Unternehmenssprecher des WDR und Redner der Großloge
| |
− | AFuAM von Deutschland, schrieb in einem Beitrag zur Zeitschrift »Humanität«63, nachdem
| |
− | er die Teilnahme des Großmeisters an Sabine Christiansens Politik-Talk-Runde befürwortet
| |
− | hatte:
| |
− | »Wir müssen acht geben, dass wir es uns nicht in der schönen Welt des geistigen Tempelbaus
| |
− | bequem machen. Wir würden ja lediglich in einer Scheinwelt leben. Im Tempel
| |
− | entsteht der Bauriss einer gerechten Gesellschaft. Im Logenleben wird dieser Plan
| |
− | in Diskussionen, sogar Bruderzwisten erprobt.
| |
− | Wir verfügen über eine Jahrhunderte alte Erfahrung, wie man unterschiedlichste
| |
− | Gruppen und Interessen zusammenbringt.
| |
− | 62 TAU, Zeitschrift der Forschungsloge Quatuor Coronati, II/2005.
| |
− | 63 Oppers, Rüdiger: Geht hinaus in die Welt: Politik und Freimaurerei, in: Humanität. Das deutsche Freimaurermagazin,
| |
− | 31. Jg., Heft 5/2005, S. 7–11.
| |
− | 176
| |
− | Wir können den ›Alten Pflichten‹ treu bleiben ohne eine Sehnsucht nach dem unwiederbringbar
| |
− | vergangenen Gestern. Was wir für die Gestattung der Zukunft unseres
| |
− | Bundes brauchen, sind ›neue Pflichten‹! Zu diesem Pflichtenkatalog gehört unter
| |
− | anderem:
| |
− | • Die Öffnung der Freimaurer für den gesellschaftlichen Diskurs
| |
− | • Die Diskussion mit der Politik
| |
− | • Die Öffnung der Logen für Themen der Allgemeinheit und für möglichst viele
| |
− | Menschen
| |
− | • Die selbstbewusste Darstellung freimaurerischer Werte in der Öffentlichkeit
| |
− | • Die selbstverständliche Repräsentation der Freimaurer in Kultur und Gesellschaft.«
| |
− | Br. Jürgen Gansäuer, Präsident des niedersächsischen Landtages, legte in der Zeitschrift
| |
− | »TAU«64 Widerspruch ein, den er zuvor auf der Quatuor Coronati-Arbeitstagung in Altenburg
| |
− | vorgetragen hatte:
| |
− | »Ich habe Zweifel daran, ob der Freimaurerei und der politischen Kultur in unserem
| |
− | Land wirklich geholfen wäre, wenn der Großmeister regelmäßig als Sprecher der Logen
| |
− | bei Sabine Christiansen und ähnlichen Talkshows zu Gast wäre.
| |
− | Die Frage ist doch: Was würde der Großmeister bei Sabine Christiansen sagen und
| |
− | mit welcher Verbindlichkeit spräche er politisch für die Logen und den einzelnen
| |
− | Bruder? Hätte er der Westbindungspolitik Adenauers zugestimmt, der Einführung
| |
− | der Bundeswehr, dem Nato-Beitritt, den Weichenstellungen für die Europäische Gemeinschaft,
| |
− | dem Nato-Doppelbeschluss, der Beteiligung Deutscher Truppen im Kosovo
| |
− | oder der Einführung des Euro? Wäre die Welt gar besser, wenn sie nur noch von
| |
− | Freimauren regiert würde?
| |
− | Die Wahrheit ist: Das gemeinsame Bekenntnis zur Humanität und Toleranz impliziert
| |
− | geradezu, dass Freimaurer aus guten Gründen zu unterschiedlichen politischen
| |
− | Wertungen gelangen können. Was also soll man sagen, wenn man so selbstbewusst
| |
− | an die Öffentlichkeit geht, wie es hier vorgeschlagen wird, und Pressekonferenzen
| |
− | veranstaltet und darauf hin arbeitet, zu Empfängen und Diskussionen im Radio und
| |
− | im Fernsehen eingeladen zu werden? Brauchen wir wirklich eine solche ›Öffnung
| |
− | der Freimaurer für den gesellschaftlichen Diskurs‹, einen institutionalisierten Dialog
| |
− | ›der‹ Freimaurer mit ›der‹ Politik?
| |
− | Ich sage da ein deutliches Nein!«
| |
− | Verfolgt und bilanzierte man nun die Positionen, die zum Verhältnis Freimaurerei und Politik
| |
− | im Laufe der letzten Jahre vertreten worden sind, dann stellt sich mir Folgendes mit aller
| |
− | Deutlichkeit heraus:65
| |
− | 64 Gansäuer, Jürgen: Freimaurerische Werte und politische Praxis, in: TAU, Zeitschrift der Forschungsloge
| |
− | Quatuor Coronati, II/2005, S. 26–36.
| |
− | 65 Vgl. Höhmann, Hans-Hermann: Deutsche Freimaurerei und Politik nach dem Zweiten Weltkrieg: Zustimmung
| |
− | zur Demokratie – Grenzen für politisches Engagement, in: TAU, Zeitschrift der Forschungsloge
| |
− | »Quatuor Coronati«, II/2005, S. 52–60.
| |
− | 177
| |
− | • Für ein gemeinsames politisches Stellungnehmen oder gar Handeln gibt es in der Freimaurerei
| |
− | wenig Raum. Werte wie Freiheit, Toleranz, Gerechtigkeit lassen sich zwar gegenüber
| |
− | manifester, insbesonderer totalitärer Unfreiheit, Intoleranz und Ungerechtigkeit gemeinsam
| |
− | vertreten. In Systemen, die verfassungsmäßig auf Freiheit, Toleranz und Gerechtigkeit
| |
− | angelegt sind, ist die Realisierung der genannten Werte jedoch Resultat der Auseinandersetzung
| |
− | programmatisch unterschiedlich ausgerichteter demokratischer Gruppierungen.
| |
− | Zu diesen gehören Logen und Großlogen aufgrund von Tradition und Selbstverständnis
| |
− | nicht. Wer meint, aus einer freimaurerischen Vereinigung eine parteinehmende
| |
− | Gruppierung machen zu können, bewirkt, dass zuerst die Freimaurerei in Parteien und
| |
− | als Bund dann schließlich gänzlich zerfällt.
| |
− | • Ausnahmen von dieser Regel bestehen allerdings im Falle grober Verstöße gegen gemeinsame
| |
− | Überzeugungsgrundlagen (etwa rassistische Entgleisungen). Dann können, ja müssen
| |
− | Freimaurer gemeinsam vorgehen, weil Überzeugungen verletzt werden, in denen Freimaurer
| |
− | übereinstimmen, weil und solange sie Freimaurer sind.
| |
− | • Das öffentliche Auftreten von Freimaurern im Namen der Freimaurerei erfordert Behutsamkeit,
| |
− | und kein Repräsentant des Bundes sollte in solchen Fällen Aussagen zu politischen
| |
− | Problemen und Vorgängen als »freimaurerisch« deklarieren, wenn diese im Rahmen
| |
− | einer demokratischen Ordnung umstritten sind und folglich auch von Freimaurern
| |
− | ganz unterschiedlich beurteilt werden können.
| |
− | • Die Loge kann und soll politisches Handeln des einzelnen Freimaurers vorbereiten und unterstützen,
| |
− | indem sie ihre Mitglieder informiert, zur Reflexion einlädt, motiviert und
| |
− | mögliche Diskurs- und Handlungsfelder durch »Orientierungen« kenntlich macht, wobei
| |
− | es dann jedoch der einzelne Freimaurer ist, der politisch zu entscheiden und zu handeln
| |
− | hat.
| |
− | Ich habe in verschiedenen Beiträgen sechs derartige »Orientierungen« für ein freimaurerisches
| |
− | »Interesse an der Politik« vorgeschlagen. Diese Orientierungen entsprechen sowohl der freimaurerischen
| |
− | Wertetradition als auch den politischen Aufgabenfeldern im Zeitalter der Globalisierung.
| |
− | Daher sind sie auch geeignet, den politischen Diskurs der Freimaurer zu strukturieren
| |
− | und den thematischen Rahmen für Gespräche im öffentlichen Raum vorzugeben.
| |
− | Ich benenne im Folgenden die von mir vorgeschlagenen Orientierungen und ordne ihnen
| |
− | jeweils pointierte inhaltliche Thesen zu:
| |
− | • die humanitäre Orientierung: Zentrale Werte der Freimaurerei sind Würde und Glückseligkeit
| |
− | jedes einzelnen Menschen;
| |
− | • die demokratische Orientierung: Freimaurer gehen davon aus, dass Würde und Glückseligkeit
| |
− | des Menschen sich aller Erfahrung nach am besten in der politischen Freiheit demokratisch
| |
− | verfasster Systeme sichern lassen;
| |
− | • die soziale Orientierung: Freimaurer sind der Überzeugung, dass Würde und Freiheit des
| |
− | Menschen ohne Bemühen um soziale Gerechtigkeit nicht verwirklicht werden können;
| |
− | • die ökologische Orientierung: Freimaurer stimmen darin überein, dass ohne Friede mit der
| |
− | Natur menschliches Dasein unter industriegesellschaftlichen Bedingungen nicht möglich
| |
− | ist;
| |
− | • die globale Orientierung: Alle Politik ist heute an globalen Maßstäben, symbolisch ausgedrückt
| |
− | an der freimaurerischen Idee der Weltbruderkette, zu messen und
| |
− | 178
| |
− | • die rationale Orientierung: Freimaurer gehen davon aus, dass handlungsleitende Orientierungen
| |
− | in der Welt Wissenschaftlichkeit und kritisch rationale Diskurse erfordern.
| |
− | Diese Orientierungen sind nicht dogmatisch, aber auch nicht beliebig. Sie repräsentieren
| |
− | gleichermaßen den minimalen Konsensrahmen, ohne den ethisch verantwortliches individuelles
| |
− | wie gesellschaftliches Handeln unter den komplexen Bedingungen der Welt von heute
| |
− | und morgen nicht möglich ist und ohne den die Gesellschaft auseinanderfällt. Meine Absicht
| |
− | ist dabei, Erörterungsebenen anzubieten, die aus freimaurerischem Wertbewusstsein
| |
− | hervorgehen, ohne die für politisches Entscheiden und Handeln erforderlichen inhaltlichen
| |
− | Auffüllungen vorzunehmen. Denn diese müssen dem Diskurs und der individuellen Entscheidung
| |
− | vorbehalten sein.
| |
− | 179
| |
− | »Von Gott und der Religion« –
| |
− | Zum Religionsdiskurs in der deutschen
| |
− | Freimaurerei
| |
− | 1. Der Religionsdiskurs in historischer Perspektive
| |
− | 1.1 Vorbemerkung
| |
− | In seinem im Jahr 2009 bei Kiepenheuer & Witsch erschienenen Roman »Der Himmel ist
| |
− | kein Ort« erzählt der Autor Dieter Wellershoff von zwei evangelischen Pastoren, die sich
| |
− | in der Pause einer Akademietagung beim Spaziergang unterhalten. »Neulich habe ich einen
| |
− | geistvollen Witz gehört«, sagt der eine, »ein Verstorbener, der gerade in den Himmel kommt,
| |
− | bittet Gott, ihm eine einzige Frage stellen zu dürfen, die er auf Erden nicht beantworten
| |
− | konnte: ›Welche Religion ist eigentlich die richtige?‹ Gott antwortet: ›Das weiß ich nicht. Ich
| |
− | bin nicht religiös.‹«1
| |
− | Die Freimaurer dagegen wussten immer gut Bescheid über die religiösen Dinge, und
| |
− | sie haben stets mit ihren Mitbrüdern, mit der Öffentlichkeit und mit den Institutionen
| |
− | der Religion über ihr Religionsverständnis kommuniziert. Und so begleitet der religiöse
| |
− | Diskurs mit all seinen unterschiedlichen Feldern, Themen und Akteuren die Geschichte
| |
− | der Freimaurerei von Beginn an bis in unsere Tage, ja man kann sagen, dass der religiöse
| |
− | Diskurs der zentrale Diskurs der Freimaurerei gewesen ist und weithin das Denken und die
| |
− | Kommunikation der Freimaurer bestimmt hat. Allerdings nie grenzenlos und ungehemmt,
| |
− | denn weil das Thema Religion nicht nur wichtig, sondern auch brisant ist, empfahlen die
| |
− | Väter der modernen Freimaurerei bekanntlich schon früh, spätestens mit den »Alten Pflichten
| |
− | « von 1723, zurückhaltend und tolerant damit umzugehen und vor allem in der Loge
| |
− | nicht über Religion zu streiten.
| |
− | Meine Skizzen zum masonischen Religionsdiskurs – und um mehr als um Skizzen
| |
− | kann es sich nicht handeln – haben zwei Teile. Während sich der erste mit historischen
| |
− | Perspektiven beschäftigt, behandelt der zweite Aspekte der Gegenwart, wobei auch auf die
| |
− | Relevanz des religiösen Diskurses für die freimaurerische Praxis der deutschen Großlogen
| |
− | eingegangen werden soll.
| |
− | 1.2 Warum religiöse Diskurse?
| |
− | Die Frage, warum religiöse Diskurse von so großer Bedeutung für die Freimaurerei sind,
| |
− | lässt sich nur aus historischer Perspektive beantworten. Von Anfang an ergab sich für die
| |
− | Freimaurerei bereits dadurch ein auch auf Religion bezogener Erörterungs- und Definitionsbedarf,
| |
− | dass sie Formen, Zeichen und Riten des Steinmetzhandwerks im Vollzug des historischen
| |
− | »crossovers« von der Maurerei der »Stonemasons« zur Freimaurerei der »Gentleman-
| |
− | 1 Wellershoff, Dieter: Der Himmel ist kein Ort, Köln 2009, S. 250.
| |
− | 180
| |
− | Masons« auf teils ethisch-soziale, teils religiöse Kontexte übertrug.2 Bei dieser Selbstthematisierung
| |
− | musste das Verhältnis zur Religion schon deshalb eine vorrangige Rolle spielen, weil
| |
− | die Steinmetz-Korporationen, von denen sich die Freimaurerei herleitete, in hohem Maße
| |
− | religiös – konkret: christlich – eingebundene Institutionen gewesen sind.
| |
− | Dieser gleichsam »ontologische« Begründungsbedarf der Freimaurerei und ihres Verhältnisses
| |
− | zur Religion wurde bald doppelt verstärkt.
| |
− | Einmal machten die schon früh einsetzenden Angriffe von außen begründete Apologien
| |
− | erforderlich, in denen es vorrangig um religiöse Fragen ging. Bereits 1698 warnte in
| |
− | London ein Pamphlet »alle gottgefälligen Menschen, dass die, die Freimaurer genannt werden,
| |
− | eine teuflische Sekte darstellen, die im Geheimen Eide abfordert und der Antichrist
| |
− | ist«.3 Offenbar wurde die Freimaurerei bereits im Bewusstsein früher Zeitgenossen in einer
| |
− | gewissen Distanz zum kirchlich etablierten Christentum gesehen und aus christlicher Sicht
| |
− | nicht nur aufgrund ihrer besonderen Gruppenstruktur und der damit verbundenen Arkandisziplin,
| |
− | sondern auch wegen der ihr unterstellten kirchenfernen Religiosität kritisiert.
| |
− | Die immer wieder zitierte Charakterisierung des Freimaurers in den »Alten Pflichten«
| |
− | – »Wenn er seine Kunst recht versteht, wird er weder ein engstirniger Gottesleugner noch
| |
− | ein bindungsloser Freigeist sein« –, diente neben der Identitätsbestimmung ebenso der
| |
− | Abwehr von Angriffen wie der Mitte des 18. Jahrhunderts ausdrücklich als »Apologie des
| |
− | Freimaurerordens« bezeichnete, zuerst in französischer und dann in englischer Sprache
| |
− | veröffentlichte Text4, in dem die Freimaurerei als strikt christlich dargestellt wird und der
| |
− | Autor gleich zu Beginn zum ersten und in seiner Sicht wesentlichsten Einwand, »dass der
| |
− | Freimaurerorden gegen Religion im allgemeinen gerichtet sei; oder dass er zumindest eine
| |
− | christliche Konfession auf den Trümmern aller anderen aufzurichten versuche«, folgendermaßen
| |
− | Stellung bezieht:
| |
− | »Der erste Einwand scheint zwei unterschiedliche Punkte zu umfassen; da aber die meisten
| |
− | der Argumente für beide gleich ausfallen, habe ich mich dafür entschieden, sie nicht voneinander
| |
− | zu trennen.
| |
− | 1. Wir vermeiden sorgfältig, Atheisten oder Deisten zum Orden zuzulassen, (und wir versuchen)
| |
− | soweit es möglich ist, in einem Kandidaten derartige Auffassungen zu entdecken
| |
− | oder in seinem Verhalten Anzeichen auszumachen, dass er derartigen Prinzipien zuneigt.
| |
− | 2. Der Orden lässt nur Christen zu. Jenseits der Grenzen der christlichen Kirche kann und
| |
− | darf niemand akzeptiert werden. Juden, Mohammedaner und Heiden sind üblicherweise
| |
− | als Ungläubige ausgeschlossen.
| |
− | 3. Alle christlichen Gemeinschaften haben gleiche Rechte im Orden und sind ohne jeden
| |
− | Unterschied zugelassen: Dies ist die wohlbegründete Wahrheit, unterstützt durch unsere
| |
− | dauernde Praxis und niemand wird sie verneinen.«
| |
− | 2 Vgl. Höhmann, Hans-Hermann: Entwicklung, Reflexion, Wissenschaft. Anmerkungen zum Wechselspiel
| |
− | zwischen freimaurerischer Geschichte und Geschichte der Freimaurerforschung, in: Quatuor Coronati
| |
− | Jahrbuch für Freimaurerforschung, Nr. 41/2004, S. 229–239, hier insbesondere S. 229.
| |
− | 3 Nach Neugebauer-Wölk, Monika: »… You shall not reveal any part of what you shall hear or see …«. Geheimnis
| |
− | und Öffentlichkeit in masonischen Systemen des 18. Jahrhunderts, in: Quatuor Coronati Jahrbuch
| |
− | für Freimaurerforschung, Nr. 43/2004, S. 279–294, hier S. 280.
| |
− | 4 Apology for the Order of Free Masons by N. M. N. (Author) and Henry W. Thorpe (Translator),
| |
− | Whitefish/
| |
− | MT 2004, S. 2–8 (eigene Übersetzung).
| |
− | 181
| |
− | Zur Abwehr äußerer Angriffe kamen bald innere Auseinandersetzungen hinzu, mit denen
| |
− | um die »echte und eigentliche« Form der Freimaurerei gerungen wurde. Für die Freimaurerei
| |
− | waren zwar immer bestimmte Grundelemente konstitutiv5, die über Länder und Zeiten
| |
− | hinweg dieselben blieben, und ich nenne noch einmal in aller Kürze: (1) die abgeschlossene,
| |
− | durch verschwiegene Rituale geschützte, in der Regel männerbündische Gruppe, (2) den initiatischen
| |
− | Charakter der Rituale, (3) die der Bauhüttenüberlieferung entstammende Bausymbolik,
| |
− | die später – insbesondere mit der Schaffung von Hochgradsystemen – ins Hermetisch-
| |
− | Esoterische erweitert und durch Rittersymbolik ergänzt wurde, sowie (4) den Kanon
| |
− | von Werten und religiösen Orientierungen, der um unterschiedliche, teils aufklärerisch-humanitär
| |
− | teils christlich-esoterisch geprägte Begrifflichkeiten kreiste.
| |
− | Die genannten übereinstimmenden Elemente erwiesen sich aber schon früh als unterschiedlich
| |
− | versteh- und ausgestaltbar.6 Nicht zuletzt der freimaurerische Wert- und Orientierungskanon
| |
− | war inhaltlich von Anfang an flexibel interpretierbar, vor allem in seiner
| |
− | Bedeutung für die politisch-gesellschaftlichen und philosophisch-religiösen Kontexte, innerhalb
| |
− | deren sich Logen und Logensysteme definierten. Unterschiedliche Konzepte – etwa
| |
− | hinsichtlich der Frage, ob Freimaurerei einen ethisch orientierten Bund, ein »System of Morality
| |
− | « oder einen religiösen Orden darstelle oder ob ausschließlich Christen oder alle Gott
| |
− | bekennenden Menschen in den Bund aufgenommen werden sollten – wirkten auf Inhalt
| |
− | und Form der Rituale zurück, was dann wiederum Denken und Diskurse zu bestimmten
| |
− | »Lehrarten« der Freimaurerei verdichtete und ihnen Kontinuität verlieh. Es ist zwar richtig,
| |
− | dass Symbole und Rituale in ihrer nunmehr drei Jahrhunderte überspannenden Geschichte
| |
− | die besonderen Merkmale der Freimaurerei sind, die sie von anderen ethisch-geselligen
| |
− | Assoziationen unterscheidbar machten, aber Symbole und Rituale bestimmten nicht, oder
| |
− | zumindest nur zum Teil, die konzeptionellen Inhalte der Freimaurerei, die sich von System
| |
− | zu System, ja oft von Loge zu Loge unterschieden, und die oft entsprechend der jeweils dominierenden
| |
− | ideologischen Grundlage und Interessenstruktur eine neue symbolisch-rituelle
| |
− | Fassung erhielten.
| |
− | Die Unterschiede zwischen den verschiedenen Typen von Freimaurerei lassen sich
| |
− | einmal auf Faktoren zurückführen, die mehr außerhalb als innerhalb der Freimaurerei
| |
− | lokalisiert waren, jedoch nachhaltig auf den Entwicklungsprozess des Bundes, seine Dynamik
| |
− | und seine Differenzierungen zurückwirkten, wie politisches Umfeld, Zeitgeist und
| |
− | gesellschaftliche Strukturen. Sie waren aber auch darauf zurückzuführen, dass es auf dem
| |
− | Hintergrund dieser Einflussfaktoren und Entwicklungsmilieus durchaus unterschiedliche
| |
− | individuelle Motivationen gab, dem Freimaurerbund beizutreten: Religiöse, weltanschaulich-
| |
− | philosophische, soziale und politische Motive vermischten sich bei dem nach 1717
| |
− | einsetzenden »Run« auf das Erfolgsmodell Freimaurerei. Viele suchten, aber die meisten
| |
− | von ihnen suchten immer auch etwas jeweils anderes.
| |
− | Resultat waren zahlreiche Formen und Typen von Freimaurerei, und so taugte die seit
| |
− | Kaiser Friedrichs III. Tagen vor allem in Deutschland populär gewordene Formel: »Es gibt
| |
− | nur eine Freimaurerei« von Anfang an nicht zur Analyse, und sie sollte sich später – bis in
| |
− | 5 Vgl. Höhmann, Hans-Hermann: Die Freimaurer, in: Klöcker, Michael/Tworuschka, Udo: Handbuch
| |
− | der Religionen, 21. Ergänzungslieferung 2009 (Juli), IX – 20, S. 4–10.
| |
− | 6 Vgl. Neugebauer-Wölk, Monika: Zur Einführung, in: Maurice, Florian: Freimaurerei um 1800. Ignaz Aurelius
| |
− | Feßler und die Reform der Großloge Royal York in Berlin, Tübingen 1997, S. XI–XVIII, hier S. XVIII.
| |
− | 182
| |
− | die Gründungsphase der Vereinigten Großlogen von Deutschland (VGLvD) hinein – auch
| |
− | als Grundlage fragwürdiger strategischer Konzepte erweisen.
| |
− | 1.3 Vom 18. zum 19. Jahrhundert
| |
− | Der Wilhelmsbader Freimaurer-Konvent von 1782 war ein letzter, umfassender Versuch,
| |
− | Ordnung in der deutschen Freimaurerei zu schaffen und das System der »Strikten Observanz
| |
− | « auf eine neue, tragfähige Grundlage zu stellen. Zugleich bot der Konvent ein Beispiel
| |
− | für einen auf hoher gesellschaftlicher Ebene geführten religiösen Diskurs, an dem gleichermaßen
| |
− | Protestanten wie Katholiken beteiligt waren und wie er danach in der Freimaurerei
| |
− | nicht wieder zustande kommen sollte.
| |
− | Mit Ludwig Hammermayer lassen sich drei Hauptgruppen von Konventsteilnehmern identifizieren,
| |
− | von denen zwei ganz dezidiert von einem religiösen Verständnis von Freimaurerei
| |
− | ausgingen:7
| |
− | 1. Die Anhänger sehr verschiedener hermetisch-alchymistischer Traditionen, die grundsätzlich
| |
− | am maurerischen Templerorden festhalten und ihn höchstens modifizieren und modernisieren
| |
− | wollten.
| |
− | 2. Die Anhänger des mystisch-martinistischen Lyoner Systems, angeführt durch Herzog Ferdinand,
| |
− | Prinz Karl von Hessen und Jean Baptiste Willermoz.
| |
− | 3. Die Anhänger von Aufklärung und Rationalismus mit Ditfurth, Bode und von Kortum
| |
− | aus Warschau als wichtigsten Vertretern und Adolph Freiherr Knigge als nachhaltig wirkende
| |
− | Hintergrundperson. In dieser Gruppe spielten auch Illuminaten eine bedeutsame
| |
− | Rolle.
| |
− | Hammermayer hat die Ergebnisse des Konvents und insbesondere die Bedeutung des »Systems
| |
− | der wohltätigen Ritter« folgendermaßen zusammengefasst:
| |
− | »(Nach Wilhelmsbad sah) der Orden seine wahre Aufgabe in der Vollendung des
| |
− | Christentums auf dem Wege esoterischer, mystisch-spiritualistisch-martinistischer
| |
− | Freimaurerei. In der Lehre Saint-Martins wähnte er den Schlüssel zu vertiefter Erkenntnis
| |
− | Gottes, seiner menschlichen wie dinglichen Schöpfung – und nicht zuletzt
| |
− | zum Wiedergewinn der prä-existenten Harmonie und der ihr innewohnenden übersinnlichen
| |
− | Kräfte gefunden. Diesem dominierenden Martinismus verbanden sich im
| |
− | Wilhelmsbader System mystisch-pietistische und theosophische Einflüsse aus den
| |
− | maurerischen Systemen eines Haugwitz und der Schwedischen Logen, (die bereits
| |
− | in den Johannesgrad-Ritualen ersten Niederschlag fanden). Dass ein solches maurerisches
| |
− | System vielen fremd und unzugänglich, ja unheimlich erscheinen musste und
| |
− | manchen Adepten überforderte, verwundert nicht.«8
| |
− | Die deutsche Freimaurerei ist nach dem Konvent von Wilhelmsbad jedenfalls nicht dem
| |
− | Weg des Lyoner Systems gefolgt, und sie konnte auch keine andere gemeinsame Grundla-
| |
− | 7 Hammermayer, Ludwig: Der Wilhelmsbader Freimaurer-Konvent von 1782, Heidelberg 1980, S. 37f.
| |
− | 8 Ebenda, S. 86f.
| |
− | 183
| |
− | ge finden. Insofern war der Konvent gescheitert. Wilhelmsbad brachte jedoch aus heutiger
| |
− | Sicht einen erheblichen Erkenntnisgewinn. Wurden doch die Probleme und Strömungen
| |
− | der deutschen und kontinentaleuropäischen Freimaurerei vor der Wende zum 19. Jahrhundert
| |
− | sowie wichtige Tendenzen zukünftiger Entwicklungen klar erkennbar.
| |
− | Für das Verhältnis zwischen Freimaurerei und Religion bzw. den religiösen Diskurs
| |
− | waren zwei Umstände von besonderer Bedeutung: Einmal verfestigten sich in Deutschland
| |
− | tief verwurzelte, bis heute weiterwirkende konzeptionelle und organisatorische Unterschiede
| |
− | zwischen »humanitärer« und »christlicher« Freimaurerei,9 zum anderen änderte
| |
− | sich die konfessionelle Struktur der deutschen Freimaurerei, weil die Zahl katholischer
| |
− | Mitglieder rasch und gründlich zurückging.
| |
− | Jetzt entstand die für die Logen der klassischen Bürgerperiode vom Vormärz bis zum
| |
− | Ersten Weltkrieg typische Zivilreligion, die sich als kirchenfern, undogmatisch, »gebildet«
| |
− | und doch religiös und in unterschiedlichem Ausmaß auch als christlich verstand.10
| |
− | Eine solche »Religion der Bürger« bestimmte das Selbstverständnis wie die kulturellen
| |
− | Praktiken der Logen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Zivilreligion der
| |
− | Logen, die »Religion der Menschheit« – dies und das folgende in Übereinstimmung mit
| |
− | der überzeugenden Analyse Stefan Ludwig Hoffmanns11 –, stand nicht, wie die Freimaurer
| |
− | glaubten, über den Konfessionen, sondern war im Kern protestantisch. Dies zeigte sich
| |
− | nicht nur am Antikatholizismus der Freimaurer, der vielen Logenreden eigen war, und an
| |
− | den gleichzeitig erfolgenden Zurückweisungen der Kritik von Seiten der Kirchen, vor allem
| |
− | der katholischen. Es zeigte sich auch und insbesondere am logen- und großlogeninternen
| |
− | Diskurs über die Aufnahme von Juden, die man maurerischen Prinzipien entsprechend
| |
− | doch eigentlich als Brüder in der Loge hätte akzeptieren sollen und die man doch selbst
| |
− | bei den humanitären Großlogen nur zögerlich akzeptieren wollte.
| |
− | Johann Caspar Bluntschli,12 Staats- und Völkerrechtler von großer Bedeutung, war führender
| |
− | Protestant und als engagierter Freimaurer einer der einflussreichsten Teilnehmer
| |
− | am Religionsdiskurs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Bluntschli war 1838 in
| |
− | Zürich Freimaurer geworden (Loge »Modestia cum libertate«) und gehörte in seiner Zeit
| |
− | als Heidelberger Hochschullehrer der Loge »Ruprecht zu den fünf Rosen« als Mitglied
| |
− | an, deren Stuhlmeister er war. Von 1872 bis 1878 war er Großmeister der Großloge »Zur
| |
− | Sonne« in Bayreuth und maßgeblich an der Gestaltung der Großlogenrituale beteiligt.
| |
− | Aufsehen erregte sein offenes Schreiben an Papst Pius IX. im Jahre 1865, in dem er die erneute
| |
− | Verdammung der Freimaurerei (Enzyklika »Quanta cura« mit beigefügtem »Syllabus
| |
− | errorum«) zurückwies. Bluntschli war Anwalt der Vereinigung der deutschen Freimaurer in
| |
− | einer gemeinsamen Großloge, fand jedoch mit einem entsprechenden Verfassungsentwurf
| |
− | auf dem Großlogentag von 1878 keine Zustimmung. Aus Enttäuschung darüber stellte er
| |
− | danach seine freimaurerischen Aktivitäten weitgehend ein.
| |
− | 9 Auf diese Unterschiede ist im zweiten Teil dieses Beitrags noch einmal ausführlicher zurückzukommen.
| |
− | 10 Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte, Bd. 1, München 1999, S. 519.
| |
− | 11 Hoffmann, Stefan-Ludwig: Die Politik der Geselligkeit. Freimaurerlogen in der deutschen Bürgergesellschaft
| |
− | 1840–1918, Göttingen 2000, S. 256–266.
| |
− | 12 Zu Bluntschli unter Berücksichtigung seines freimaurerischen und protestantischen Engagements zuletzt
| |
− | Metzner, Carolin: Johann Caspar Bluntschli: Leben, Zeitgeschichte und Kirchenpolitik 1808–1881,
| |
− | Frankfurt/Main 2009.
| |
− | 184
| |
− | Bluntschli hat das Grundprinzip der »Religiosität der Bürger-Freimaurer« folgendermaßen
| |
− | definiert:13
| |
− | »Sie hält fest an dem, allen christlichen und nichtchristlichen Völkern gemeinsamen
| |
− | Glauben an einen persönlichen Gott, der dem Maurer vorzüglich als ein schaffender
| |
− | und erhaltender Künstler, als Erbauer des Weltgebäudes nahe tritt, und prägt diesen
| |
− | Gedanken in kultusartiger Form aus.«
| |
− | Eine solche Religiosität stehe über den Konfessionen, denn – so wieder Bluntschli –:
| |
− | »Die maurerische Moral betont überall die Würde der Menschennatur und mahnt
| |
− | zur Bruderliebe … Eine Loge kann daher konsequent keinem human Andersgläubigen
| |
− | die Bruderhand versagen, wenn gleich sie der christlichen Religion als der ihres
| |
− | mütterlichen Bodens am nächsten steht.«
| |
− | Die individuelle Tugend der Bürger, ihre Moralität schien nicht ablösbar vom religiösen
| |
− | Glauben zu sein. »Wer sich nur Menschen und nicht Gott verantwortlich fühlt, kann kein
| |
− | sittlicher Mensch sein«, hieß es in einer Logenrede,14 und »als die ›sittlichste‹ Form der Religiosität
| |
− | galt wie selbstverständlich der liberale Protestantismus«.15
| |
− | Atheismus galt als für Freimaurer ausgeschlossen.16 Bluntschli selbst trug in starkem
| |
− | Maße dazu bei, dass der Glaube an einen nicht weiter bestimmten Gott als Aufnahmebedingung
| |
− | aller deutschen Logen in den von ihm mitverfassten »Allgemeinen Grundsätzen«
| |
− | des Großlogentages von 1878 festgeschrieben wurde. Freimaurerlogen, welche die Existenz
| |
− | Gottes verleugneten, sollten nicht als reguläre Loge anerkannt und die Beziehungen zum
| |
− | »Grand Orient de France«, der sich im Vorjahr zum Verzicht auf das Symbol des »Großen
| |
− | Baumeisters« entschlossen hatte, abgebrochen werden. Die Trennungslinie zwischen einer
| |
− | christlich-protestantischen, wenn auch teilweise Nicht-Christen offenen Logenwelt auf der
| |
− | einen und einer Atheismus als persönliche Weltanschauung zulassenden Freimaurerei auf
| |
− | der anderen Seite blieb für längere Zeit scharf gezogen.
| |
− | Die Auffassung, Sittlichkeit bedürfe der religiösen Rückbindung, findet sich auch in
| |
− | den Beiträgen eines anderen prominenten Teilnehmers am religiösen Diskurs deutscher
| |
− | Freimaurer in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, des bedeutenden Berliner Agrarwissenschaftlers
| |
− | Hermann Settegast. Settegast war von 1884 bis 1889 zugeordneter Großmeister
| |
− | der Großen Loge Royal York, wurde 1889 zum Großmeister gewählt, trat aber ein Jahr
| |
− | später zurück, weil seine »Vorschläge zur Umgestaltung des Systems der großen Loge, die
| |
− | Verzichtleistung auf maurerische Hochgrade … sowie (seine) Anträge bezüglich ungerechtfertigter
| |
− | Zurückweisung von Suchenden nicht-christlicher Religion abgelehnt wurden«.17
| |
− | 13 Bluntschli, Johann Caspar: Freimaurer, in: Bluntschli, Johann Caspar/Brater, Karl (Hrsg.): Deutsches
| |
− | Staatswörterbuch, Bd. 3, Stuttgart 1858, S. 745–755, hier S. 753, zitiert nach Hoffmann, Stefan-Ludwig:
| |
− | a.a.O., S. 257f.
| |
− | 14 Zitiert nach Hoffmann, Stefan-Ludwig: a.a.O., S. 258.
| |
− | 15 Ebenda.
| |
− | 16 Dies und das Folgende wiederum nach Hoffmann, Stefan-Ludwig: a.a.O., S. 261f.
| |
− | 17 Settegast, Hermann: Die Deutsche Freimaurerei. Ihre Grundlagen, ihre Ziele für Freimaurer und Nichtfreimaurer,
| |
− | Berlin 1892/1919, S. 9.
| |
− | 185
| |
− | Für Settegast ist
| |
− | »die Idee der Sittlichkeit … mit der Gottesidee untrennbar verbunden. Da der Denkende
| |
− | seine Beziehungen zu Gott, seine Abhängigkeit von ihm nicht lösen, d.h. ohne
| |
− | religiöses Bewußtsein menschenwürdig nicht leben kann, so ist er in seiner gesamten
| |
− | Lebensanschauung und Lebensführung dem Gebot der Sittlichkeit untertan. Aber
| |
− | die Religion ist nicht die Kirche und fesselt den Bekenner der Sittlichkeit so wenig an
| |
− | einen positiven kirchlich-religiösen Glauben, dass ihm in Unabhängigkeit von diesem
| |
− | und von allen Besonderheiten kirchlicher Lehrarten, Lehrmeinungen und -ordnungen
| |
− | auf dem Boden sittlichen Fürwahrhaltens selbständige Bewegung gestattet,
| |
− | d.h. unantastbare sittliche bzw. Gewissensfreiheit verbürgt ist«.18
| |
− | Andererseits prangerte Settegast in scharfen Worten die Praxis der Großen Loge Royal York
| |
− | an, trotz formaler Öffnung in der Großlogenverfassung Juden de facto aus Logen der Großloge
| |
− | herauszuhalten. Alfred Oehlke berichtet in einer biographischen Skizze über Settegasts
| |
− | Kritik an der vorherrschenden Kugelungspraxis:
| |
− | »Nach den damals bestehenden Vorschriften der Großloge Royal York war die Abstimmung
| |
− | über Suchende eine absolut geheime. Eine bis drei ungünstige Stimmen
| |
− | mußten zwar begründet werden, mehr als drei aber wiesen den Suchenden ohne weiteres
| |
− | ab. Bei der gerade in jener Zeit zur Herrschaft gelangten antisemitischen Strömung
| |
− | hatte sich der Brauch herausgebildet, Suchende jüdischen Glaubens systematisch
| |
− | dadurch abzuweisen, daß ihnen mehr als drei schwarze Kugeln geworfen wurden.
| |
− | Settegast erblickte in dieser regelmäßigen Übung einen Verstoß nicht nur gegen
| |
− | das Wesen der Freimaurerei, sondern auch gegen eins der Grundgesetze eben jener
| |
− | Großloge selbst.«19
| |
− | Settegast war wie Bluntschli evangelischer Christ, doch er betonte gleichzeitig, »dass es
| |
− | für die Freimaurerei auf den Unterschied zwischen Judentum und Christentum nicht ankomme,
| |
− | denn die Grundgedanken, die die Freimaurerei zur Voraussetzung haben, seien an
| |
− | kein religiöses Bekenntnis geknüpft; in dem Judentum aber seien sie, wie sich nachweisen
| |
− | lasse, ganz ausdrücklich vorhanden«.20
| |
− | 1.4 Neue Grenzziehungen im 20. Jahrhundert
| |
− | Im Verlauf des 20. Jahrhundert zeichneten sich allerdings neue Grenzziehungen ab. Zunächst
| |
− | entstand mit dem »Freimaurerbund zur aufgehenden Sonne« (FzaS) auch in Deutschland
| |
− | ein nicht religiös gebundenes, säkular-liberales Verständnis von Freimaurerei, in dem
| |
− | insbesondere der postulierte strikte Zusammenhang zwischen religiösem Glauben und moralischem
| |
− | Handeln infrage gestellt wurde. Dabei hielt der FzaS an der symbolisch-rituellen
| |
− | Ausrichtung der Freimaurerei fest, und seine in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts
| |
− | 18 Ebenda, S. 32.
| |
− | 19 Oehle, Alfred: Hermann Settegast. Ein Lebensbild, in: Settegast, Hermann: Die Deutsche Freimaurerei.
| |
− | Ihre Grundlagen, a.a.O., S. 17f.
| |
− | 20 Ebenda, S. 23f.
| |
− | 186
| |
− | entstandenen Rituale sind sowohl von der ethisch-aufklärerischen Ausrichtung der Freimaurerei
| |
− | des FzaS als auch von einer breit ausgestalteten kosmologischen Spiritualität geprägt.
| |
− | Auch hier fand sich mit Rudolph Penzig ein überragender Diskursteilnehmer.21 In
| |
− | seinem Mitte der 1920er Jahre veröffentlichten »Freimaurerlehrbuch« führt Penzig auf die
| |
− | Frage »Verlangt nicht aber gerade das freimaurerische Ziel sittlicher Willensbildung nach
| |
− | einer religiösen Begründung der Sittlichkeit?« das Folgende aus:
| |
− | »Diese Frage sollte seit Spinozas und Kants Lebenswerk unmöglich geworden sein.
| |
− | Daß die Sittlichkeit keiner religiösen Begründung bedarf, eine solche vielmehr mit
| |
− | dem Lohn- und Strafbegriff die wahre Sittlichkeit gefährdet, dass nur das Bedürfnis
| |
− | nach einer überweltlichen Vollzugskraft rechtlichen und sittlichen Vorschriften die
| |
− | Weihe des Heiligen verlieh, dass endlich eine reinmenschlich-natürliche Sittenlehre
| |
− | längst als lediglich auf dem Gemeinschaftswillen der Menschheit anerkannt ist, kann
| |
− | selbst von den Vertretern der Gegenseite nicht mehr bestritten werden. Die auf dem
| |
− | Boden des Menschheitsgedankens ruhende Freimaurerei kann für ihr Erziehungswerk
| |
− | nur eine von allen Glaubensmeinungen und jenseitigen Voraussetzungen freie
| |
− | rein-menschliche Sittenlehre brauchen.«22
| |
− | In Abwehr der dem FzaS entgegengehaltenen Vorwürfe, religiöse Bekenntnisse und Freimaurerei
| |
− | schlössen sich in seiner Sicht aus, bemerkt Penzig:
| |
− | »Der Freimaurerbund … fordert seinerseits keinerlei Bekenntnis, auch nicht das des
| |
− | Unglaubens. Allerdings macht er dabei die Voraussetzung, dass der Fromme noch
| |
− | ein Suchender sei, nicht ein Angekommener, ein Strebender, nicht ein Fertiger, ein
| |
− | Hungernder, nicht ein Satter! Schätzt doch der Freimaurer mehr das Forschen nach
| |
− | der Wahrheit, als ihren Besitz, den Willen zum Besserwerden mehr als die unantastbare
| |
− | Heiligkeit, kurz den Weg höher als das Ziel.«23
| |
− | Und an anderer Stelle konstatiert Penzig zum Nebeneinander einer religiös gebundenen und
| |
− | einer religiös ungebundenen, liberalen Freimaurerei:
| |
− | »Wie ein Strom von den verschiedensten Quellen und Nebenflüssen aus Himmelshöhen
| |
− | und Erdentiefen gespeist wird, so mag auch der Wille zur Vervollkommnung
| |
− | der Menschheit seine lebendige Kraft aus religiösen oder humanen, göttlichen oder
| |
− | menschlichen Beweggründen schöpfen – dass er da sei und wirke und die ganze
| |
− | Menschheit endlich erfülle, – darauf kommt es an.«24
| |
− | 21 Dr. Rudolph Penzig war von 1919 bis 1926 Großmeister des FzaS. Er gehörte seit 1903 zum linken Flügel
| |
− | der Fortschrittspartei und ab 1917 zur SPD. Penzig war in Berlin-Charlottenburg ehrenamtlicher Stadtrat
| |
− | und von Beruf Moralpädagoge. Er wirkte u.a. leitend im Bruno-Bund, in der Deutschen Gesellschaft
| |
− | für ethische Kultur, im Deutschen Bund für weltliche Schule und Moralunterricht und im Vorstand des
| |
− | Bundes freireligiöser Gemeinden.
| |
− | 22 Penzig, Rudolph: Freimaurer-Lehrbuch, Oldenburg o.J., S. 17.
| |
− | 23 Ebenda, S. 18.
| |
− | 24 Ebenda, S. 19.
| |
− | 187
| |
− | Ein eigentlicher, von gegenseitiger Achtung und Toleranz bestimmter Diskurs um die Position
| |
− | des FzaS ist nicht geführt worden. Bedauerlicherweise, so muss man sagen, vor allem
| |
− | im Hinblick auf die späteren weltanschaulich-religiösen Annäherungen großer Teile der
| |
− | deutschen Freimaurerei an den Nationalsozialismus. Es blieb beim Diktum der Irregularität.
| |
− | Und so ist es nicht ohne historische Ironie, dass sich heute alle deutschen Großlogen,
| |
− | auch die ehemals strikt ablehnenden christlichen Großlogen in ihrer Öffentlichkeitsarbeit
| |
− | gern mit den Namen der FzaS-Brüder Kurt Tucholsky und Carl von Ossietzky schmücken
| |
− | und insbesondere deren ablehnende, ja widerständige Einstellung zum Nationalsozialismus
| |
− | hervorheben. Ist das nun Gedankenlosigkeit, ist es schlicht peinliche Anmaßung, ist es eine
| |
− | – zumindest implizite – Kritik an der ablehnenden Haltung gegenüber dem FzaS in den
| |
− | 1920er Jahren oder ist es Ausdruck der Überzeugung, dass spätestens im ewigen Osten die
| |
− | Scheidung regulär – irregulär nicht mehr gilt? Die deutschen Freimaurer sollten diese Fragen
| |
− | in ihren künftigen Diskursen nicht ausschließen.
| |
− | Neue Trennungslinien traten zwischen dem Ersten Weltkrieg und dem Verbot der Freimaurerei
| |
− | Mitte der 1930er Jahre in Erscheinung. Zunächst kam es zu einer wechselseitigen
| |
− | Verschärfung des Tons zwischen deutscher – insbesondere altpreußischer Freimaurerei –
| |
− | und der englisch-amerikanischen Freimaurerei. Auf der Seite der »altpreußischen« Freimaurerei
| |
− | wurde die Verbindlichkeit der »Alten Pflichten« abgelehnt und den englischen
| |
− | Freimaurern Oberflächlichkeit und Fehlen religiöser Tiefe vorgehalten. Umgekehrt gab
| |
− | es seitens der »English-speaking Masonry« prinzipielle Abgrenzungen und Verurteilungen
| |
− | gegenüber der »altpreußischen« Freimaurerei, deren Regularität in Zweifel gezogen wurde.25
| |
− | Gleichzeitig vertiefte sich die Spannung zwischen altpreußischer und humanitärer Freimaurerei
| |
− | in Deutschland. Es wurde konzeptionell heftig gestritten, wobei die Vermischung nationaler
| |
− | mit religiös-christlicher Rhetorik besonders kennzeichnend war. Auf altpreußischer
| |
− | Seite kam es zu einer zunehmenden Identifizierung mit altgermanischer Mystik, die schließlich
| |
− | auch zu einer Arisierung der Rituale führte, während gleichzeitig eine Anlehnung an
| |
− | die Glaubenspositionen der »deutschen Christen« des Reichsbischofs Müller empfohlen
| |
− | wurde.26
| |
− | Vorangetrieben wurde diese Entwicklung vor allem durch August Horneffer, den
| |
− | Schriftführer, Archivar und De-facto-Großsekretär der »Großen Loge von Preußen, gen.
| |
− | zur Freundschaft«. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg hatte August Horneffer gemeinsam
| |
− | mit seinem Bruder Ernst eine mystisch-religiöse Auffassung der Freimaurerei vertreten,
| |
− | die zunächst kaum Akzeptanz fand.27 Im Verlauf der 1920er Jahre näherte sich Horneffer
| |
− | immer mehr einer »ariosophen« Esoterik an, wie sie von Guido von List und Jörg Lanz
| |
− | von Liebenfels entwickelt und vertreten wurde, die auch Hitler nicht unwesentlich beeinflussten.
| |
− | Konsequenterweise hieß es dann im Juni 1933 an der Tafel des zur Sonnwendfeier
| |
− | 25 The Maine Masonic Text Book for the Use of Lodges, 1923, S. 164. Vgl. Höhmann, Hans-Hermann: Europas
| |
− | verlorener Friede, die nationalvölkische Orientierung innerhalb der deutschen Freimaurerei und
| |
− | die »freimaurerische Erinnerungspolitik« nach dem Zweiten Weltkrieg, in diesem Band, S. 58.
| |
− | 26 Ausführlich hierzu Höhmann, Hans-Hermann: Europas verlorener Friede, die nationalvölkische Orientierung
| |
− | innerhalb der deutschen Freimaurerei und die »freimaurerische Erinnerungspolitik« nach dem
| |
− | Zweiten Weltkrieg, in diesem Band, S. 51–87.
| |
− | 27 Vgl. Hoffmann, Stefan-Ludwig: a.a.O., S. 275.
| |
− | 188
| |
− | gewordenen Johannisfestes als Quasi-Tischgebet: »Sonnenwende – Schicksalswende! Ständig
| |
− | nesteln Nornenhände …«28
| |
− | Gewiss: Verbot und Unterdrückung durch das NS-System haben die deutsche Freimaurerei
| |
− | auf das Schwerste beschädigt, das Verbot hat freilich auch weitere Verbiegungen
| |
− | und Anpassungen an das System verhindert, zu denen es – daran kann nach Lage der
| |
− | historischen Fakten überhaupt kein Zweifel bestehen – zweifellos gekommen wäre. So war
| |
− | das Ende von 1935 zugleich eine Rettung des Ansehens der Freimaurerei, ohne die es den
| |
− | Neuaufbau nach 1945 nicht hätte geben können.
| |
− | 2. Der freimaurerische Religionsdiskurs der Gegenwart
| |
− | 2.1 Ängste und Besorgnisse
| |
− | Und nun im zweiten Teil meiner Skizze: zum religiösen Diskurs in der deutschen Gegenwartsfreimaurerei.
| |
− | Auch heute führen Brüder, Logen und Großlogen den religiösen Diskurs in Erklärungen,
| |
− | in Zeitschriften (insbesondere die »Zirkelkorrespondenz« der Großen Landesloge
| |
− | besteht zu einem großen Teil aus Beiträgen zum religiösen Diskurs) und auf ihren Internetseiten.
| |
− | Es ist allerdings immer nur ein kleiner Anteil der deutschen Freimaurer, der sich
| |
− | daran beteiligt. Was die einzelnen Freimaurer über religiöse Fragen denken und wie ihr
| |
− | Verhältnis zu Kirche und Glauben beschaffen ist, gehört zu den der empirischen Forschung
| |
− | bislang versperrten, persönlich-subjektiven freimaurerischen Geheimnissen – und vielleicht
| |
− | ist das auch gut so!
| |
− | Auch die Forschungsgesellschaft »Quatuor Coronati« beteiligt sich am religiösen Diskurs,
| |
− | und zwar so intensiv, dass der eine oder andere meint, es sei inzwischen genug damit.
| |
− | Genug weniger, weil die Ergebnisse der Gespräche wirklich zufriedenstellend wären, genug
| |
− | vielmehr deshalb, weil sich zeigt, dass ein offen geführter religiöser Diskurs nicht nur Erkenntnisfortschritte,
| |
− | sondern auch Risiken für Harmonie und Stabilität in der Bruderschaft
| |
− | mit sich bringt. Des Öfteren scheinen Unklarheiten in Bezug auf das Verhältnis zwischen
| |
− | Freimaurerei und Religion leichter zu ertragen zu sein als Deutlichkeit und Präzision in
| |
− | den weltanschaulichen Positionen, was ja ein Nachdenken über Konsequenzen und klare
| |
− | Stellungnahmen nahelegen, ja erforderlich machen würde.
| |
− | Die heutigen Freimaurer scheinen aus vielen Gründen nicht so recht frei zu sein,
| |
− | wirklich offen über Fragen der Religion im Kontext ihres Bundes zu sprechen. Während
| |
− | die religiösen Diskurse der Theologen oft von erfrischender Schärfe und Eindeutigkeit in
| |
− | den Positionen sind, verläuft der freimaurerische Religionsdiskurs einerseits merkwürdig
| |
− | unscharf und gebremst, andererseits aber auch erregt, beleidigt und aggressiv, wozu er sich
| |
− | dann oft in die zuweilen recht trübe Welt der masonischen Internetforen verlagert. Eine
| |
− | Ausnahme machen allerdings meiner Beobachtung nach die Freimaurerinnen, denen oft
| |
− | ein erfrischend direkter Umgang mit Tabus gelingt.
| |
− | 28 Ordensblatt, hrsg. vom Nationalen Christlichen Orden Friedrich der Große in Berlin, 1. Jg., Juli/August
| |
− | 1933, Nr. 3, S. 45.
| |
− | 189
| |
− | Warum ist der religiöse Diskurs so schwierig?
| |
− | Zu benennen ist insbesondere eine Reihe von Besorgnissen und Ängsten:
| |
− | • Ängste vor einer Beschädigung der gewohnten und liebgewonnen weltanschaulich-religiösen
| |
− | Heimat und – damit verbunden und daraus resultierend – Besorgnisse und Ängste
| |
− | im Hinblick auf möglicherweise einsetzende Veränderungen von Ritual und Organisation.
| |
− | Die empirische Soziologie beobachtet ja des Öfteren, dass besonders dann an tradierten
| |
− | formalen Strukturen festgehalten wird, wenn die aus der Tradition überlieferten
| |
− | Inhalte unscharf und instabil geworden sind.
| |
− | • Dazu kommen Besorgnisse und Ängste im Hinblick auf Konflikte innerhalb der und zwischen
| |
− | den Großlogen der VGLvD, müsste doch ein offener Religionsdiskurs gravierende
| |
− | Unterschiede zwischen der ethisch-symbolisch orientierten GL A.F.u.A.M. und dem
| |
− | christlichen Freimaurerorden zutage fördern, durch die die Harmonie, wenn im Extremfall
| |
− | nicht gar Einheit und Bestand der VGLvD beschädigt werden könnten. (Ich komme
| |
− | auf diesen Gesichtspunkt noch ausführlicher zurück.)
| |
− | • Weiter zu erwähnen sind Auswirkungen der »Arkandisziplin«: Oft sind die Brüder Freimaurer
| |
− | unsicher, was bei der Kommunikation mit Außenstehenden zum Ritual gesagt
| |
− | werden darf bzw. soll und die Bemühungen der Großlogen, hierzu eine Klärung herbeizuführen,
| |
− | reichen nicht aus. Wer das Ritual im Diskurs ausspart, kann freilich auch nicht
| |
− | über dessen Beziehung zu Religion und Religiosität kommunizieren. Die Fähigkeit, gehaltvoll
| |
− | über das Ritual zu sprechen und zugleich das »Kerngeheimnis« nicht preiszugeben,
| |
− | ist unterentwickelt, zumal die Ergebnisse der neueren Ritualforschung, die hier
| |
− | zu Kompetenz und Auskunftsfähigkeit verhelfen könnten, bis in die Spitzen der maurerischen
| |
− | Hierarchien hinein weitgehend nicht zur Kenntnis genommen wurden. Ersatzweise
| |
− | begnügt man sich dann zuweilen mit der Mitwirkung an fragwürdigen Fernsehfilmen
| |
− | (besonders abschreckend: die ARD-Produktion »Tempel, Logen, Rituale«).
| |
− | • Besonders groß sind die genannten Besorgnisse und Schwierigkeiten bei den Vertretern
| |
− | höherer Gradsysteme, die fürchten, in einen von ihnen nicht gewünschten Diskurs innerhalb
| |
− | und außerhalb des Bundes hineingezogen zu werden, nicht erwünscht, weil mit der
| |
− | Erfordernis einer größeren Offenheit im Hinblick auf Struktur und Sinnhaftigkeit der
| |
− | entsprechenden Systeme verbunden. (Weiter unten komme ich auch auf diesen Punkt zurück.)
| |
− | • Dann gibt es – »natürlich« möchte man sagen – Besorgnisse und Ängste im Hinblick auf
| |
− | drohende Infragestellungen der Regularität und einer nachfolgenden Intervention seitens
| |
− | der Vereinigten Großloge von England.
| |
− | • Schließlich bestehen Unsicherheiten im Hinblick auf die Frage, wie mit Agnostikern oder
| |
− | gar Atheisten im Falle von Aufnahmeanträgen umzugehen ist, während es keine Schwierigkeiten
| |
− | macht – ich wiederhole –, sich posthum mit ihnen und ihrem Freimaurer-Status
| |
− | werbewirksam zu identifizieren (von Ossietzky, Tucholsky). Dabei könnte die Sache
| |
− | doch ganz einfach sein, und Helga Widmann, die Großmeisterin der Frauengroßloge, hat
| |
− | auf der Frankfurter QC-Arbeitstagung im März 2009 – während sich die auf dem Podium
| |
− | versammelten Vertreter der Großlogen in schwammigen Unverbindlichkeiten gefielen –
| |
− | nachdrücklich auf das auch in meiner Sicht hier allein Entscheidende hingewiesen: Ein
| |
− | die Werte des Freimaurerbundes verneinender Nihilismus, nicht ein mit humanistischem
| |
− | 190
| |
− | Denken und Handeln durchaus vereinbarer Atheismus oder Agnostizismus, ist das für einen
| |
− | ethischen Bund unabdingbare Ausschlusskriterium.
| |
− | 2.2 Warum trotzdem Diskurse?
| |
− | Warum ist der religiöse Diskurs trotz all dieser Besorgnisse und Unvollkommenheiten in der
| |
− | deutschen Freimaurerei so lebendig und vielleicht auch so notwendig? – Ganz einfach aus
| |
− | den prinzipiell gleichen Gründen wie von 1717 an:
| |
− | • Es gilt, sich um die Bestimmung freimaurerischer Identität zu bemühen.
| |
− | • Gegenüber mannigfaltigen Angriffen erweisen sich immer wieder Apologien als erforderlich.
| |
− | • Die zunehmende Kommunikation mit Medien und Institutionen der Öffentlichkeit bedarf
| |
− | der Auskunftsfähigkeit der Freimaurerei auch in Bezug auf das Verhältnis zwischen
| |
− | Freimaurerei, Religion und Kirchen.
| |
− | • Unterscheidungen auch im Hinblick auf die »religiöse Frage« sind notwendig, um die jeweiligen
| |
− | Besonderheiten der VGLvD-Großlogen deutlich zu machen.
| |
− | Zunächst – wie es sich für eine Forschungsloge gehört – zur Frage, warum der religiöse Diskurs
| |
− | der Gegenwart auch analytisch, d.h. als Gegenstand der Freimaurerforschung, interessant
| |
− | ist.
| |
− | Vor allem deshalb, weil der Religionsdiskurs, das hat ja auch die historische Reflexion
| |
− | deutlich gemacht, wie kein anderer zeigt, welche Inhalte, welche rituellen Ausdrucksformen
| |
− | und welche organisatorischen Strukturen für die Freimaurerei – im Unterschied zu anderen
| |
− | gesellig-gesellschaftlichen Assoziationen – typisch sind. Daher das lebhafte Interesse auch in
| |
− | der »externen«, der universitären Freimaurer-Forschung, sich gerade mit dem Religionsdiskurs
| |
− | der Freimaurer zu beschäftigen. Beispiele unter vielen dafür sind Monika Neugebauer-
| |
− | Wölks Studien zum Thema Freimaurerei und Esoterik oder Stefan-Ludwig Hoffmanns
| |
− | zuvor ausgiebig zitierte Beschreibung einer spezifischen freimaurerischen Zivilregion in der
| |
− | bürgerlichen Freimaurerei zwischen Vormärz und Erstem Weltkrieg.
| |
− | Insbesondere an Hoffmanns Untersuchungen können dann auch analytische Fragen
| |
− | für die Gegenwart angeschlossen werden, die nicht ohne praktische Konsequenzen bleiben
| |
− | sollten. Hoffmann führt ja – wie zuvor aufgezeigt – den zivilreligiösen Charakter der
| |
− | Freimaurerei in der klassischen Bürgerperiode auf eine weitgehende Integration der Brüder
| |
− | Freimaurer in ein kirchlich gebundenes protestantisches Bürgertum zurück. Nun haben
| |
− | sich inzwischen nicht nur die Struktur der Gesellschaft und ihre Kultur weitgehend geändert,
| |
− | auch das religiöse Umfeld der Freimaurerei ist längst nicht mehr dasselbe wie in der
| |
− | »klassischen« Bürgergesellschaft des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Nur noch etwas mehr
| |
− | als zwei Drittel der erwachsenen männlichen Bevölkerung gehören in Deutschland einer
| |
− | der christlichen Kirchen an, und nur die knappe Hälfte davon sind Protestanten und damit
| |
− | Mitglieder der traditionellen Rekrutierungsgruppe der deutschen Freimaurerei. Gleichzeitig
| |
− | ist auch bei formaler Kirchenzugehörigkeit das Ausmaß einer wirklichen Teilnahme an
| |
− | kirchlichen Aktivitäten beträchtlich zurückgegangen.29
| |
− | Was bedeuten die zuvor genannten Relationen für die Zielgruppe der Freimaurerei?
| |
− | 29 Hier ist an eine Bemerkung des zug. VGLvD-Großmeisters Bruno Schultze auf der Frankfurter QC-Tagung
| |
− | vom März 2009 zu erinnern, die noch der Kirche angehörenden Freimaurer seien wohl zu 90 Prozent
| |
− | »laue« Protestanten.
| |
− | 191
| |
− | Zunächst kann aus ihnen schwerlich geschlossen werden, dass sich deshalb der Anteil
| |
− | von nach Sinn und Wert suchenden »Freien Männern von gutem Ruf« in Deutschland
| |
− | im gleichen Maße verringert hat wie die Zahl der traditionell »Gläubigen«, und die vielen
| |
− | ethisch orientierten Männer, die von religiösen Bindungen im traditionellen Sinne frei,
| |
− | doch zu Freundschaft fähig und für spirituelle Erfahrungen empfänglich sind, sollten doch
| |
− | eigentlich ebenso willkommene »Suchende« sein wie seinerzeit der protestantische Christ.
| |
− | Eine Freimaurerei, die als soziale, geistige und spirituelle Heimat von wertüberzeugten
| |
− | Männern heute ebenso intensiv gesucht werden soll wie die Freimaurerei des 19. Jahrhunderts,
| |
− | müsste allerdings erst einmal gründlich ihre religiöse Identität klären, vielleicht sogar
| |
− | neu bestimmen. Denn es fragt sich doch sehr, ob eine Freimaurerei, die heutzutage attraktiv
| |
− | sein will, identisch sein kann mit der bürgerlich-zivilreligiösen Freimaurerei, die nach
| |
− | der Gärungszeit des 18. Jahrhunderts im Verlauf des 19. Jahrhunderts definiert, organisiert
| |
− | und rituell gestaltet wurde und an der sich seitdem nicht allzu viel geändert hat.
| |
− | Und eine weitere Frage ist damit zu verbinden: Warum stellt die Freimaurerei nach
| |
− | außen immer wieder ihre ethischen Ziele heraus, ihren Charakter als »System of Morality«,
| |
− | ihre Absicht, prinzipiell alle nach Sinn und Wert suchenden Menschen zu verbinden und
| |
− | nicht nur Teile davon, wenn sie im Inneren so beharrlich an altem Denken, an überholten
| |
− | Begründungen und zuweilen auch an überlebten Formen festhält?
| |
− | Die Bindung von Moral an religiöse Überzeugungen wird mittlerweile ja nicht einmal
| |
− | mehr von führenden katholischen Theologen für erforderlich gehalten. So heißt es etwa
| |
− | bei Hans Küng:
| |
− | »Aus dem Grundvertrauen kann auch ein Atheist ein echt menschliches, also humanes
| |
− | und in diesem Sinn moralisches Leben führen … Auch Atheisten und Agnostiker
| |
− | müssen folglich keineswegs Nihilisten, sondern können Humanisten und Moralisten
| |
− | sein: ernsthaft um Humanität und Moralität bemüht.«30
| |
− | »Grundvertrauen« bedeutet dabei für Küng ein grundsätzliches Ja zur Sinn- und Werthaftigkeit
| |
− | der Realität, zu dem jeder Freimaurer fähig ist, dessen Denken und Handeln von der
| |
− | Überzeugung getragen ist, dass es sich lohnt, für das Wohl der Menschen, ihr von gegenseitiger
| |
− | Achtung bestimmtes Miteinander und eine sichere Zukunft der Welt zu wirken.
| |
− | Im gleichen Sinne hatte Guido Groeger, Hochschullehrer, Psychotherapeut und Freimaurer,
| |
− | auf der Frühjahrsarbeitstagung der Forschungsloge »Quatuor Coronati« in Burg
| |
− | bei Magdeburg im Jahre 1996 vermerkt:
| |
− | »Das Thema Religion ist in unserm Bund heftig umstritten … Wenn gefordert wird,
| |
− | ›Freimaurer müssen an ein höchstes Wesen (supreme being) glauben‹, dann ist allen
| |
− | areligiösen freien Männern von gutem Ruf der Zugang zu uns verschlossen … Die
| |
− | in Entwicklung begriffene neue Weltschau kann als Bedrohung erlebt werden, aber
| |
− | auch als ein Anstoß zur Übernahme der vollen Verantwortung für den Fortbestand
| |
− | des menschlichen Lebens auf dieser Erde. Ob dies mit oder ohne Glauben an ein
| |
− | höchstes Wesen geschieht, unterliegt der Entscheidung des Einzelnen. Werden wir es
| |
− | 30 Küng, Hans: Existiert Gott? Antwort auf die Gottesfrage der Neuzeit, München 1983, S. 523.
| |
− | 192
| |
− | schaffen, unsere Logen für beide Fraktionen zu öffnen? Verbunden miteinander bleiben
| |
− | wir durch den Bau am Tempel der Humanität und unsere Rituale.«31
| |
− | Guido Groeger hatte das Thema »Freimaurerei und Religion« im Rahmen eines Beitrags zur
| |
− | »Identität« aufgegriffen und damit ein wichtiges Stichwort gegeben.
| |
− | 2.3 Identitätsprobleme
| |
− | Die Frage nach der freimaurerischen Identität von heute ist in der Tat dringlich, und die
| |
− | deutschen Freimaurer sollten sich um Antworten darauf bemühen. Antworten sind nicht
| |
− | nur wegen des erheblichen Klärungsbedarfs innerhalb der Freimaurerei erforderlich. Sie sind
| |
− | dringlich auch wegen der zahlreichen Fragen, die aus dem gesellschaftlichen Umfeld der
| |
− | Freimaurerei gestellt werden, aus der Öffentlichkeit, den Medien, den Kirchen. Auf diese
| |
− | Fragen, von denen wir ja wünschen, dass sie an uns gestellt werden, können die Freimaurer
| |
− | allerdings nur dann antworten, wenn sie wissen, wer, was und wie sie sind.
| |
− | Ein praktisches Beispiel: Auf die Frage, ob Dan Browns neues Buch »Das verlorene Symbol«
| |
− | vorteilhaft oder schädlich für die Freimaurerei ist, müsste doch zunächst erst einmal zurückgefragt
| |
− | werden: für was für eine Freimaurerei eigentlich? Eine ethische, eine bürgerlich-konventionelle
| |
− | oder eine esoterische Freimaurerei?
| |
− | Nichts zuletzt aufgrund der Stagnation der Mitgliederzahlen hierzulande und eines
| |
− | weltweit gar dramatischen Absturzes der Mitgliedszahlen – von sechs auf unter drei Millionen
| |
− | Freimaurer innerhalb von fünf Jahrzehnten – ist zu fragen, ob diese Entwicklung
| |
− | nicht zuletzt auf ein in der Gesellschaft nur allzu deutlich spürbares Identitätsdefizit des
| |
− | Bundes zurückzuführen ist, und wenn dies so ist, was diese Bestandshalbierung mit dem
| |
− | Verhältnis zwischen Freimaurerei und Religion zu tun hat?
| |
− | Die Masonic Service Association of North America hat sich des Problems in einer
| |
− | hochinteressanten, hierzulande allerdings kaum wahrgenommenen Studie mit dem Titel »It’s
| |
− | about time! Moving masonry into the 21st Century« recht überzeugend angenommen.32
| |
− | Die Studie geht von einem doppelten Problem der Freimaurerei aus: »Loss of masonic
| |
− | identity« und »Lack of energy invested in masonry« und antwortet dann auf die Frage:
| |
− | »How does the public perceive Freemasonry today?« auf folgende Weise
| |
− | »We believe that the public’s perception and opinion of Freemasonry can be summarized
| |
− | briefly in the following ways:
| |
− | 1. Confused. Are the Masons a fraternity, a religious organization or an alternative
| |
− | religion?
| |
− | 2. Mistaken. Only grandfathers could be in such an old-fashioned organization as
| |
− | Freemasonry.
| |
− | 3. Oblivious. People are not even aware Masonry still exists.«
| |
− | 31 Groeger, Guido: Identität. Aspekte und Fragen, Eingangsreferat auf der Arbeitstagung der QC in Burg
| |
− | b. Magdeburg, 9. März 1996, unveröffentlichtes Manuskript, S. 13f.
| |
− | 32 http://www.msana.com/aboutime_foreword.asp.
| |
− | 193
| |
− | Gewiss, US-amerikanische Verhältnisse sind keine deutschen Verhältnisse. Gravierende Unterschiede
| |
− | sind nicht zu übersehen. Und doch gibt es eine Reihe von Übereinstimmungen
| |
− | im Hinblick auf Problemlagen und Strukturdefizite, von denen die Freimaurerei hierzulande
| |
− | lernen könnte.
| |
− | Nehmen wir also die erste der zuvor gestellten Fragen auf: »Sind die Freimaurer eine Bruderschaft,
| |
− | eine religiöse Organisation oder eine alternative Religion?«
| |
− | Auf der Homepage der Großen Landesloge der Freimaurer von Deutschland,33 einer
| |
− | der Partnergroßlogen der VGLvD, war im Jahre 2009 eine Zeit lang an prominenter Stelle
| |
− | Folgendes zu lesen:
| |
− | »Über Freimaurerei ist schon viel geschrieben worden! Als Ziele der Logen werden
| |
− | stets genannt: Selbstveredelung und Humanität. Aber geht es wirklich darum? Nein!
| |
− | Damit sich niemand in die Logen verirrt, der dort nichts zu suchen hat, klärt das gerade
| |
− | im renommierten Münchner Thiele Verlag erschienene Kurzwissen-Buch ›Freimaurer
| |
− | in 60 Minuten‹ endlich darüber auf, worum es der alten Bruderschaft tatsächlich
| |
− | geht: Unsterblichkeit ist das Ziel, Selbstveredelung nur der Weg und Humanität
| |
− | eine logische Konsequenz.«
| |
− | Doch geht es wirklich um Unsterblichkeit in der Freimaurerei?
| |
− | Und wenn es der Freimaurerei tatsächlich darum ginge, wäre sie dann nicht etwas, was sie
| |
− | doch gemeinhin so gar nicht sein will: nämlich Religion?
| |
− | Will sie aber nicht Religion sein, so hätte sie sich deutlich von Religion abzugrenzen,
| |
− | was freilich einer ethisch-symbolisch orientierten Freimaurerei leichter fällt als einem Freimaurerorden
| |
− | christlicher Tradition.
| |
− | 2.4 Ein Orientierungsvorschlag zur Diskussion
| |
− | Als Teilnehmer am gegenwärtigen Religionsdiskurs in der deutschen Freimaurerei möchte
| |
− | ich – zwecks weiterer Diskussion – die Beziehungen zwischen Freimaurerei und Religion folgendermaßen
| |
− | umreißen:
| |
− | • Freimaurerei ist eine ethisch orientierte Vereinigung und keine Religion, und sie will auch
| |
− | keinen Ersatz für eine Religion bieten, denn sie vermittelt kein Glaubenssystem und
| |
− | kennt weder sakramentale Heilsmittel noch Theologie und Dogma.
| |
− | • Die Freimaurer haben auch keinen gemeinsamen Gottesbegriff. Die symbolische Präsenz
| |
− | eines »Großen Baumeisters aller Welten« in ihren Ritualen darf nicht mit den verschiedenen
| |
− | Gottesverständnissen der Religionen verwechselt oder gar gleichgesetzt werden.
| |
− | • Das Symbol des »Großen Baumeisters« stellt vielmehr das umfassende Symbol für den
| |
− | Sinn der freimaurerischen Arbeit dar und ist als solches vom Freimaurer zu respektieren.
| |
− | Denn ethisch orientiertes Handeln setzt die Anerkennung eines sinngebenden Prinzips,
| |
− | eines die Unverbindlichkeiten des Alltags transzendierenden »höheren Seins« voraus, das
| |
− | – weltanschaulich bestimmt, oder empirisch gefunden – Verantwortung begründet und
| |
− | auf das die Ethik des Freimaurers letztlich rückbezogen ist. Das Symbol des »Großen
| |
− | 33 http://www.freimaurerorden.org.
| |
− | 194
| |
− | Baumeisters« deutet den transzendenten Bezug des Freimaurers an, wobei Transzendenz
| |
− | auch als eine immanente, nicht auf einen religiösen Glauben bezogene Transzendenz, als
| |
− | ein »Über-sich-Hinausgehen innerhalb des Seins des Menschen« (Ernst Tugendhat34) verstanden
| |
− | werden kann.
| |
− | • Freimaurerei ist folglich offen für Menschen aller Glaubensbekenntnisse und Weltanschauungen
| |
− | und auch für Menschen ohne Glaubensvorstellungen im herkömmlichen
| |
− | Sinne. Unabdingbar ist allerdings, dass sie mit den im Diskurs gefundenen ethischen
| |
− | Überzeugungen und moralischen Prinzipien des Freimaurerbundes übereinstimmen und
| |
− | seine symbolisch-rituellen Ausdrucksformen akzeptieren.
| |
− | • Die freimaurerische Tempelfeier ist kein Gottesdienst. Das Brauchtum des Bundes soll
| |
− | vielmehr menschliches Miteinander, ethische Lebensorientierung und emotionale Spiritualität
| |
− | durch Symbole und rituelle Handlungen in der Gemeinschaft der Loge darstellbar,
| |
− | erlebbar und erlernbar machen.
| |
− | Aufgrund einer solchen Festlegung und Abgrenzung kann das Verhältnis zu den großen
| |
− | christlichen Kirchen entspannt und selbstbewusst entwickelt werden, zumal an zwei bedeutsame
| |
− | Gemeinsamkeiten von Freimaurerei und Kirchen zu erinnern ist:
| |
− | • die gemeinsamen Wurzeln in der europäischen Kultur- und Geistesgeschichte sowie
| |
− | • die Verpflichtung zum ethischen Handeln, insbesondere zu praktischer Mitmenschlichkeit.
| |
− | Zweierlei ist zu ergänzen. Zum einen bedeuten die zuvor dargelegten normativen Standpunkte,
| |
− | die alle von der Grundaussage »Freimaurerei ist weder Religion noch Religionsersatz
| |
− | «
| |
− | ausgehen, in keiner Weise, dass Freimaurerei nicht de facto für den einen oder anderen Freimaurer
| |
− | Religion oder Religionsersatz bedeutet oder dass zumindest die konkreten religiösen,
| |
− | insbesondere christlichen Einstellungen freimaurerisch beeinflusst sind. Zum anderen empfiehlt
| |
− | es sich, den Religionsbegriff nicht theologisch, sondern religionssoziologisch zu verstehen.
| |
− | Deshalb stehen im Hintergrund meiner Überlegungen und Abgrenzungen auch ganz
| |
− | bewusst Begriffe von Religion und Religiosität, die Glaubensinhalte und religiöse Funktionen
| |
− | auseinanderhalten und die ihren Ursprung in der Religionssoziologie haben.
| |
− | Talcott Parsons etwa, einer ihrer wichtigsten Vertreter, sieht die Aufgabe des Religiösen
| |
− | darin, kulturelle Werte und Normen durch den Rekurs auf eine letzte Wirklichkeit – Parsons
| |
− | spricht von »ultimate reality« – lebendig und verbindlich zu halten.35 Das was Parsons
| |
− | »Rekurs auf eine letzte Wirklichkeit« nennt, ist nun aber nichts anderes als das, was der
| |
− | Begriff Religion jenseits aller ihrer konkreten Erscheinungsformen und Glaubensinhalte
| |
− | meint, nämlich Rückbindung an und Vertrauen auf eine sinnspendende Ordnung. Genau
| |
− | das aber will Freimaurerei leisten: die Herstellung eines tragfähigen, das bloße materielle
| |
− | Sein transzendierenden Sinn- und Wertbezugs, der freilich spezifisch religiöser Rückbindungen
| |
− | oder eines Glaubens an Gott im traditionellen Sinne nicht bedarf.
| |
− | Auch der Soziologe Thomas Luckmann stellt die positive, konstruktive gesellschaftliche
| |
− | Rolle der Religion in den Vordergrund, indem er auf deren Potenzial bei der Krisenbewältigung
| |
− | und bei der Stabilisierung der Gemeinschaft in Phasen sozialer Umbrüche hinweist.
| |
− | 34 Tugenthat, Ernst: Anthropologie statt Metaphysik, München 2010, S. 15.
| |
− | 35 Vgl. die Beiträge in: Trevino, A. Javier (Ed.): Talcott Parsons today. His theory and legacy in contemporary
| |
− | sociology, Langham/Md. and Oxford, 2001.
| |
− | 195
| |
− | Religiosität ist für Luckmann eine anthropologische Konstante, die sich in der Moderne
| |
− | nur neue Formen der Repräsentation sucht und nicht – wie die Säkularisierungsthese
| |
− | behauptet – verschwindet. Luckmann hat im Rahmen seiner Religionssoziologie Aufgabe
| |
− | und Wirkungsweise der Religion als »Einübung und Einzwängung in ein das Einzeldasein
| |
− | transzendierendes Sinngefüge« bezeichnet.36
| |
− | Bei aller Ablehnung der Religionseigenschaft der Freimaurerei im Sinne eines inhaltlich
| |
− | definierten Glaubens wäre es folglich gleichermaßen falsch und irreführend, den Begriff
| |
− | des »Religiösen« allzu strikt von der Freimaurerei fernzuhalten. Im Sinne der Religionssoziologie
| |
− | religiös, aber weder Religion noch religiöse Vereinigung, so ließe sich pointiert
| |
− | formulieren.
| |
− | Noch einmal: Freimaurerei ist kein Heilsweg, sondern ein Weg zur Bewährung im Hier
| |
− | und Jetzt. Ein Weg – es gibt viele andere. Die Gleichzeitigkeit des Respekts vor Religion
| |
− | und des Verzichts auf Nachahmung von Religion und/oder Einmischung in Religion
| |
− | kann die Freimaurerloge zu einer Gemeinschaft machen, in der sich gläubige Menschen
| |
− | ganz verschiedener Religionen mit religiös skeptischen, ja ungläubigen Menschen auf der
| |
− | Grundlage verpflichtender Werte freundschaftlich miteinander verbinden. Hierin sollten
| |
− | Freimaurer eine integrierende Kraft sehen, die – wenn auch gewiss nur in bescheidenem
| |
− | Maße – dazu beitragen kann, die moderne (oder postmoderne) Gesellschaft mit all ihren
| |
− | Auflösungs- und Spaltungstendenzen auf der Basis einer gemeinsamen Wertbasis zusammenzuhalten.
| |
− | 2.5 Erforderliche Differenzierungen
| |
− | Es war – und jetzt ist zu einem weiteren Gesichtspunkt überzuleiten – von deutlichen Auffassungsunterschieden
| |
− | in puncto Religion innerhalb der deutschen Freimaurerei die Rede.
| |
− | Sie sind weitbekannt, werden jedoch nur selten reflektiert. Es lohnt sich daher, erneut davon
| |
− | zu sprechen und Präzisierungen zu versuchen.
| |
− | In den »Vereinigten Großlogen von Deutschland« treffen zwei aus der deutschen Tradition
| |
− | hervorgegangene Freimaurereien – eine »humanitäre« und eine »christliche« – aufeinander.
| |
− | Dies bedeutet natürlich nicht, dass Humanität Christentum und Christentum
| |
− | Humanität ausschlösse. Eine solche Argumentation wäre töricht. Doch es macht schon
| |
− | einen Unterschied, ob man als Freimaurer einem ethischen Bund angehören möchte, der
| |
− | – die verschiedenen Weltanschauungen übergreifend – die moralische Vervollkommnung
| |
− | von Einzelmensch und Gesellschaft anstrebt und zur Einübung ethisch orientierte Rituale
| |
− | praktiziert, oder ob man einer religiös und christlich orientierten Logengemeinschaft angehören
| |
− | möchte, deren von Gradstufe zu Gradstufe immer christlicher ausgerichteten Rituale
| |
− | die Tempelfeier in Richtung Quasi-Gottesdienst transformieren. Man kann Freimaurerei
| |
− | selbstverständlich so sehen und praktizieren, nur gilt es dann einzuräumen, dass es sich um
| |
− | eine andere Freimaurerei handelt.
| |
− | Die Unterscheidung »humanitär« und »christlich« ist somit auch heute – vielleicht sogar
| |
− | wieder verstärkt – durchaus erforderlich. Sie ist analytisch unverzichtbar, sie ist für die
| |
− | Bestimmung alternativer freimaurerischer Identitäten und ihrer organisatorischen Ausge-
| |
− | 36 Luckmann, Thomas: Religion in der modernen Gesellschaft, in: Wössner, J. (Hrsg.): Religion im Umbruch:
| |
− | soziologische Beiträge zur Situation von Religion und Kirche in der gegenwärtigen Gesellschaft,
| |
− | Stuttgart 1972, S. 13–15, hier S. 5.
| |
− | 196
| |
− | staltung (demokratischer Aufbau vs. Ordensprinzip) ausschlaggebend, und sie ist für klare
| |
− | Auskünfte gegenüber der Öffentlichkeit, den Medien, den Kirchen und nicht zuletzt den
| |
− | Suchenden erforderlich, die nicht selten darüber im Unklaren gelassen werden, in welche
| |
− | »Lehrart« der Freimaurerei sie sich aufnehmen lassen. Und nebenbei: Es waren gerade die
| |
− | christlich-altpreußischen Großlogen, die die Unterscheidung »christlich« – »humanitär«
| |
− | Ende der 1920er, Anfang der 1930er Jahre intensiv und nachgerade begeistert verwendeten,
| |
− | um in stürmischer See das Rettungsboot der nationalistisch-nationalsozialistischen Anpassung
| |
− | zu erreichen.
| |
− | Gäbe es die benannten Unterschiede mit ihren hierarchisch-organisatorischen Auswirkungen
| |
− | und dem damit verbundenen Strukturkonservatismus nicht, dann gäbe es in
| |
− | Deutschland nicht die Vereinigten Großlogen (Mehrzahl), sondern es gäbe eine Vereinigte
| |
− | Großloge (Einzahl). Doch wir haben es – bei allem Respekt vor der VGLvD und ihren Repräsentanten
| |
− | – allenfalls mit einem Großlogenbund, vielleicht gar nur mit einem »Vertrag
| |
− | zwischen Großlogen« zu tun, der sich manchmal an der Vorstellung überhebt, Großloge zu
| |
− | sein, mit durchaus unterschiedlichen Auffassungen der Partner vor allem in religionsbezogenen
| |
− | Fragen. Die VGLvD sei aus keiner Liebesheirat entstanden, sie sei eine Vernunftehe
| |
− | – etwa so kürzlich AFuAM-Großmeister Br. Jens Oberheide.37 Manch einer meint freilich,
| |
− | es handele sich gar um eine »Unvernunftehe«, die ihre Entstehung vor allem internationalem
| |
− | Druck und persönlichem Geltungsdrang verdanke. Doch nun ist sie da, die deutschen
| |
− | Freimaurer müssen mit ihr leben, und wenn die erörterten Auffassungsunterschiede keine
| |
− | Sprengkraft entfalten sollen, dann müssen die Brüder von hüben und drüben notwendigerweise
| |
− | den religiösen Diskurs offen und redlich führen, einen Diskurs, der Gemeinsamkeiten
| |
− | und Unterschiede in aller Freundschaft deutlich werden lässt und erklärt, und dann muss
| |
− | man sich gemeinsam auch darüber klar werden, welche Großloge für welche Spielart von
| |
− | Freimaurerei in der deutschen Öffentlichkeit spricht und zu sprechen befugt ist. Dass die
| |
− | VGLvD nicht für die »ganze« deutsche Freimaurerei sprechen kann, ist klar. Hier gilt nun
| |
− | einmal: keine Lehrart, keine Identität – keine Identität, keine Stimme. (Tatsächlich hilft
| |
− | sich die VGLvD ja weitgehend damit, dass sie nach außen mit humanitären Tönen spricht.)
| |
− | Schließlich gibt es noch eine weitere Schwierigkeit beim religiösen Diskurs: Die Gretchenfrage
| |
− | an die Freimaurer – Wie haltet ihr’s mit der Religion? – kann ernsthaft nur beantwortet
| |
− | werden, wenn die Hochgradsysteme, insbesondere die des Schottischen Ritus und
| |
− | des Freimaurerordens in den Diskurs einbezogen werden. Denn, so kann gesagt werden, je
| |
− | höher die Grade, desto religiöser die Inhalte, sei es im Sinne einer sich stufenweise entfaltenden
| |
− | esoterischen Religiosität (Stichworte: »Letzter Tempel«, »Heiliges Reich«) oder im
| |
− | Sinne einer symbolischen Christologie, die die jesuanische Ethik deutlich überhöht, eben
| |
− | Jesus Christus statt allein Jesus, und die dieses in einer eindeutig christlich ausgerichteten
| |
− | religiösen Praxis rituell bekräftigt.
| |
− | Das sich fortgesetzt vertiefende, nur gradweise enthüllende, doch durch Arkandisziplin
| |
− | zugleich immer wieder verhüllte Religionsverständnis der Hochgradsysteme erschwert
| |
− | sowohl die Kommunikation nach innen und außen als auch das kompetente Urteil über
| |
− | empirische Befunde. Man weiß nicht, wie es ist, weil man nicht weiß, wie es weitergeht.
| |
− | Gewiss – so bekanntlich Ludwig Wittgenstein – »wovon man nicht sprechen kann, darüber
| |
− | muss man schweigen«. Doch dann gerät man beim internen Diskurs wie bei den immer
| |
− | 37 Humanität. Das deutsche Freimaurermagazin, 35. Jg., H. 6/2009, S. 5.
| |
− | 197
| |
− | wieder versuchten Klarstellungen nach außen in erhebliche Schwierigkeiten. Wäre es anders,
| |
− | so würden sich die belletristisch-heiteren wie die verschwörungsdüsteren Fiktionen
| |
− | nicht immer wieder gerade an den Hochgraden der Freimaurerei festmachen.
| |
− | 2.6 Konsequenzen
| |
− | Letzte Frage: Welche Konsequenzen hat das Thema »Freimaurerei und Religion« für die zukünftige
| |
− | Gesprächs- und Gestaltungspraxis innerhalb der deutschen Freimaurerei?
| |
− | Über die Qualität einer »freimaurerischen Gesprächskultur« entscheidet nicht, worüber
| |
− | man spricht, sondern auf welche Weise man sich mit anderen im Gespräch über etwas
| |
− | austauscht.
| |
− | Der Diskurs wird sich fortsetzen – nicht ob, sondern wie er geführt wird, ist die Frage.
| |
− | Es geht um die Identität der Freimaurerei, um die Frage, worin ihre Mitglieder übereinstimmen,
| |
− | aber auch, worin sie sich unterscheiden, es geht um Auskunftsfähigkeit gegenüber
| |
− | der Gesellschaft, den »Interessenten außerhalb«.
| |
− | Es geht aber auch um ein Ausloten von Reformbedarf und Reformmöglichkeiten im
| |
− | Inneren des Freimaurerbundes: Denn – dies sei noch einmal nachdrücklich gefragt –, ist
| |
− | nicht vieles in der Freimaurerei von heute konserviertes 19. Jahrhundert, konzeptionell,
| |
− | rituell und auch organisatorisch?
| |
− | Die deutschen Freimaurer können selbstverständlich alles so lassen wie bisher, wenn
| |
− | sie davon überzeugt sind, dass alles gut und richtig ist. Doch meistens fehlen schlüssige
| |
− | Begründungen dafür, dass etwas in der Freimaurerei so bleiben muss, wie es ist, nur weil es
| |
− | immer so gewesen ist. Manchmal vermittelt sich der Eindruck, dass die Freimaurer vieles
| |
− | einfach so passieren lassen (freemasonry by default, gleichsam) und dass es dann im Wesentlichen
| |
− | für gut gehalten wird, weil es einfach so passiert. »Das haben wir immer schon so
| |
− | gemacht, das haben wir noch nie so gemacht, da könnte ja jeder kommen« – Freimaurerei
| |
− | als ein sich um sich selbst drehendes Bestätigungssystem, das in erster Linie symbolisches
| |
− | Kapital für seine Akteure produziert, statt das große kulturelle Kapital des Bundes für die
| |
− | Gemeinschaft aller Bürger zu nutzen und zu vermehren.
| |
− | Deshalb sind weitere Diskurse erforderlich, interne Diskurse und Diskurse mit den
| |
− | externen Beobachtern der Freimaurerei aus Wissenschaft, Gesellschaft und Medien. Der
| |
− | Bund, der bald 300 Jahre alt ist, braucht Klarheit und Offenheit wie die Luft zum Atmen.
| |
− | Wenn die Freimaurer im Ghetto innerer Widersprüche und konzeptioneller Inkonsequenzen
| |
− | verharren, können sie nicht darauf hoffen, von denen ernst genommenen zu
| |
− | werden, auf die es ihnen ankommen sollte: den Klugen, Gebildeten und Redlichen hierzulande
| |
− | und anderswo in der Welt.
| |
− | 198
| |
− | Vom Vorurteil zum Urteil:
| |
− | Der freimaurerische Bildungsweg
| |
− | »Vielleicht lautet die kürzeste aller Definitionen des Vorurteils: Von anderen ohne ausreichende
| |
− | Begründung schlecht denken.« (G. W. Allport)
| |
− | »Es ist leichter ein Atom zu zertrümmern als ein Vorurteil« (Albert Einstein)
| |
− | »Ich habe keine Vorurteile – ich hasse jeden!« (Graffito an einer Großstadtwand)
| |
− | Die Freimaurer sind – wie könnte es anders sein – auf dreifache Weise mit dem Thema »Vorurteil
| |
− | « verbunden:
| |
− | • Freimaurer forderten von Anfang an in Ideen und Ritualen eine von Vorurteilen freie Gesinnung;
| |
− | • Freimaurer haben sich bis heute mit den teils lächerlichen, teils naiven, teils aggressiven
| |
− | Vorurteilen auseinanderzusetzen, die andere über sie hegen und pflegen,
| |
− | • Freimaurer müssen sich umgekehrt ihren eigenen Vorurteilen über sich selbst und die Welt
| |
− | stellen, denn Freimaurer sind Menschen, und Menschen haben nun einmal Vorurteile.
| |
− | Ich beginne mit einigen allgemeinen analytischen Überlegungen aus dem Kontext der Sozialwissenschaften,
| |
− | um sie dann auf die Freimaurerei anzuwenden.
| |
− | Vorausurteile und Vorurteile
| |
− | Prüft man Literatur und Debatten zum »Vorurteil«, so ist zunächst festzustellen, dass es bis
| |
− | heute keine generell anerkannte Definition des Vorurteils gibt und dass auch weder übereinstimmende
| |
− | Erklärungen für die Entstehung von Vorurteilen noch allseits anerkannte Rezepte
| |
− | für ihre Überwindung vorhanden sind.
| |
− | Dennoch finden sich neben Differenzen auch Übereinstimmungen in der Vorurteilsforschung,
| |
− | von denen bei der Analyse ausgegangen werden kann.
| |
− | Zunächst wird oft empfohlen, zwischen Vorurteilen im Sinne von Voraus-Urteilen bzw.
| |
− | vorläufigen Annahmen auf der einen und Vorurteilen als verfestigten Einstellungen mit
| |
− | meist negativen Zuschreibungen auf der anderen Seite zu unterscheiden.
| |
− | Voraus-Urteile, d.h. vorläufige Urteile ohne eingehende Überprüfung von Sachverhalten
| |
− | und Personen, gelten gemeinhin als für uns Menschen unvermeidlich.
| |
− | Die uns umgebende Wirklichkeit ist ebenso komplex wie unübersichtlich. Um sicher
| |
− | in ihr leben zu können, brauchen wir jedoch ein möglichst vollständiges Bild unserer Lebenswelt.
| |
− | Wir benötigen verlässliche, weil von uns für wahr gehaltene Vorstellungen, auf
| |
− | deren Grundlage wir uns orientieren und handeln können. Diese Verlässlichkeit verschaffen
| |
− | wir uns, indem wir durch Sprache, Begriffe und Symbole gesellschaftliche Realitäten
| |
− | 199
| |
− | konstruieren,1 die so lange gültig und plausibel für uns sind, wie sie nicht durch gegenteilige
| |
− | Erfahrungen und genauere Analysen infrage gestellt werden.
| |
− | In diesem Sinne, im Sinne von Voraus-Urteilen, sind Vorurteile also ebenso unvermeidbar
| |
− | wie notwendig. Doch solange sie vorläufig sind, d.h. ungeprüft bleiben, leisten
| |
− | sie im Konflikt mit der Wirklichkeit oft nicht das, was wir von ihnen erwarten, nämlich
| |
− | Sicherheit sowie verlässliche Orientierung, und so ist der Schritt vom Vorurteil zum Urteil
| |
− | im Sinne von Annäherung an Realitäten Bestandteil und Aufgabe unserer tagtäglichen
| |
− | Lebenswirklichkeit.
| |
− | Auch die Wissenschaft hat von Voraus-Urteilen auszugehen. Sie formuliert Hypothesen,
| |
− | in denen (prinzipiell der Falsifizierung zugängliche) Zusammenhänge formuliert werden,
| |
− | die so lange dem Test fortgesetzter Falsifizierungsversuche auszusetzen sind, bis sie zu
| |
− | (vorläufig) brauchbaren Urteilen, d.h. Theorien, geworden sind (Karl R. Popper2). Auch in
| |
− | der Hermeneutik Hans-Georg Gadamers3 spielt das Vorurteil im Sinne einer Vormeinung,
| |
− | die für Überprüfungen und Erweiterungen offen ist, eine zentrale Rolle.
| |
− | Zu Vorurteilen in einem gefährlichen, weil für den sozialen, religiösen und internationalen
| |
− | Frieden abträglichen Sinne werden Voraus-Urteile dann,
| |
− | • wenn sie auf unzulässige Weise durch die Bildung von Stereotypen verallgemeinert werden,
| |
− | etwa nach dem Muster »alle Türken sind nun einmal so«,
| |
− | • und wenn sie starr sind, d.h., wenn sie auch angesichts neuer und ihnen widersprechender
| |
− | Informationen nicht geändert werden.
| |
− | Gewiss: In vielen Fällen sind Vorurteile harmlose Selbsttäuschungen, deren soziale Gefahr
| |
− | gering ist. Häufig dienen sie auf mehr oder weniger geistreiche Weise auch der Selbstkoketterie
| |
− | (»ich als altes Maurerschlachtross«) oder der Frotzelei (»Hallo, ihr Düsseldorfer«). Doch
| |
− | oft wirken sich Vorurteile sozial schädlich aus, insbesondere dann, wenn sie Feindbilder festschreiben,
| |
− | die emotional aufgeladen sind und von denen aus die Schwelle zur aggressiven
| |
− | Handlung nur allzu leicht überschritten wird.
| |
− | Einzelne Werte wie die freimaurerische Werttrias Menschlichkeit, Toleranz und Brüderlichkeit
| |
− | oder umfassende moralische Systeme, die darauf angelegt sind, Einzelwerte zum
| |
− | Ethos zu integrieren – Stichwort »Projekt Weltethos«, für das Hans Küng mit dem Kulturpreis
| |
− | deutscher Freimaurer ausgezeichnet wurde –, werden nicht zuletzt durch Vorurteile
| |
− | gefährdet, die sich auf eine manchmal offene, manchmal versteckt subtile Weise zu negativ
| |
− | und aggressiv aufgeladenen, handlungssteuernden Weltsichten verdichten.
| |
− | Deshalb steht zu Recht, auch aus freimaurerischer Sicht zu Recht, dieser sozial gefährliche,
| |
− | aggressive Charakter des Vorurteils im Vordergrund der Vorurteilsforschung und
| |
− | vieler Debatten in der gesellschaftlich-politischen Praxis.
| |
− | Für die Identifizierung von Vorurteilen und den Kampf gegen ihren negativ-aggressiven
| |
− | Charakter sind inzwischen gar spezielle Institute gegründet worden, wie das »Sir Peter
| |
− | 1 Vgl. Berger, Peter L./Luckmann, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie
| |
− | der Wissenssoziologie, 3. Aufl., Frankfurt a.M. 1972.
| |
− | 2 Popper, Karl R: Logik der Forschung, 11. Auflage, Tübingen 2005.
| |
− | 3 Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 3., erweiterte
| |
− | Auflage Tübingen 1975.
| |
− | 200
| |
− | Ustinov Institut zur Erforschung und Bekämpfung von Vorurteilen«, das seit 2003 in Wien
| |
− | besteht.
| |
− | Peter Ustinov hat den Kern seiner Impulse, Überlegungen und Absichten einmal in der
| |
− | für ihn typischen lockeren und zugleich präzisen Art wie folgt formuliert:
| |
− | »Das Vorurteil ist nach Jahrhunderten im Untergrund als Maulwurf in unserer Mitte
| |
− | identifiziert worden. Es ist identifiziert worden als einer der großen Schurken in
| |
− | der Besetzungsliste der Geschichte. Es ist verantwortlich für die Missverständnisse
| |
− | zwischen Nationen und Religionen, die anders sind als die eigene, genauso wie für
| |
− | die unkritische Lobpreisung der eigenen Religion und Nation. Es benutzt die blanke
| |
− | Unkenntnis als Waffe.«4
| |
− | Ustinov wollte die verhängnisvolle Rolle aufdecken, die negative, aber auch positive Vorurteile
| |
− | bei der Verursachung von menschlichem Leid und von Streit zwischen Völkern und Religionen
| |
− | spielen. Er wollte helfen, die Entstehungs- und Wirkungsstrukturen von Vorurteilen
| |
− | transparent machen, und er wollte in seinem Institut Vorgehensweisen erforschen lassen,
| |
− | durch die Vorurteile und ihre schädlichen Wirkungen reduziert werden können.
| |
− | Ursachen
| |
− | Was ist – wenn wir genauer hinschauen – die Ursache aggressiver, sozial schädlicher Vorurteile?
| |
− | 5
| |
− | Hierzu gibt es unterschiedliche Erklärungsansätze, die jeweils einzelne Aspekte fokussieren,
| |
− | doch in ihrer Gesamtheit das Entstehen von Vorurteilen von fünf Seiten her recht gut erklären
| |
− | können.
| |
− | • Danach sind Vorurteile erstens auf die immer lückenhaften und fehlerbehafteten Prozesse
| |
− | der Informationsverarbeitung des Menschen zurückzuführen.
| |
− | • Zweitens entstehen Vorurteile aufgrund der Persönlichkeitsstruktur des Individuums, seiner
| |
− | frühkindlichen Verletzungen, seiner innerpsychischen Konflikte und seiner oft destruktiven
| |
− | Versuche, diese Konflikte zu lösen.
| |
− | • Drittens kommen Vorurteile durch die Übernahme von Vorurteilen anderer im Sozialisationsprozess
| |
− | des Menschen zustande, aufgrund der prägende Rolle von Familien und
| |
− | Schulen sowie von sozialen, kulturellen und religiösen Gruppen.
| |
− | • Viertens entstehen Vorurteile als Schutz- und Angriffsmechanismen in Konflikten zwischen
| |
− | sozialen, ethnischen und religiösen Gruppierungen, bei denen einerseits Macht
| |
− | und ökonomische Interessen, andererseits aber auch politische Ideologien und religiöse
| |
− | Überzeugungen auf dem Spiele stehen.
| |
− | 4 www.ustinov.at/institut.htm.
| |
− | 5 Vgl. hierzu und zum Folgenden: Vorurteile und Diskriminierung – Bildungsmaterialien gegen Ausgrenzung
| |
− | (Verfasserin Birgit Reims), hrsg. vom Informations- und Dokumentationszentrum für Antirassismusarbeit
| |
− | in Nordrhein-Westfalen (IDA-NRW), Düsseldorf 2005, deren nützlicher Strukturierungen
| |
− | und Zusammenfassungen ich mich auf den folgenden Seiten meines Textes bediene. Ida-nrw.de/Diskriminierung/
| |
− | html/glossar.
| |
− | 201
| |
− | • Fünftens schließlich sind Vorurteile Bestandteile des kollektiven Gedächtnisses von Völkern,
| |
− | Kulturen und Religionen, Ergebnis eines keiner Erklärung bedürfenden »Das war
| |
− | so, das ist so, und das bleibt so«, im Sinne eines »Württemberger sind nun einmal besser
| |
− | als Badenser« (bzw. umgekehrt!).
| |
− | Auch die Hartnäckigkeit der Vorurteile, die Frage, warum Vorurteile so resistent gegen Kritik
| |
− | sind, auch wenn diese Kritik aufgrund ihrer argumentativen Dichte einen hohen Grad an
| |
− | Überzeugungskraft besitzt, ist von der Forschung aufgegriffen worden.
| |
− | Vorurteile – so lautet zusammenfassend das Ergebnis vieler einzelner Analysen – sind trotz
| |
− | ihrer allgemein anerkannten Schädlichkeit für ihre Urheber und Träger nützlich, und es ist
| |
− | diese ihre Funktionalität, die dazu verleitet, an ihnen festzuhalten:
| |
− | • So dienen Vorurteile – wir kennen den Gesichtspunkt bereits – der Orientierung in einer
| |
− | komplexen Welt im Sinne eines (oft unbewussten) »Ich kenne meine Welt, und ich halte
| |
− | an ihr fest, denn ich habe sie mir selbst konstruiert«.
| |
− | • So ermöglichen Vorurteile Einzelpersonen wie Gruppen die Herstellung und Aufrechterhaltung
| |
− | von Selbstwertgefühlen, indem sie – im Sinne eines »Kleider machen Leute« – einer
| |
− | attraktiven Selbstausstattung dienen.
| |
− | • So fungieren Vorurteile als Legitimierung von Herrschaft. Alle hierarchischen Systeme –
| |
− | auch solche in demokratischen Systemen und pluralistischen Gesellschaften – pflegen
| |
− | folglich eine dafür geeignete Vorurteilskultur, oder besser: Vorurteilsunkultur.
| |
− | • So dienen Vorurteile schließlich über die Benennung von »Sündenböcken« der Vorbereitung
| |
− | von politischen Umstürzen und Griffen nach der Macht. Die Instrumentalisierung
| |
− | des Antisemitismus durch die Nazis vor und nach 1933 ist hierfür ein ebenso abstoßendes
| |
− | wir folgenreiches Beispiel.
| |
− | Aggressive Vorurteile sind dabei auf eine fatale Weise dann besonders effektiv, wenn es gelingt,
| |
− | ihre kognitiven, affektiven und zum Handeln antreibenden Komponenten zu verschmelzen
| |
− | und sie gleichsam mit »geballter Wucht und Wut« zum Einsatz zu bringen.
| |
− | Als Beispiel nenne ich die verhängnisvolle Trias des nazistischen Antisemitismus:
| |
− | • Kognitive Komponente: »Alle Juden sind sozial schädlich.«
| |
− | • Affektive Komponente: »Ich habe deshalb eine unheimliche Wut auf sie.«
| |
− | • Handlungsstimulierende Komponente: »Und jetzt werden wir es ihnen einmal gründlich
| |
− | zeigen!«
| |
− | (Die Älteren von uns mögen Goebbels’ diesbezüglich hetzende Tiraden noch im Ohr haben.)
| |
− | Überwindung von Vorurteilen
| |
− | Wie steht es nun um Gegenmaßnahmen, um Chancen für einen Abbau, für eine Überwindung
| |
− | von Vorurteilen?
| |
− | 202
| |
− | Bedauerlicherweise gelten Vorurteile in der Vorurteilsforschung aufgrund ihrer psychischen,
| |
− | sozialen und gesellschaftspolitischen Funktionen als nur schwer überwindbar, und
| |
− | die Praxis liefert ja auch viele Beispiele dafür.
| |
− | »Es ist leichter ein Atom zu zertrümmern als ein Vorurteil«, hat Albert Einstein einmal
| |
− | gesagt.
| |
− | Wie können – trotz aller Schwierigkeiten – Vorurteile, wenn nicht gänzlich überwunden,
| |
− | so doch zumindest abgeschwächt werden?
| |
− | Auch auf diese Frage gibt es je nach Analyseansatz unterschiedliche Antworten, und ich
| |
− | möchte die wichtigsten dieser Ansätze, die vermutlich am besten kombiniert zum Einsatz
| |
− | kommen, zusammenfassend nennen.
| |
− | Zunächst stimmen Vorurteilsforscher in der Regel darin überein, dass Vorurteile kaum direkt
| |
− | und unmittelbar überwunden werden können, dass vielmehr die Ursachen der Vorurteile
| |
− | beseitigt, und d.h. vor allem, dass die individuellen und kollektiven Prägungen, Einbettungen
| |
− | und Milieus verändert werden müssen, in deren Wirkungsbereich sich Vorurteile entwickeln.
| |
− | Im Einzelnen setzen
| |
− | • Individualpsychologische und psychoanalytische Theorien vor allem auf die Veränderung
| |
− | von Erziehungsstilen und Eltern-Kind-Beziehungen, insbesondere auf die Stärkung
| |
− | von Selbstwertgefühlen durch die Förderung von Eigeninitiative und das Vermitteln von
| |
− | Erfolgserlebnissen.
| |
− | • Kognitive Ansätze verweisen auf die Bedeutung von Bildung und Aufklärung. Die Spannweite
| |
− | geeigneter Gegenmaßnahmen reicht hierbei von der Wissensvermittlung über das
| |
− | jeweils als »fremd« wahrgenommene »andere« bis hin zur Aufklärung über die Mechanismen
| |
− | menschlicher Selbsttäuschungen, die oft versteckten Erscheinungsformen von Diskriminierung
| |
− | und die vom Urheber oft gar nicht bedachten Konsequenzen, die Diskriminierungen
| |
− | für Diskriminierungsopfer mit sich bringen.
| |
− | • Konflikttheoretische Ansätze heben hervor, dass der Kampf gegen das Vorurteil über den
| |
− | Abbau von Konkurrenz und hierarchischer Macht zu führen habe sowie über die Entwicklung
| |
− | sozialer Kompetenz und die Einübung in ein solidarisches Handeln.
| |
− | • Aus lern- bzw. sozialisationstheoretischer Sicht werden die Vorbildfunktionen von Eltern,
| |
− | Erziehenden, Medien sowie von politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Eliten hervorgehoben.
| |
− | Ferner wird die günstige Auswirkung eines gesellschaftlichen Klimas der Toleranz
| |
− | betont, in dem – auf der Basis wechselseitiger Akzeptanz – viele, auch unterschiedliche
| |
− | Lebensweisen und Lebensstile heimisch werden können und sich soziale Milieus
| |
− | entwickeln, in denen Vorurteile gleichsam in sich selbst zusammenschrumpfen.
| |
− | • Aus der Sicht sozialpsychologischer bzw. gruppensoziologischer Studien schließlich tragen
| |
− | Kontakte zwischen vorurteilsbesetzten Gruppen zum Abbau von Vorurteilen bei –
| |
− | etwa die Bildung interethnischer und interreligiöser Gruppen –, die freilich nur unter der
| |
− | Bedingung von Fairness, Akzeptanz und Gleichberechtigung Erfolg versprechen. Daniel
| |
− | Barenboims isrealisch-palästinensisches Jugendorchester (»The West-Eastern Divan Orchestra
| |
− | «) ist ein hervorragendes Beispiel dafür.
| |
− | Als wichtig wird bei all diesen Ansätzen hervorgehoben, dass es primär der Einzelne ist, der
| |
− | Vorurteile abzulegen und sich in eine Haltung der Offenheit für neues Wissen und neue soziale
| |
− | 203
| |
− | Orientierung einzuüben hat. Und bevor ich nun im zweiten Teil meines Beitrags eingehender
| |
− | auf die Freimaurer zu sprechen komme, möchte ich bereits an dieser Stelle einmal fragen:
| |
− | Sich aktiv einzuordnen in kleinere oder gar größere Bemühungen um die Entwicklung
| |
− | einer Kultur der Vorurteilsüberwindung – wäre dies nicht eine Aufgabe, geradezu geschaffen
| |
− | für eine Freimaurerei, die immer etwas im öffentlichen Raum leisten will, was ihren
| |
− | Zielen und ihrer Tradition entspricht, und die doch oft nicht weiß, worin eigentlich diese
| |
− | ihre öffentliche Aufgabe bestehen könnte?
| |
− | Verlassen wir jetzt also die allgemeine Vorurteilsanalyse und wenden wir sie auf die
| |
− | Freimaurerei im Speziellen an.
| |
− | Freimaurerische Anwendungen
| |
− | Zunächst: So sehr es richtig ist, dass eine systematische Erforschung des Vorurteils, des
| |
− | Nährbodens, auf dem es wächst, und der Methoden, es zu überwinden, erst in den 50er und
| |
− | 60er Jahren des 20. Jahrhunderts einsetzt, wobei Gordon W. Allports großer Studie über
| |
− | »Die Natur des Vorurteils« von 19546 eine besondere Bedeutung zukommt, so sehr ist doch
| |
− | zugleich darauf hinzuweisen, dass die Beschäftigung mit dem Vorurteil und der Kampf dagegen
| |
− | viel älter ist, dass ihr Beginn in die Entstehungszeit der Freimaurerei, ja noch fast ein
| |
− | Jahrhundert weiter zurück in ihre Vorperiode zu datieren ist.
| |
− | Die erste bedeutsame Thematisierung des Vorurteilsproblems findet sich in einer vom
| |
− | englischen Empiristen Francis Bacon im Jahre 1620 unter dem Titel »Novum Organum«
| |
− | veröffentlichten Aphorismen-Sammlung7.
| |
− | Der Mensch, so erläutert Bacon in Aphorismus 38, kann nur mit Mühe die Wahrheit
| |
− | erkennen. Idole (Bacons Wort für Trugbilder und Vorurteile) und falsche Begriffe hindern
| |
− | ihn daran.
| |
− | Bacon unterscheidet vier interessante und durchaus modern anmutende Arten von Idolen:
| |
− | • die Idole des Stammes, die in der Gattung des Menschen begründet sind, der nun einmal
| |
− | nie die ganze Wahrheit kennen kann;
| |
− | • die Idole der Höhle, die individuell bei jedem vorhanden sind, denn jeder hat – so Bacon
| |
− | – eine Höhle oder eine spezifische Grotte, »welche das Licht der Natur bricht und verdirbt
| |
− | «;
| |
− | • die Idole des Marktes als Folge des engen Beieinanderseins der Menschen, als Folge der
| |
− | Gemeinschaft und als Folge des Verkehrs mit anderen Menschen
| |
− | und schließlich
| |
− | • die Idole des Theaters. Denn auf der großen Bühne geistiger Selbstdarstellung wurden
| |
− | – so wieder Originalton Bacon – »Philosophien erfunden, wurden für wahr unterstellt
| |
− | und sind in den Geist des Menschen eingedrungen. Philosophische Lehrmeinungen, Sekten,
| |
− | Prinzipien sowie Lehrsätze von Wissenschaften haben durch Tradition, Leichtgläubigkeit
| |
− | und Nachlässigkeit Geltung erlangt. Der menschliche Verstand muss vor ihnen
| |
− | auf der Hut sein.«
| |
− | 6 Allport, Gordon W.: Die Natur des Vorurteils (1954), Köln 1971.
| |
− | 7 Bacon, Francis: Novum Organum. Aphorismen über die Interpretation der Natur und das Reich des
| |
− | Menschen, in: Gawlick, Günter: Empirismus, Stuttgart 1980, S. 26–49, hier S. 33–36.
| |
− | 204
| |
− | Damit ist das große Thema angeschlagen, das im Zentrum der Aufklärung steht und das
| |
− | auch zum großen Thema der Freimaurerei geworden ist.
| |
− | Freimaurer als gleichermaßen Geschöpfe und Mit-Schöpfer der Aufklärung reihten sich
| |
− | in den Kampf gegen das Vorurteil ein und vermittelten ihm Akzente und Impulse.
| |
− | Lessing, wenn nicht der bedeutendste, so doch sicher der wortmächtigste Aufklärer
| |
− | unter den deutschen Freimaurern, gab diesem Ringen um kommunikative Vernunft immer
| |
− | wieder beredt Ausdruck.8
| |
− | Wir kennen und lieben seine geschliffenen Sätze:
| |
− | »Recht sehr zu wünschen, dass es in jedem Staate Männer geben möchte, die über
| |
− | die Vorurteile der Völkerschaft hinweg wären und genau wüssten, wo Patriotismus
| |
− | Tugend zu sein aufhöret.«
| |
− | »Recht sehr zu wünschen, dass es in jedem Staate Männer geben möchte, die dem
| |
− | Vorurteile ihrer angeborenen Religion nicht unterlägen; nicht glaubten, dass alles
| |
− | notwendig gut und wahr sein müsse, was sie für gut und wahr erkennen.«
| |
− | Und im Nathan:
| |
− | »Es eifre jeder seiner unbestochnen, von Vorurteilen freien Liebe nach!«
| |
− | Es ist nun von signifikanter Bedeutung für das Selbstverständnis einer ethisch orientierten
| |
− | Freimaurerei, wie sie aus den Reformen des Bundes nach dem Zusammenbruch der »Strikten
| |
− | Observanz« und dem Wilhelmsbader Freimaurer-Konvent von 1782 am Ende des 18.
| |
− | Jahrhunderts hervorgeht, dass die Benennung des Vorurteils als eines großes Übels auch
| |
− | Eingang in das freimaurerische Ritual gefunden hat. Allerdings nicht in jedes. Während beispielsweise
| |
− | das Ritual, das am intensivsten den Geist der Aufklärung umsetzt, das Ritual
| |
− | Friedrich Ludwig Schröders, im Ritual des Lehrlingsgrades von 1801 an nicht weniger als sieben
| |
− | Stellen vom Vorurteil und der Notwendigkeit seiner Überwindung spricht, findet sich
| |
− | im Ritual der Großen Landesloge keine einzige Erwähnung.
| |
− | Schröder, wie auch der Kantianer Feßler für die Große Loge Royal York, wollten auf
| |
− | das, was Fichte nach dem Zusammenbruch der »Strikten Observanz« »die tabula rasa der
| |
− | Freimaurerei« nennt9, etwas schreiben, »was ihrer würdig ist«: den Geist der Aufklärung, der
| |
− | nicht nur gegenüber einer rückständigen profanen Umwelt, sondern auch gegenüber vielen
| |
− | zeitgenössischen freimaurerischen Irrwegen wieder zu befestigen und zu bewahren ist. Es
| |
− | sind also nicht zuletzt die in der Freimaurerei selbst anzutreffenden und von ihnen vor
| |
− | allem auf Hochgradirrwege zurückgeführten Vorurteile, gegen die Reformer wie Schröder
| |
− | und Feßler anzugehen sich bemühen.
| |
− | 8 Vgl. Höhmann, Hans-Hermann: Lessing und die deutsche Freimaurerei der Gegenwart, Veröffentlichungen
| |
− | der Lessing-Gesellschaft, Hamburg 2004.
| |
− | 9 Fichte, Johann Gottlieb: Philosophie der Maurerei. Briefe an Konstant, hrsg. von Thomas Held, Düsseldorf
| |
− | und Bonn 1997, S. 21.
| |
− | 205
| |
− | Hören wir im Originalton den Ritualreformer Schröder von 180110:
| |
− | »Hülfsbedürftig setzt die Natur den Menschen in die Welt; von Vorurtheilen und
| |
− | Leidenschaften geblendet vergißt er seine Würde; die Vernunft zeigt ihm die Mittel,
| |
− | auf den Weg der Wahrheit zu gelangen.«
| |
− | Oder:
| |
− | »Der rohe Stein, an welchem der Lehrling zur Arbeit angewiesen wird, ist das Sinnbild
| |
− | des unaufgeklärten, mit Vorurtheilen erfüllten Menschen; der behauene aus ihm
| |
− | werden kann, wenn er sein Herz und seinen Geist bearbeitet.«
| |
− | Oder:
| |
− | »Denn so wie ein Gebäude durch Weisheit erfunden, durch Stärke ausgeführt, und
| |
− | durch Schönheit geziert wird, so bedeuten auch die drei großen Gegenstände der
| |
− | Freimaurerei: erstens Weisheit, Ueberwindung der Vorurtheile, Wahrheit, Ueberzeugung,
| |
− | Erforschung unserer Selbst ….«
| |
− | Wohlgemerkt: Weisheit bedeutet in Schröders Ritualverständnis primär Überwindung der
| |
− | Vorurteile und Erforschung des eigenen Selbst. Ideenwelt und Ritual stehen in der ethisch
| |
− | orientierten Freimaurerei nicht unverbunden nebeneinander: Das Ritual nimmt vielmehr
| |
− | die Ideen der (am Ende des 18. Jahrhunderts immer »bürgerlicher« werdenden) Aufklärung
| |
− | auf und spiegelt sie – um sie einübbar zu machen – im rituellen Vollzug auf den Freimaurer
| |
− | zurück.
| |
− | Folgerungen für die Praxis
| |
− | Aber bedarf der Freimaurer heutzutage überhaupt der Belehrung, vorurteilsfrei zu sein?
| |
− | Nehmen wir »Brüder des Lichts« nicht gern von uns an, bereits durch und durch aufgeklärt
| |
− | zu sein?
| |
− | Mir scheint Skepsis am Platz, und wenn wir die Analyse des Vorurteils von Francis
| |
− | Bacon bis Gordon Allport und die moderne Sozialtheorie Revue passieren lassen, so wäre
| |
− | ein vorurteilsfreier Freimaurer wahrlich ein anthropologisches Wunder.
| |
− | Natürlich haben wir Freimaurer Vorurteile! Aber warum?
| |
− | • Erstens, weil auch wir Freimaurer Menschen sind, die nicht alles wissen können und die
| |
− | gezwungen sind, Wissenslücken durch Annahmen, durch Voraus-Urteile zu überbrücken.
| |
− | • Zweitens, weil auch wir unsere Herkunft, unsere frühen Erfahrungen, unsere Sozialisation
| |
− | nicht verleugnen können, weil wir aus verschiedenen prägenden Milieus stammen und
| |
− | weil alle diese Milieus mehr oder weniger mit Vorurteilen behaftet sind.
| |
− | 10 Schröder, Friedrich Ludwig: Ritual des Lehrlings-Grades der unter der Constitution der großen Provinzial-
| |
− | Loge von Hamburg und Niedersachsen arbeitenden gerechten und vollkommenen Freimaurer Logen,
| |
− | Hamburg 1801.
| |
− | 206
| |
− | • Drittens: Auch wir Freimaurer stehen im gesellschaftlichen Prozess, wir haben unsere Positionen
| |
− | und wir haben unsere Interessen. Und weil wir unterschiedliche Rollen spielen und
| |
− | nicht davon ausgehen können, dass diese immer allen gefallen, versuchen wir, unser Rollenverhalten
| |
− | vor uns selbst und anderen durch lieb gewordene Stereotype zu legitimieren.
| |
− | • Schließlich haben auch wir Freimaurer uns in den großen Denk- und Glaubenssystemen
| |
− | religiös, weltanschaulich, ideologisch und politisch verortet, auch in den uns lieb gewordenen
| |
− | freimaurerischen Systemen, auch in den Gehäusen unserer niederen oder höheren
| |
− | Grade. Wir spielen immer und unvermeidbar kleines oder großes Welttheater, und wir
| |
− | sind immer wieder in Versuchung, die Bühne, auf der wir spielen, mit den Kulissen unserer
| |
− | Vorurteile attraktiv auszugestalten.
| |
− | Welche unserer Vorurteile sind nun besonders schädlich? Ich denke, dass die Gefahr, unter
| |
− | Freimaurern auf aggressive Vorurteile zu stoßen, geringer geworden ist. Doch man braucht
| |
− | nur das freimaurerische Schrifttum der 20er und frühen 30er Jahre durchzusehen, um zu
| |
− | erschrecken, wie bis hin zum Antisemitismus die ganze Palette völkischer Vorurteile in der
| |
− | deutschen Freimaurerei heimisch gewesen ist.11
| |
− | Dies aufzuarbeiten haben wir Freimaurer leider weitgehend der externen Forschung
| |
− | überlassen.12 Doch das »Sich-drücken-vor-dem-Wahrnehmen« der Vorurteile von gestern
| |
− | führt nun nicht geradewegs zur Sorge, dass auch die heutige deutsche Freimaurerei anfällig
| |
− | für nationalistische oder gar rassistische Vorurteile ist. Wie erinnern uns nicht gern an das,
| |
− | was früher war, aber wir haben es hinter uns gelassen.
| |
− | Die Vorurteile, die uns Freimaurer heute anhaften, haben m.E. vor allem mit unserem
| |
− | Strukturkonservativismus, unseren Schwächen im zwischenmenschlichen Verhalten und
| |
− | mit unserem unzureichenden Wissen zu tun.
| |
− | Ich möchte nicht behaupten, sondern Fragen stellen:
| |
− | • Bemühen wir uns genug darum, Vorurteile auch in unseren eigenen Strukturen und Verhaltensweisen,
| |
− | ja in unseren Ritualen aufzuspüren und sie nicht nur unserer Umwelt anzulasten?
| |
− | • Ziehen wir immer die erforderlichen organisatorischen Konsequenzen, wenn wir uns im
| |
− | Brustton der Überzeugung darauf berufen, dass es nur eine Freimaurerei gäbe?
| |
− | • Sind wir nicht oft schroff und anmaßend im Verhalten zueinander, und lassen wir uns
| |
− | nicht durch unsere Vorteile auch noch ein gutes Gewissen dafür verschaffen?
| |
− | • Hegen wir nicht zuweilen verletzende Vorurteile gegen die von uns, die sich um gründliche
| |
− | intellektuelle Aufarbeitung bemühen, ja Forschung betreiben, im Sinne eines: »Wissenschaft
| |
− | bedeutet, dass noch mehr geschrieben wird, was keiner liest« oder »Was da erforscht
| |
− | wird, ist mir ohnehin schon alles bekannt«?
| |
− | • Belastet nicht ein zu geringes freimaurerisches Wissen unser Verhältnis zum reichen kulturellen
| |
− | Erbe der Freimaurerei, zur ganzen Fülle dessen, was Freimaurerei kulturell und
| |
− | historisch ausmacht?
| |
− | 11 Vgl. Höhmann, Hans-Hermann: Europas verlorener Friede, die nationalvölkische Orientierung innerhalb
| |
− | der deutschen Freimaurerei und die »freimaurerische Erinnerungspolitik« nach dem Zweiten Weltkrieg,
| |
− | in diesem Band, S. 51–87.
| |
− | 12 Vgl. Höhmann, Hans-Hermann: Freimaurerische Erinnerungskultur, in: TAU, Zeitschrift der Forschungsloge
| |
− | »Quatuor Coronati«, I/2005, S. 3–8.
| |
− | 207
| |
− | • Begnügen wir uns nicht in unserer Kommunikation mit der Gesellschaft allzu oft mit
| |
− | recht abgespeckten Versionen von Freimaurerei, die zudem nicht selten wenig mit den
| |
− | Realitäten zu tun haben, d.h. Vorurteile sind?
| |
− | • Besteht nicht zwischen unserem Anspruch, moralische Urteile über Politik und Gesellschaft
| |
− | zu fällen, und dem Wissen, das bei uns Freimaurern vorhanden ist, um in der Lage
| |
− | zu sein, soziale Zusammenhänge wirklich realitätsadäquat zu beurteilen, eine häufig ärgerliche
| |
− | Diskrepanz?
| |
− | • Lassen nicht eine oft unangemessene Politik- und Politikerschelte sowie Fehleinschätzungen
| |
− | der Funktionsweise des demokratischen Systems vermuten, dass unser politischgesellschaftliches
| |
− | Wissen und Urteilsvermögen geringer ist, als es sich wir Freimaurer eigentlich
| |
− | leisten dürften?
| |
− | • Und lassen nicht gar grobe Vereinfachungen, aggressive Rechthaberei, kategorisches Entweder-
| |
− | oder oder moralische Selbstgerechtigkeit manchmal nicht gar die Konturen einer
| |
− | problematischen Stammtischnähe aufscheinen?
| |
− | • Und wenn diese Fragen etwas für sich haben sollten: Sind wir bereit, Vorurteile zu überwinden
| |
− | und zum Urteil fortzuschreiten?
| |
− | Zum Schluss: Was sollen wir tun, um vom Vorurteil zum Urteil fortzuschreiten?
| |
− | Vier methodische Ansätze kommen mir in den Sinn, die mir ebenso unverzichtbar wie aussichtsreich
| |
− | erscheinen:
| |
− | • Erstens das Bemühen um einen offenen, empathischen, doch zugleich kritischen Umgang
| |
− | miteinander in der brüderlichen Gemeinschaft der Loge.
| |
− | • Zweitens das Engagement für einen redlichen, ethisch orientierten Diskurs bei unserer
| |
− | geistigen Arbeit, ausgerichtet am unverzichtbaren »nichts geht über das laut denken mit
| |
− | dem Freunde«, bei dem nicht der lauwarme Regen vermeintlicher Toleranz Vorurteile
| |
− | überdeckt, wenn nicht gar legitimiert, sondern durch klare Benennungen offen legt.
| |
− | • Drittens die Pflege einer Ritualpraxis, die das freimaurerische Ritual mit seinen prozesshaft
| |
− | auf Veränderung angelegten Prüfungs- und Einübungselementen aufklärerisch-lebendig
| |
− | im Sinne ethischer Einübung auf uns wirken lässt.
| |
− | • Und Viertens – gleichsam als freimaurerische Hausaufgabe – das stete Anarbeiten gegen
| |
− | Unwissenheit im Sinne eines: Wo Vorurteil war, soll Urteil möglich werden, sowie das
| |
− | Bemühen, in Bezug auf Gesinnung und Verhalten anstatt eines Teilzeitmaurers ein Ganztagsmaurer
| |
− | zu sein, dem es zu wenig ist, das Ringen um eine bessere Welt vorwiegend an
| |
− | andere zu delegieren, um sie dann – durchaus zu Recht – dafür mit Preisen auszuzeichnen,
| |
− | der vielmehr selbst aktiv wird, beispielsweise durch eine mit geeigneten Partnergruppen
| |
− | vernetzte Aktion »Freimaurer gegen Vorurteile«.
| |
− | Dann können vielleicht auch einmal andere über die Freimaurer sagen: Donnerwetter, die
| |
− | stehen ja mitten in der Zeit und die sind wirklich gut – (und dann gäbe es vielleicht gar einmal
| |
− | einen Preis für die Freimaurerei).
| |
− | Aber wäre das dann nicht ein unzulässiges politisches Engagement? Nicht, wenn wir klar unterscheiden
| |
− | zwischen
| |
− | 208
| |
− | • dem politischen Prozess, bei dem – im politischen Streit auf der institutionellen Grundlage
| |
− | einer pluralistischen Demokratie – parteiische Meinungen aufeinandertreffen und in
| |
− | dem die Freimaurerei als Institution (im Unterschied zum einzelnen Freimaurer) nichts
| |
− | zu suchen hat und
| |
− | • den quasi vorpolitischen, politisch aber höchst relevanten Grundlagen der Politik. Hiergeht
| |
− | es in erster Linie um dreierlei: (1) um Wissenserwerb und den Kampf gegen Vorurteile,
| |
− | (2) um unaufgebbare moralische Standards für politisches Handeln sowie die Frage,
| |
− | inwieweit sich Norm und Realität entsprechen und (3) um Verhaltensstile, um menschlichen
| |
− | Umgang im politischen Raum, kurz um politische Kultur.
| |
− | Für eine Freimaurerei, die sich als Lebenskunst versteht, die menschliches Miteinander und
| |
− | ethische Lebensorientierung durch Symbole und rituelle Handlungen in der Gemeinschaft
| |
− | der Loge erlebbar macht, böte sich hier auf dem Gebiet der Grundlagen von Politik ein
| |
− | ebenso kreatives wie verantwortungsvolles Denk- und Handlungsfeld. Würde sie hier verstärkt
| |
− | aktiv, so könnte sich nicht nur der einzelne Freimaurer, sondern auch die Freimaurerei
| |
− | als Institution viel stärker als bisher im öffentlichen Raum bemerkbar machen. Dann würde
| |
− | die Freimaurerei zu einer ernst zu nehmenden Gruppe, die bereit und in der Lage ist, sich
| |
− | mit ihrem ganz spezifischen Angebot den Problemen der Zeit zu stellen.
| |
− | 209
| |
− | Bürgerliches Selbst- und Wertebewusstsein
| |
− | als Zukunftsfaktor Europas
| |
− | 1. Kulturelle Faktoren in der Politik
| |
− | Politik ist sowohl in ihren institutionellen Strukturen als auch in ihren durch Interessenkonflikte
| |
− | und Machtkämpfe bestimmten Abläufen stets äußerst vielschichtig und kompliziert. Es mag
| |
− | daher ratsam sein, zu Beginn einer Analyse gegenwärtiger und zukünftiger Perspektiven europäischer
| |
− | Politik, bei der vor allem kulturelle Faktoren berücksichtigt werden sollen, in aller Kürze
| |
− | einige Dimensionen der angemerkten Komplexität aufzuzeigen. Einerlei, ob es um innerstaatliche
| |
− | Entwicklungen geht, um internationale Beziehungen oder um die Gestaltung des künftigen
| |
− | Europas: Stets hat das Gelingen von Politik mindestens vier unverzichtbare Voraussetzungen:
| |
− | • Erstens muss ein möglichst widerspruchsfreier institutioneller Rahmen vorhanden sein,
| |
− | der aus verbindlichen Normen, aus Gesetzen von der Verfassung bis hin zu einzelnen
| |
− | Rechtsregeln und Vorschriften besteht. Ohne einen solchen Rahmen lassen sich politische,
| |
− | insbesondere ökonomische Abläufe, wie zuletzt die internationale Finanzkrise gezeigt
| |
− | hat, nicht zufriedenstellend regeln.
| |
− | • Innerhalb dieses Rahmens müssen zweitens klare, konsistente und ausreichend akzeptierte
| |
− | Konzeptionen für das Handeln der politischen Akteure vorhanden sein. Ohne fundierte
| |
− | Konzeptionen sind zieladäquate, effektive und zugleich effiziente Maßnahmen der
| |
− | Politik auf all ihren Feldern nicht zu gewährleisten.
| |
− | • Drittens muss es in allen Bereichen des politischen Handelns und Entscheidens leistungsfähige
| |
− | Akteure geben, Politiker, die mit »Leidenschaft und Augenmaß« (Max Weber) politische
| |
− | Konzepte im Rahmen der gegebenen Institutionen professionell und wirkungsvoll
| |
− | umzusetzen verstehen.
| |
− | • Viertens schließlich gelingt Politik nur auf der Basis von kulturellen Faktoren, zu denen
| |
− | in erster Linie Vertrauen, Motivationen, Überzeugungen und Wertvorstellungen gehören.
| |
− | Menschen müssen nicht nur wissen, was sie tun und in welchem Ordnungsgefüge sie handeln,
| |
− | sie müssen auch wissen, warum sie handeln, und vor allem müssen sie über innere
| |
− | Maßstäbe verfügen, die sie verpflichten, ethisch verantwortlich tätig zu sein.
| |
− | Viele Diskussionen hierzulande weisen darauf hin, dass das Bewusstsein für die kulturellen
| |
− | Grundlagen der Politik in der jüngsten Vergangenheit zugenommen hat.
| |
− | Ich erwähne mit ein paar Stichworten nur
| |
− | • die Diskurse über Notwendigkeit – aber auch Abwegigkeit – einer sogenannten »deutschen
| |
− | Leitkultur«,
| |
− | • die anhaltenden Debatten um Werteverfall, Wertewandel und neue Werte in der modernen
| |
− | Gesellschaft von heute,
| |
− | • die vehementen öffentlichen Klagen um die Zusammenhänge zwischen Wirtschaftskrise,
| |
− | Unternehmerversagen und moralische Defizite der ökonomischen Eliten,
| |
− | sowie
| |
− | • das zunehmende öffentliche Nachdenken über Notwendigkeit und Möglichkeit einer
| |
− | neuen Bürgerlichkeit, worauf gleich noch ausführlich zurückzukommen ist.
| |
− | 210
| |
− | Diese Debatten haben längst den nationalen Rahmen verlassen. Vor allem die Wertdebatte
| |
− | hat einen internationalen, ja globalen Charakter angenommen. Teils wird sie hoffnungsvoll
| |
− | geführt – ein wichtiges Beispiel dafür ist das von Hans Küng propagierte »Projekt Weltethos«
| |
− | –, teils steht sie unter einem pessimistischen Vorzeichen, wofür Samuel Huntingtons düstere
| |
− | Perspektive eines »Clash of Civilisations«, eines »Kampfes der Kulturen«, besonders paradigmatisch
| |
− | ist.
| |
− | Schließlich hat mit den Bemühungen um eine Verfassung der Europäischen Union zu
| |
− | Beginn des 21. Jahrhunderts eine intensive Debatte um die der Union zugrunde liegenden
| |
− | europäischen Werte eingesetzt.
| |
− | 2. Europäische Werte
| |
− | Ohne Werte geht es nicht, dessen sind sich offenkundig auch die Mütter und Väter einer neuen
| |
− | europäischen Verfassungsordnung bewusst.
| |
− | Daher wird sowohl im gescheiterten »Vertrag über die Verfassung der Europäischen
| |
− | Union« vom Oktober 2004 als auch im danach in Angriff genommenen »Vertrag über die
| |
− | Europäische Union« vom Dezember 2007, dem sogenannten Vertrag von Lissabon, neben
| |
− | der Regelung von Institutionen und Entscheidungsprozessen auch die Frage nach den Wertgrundlagen
| |
− | Europas angesprochen und ein europäischer Wertekanon definiert.
| |
− | Dementsprechend lautet Artikel 2 des »Vertrags über die Europäische Union«:
| |
− | »Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind Achtung der Menschenwürde, Freiheit,
| |
− | Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte
| |
− | einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese
| |
− | Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus,
| |
− | Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit
| |
− | von Frauen und Männern auszeichnet.«1
| |
− | Auch Herkunft und Grundlagen dieser Werte werden genannt:2 Man habe bei der Formulierung
| |
− | geschöpft
| |
− | »aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas, aus dem sich die
| |
− | unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen sowie Freiheit, Demokratie,
| |
− | Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte entwickelt haben«,
| |
− | und man habe sich von der Überzeugung leiten lassen,
| |
− | »dass ein nach schmerzlichen Erfahrungen nunmehr geeintes Europa auf dem Weg
| |
− | der Zivilisation, des Fortschritts und des Wohlstands zum Wohl aller seiner Bewohner,
| |
− | auch der Schwächsten und der Ärmsten, weiter voranschreiten will, dass es ein
| |
− | Kontinent bleiben will, der offen ist für Kultur, Wissen und sozialen Fortschritt, dass
| |
− | 1 Vertrag von Lissabon, hrsg. von der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2008, S. 34.
| |
− | 2 Vertrag von Lissabon, Präambel, ebenda, S. 32.
| |
− | 211
| |
− | es Demokratie und Transparenz als Grundlage seines öffentlichen Lebens stärken und
| |
− | auf Frieden, Gerechtigkeit und Solidarität in der Welt hinwirken will«.
| |
− | Gewiss, die Europäische Union umfasst nicht das gesamte Europa, und sie ist auch nicht homogen
| |
− | und einheitlich; doch politisch und konzeptionell ist die Union der bedeutsamste
| |
− | gemeinsame Ausdruck, den Europa in seiner Geschichte gefunden hat. Es hat zwar auch im
| |
− | bisherigen Verlauf der europäischen Integration Gesetze und Verordnungen gegeben, doch es
| |
− | gab bisher keine Verfassungsordnung. Diese Lücke ist mit dem Vertrag von Lissabon geschlossen
| |
− | worden, was für die Zukunft der Union eine große Bedeutung hat, wie auch die Verankerung
| |
− | der europäischen Leitwerte im Verfassungsvertrag neu und bedeutsam ist.
| |
− | Das Festschreiben gemeinsamer Werte war den europäischen Parlamentariern sogar so
| |
− | wichtig, dass sie sich nicht mit dem erwähnten Wertekanon der Verfassungstexte begnügten.
| |
− | Sie verabschiedeten vielmehr zusätzlich auch eine »Charta der Grundrechte der Europäischen
| |
− | Union«.3
| |
− | Der erste Artikel dieser Charta »Die Würde des Menschen ist unantastbar« folgt im
| |
− | Wortlaut dem entsprechenden Text des deutschen Grundgesetzes. Die folgenden Hauptabschnitte
| |
− | »Würde des Menschen« – »Freiheiten« – »Gleichheit« – »Solidarität« und »Bürgerrechte
| |
− | « folgen dem Wertekanon der Verfassungsdokumente und der Schlussabschnitt – »Allgemeine
| |
− | Bestimmungen über die Auslegung und Anwendung der Charta« – enthält auch die
| |
− | Verpflichtung zu einer ernsthaften Suche nach geeigneten Prozeduren für die institutionelle
| |
− | und politische Umsetzung der aufgelisteten Grundrechte und Werte.
| |
− | 3. Die Meinung der europäischen Bürger
| |
− | Doch was sagen die europäischen Bürger selbst zu »ihren« Werten? Welche Werte sind ihnen
| |
− | besonders wichtig?
| |
− | Das sogenannte »Eurobarometer« der Europäischen Union, in dem gleichzeitige Umfragen
| |
− | aus allen Ländern der Europäischen Union erarbeitet und veröffentlicht werden, hat sich in
| |
− | seiner Herbstumfrage 2006 erstmalig auch mit Werten und gesellschaftlichen Themen befasst,
| |
− | wobei knapp 30.000 Personen befragt wurden.4
| |
− | Den Befragten wurde zweimal eine Liste von Werten vorgelegt, aus denen sie jeweils drei
| |
− | Werte benennen sollten, einmal hinsichtlich der für sie persönlich wichtigsten Werte, zum
| |
− | anderen in Bezug auf die Frage, welche Werte die Europäische Union am besten repräsentieren
| |
− | würden. Die Vorgaben, unter denen jeweils gewählt werden konnte, waren dabei die folgenden:
| |
− | Rechtsstaatlichkeit; Respekt gegenüber dem menschlichem Leben; Menschenrechte; Freiheit
| |
− | des Einzelnen; Demokratie; Frieden; Gleichheit; Solidarität; Toleranz; freie Religionsausübung;
| |
− | Selbstverwirklichung und Respekt gegenüber anderen Kulturen.
| |
− | Für die Befragten als persönlich am wichtigsten erwiesen sich Frieden (52 Prozent), Respekt
| |
− | gegenüber dem menschlichem Leben (43 Prozent) und Menschenrechte (41 Prozent).
| |
− | 3 Charta der Grundrechte der Europäischen Union, ebenda, S. 205–217.
| |
− | 4 Eurobarometer 66. Die öffentliche Meinung in der Europäischen Union. Befragung, durchgeführt im
| |
− | Auftrag der Generaldirektion Kommunikation http://ec.europa.eu/public_opinion/archives/eb/eb66/
| |
− | eb66_highlights_de.pdf, download 28. 11. 2010, S. 35f.
| |
− | 212
| |
− | Als die drei Werte, die in der Sicht der EU-Bürger die Europäische Union am eindrucksvollsten
| |
− | repräsentieren, wurden Menschenrechte (38 Prozent), Demokratie (38 Prozent) und
| |
− | gleichfalls Frieden (36 Prozent) genannt.
| |
− | Die freie Ausübung der Religion gehörte dagegen nur für sieben Prozent der Befragten
| |
− | zu den drei wichtigsten persönlichen Wertbereichen, und nur drei Prozent von ihnen
| |
− | bezeichneten Religionsfreiheit als einen der drei wichtigsten repräsentativen Werte der Europäischen
| |
− | Union.
| |
− | Die Befragung deutet somit auf ein Wertverständnis der europäischen Bürger hin, das
| |
− | mit den Formulierungen in Verfassung und Verfassungsvertrag weitgehend übereinstimmt,
| |
− | sie bestätigt zugleich aber auch das vorwiegend säkulare Verständnis europäischer Werte,
| |
− | das ja auch im – mancherorts beklagten – Verzicht auf einen Gottesbezug im europäischen
| |
− | Verfassungsvertrag seinen Ausdruck gefunden hat.
| |
− | 4. Bilanz der gegenwärtigen Wertdebatte
| |
− | Dass Werte im Bewusstsein der Bevölkerung präsent sind und dass Werte nach dem Willen
| |
− | der Verfassung zur Grundlage des politischen Handelns und Entscheidens gemacht werden
| |
− | sollen, bedeutet nun freilich nicht, dass Institutionen und Politik die Wirksamkeit und Verbindlichkeit
| |
− | von Werten sichern könnten.
| |
− | Gewiss, eine erfolgreiche Politik sowie zweckmäßige und konsistente Institutionen können
| |
− | dazu beitragen, dass sich Wertbewusstsein entfaltet und dass sich das Vertrauen festigt,
| |
− | das Bürger der Politik entgegenbringen, wie umgekehrt eine schlechte Politik und inkonsistente
| |
− | Institutionen Vertrauen und Moral zerstört. Doch letztlich sind Werte den Institutionen
| |
− | und politischen Entscheidungen vorgeordnet, geben ihnen Impuls und Richtung und
| |
− | folgen ihnen nicht nach.
| |
− | Werte sind im Gespräch: Auf der einen Seite ist von Wertewandel, wenn nicht gar
| |
− | von Werteverfall die Rede. Auf der anderen Seite wird die Notwendigkeit betont, alte
| |
− | Wertesysteme zu beleben, sie erneut verbindlich zu machen oder gar neue Wertesysteme
| |
− | zu entwickeln. Während in den Medien und der Populärpublizistik eine eher negative
| |
− | Einschätzung dominiert, die meist an spektakulären Ereignissen (Korruptionsskandalen, sexuellen
| |
− | Entgleisungen prominenter Mitbürger, unterschiedlichen Formen von Gewalttätigkeit)
| |
− | festgemacht wird, stehen sich in der Politikwissenschaft, Soziologie und empirischen
| |
− | Sozialforschung zahlreiche analytische Ansätze mit unterschiedlichen Ergebnissen und
| |
− | Interpretationen gegenüber.5 Als wichtige Autoren sind u.a. Ronald Inglehart6, Helmut
| |
− | 5 Vgl. hierzu und zum Folgenden: Belwe, Katharina: Editorial, Aus Politik und Zeitgeschichte, B 29/2001.
| |
− | 6 Inglehart Ronald/Baker, W. E.: Modernization, cultural change, and the persistence of traditional values,
| |
− | in: American Sociological Review, 65, 2000; Inglehart, Ronald: Modernisierung und Postmodernisierung.
| |
− | Frankfurt 1998.
| |
− | 213
| |
− | Klages7, Elisabeth Noelle-Neumann8 und Karl-Heinz Hillmann9 hervorzuheben. Was die
| |
− | einen als zunehmende Selbstentfaltung, Autonomie und Gleichberechtigung beschreiben,
| |
− | stellt sich für andere Autoren als Werteverfall oder -verlust dar. Einige Untersuchungsergebnisse
| |
− | deuten neuerdings auf eine Wiederbelebung »traditioneller« Werte wie Moral,
| |
− | Pflichtbewusstsein, »Law and Order« sowie Fleiß hin. Ob derartige Entwicklungen auf die
| |
− | generelle Renaissance eines bürgerlichen Wertesystems verweisen, ist allerdings umstritten.
| |
− | Umstritten ist auch, ob der neuerliche Bezug auf bestimmte tradierte Wertkonventionen
| |
− | tiefer geht oder lediglich eine auf Teilbereiche der Gesellschaft beschränkte »Wertdekoration
| |
− | « darstellt.
| |
− | Insgesamt steht nach wie vor die auf viele Beobachtungen gestützte Befürchtung im
| |
− | Vordergrund, dass im politisch-gesellschaftlichen wie im privaten Leben viele Werthaltungen
| |
− | fehlen, unzureichend vorhanden sind oder einen unverbindlich-rhetorischen Charakter
| |
− | angenommen haben, die das Verhalten der Menschen bisher geregelt haben. In
| |
− | zunehmendem Maße vermisst werden Einstellungen, die unmittelbar öffentlich bedeutsam
| |
− | sind wie soziale Verantwortung, Sorge um die Zukunft der Gemeinschaft, Offenheit für
| |
− | den Mitmenschen, Redlichkeit im Umgang miteinander sowie Maßhalten im Vertreten
| |
− | von ideologischen Standpunkten und materiellen Interessen. Vor allem die politischen und
| |
− | wirtschaftlichen Eliten werden unter diesen Gesichtspunkten zunehmend kritisch betrachtet.
| |
− | Machtversessenheit vor der Wahl und Machtvergessenheit nach der Wahl (Richard von
| |
− | Weizsäcker) etwa ist ein ebenso pointierter wie oft zitierter Vorwurf an die Adresse der
| |
− | politischen Parteien. Den ökonomischen Eliten wird Missbrauch wirtschaftlicher Macht,
| |
− | ungebremste Geldgier, »Heuschreckenmentalität« und »Weißkragenkriminalität« vorgehalten.
| |
− | Vermisst werden aber auch Einstellungen, die der tagtäglichen Alltagspraxis zuzurechnen
| |
− | sind, wie Rücksichtnahme, Respekt und Höflichkeit im Umgang miteinander. Rüdes
| |
− | Verhalten in öffentlichen Verkehrsmitteln, nicht zuletzt alten und gebrechlichen Fahrgästen
| |
− | gegenüber, mag ein anschauliches Demonstrationsfeld hierfür sein.
| |
− | Auch die Freimaurer stehen im Wertediskurs. Denn die Frage nach Werten, Tugenden
| |
− | und moralischen Verhaltensweisen hat im Freimaurerbund eine lange, in die Zeit seiner
| |
− | Gründung im frühen 18. Jahrhundert zurückreichende Tradition.10 Auch die gegenwärtige
| |
− | Wertproblematik ist für die Freimaurer von großer Bedeutung, und es ist eine Herausforderung
| |
− | für sie, den Wertewandel der Gegenwart mit ihrer Ideenwelt zu konfrontieren, nach
| |
− | der heutigen Relevanz ihrer Ideenwelt zu fragen und über die Tragfähigkeit ihres eigenen
| |
− | Beitrags zum Wertediskurs nachzudenken.
| |
− | 7 Klages, Helmut/Gensicke, Thomas: Wertesynthese – funktional oder dysfunktional, in: Kölner Zeitschrift
| |
− | für Soziologie und Sozialpsychologie, 58. Jg. 2006. Klages, Helmut: Werte und Wertewandel, in:
| |
− | Schäfers, Bernhard/Zapf, Wolfgang (Hrsg.): Handwörterbuch zur Gesellschaft Deutschlands, 2. Auflage,
| |
− | Opladen 2001.
| |
− | 8 Noelle-Neumann, Elisabeth: Werden wir alle Proletarier? Wertewandel in unserer Gesellschaft, Zürich
| |
− | 1978; Noelle-Neumann, Elisabeth/Petersen, Thomas: Zeitenwende. Der Wertewandel. 30 Jahre später,
| |
− | in: »Aus Politik und Zeitgeschichte« 29/2001.
| |
− | 9 Hillmann, Karl-Heinz: Wertwandel, Würzburg 2003.
| |
− | 10 Vgl. Höhmann, Hans-Hermann: Der Freimaurerdiskurs der Gegenwart. Was ist, was will, was soll die
| |
− | Freimaurerei, in diesem Band S. 152–178; ders.:, Entwicklung, Reflexion, Wissenschaft. Anmerkungen
| |
− | zum Wechselspiel zwischen freimaurerischer Geschichte und Geschichte der Freimaurerforschung, in:
| |
− | Quatuor Coronati Jahrbuch für Freimaurerforschung, Nr. 41/2004, S. 229–239.
| |
− | 214
| |
− | Die zunehmende Verunsicherung, ja das zunehmende Krisenbewusstsein, das als
| |
− | Hauptgrund für das Nachdenken über die Wertgrundlagen der Gesellschaft erkennbar ist,
| |
− | lässt sich auf die zahlreichen, oft grundstürzenden Veränderungen zurückführen, die kennzeichnend
| |
− | für die politische und gesellschaftliche Struktur der Gegenwart geworden sind.
| |
− | Ich nenne nur mit Stichworten
| |
− | • die Globalisierung mit ihren vielen ungelösten Problemen und Herausforderungen;
| |
− | • die Auflösung der festen internationalen Strukturen nach dem Zusammenbruch des
| |
− | kommunistischen Weltsystems;
| |
− | • die konfliktträchtigen Mischungen von multikulturellen Gesellschaften, religiösen Fundamentalismen
| |
− | und internationalem Terrorismus;
| |
− | • die Zunahme problematischer technischer Machbarkeiten wie Genmanipulation und Anwachsen
| |
− | der Kontrolle über den Menschen durch eine ausufernde Erfassung seiner persönlichen
| |
− | Daten;
| |
− | • die Gefährdung der Stabilität von Umweltbedingungen (Stichwort: drohende Klimakatastrophe)
| |
− | sowie
| |
− | • die ganz aktuellen – vermuteten oder tatsächlichen – Zusammenhänge zwischen Finanzsystem,
| |
− | Wirtschaftskrise und den moralischen Grundlagen der Wirtschaft.
| |
− | Entscheidend aber sind die gesellschaftlichen Veränderungen der gegenwärtigen Moderne
| |
− | bzw. Postmoderne, die unverkennbar ein Ende der bürgerlichen Gesellschaft im traditionellen
| |
− | Sinne bedeuten:
| |
− | • die Veränderungen von Glaubenssystemen, Wertorientierungen und Lebensstilen im
| |
− | Sinne einer immer heterogener, unverbindlicher und flüchtiger werdenden »Multioptionsgesellschaft
| |
− | « (Peter Gross11),
| |
− | • die Veränderung von Wahrnehmungen und Interessen im Sinne einer »Erlebnisgesellschaft
| |
− | « (Gerhard Schulze12), die sich auf unterhaltsame Events und wechselnde Oberflächenreize
| |
− | orientiert,
| |
− | sowie
| |
− | • die tiefgehende Umstrukturierung und Neuformierung der Realgesellschaft13, geprägt
| |
− | durch Wandlungen in der Altersstruktur der Gesellschaft, eine drohende Desintegration
| |
− | der Generationen, Probleme der Integration von Menschen mit Einwanderungshintergrund,
| |
− | Veränderungen in der Arbeitswelt, ein neues Verhältnis der Geschlechter zueinander
| |
− | sowie veränderte Formen der sozialen Einbindung bzw. Vernetzung der Menschen,
| |
− | d.h. Wandlungen in der Struktur des »Sozialkapitals« im Sinne einer geringeren Bereit-
| |
− | 11 Vgl. Gross, Peter: Die Multioptionsgesellschaft, Frankfurt/Main 1994.
| |
− | 12 Vgl. Schulze, Gerhard: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt/M. 1992;
| |
− | Gerhard Schulze: Kulissen des Glücks. Streifzüge durch die Eventkultur, Frankfurt/M. 1999.
| |
− | 13 Vgl. Bergmann, Jörg/Höhmann, Hans-Hermann: Die Freimaurer im Prozesse der Modernisierung heute,
| |
− | in: Quatuor Coronati Jahrbuch, 40, 2003, S. 93–102; Hans-Hermann Höhmann: Freimaurerei als Sozialkapital.
| |
− | Sozialwissenschaftliche Aspekte der gegenwärtigen Freimaurerei in Deutschland, in: Quatuor
| |
− | Coronati Jahrbuch, 41, 2004, S. 303–321; ders.: Vertrauen als Element ökonomischer Kultur, in: Festschrift
| |
− | für Wolfgang Eichwede, Bremen 2007.
| |
− | 215
| |
− | schaft zu dauerhafter Bindung an hergebrachte bürgergesellschaftliche Gruppierungen
| |
− | (Robert Putnam14).
| |
− | All diese Entwicklungen erfordern rasche und nachhaltige Reaktionen von Politik und Gesellschaft.
| |
− | Gleichzeitig wird immer deutlicher, dass die zuvor skizzierten Probleme nicht allein
| |
− | pragmatisch zu lösen sind. Institutionen, Verfassungen, Normen, Rechtsregeln, staatliche
| |
− | Interventionen – all das reicht hierzu offensichtlich nicht aus. Es ist vielmehr – national
| |
− | und international und insbesondere auch im europäischen Kontext – nach der Wertorientierung
| |
− | von Politik und Gesellschaft zu fragen, nach den »vorpolitischen moralischen Grundlagen
| |
− | des Gemeinwesens«15, und zwar nicht im Sinne eines Vorhandenseins bloßer Wertkataloge,
| |
− | sondern im Sinne einer für Politik und Gesellschaft verbindlichen Wertpraxis.
| |
− | Um es salopp mit Erich Kästner zu sagen: »Es gibt nichts Gutes, außer man tut es!«
| |
− | 5. Die »Böckenförde-Formel«
| |
− | Ernst-Wolfgang Böckenförde, deutscher Rechtsprofessor und von 1983 bis 1996 Richter am
| |
− | Bundesverfassungsgericht, hat das Problem der Gewährleistung einer integrierenden, motivierenden
| |
− | und verhaltensleitenden Grundlage einer modernen säkularen Gesellschaft auf die
| |
− | immer wieder zitierte – sozusagen »klassisch« gewordene – Formel gebracht:
| |
− | »Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht
| |
− | garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen
| |
− | ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit,
| |
− | die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen
| |
− | und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Andererseits kann er diese
| |
− | inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt, mit den Mitteln des Rechtszwanges
| |
− | und autoritativen Gebots zu garantieren versuchen, ohne seine Freiheitlichkeit
| |
− | aufzugeben …«16
| |
− | Ralf Lord Dahrendorf hat Zweifel an der generellen Gültigkeit der zitierten Sentenz Böckenfördes
| |
− | angemeldet und betont, dass unter den »Ligaturen«, wie er Formen von Bindung innerhalb
| |
− | der Gesellschaft und Solidarität stiftende Elemente genannt hat, möglicherweise
| |
− | doch auch »Institutionen der liberalen Ordnung« eine größere Rolle spielen als von Böckenförde
| |
− | angenommen.17 Demokratische Überzeugungen können tatsächlich auch im Vollzug
| |
− | demokratischer Praxis, gleichsam als »Einübungsdemokratie« entstehen. Doch ist die Präfe-
| |
− | 14 Putnam, Robert D.: Making Democracy Work: Civil Traditions in Modern Italy, Princeton 1993; ders.,
| |
− | Bowling Alone: The Collapse and Revival of American Community, New York 2000; ders. (Hrsg.): Gesellschaft
| |
− | und Gemeinsinn: Sozialkapital im internationalen Vergleich, Gütersloh 2001.
| |
− | 15 Habermas, Jürgen/Ratzinger, Joseph: Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion, Freiburg
| |
− | 2004.
| |
− | 16 Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: Recht,
| |
− | Staat, Freiheit, Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt am
| |
− | Main 1991, S. 42–64, hier S. 60.
| |
− | 17 Lord Dahrendorf, Ralf/Nolte, Paul: Bürgerlichkeit in Deutschland, in: Vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte
| |
− | und Gesellschaftspolitik, 170, 44. Jahrgang, Juni 2005, Heft 2, S. 3–20, hier S. 15f.
| |
− | 216
| |
− | renz für liberale Institutionen kaum vorstellbar ohne bestimmte Wertvorstellungen und motivationelle
| |
− | Regulierungskräfte.
| |
− | Mit der Frage nach den Regulierungskräften, die den Staat tragen, seine Homogenität
| |
− | verbürgen und die Freiheit seiner Bürger sichern, und »deren er bedarf, nachdem die Bindungskraft
| |
− | aus der Religion für ihn nicht mehr essentiell ist und sein kann«,18 ist die Frage
| |
− | nach der Wirkungskraft von gesellschaftlichen Werten in einer säkularisierten Gesellschaft
| |
− | gestellt, die nicht mehr allein und nicht mehr vorrangig religiös bestimmt sind. Allgemeiner
| |
− | gefasste, doch nicht weniger verbindliche Werte müssen dann zu den grundlegenden,
| |
− | zentralen Zielvorstellungen und Orientierungsmaßstäben für das individuelle menschliche
| |
− | Handeln und für das soziale Zusammenleben werden. »Werte sind unbedingte Vorrangregeln
| |
− | mit moralischer Qualität« – dies das Wort Udo di Fabios, wie Böckenförde gleichfalls
| |
− | Bundesverfassungsrichter.19 Werte bedeuten, so einmal nüchtern-kategorisch von Niklas
| |
− | Luhmann formuliert, »Höchstrelevanz mit normativem Gehalt«.20
| |
− | Werte haben sowohl eine individuell-persönliche als auch eine kollektiv-gesellschaftliche
| |
− | Dimension.
| |
− | In individueller Hinsicht bestimmen Werte Selbstverständnis, Selbstbewusstsein und
| |
− | Selbstachtung jedes einzelnen Menschen: Menschen definieren sich im Hinblick auf die
| |
− | Werte, zu denen sie sich bekennen und für die sie einstehen.
| |
− | In sozialer Hinsicht orientieren sich Gruppen und Gesellschaft an Werten. Von ihrer
| |
− | Wertbasis her wird bestimmt, wie sich eine Gesellschaft selbst versteht, welche Grundprinzipien
| |
− | für ihre Gestaltung bestimmend, welche Elemente von »Leitkultur« für sie gültig
| |
− | sein sollen.
| |
− | Woher stammen europäische Werte? Wie und durch wen können sie dem überwiegend
| |
− | rhetorischen Charakter entgehen, der ihnen oft anhaftet, und als Handlungsgrundlage
| |
− | verbindlich werden? Und welche Rolle spielt dabei ein Bewusstsein, das man ein »bürgerliches
| |
− | « nennen kann?
| |
− | 6. Die europäische Wert- und Bürgertradition – Rolle der
| |
− | Freimaurerei
| |
− | Die Werte, die als ideelle Grundlagen einer modernen europäischen Gesellschaft dienen
| |
− | können, entstammen den großen Werterzählungen der Aufklärungszeit, die ja europäische
| |
− | und nicht zuletzt auch freimaurerische Werterzählungen gewesen sind.
| |
− | »Vor allem im Milieu des damals entstehenden Bürgertums« – so erläutert der Berliner
| |
− | Historiker Jürgen Kocka21 – »entwickelten sich (im späten 18. Jahrhundert) moderne, durch
| |
− | die Aufklärung geprägte Ideen, Ideen von einer neuen Gesellschaft, Kultur und Politik: das
| |
− | Programm einer ›bürgerlichen Gesellschaft‹. Es wurde in den bürgerlich geprägten Assoziationen
| |
− | und Lesegesellschaften, in den Vereinen und Zeitschriften des späten 18. und frühen
| |
− | 18 Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, a.a.O., S. 59.
| |
− | 19 Zitiert nach http://bebis.cidsnet.de/weiterbildung/sps/allgemein/bausteine/erziehung, Download 24.
| |
− | 10.2006.
| |
− | 20 Zitiert nach ebenda.
| |
− | 21 Kocka, Jürgen: Bürger und Bürgerlichkeit im Wandel, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 9–10/2008, S.
| |
− | 3–9, hier S. 5.
| |
− | 217
| |
− | 19. Jahrhunderts diskutiert, bald auch auf öffentlichen Versammlungen und Festen der sich
| |
− | ausbreitenden liberalen Bewegung«.
| |
− | Eine besondere Rolle dabei spielten auch die Logen der Freimaurer. Die Logen schließen
| |
− | »Privatleute zum Publikum« zusammen, und sie antizipieren Öffentlichkeit, wenn auch
| |
− | noch weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit, so Jürgen Habermas in seiner Habilitationsschrift
| |
− | »Strukturwandel der Öffentlichkeit«.22 Reinhart Koselleck beschrieb die Loge
| |
− | als das »stärkste Sozialinstitut der moralischen Welt im achtzehnten Jahrhundert«23 und
| |
− | hob ihre Wirkung mit den viel zitierten Worten hervor: »Die Freiheit im Geheimen« – d.h.
| |
− | die Freiheit im geschützten Milieu der Loge – »wird zum Geheimnis der Freiheit«,24 d.h. der
| |
− | zukünftigen politisch-gesellschaftlichen Freiheit in Europa.
| |
− | Es war ein zukunftsgerichteter Entwurf, zu dem sehr verschiedene Autoren beigetragen
| |
− | hatten – von John Locke und Adam Smith über Montesquieu und die Enzyklopädisten bis
| |
− | zu Immanuel Kant und Gotthold Ephraim Lessing.
| |
− | »Die bürgerliche Gesellschaft – wofür hältst du sie?«, fragt der Freimaurer Falk seinen
| |
− | Freund Ernst beim Spaziergang auf der Bad Pyrmonter Hauptallee.25 Und nachdem dieser
| |
− | erwidert, »für etwas sehr Gutes«, stimmen die Freunde wenig später darin überein, welchem
| |
− | Zweck die bürgerliche Gesellschaft dienen soll: »Das bürgerliche Leben des Menschen,
| |
− | alle Staatsverfassungen sind nichts als Mittel zur menschlichen Glückseligkeit«, denn »die
| |
− | Natur (hat) nicht die Glückseligkeit eines abgezogenen Begriffs – wie Staat, Vaterland und
| |
− | dergleichen« zur Absicht gehabt –, sondern die »Glückseligkeit jedes wirklichen einzelnen
| |
− | Wesens«. Und wiederum kurz danach – nach Erörterung auch ihrer negativen Seiten –
| |
− | präzisiert Falk das für Lessings Aufklärungsverständnis Wesentliche: »Wenn die bürgerliche
| |
− | Gesellschaft auch nur das Gute hätte, dass allein in ihr die menschliche Vernunft angebauet
| |
− | werden kann, ich würde sie auch bei weit größeren Übeln noch segnen.«
| |
− | Eine solchermaßen positive Bewertung des Bürgertums galt allerdings nicht generell und
| |
− | nicht immer, und man darf nicht übersehen, dass – auch hier folge ich Jürgen Kocka – Bürger
| |
− | und Bürgertum in der neueren europäischen Geschichte sehr unterschiedlich bewertet
| |
− | worden sind. Zwischen Ablehnung und Hochschätzung, Verachtung und Respekt, Hass und
| |
− | Lob schwankt das Bild des Bürgertums in der Geschichte:26
| |
− | • Da gab es die aristokratische Kritik, die den Bürger für borniert und mittelmäßig hielt.
| |
− | • Da polemisierte die sozialistische Arbeiterbewegung gegen bürgerlichen Klassenegoismus,
| |
− | bourgeoise Ausbeutung und bürgerlichen Standesdünkel.
| |
− | • Da wandte sich die Jugendbewegung zu Anfang des 20. Jahrhunderts gegen bürgerliche
| |
− | Konventionen und bürgerliche Heuchelei.
| |
− | • Da bekämpften die europäischen Faschisten den bürgerlichen Individualismus ebenso
| |
− | wie den bürgerlichen Rechtsstaat.
| |
− | 22 Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit, Darmstadt und Neuwied 1962, S. 50f.
| |
− | 23 Koselleck, Reinhart: Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Freiburg/
| |
− | München 1959, S. 64.
| |
− | 24 Ebenda, S. 60.
| |
− | 25 Lessing, Gotthold Ephraim: Ernst und Falk. Gespräche für Freimaurer (ursprünglich 1778/80), Frankfurt
| |
− | am Main 1968.
| |
− | 26 Kocka, Jürgen: Bürger und Bürgerlichkeit im Wandel, a.a.O., S. 3.
| |
− | 218
| |
− | • Da unterdrückten auch die kommunistischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts das Bürgertum
| |
− | und die Artikulation seiner Kultur.
| |
− | • Da gaben schließlich die am Marxismus orientierten Studenten und Intellektuellen, die
| |
− | 1968 in Berkeley, Paris und Berlin protestierten, ihrer Verachtung für alles Bürgerliche unmissverständlich
| |
− | Ausdruck – bis hin zum Spott über »bürgerliche Wissenschaft«, »bürgerliche
| |
− | Kunst« und »bürgerliche Liebe« (nach dem Motto: »Wer zweimal mit derselben
| |
− | pennt, gehört schon zum Establishment«).
| |
− | Umgekehrt schrieb der Historiker Theodor Mommsen 1899 im Rückblick auf sein Leben:
| |
− | »… mit dem Besten, was in mir ist, bin ich stets ein animal politicum gewesen und wünschte,
| |
− | ein Bürger zu sein.« Und Mommsen bedauerte: »Das ist nicht möglich in unserer Nation …«27.
| |
− | 7. Die Renaissance des Bürgers
| |
− | Gewiss, es war nicht möglich in Deutschland an der Wende zum 20. Jahrhundert und es war
| |
− | generell nicht möglich in einem Europa der vielerorts zur autoritären Rechten abdriftenden,
| |
− | kriegerisch zerfallenen Nationalstaaten, in denen entgegen ihrer kosmopolitischen Tradition
| |
− | bedauerlicherweise auch die Freimaurer aufs Ganze gesehen politisch keine positive Rolle
| |
− | gespielt haben.28
| |
− | Aber an der Wende zum 21. Jahrhundert, nach Katastrophen, politischen Verwerfungen
| |
− | und grundstürzenden Systemumbrüchen, scheint es wieder möglich geworden zu
| |
− | sein, Bürgerlichkeit zu reflektieren und neben der Ambivalenz ihrer Elemente auch ihre
| |
− | »starken Seiten« und ihre Bedeutung für Gegenwart und Zukunft auszuloten. Heute sind
| |
− | die Begriffe »bürgerlich« und »Bürger« wieder deutlich positiv besetzt, so in Begriffen wie
| |
− | »Staatsbürger«, »Bürgerrecht« und »Bürgergesellschaft« oder wenn im Verfassungsvertrag
| |
− | von Lissabon von den »Bürgerinnen und Bürgern der Europäischen Union« die Rede ist.
| |
− | »Wir brauchen bewusste Bürger« –, so ist ein Interview der taz, der Berliner Tageszeitung,
| |
− | mit den Professoren Ralf Lord Dahrendorf und Paul Nolte vom Dezember 2005
| |
− | überschrieben, in dem Dahrendorf Typus und Habitus des von ihm gemeinten und gewünschten
| |
− | Bürgers folgendermaßen beschreibt: »Seine Position ist nicht abgeleitet vom
| |
− | Staat, sondern eine eigene, selbstbewusste Haltung.«29
| |
− | Eine solche bewusste und unabhängige Bürgerlichkeit – so hatte schon ein paar Jahre
| |
− | zuvor der niederländische Philosoph Stephan Strasser in seinen »Ethisch-politischen Meditationen
| |
− | für diese Zeit« geschrieben – »orientiert sich am Ziel der rationalen Gestaltung der
| |
− | menschlichen Geschichte durch mündige, diskutierende, friedlich konkurrierende Individuen
| |
− | und Gruppen, im Glauben an die Möglichkeit des Fortschritts«.30
| |
− | 27 Zitiert nach Kocka, ebenda.
| |
− | 28 S. hierzu Höhmann, Hans-Hermann: Europas verlorener Friede, die nationalvölkische Orientierung innerhalb
| |
− | der deutschen Freimaurerei und die »freimaurerische Erinnerungspolitik« nach dem Zweiten
| |
− | Weltkrieg, in diesem Band, S. 51–87.
| |
− | 29 »Wir brauchen bewusste Bürger«, taz vom 31. Dezember 2005.
| |
− | 30 Strasser, Stephan: Ethisch-politische Meditationen für diese Zeit, zitiert nach Kocka a.a.O., S. 3.
| |
− | 219
| |
− | 8. Odo Marquards Philosophie der Bürgerlichkeit
| |
− | Mein persönlicher Favorit als Gewährsmann einer neu durchdachten Konzeption von Bürgerlichkeit
| |
− | ist allerdings der in Gießen lehrende Philosoph Odo Marquard, um dessen Interpretation
| |
− | im Kontext aktueller Politik sich vor allem der Berliner Historiker und Politikwissenschaftler
| |
− | Jens Hacke verdient gemacht hat.31
| |
− | Marquard setzt einen »weiten Begriff des Bürgerlichen«32 voraus und löst sich damit
| |
− | von den vor allem in der historiographischen Literatur häufig anzutreffenden engen historisch-
| |
− | soziologischen Definitionen des Bürgerbegriffs: »Der Bürger – als freies und gleiches
| |
− | Mitglied der Bürgerwelt der ›polis‹ – ist der individuelle Mensch, der selbstbestimmt für
| |
− | sich und seine Mitbürger einsteht.«33
| |
− | Dabei ist der Bürger kein eifernder Ideologe: Marquard tritt für die Normalität, das
| |
− | gänzlich Unspektakuläre der bürgerlichen Welt ein, denn diese bevorzuge »das Mittlere
| |
− | gegenüber den Extremen, die kleinen Verbesserungen gegenüber der großen Infragestellung
| |
− | …, die Geschäftsordnung gegenüber dem Charisma, das Normale gegenüber dem
| |
− | Enormen, kurzum: die Bürgerlichkeit gegenüber ihrer Verweigerung. So ist die bürgerliche
| |
− | Welt – auch weil die Lebensvorteile, die sie bringt, als selbstverständlich gelten – nicht sehr
| |
− | aufregend, ein wenig langweilig gar und reichlich allzumenschlich«.34
| |
− | Die Sympathie für den von einem empathischen common-sense-geleiteten Durchschnittsbürger,
| |
− | der in seiner heimatlichen Lebenswelt eingebettet ist und sich in ihr auf
| |
− | vielfältige Weise politisch und sozial engagiert, steht im Vordergrund dieser eher pragmatischen
| |
− | als ideologischen Konzeption von Bürgerlichkeit.35
| |
− | Inhaltlich sind Marquards Leitlinien auf einfache Formeln zu bringen. »Bürgerlichkeit« manifestiert
| |
− | sich für ihn in fünf grundsätzlichen Einstellungen:
| |
− | Erstens im Festhalten an der Aufklärung als jener Modernitätstradition, »die – als Wille zur
| |
− | Mündigkeit, d.h. zum Erwachsensein – den Mut zur Nüchternheit zur Routine macht. Man
| |
− | darf – weil man von Usancen ohne Not nicht abweichen soll – auch von dieser Tradition
| |
− | (der Usance Modernität) nicht ohne Not abweichen. Dabei muss man die Aufklärung vor
| |
− | jenen retten, die sie zum Kursus in Weltfremdheit umfunktionieren wollen: zum Doping für
| |
− | Revolutionäre«.36
| |
− | Zweitens in der Absage an ideologische Verblendung, im »Abschied vom Prinzipiellen« (so
| |
− | der Titel eines seiner Bücher), in der Bereitschaft zu intellektueller Offenheit und im Verteidigen
| |
− | einer »offenen« Gesellschaft: »All diese Überlegungen verabschieden die prinzipielle
| |
− | Philosophie; aber sie verabschieden nicht die unprinzipielle Philosophie: die Skepsis. Sie ver-
| |
− | 31 Hacke, Jens: Bekenntnis zur Bürgerlichkeit. Selbstbehauptungsmotive in der Philosophie der Bundesrepublik,
| |
− | in: vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik, 170, 44. Jahrgang, Juni 2005,
| |
− | Heft 2, S. 33–44, hier S. 39f. Meine Interpretation folgt im Wesentlichen Hacke.
| |
− | 32 Marquard, Odo: Individuum und Gewaltenteilung. Philosophische Studien, Stuttgart 2004, S. 93.
| |
− | 33 Ebenda.
| |
− | 34 Marquard, Odo: Philosophie des Stattdessen. Studien, Stuttgart 2000, S. 106.
| |
− | 35 Hacke, Jens: a.a.O., S. 40.
| |
− | 36 Marquard, Odo: Zeitalter der Weltfremdheit, in: ders.: Apologie des Zufälligen, Stuttgart 1986, S. 76–97,
| |
− | hier S. 94f.
| |
− | 220
| |
− | abschieden für die Menschen die prinzipielle Freiheit; aber sie verabschieden nicht die wirkliche
| |
− | Freiheit, die im Plural: die Freiheiten.«37
| |
− | Drittens in der Bewahrung der freiheitsbedingenden Wirkung der Gewaltenteilung: »Individuelle
| |
− | Freiheit gibt es für Menschen nur dort, wo sie nicht dem Alleinzugriff einer einzigen
| |
− | Alleinmacht unterworfen sind, sondern wo mehrere – voneinander unabhängige – Wirklichkeitsmächte
| |
− | existieren, die – beim Zugriff auf den Einzelnen – durch Zugriffsgedrängel einander
| |
− | wechselseitig beim Zugreifen behindern und einschränken. Einzig dadurch, dass jede
| |
− | dieser Vielzahl von Wirklichkeitspotenzen – politische Formationen, Wirtschaftskräfte, Sakralgewalten,
| |
− | Geschichten, Überzeugungen, Üblichkeiten und Traditionen, Kulturen – den
| |
− | Zugriff jeder anderen einschränkt und mildert, gewinnen die Menschen ihre Distanz und
| |
− | individuelle Freiheit gegenüber dem Alleinzugriff einer jeden. So lebt das Individuum von
| |
− | der Gewaltenteilung: sola divisione individuum.«38
| |
− | Viertens im Einsatz für einen Pluralismus, der aus Skepsis vor absoluten Wahrheiten und
| |
− | aus Respekt vor vielfältigen Herkunftsgeschichten resultiert. Ohne das Nebeneinander und
| |
− | das Miteinander unterschiedlichster bürgergesellschaftlicher Gruppierungen, ohne Pluralität
| |
− | auch der Denkformen kann keine freie Gesellschaft existieren: »Es muss eine Pluralität
| |
− | von Wirklichkeitsmächten geben, damit individuelle Freiheit sein kann. Darum – beispielsweise
| |
− | – dürfen die Menschen – jeder Mensch für sich und alle Menschen zusammen – nicht
| |
− | nur eine Geschichte haben, sondern sie brauchen viele Geschichten; und entsprechend dürfen
| |
− | die Philosophen – jeder Philosoph für sich und alle Philosophen zusammen – nicht nur
| |
− | eine Denkform haben, sondern sie brauchen viele Denkformen. Jede befreit den Einzelnen
| |
− | von der Macht der jeweils anderen und sichert ihm dadurch den Freiheitsspielraum fürs Selberleben
| |
− | und Selberdenken.«39
| |
− | Fünftens schließlich im hartnäckigen Festhalten an dem durch die Institutionen des
| |
− | Rechtsstaats und durch das Handeln demokratischer Politik gewährten Schutz der individuellen
| |
− | Freiheitsräume des Bürgers sowie durch eine engagierte Haltung, jede »Bürgerlichkeitsverweigerung
| |
− | « zu verweigern: »Denn die Kontraposition zur einen – der totalitär
| |
− | nationalsozialistischen – Verweigerung der Bürgerlichkeit ist nicht die andere – die totalitär
| |
− | sozialistische – Verweigerung der Bürgerlichkeit, sondern die Verweigerung dieser Bürgerlichkeitsverweigerung:
| |
− | die insofern ›konservative‹ Option für die bürgerlich liberale
| |
− | Demokratie.«40
| |
− | 37 Marquard, Odo: Abschied vom Prinzipiellen, in: ders.: Abschied vom Prinzipiellen. Auch eine autobiographische
| |
− | Einleitung, Stuttgart 1981, S. 4–22, hier S. 19.
| |
− | 38 Marquard, Odo: Mut zur Bürgerlichkeit, in: ders.: Individuum und Gewaltenteilung. Philosophische
| |
− | Studien, Stuttgart 2004, S. 91–96, hier S. 95.
| |
− | 39 Marquard, Odo: Die Denkformen und die Gewaltenteilung, in: ders.: Individuum und Gewaltenteilung,
| |
− | a.a.O., S. 114–123, hier S. 122.
| |
− | 40 Marquard, Odo: Eine Philosophie der Bürgerlichkeit, in: ders.: Individuum und Gewaltenteilung, a.a.O.,
| |
− | S. 159–165, hier S. 165.
| |
− | 221
| |
− | 9. Vom bürgerlichen Selbst- und Wertbewusstsein zur
| |
− | gesellschaftlichen Praxis
| |
− | Wie aber kommen diese Einstellungen in der politischen Praxis zustande? Wie lassen sie sich
| |
− | im Habitus des Bürgers verankern, der ja nur durch eine solche Verankerung zum selbstund
| |
− | wertbewussten Bürger wird? Gewiss nicht durch eine bloße Wertrhetorik, die eher abstößt
| |
− | und Verdruss bereitet, wohl aber durch eine Praxis bürgerlicher Wertaneignung und
| |
− | Wertumsetzung.
| |
− | Hierzu drei Überlegungen zum Schluss:
| |
− | Erstens: Zur Praxis bürgerlicher Wertaneignung gehört ein komplexes und schwieriges Verständigungsprogramm,
| |
− | denn es gibt viele Fragen, die nach Antwort verlangen:
| |
− | • Welche Werte sollen gelten?
| |
− | • Wie verhalten sich die einzelnen Werte zueinander, Freiheit und Gleichheit etwa?
| |
− | • Auf welche Weise sind Werte ganz konkret und gesetzestechnisch in Institutionenbildung
| |
− | und Politik umzusetzen?
| |
− | • Was sind die zweckmäßigen pädagogischen Programme, um – insbesondere bei jungen
| |
− | Menschen – Wertbewusstsein zu wecken und habituell zu verankern? Ethikunterricht
| |
− | etwa oder Pro-Reli?
| |
− | Eine solche Prüfung, Befragung und Konkretisierung von Werten setzt die Anerkennung der
| |
− | Pluralität von Auffassungen sowie einen toleranten, redlichen Diskurs voraus. Dabei geht es
| |
− | nicht nur um Werte, es geht auch um Einsicht in die Strukturen der realen Welt, die immer
| |
− | unübersichtlicher werden und die es schwierig machen, für politische und gesellschaftliche
| |
− | Herausforderungen Lösungen zu finden, die nicht nur den Werten entsprechen, auf die man
| |
− | sich beruft, sondern bei denen auch das erforderliche Maß an Praktikabilität und Alltagsvernunft
| |
− | nicht zu kurz kommt.
| |
− | Zweitens: So wichtig eine Verständigung über heutige Realitäten ist, die notwendige Tiefe gewinnt
| |
− | dieser Diskurs doch nur, wenn er sich mit Erinnerungskultur und historischer Reflexion
| |
− | verbindet. Die europäischen Bürgerkriege des 19. und 20. Jahrhunderts haben ja dem
| |
− | Europa der Aufklärung im Sinne einer den europäischen Eliten gemeinsamen Lebens- und
| |
− | Denkweise ein Ende gesetzt. An diese gemeinsame Lebens- und Denkweise hätte das heutige
| |
− | Europa wieder anzuknüpfen. Um aber an gemeinsame Vergangenheiten anknüpfen zu können,
| |
− | müssen die Europäer der Gegenwart – so hat es der lange in Princeton und seit 2007
| |
− | in Harvard lehrende Historiker Robert Darnton einmal formuliert – »einen Salto rückwärts
| |
− | über das 19. und 20. Jahrhundert springen und sich von neuem mit der europäischen Dimension
| |
− | des Lebens im Zeitalter der Aufklärung auseinander setzen. Nicht, dass irgendwer
| |
− | das 18. Jahrhundert wieder aufleben lassen wollte – lebte doch damals die große Mehrheit
| |
− | der Europäer im Elend und war doch die Aufklärung selbst eine komplexe Bewegung voller
| |
− | Widersprüche und Gegenströmungen«.41
| |
− | 41 Darnton, Robert: Das Glück der Gemeinschaft, in: Aust, Stefan/Schmidt-Klingenberg, Michael (Hrsg.),
| |
− | Ein Kontinent macht Geschichte. Experiment Europa, Stuttgart/München 2003, S. 125–143, hier S. 126.
| |
− | 222
| |
− | Doch sie ist »vergangene Hoffnung« (Horkheimer/Adorno), sie ist der Ursprung jener
| |
− | Werte, »die heute das Herzstück der Europäischen Gemeinschaft ausmachen, und
| |
− | das in einer Form, die eine wirkliche, zukunftsträchtige Alternative zum Nationalismus
| |
− | ermöglicht«.42
| |
− | Freilich müssen europäische Werte heutzutage offen sein für tolerante Begegnungen
| |
− | mit den Werten anderer Kulturen, wenn sie auch ihren Kern bei diesen Begegnungen zu
| |
− | bewahren haben. Nicht aus Prinzip und Überheblichkeit, sondern deshalb, weil sie sich als
| |
− | Grundlage einer freien Gesellschaft ganz pragmatisch bewährt haben.
| |
− | Drittens schließlich ist bürgerliches Handeln vonnöten. Es kommt auf eine Teilhabe am
| |
− | Leben der Gesellschaft an, die nicht exklusiv ist im Sinne eines Ausschlusses anderer und
| |
− | die nicht daherkommt als eine »Bürgerlichkeit der feinen Leute«, sondern die als eine »Bürgerlichkeit
| |
− | der Einbeziehung aller« wirkt, als eine Bürgerlichkeit der sozialen Offenheit, als
| |
− | eine Bürgerlichkeit, die andere mitnimmt und die auch die weniger Privilegierten in das gesellschaftliche
| |
− | Ganze einschließt. Insofern darf Eintreten für »Bürgerlichkeit« auch in keiner
| |
− | Weise als Gegensatz zum Sozialstaat gesehen werden, dessen Notwendigkeit unbestritten
| |
− | bleibt.
| |
− | Eine Einstellung bewusster, wertorientierter Bürgerlichkeit erfordert nicht zuletzt eine
| |
− | Mitwirkung in den vielen Gruppierungen der Bürgergesellschaft – von den Familien über
| |
− | die Parteien, die Bürgerinitiativen, die Vereine, die Kindergärten und Schulen bis hin zum
| |
− | Hospiz und zur Altenbetreuung, – d.h. eine Mitwirkung in den zahlreichen vom Staat unabhängigen
| |
− | Initiativen und Assoziationen, deren Aktivitäten und deren Vernetzung allein
| |
− | eine humane Gesellschaft ermöglicht. Dabei ist die Vernetzung bürgergesellschaftlichen Engagements
| |
− | über die nationalen Grenzen hinaus besonders wichtig für die Zukunft Europas.
| |
− | »Die simultane Eröffnung von Baustellen der Bürgerschaft« – so der französische Philosoph
| |
− | Étienne Balibar in seiner lesenswerten Essay-Sammlung »Sind wir Bürger Europas?«
| |
− | – »ist die konkrete Voraussetzung, damit der öffentliche Raum wieder zum Raum des
| |
− | Bürgers wird. Deshalb ist die Frage einer europäischen Öffentlichkeit (die praktisch immer
| |
− | noch nicht existent,
| |
− | aber gleichwohl ›latent‹ vorhanden ist) so wichtig … Ohne eine solche
| |
− | Öffentlichkeit ist in dem geschichtlichen Raum, in den wir nun eingetreten sind, an ›aktive
| |
− | Bürgerschaft‹ nicht zu denken … Wenn Europa (das heißt die wirklichen Europäer, die
| |
− | ›Einwohner‹ Europas) die Triebkraft der politischen Aktion auf diese Weise umverlagern
| |
− | kann, wird es zweifellos nicht das sich selbst genügende ›Ganze‹ sein, das die Verträge und
| |
− | Gipfel verkünden. Es könnte aber – als der Name eines künftigen Volkes – durchaus ›etwas‹
| |
− | werden«.43
| |
− | 10. Und die Freimaurerei?
| |
− | Wie kaum eine andere Assoziation stehen die Freimaurer in der Geschichte europäischer
| |
− | Wertentwicklung und in der Tradition europäischen Bürgerbewusstsein. Die Frage nach
| |
− | Werten, Tugenden und moralischen Verhaltensweisen hat im Freimaurerbund eine lange,
| |
− | 42 Ebenda.
| |
− | 43 Balibar, Étienne: Sind wir Bürger Europas?, Bonn 2005, S. 290.
| |
− | 223
| |
− | in die Zeit seiner Gründung im frühen 18. Jahrhundert zurückreichende Tradition. Ja, man
| |
− | kann die Freimaurerei geradezu als Bund definieren, der sich um ethische Orientierungen
| |
− | herum entwickelt hat und in dem der Wertediskurs von Anbeginn an eine zentrale Rolle
| |
− | spielte. »A peculiar system of morality« (»ein eigentümliches System der Moralität« – eigentümlich
| |
− | aufgrund der mit ihm verbundenen symbolisch-rituellen Lehrmethode) – so haben
| |
− | die englischen Freimaurer schon früh ihren Bund genannt.
| |
− | Mit fünf Feststellungen lassen sich die Zusammenhänge zwischen Freimaurerei, Wertediskurs
| |
− | und Wertepraxis umreißen:
| |
− | 1. Freimaurer sind aufgrund ihrer Tradition mit der Entwicklung ethischer Werte verbunden
| |
− | und aufgrund dieser Tradition auch an der Umsetzung von Werten in der Lebenspraxis
| |
− | der Gegenwart interessiert. Werterziehung gehört daher zu den wichtigsten Aufgaben
| |
− | der Loge.
| |
− | 2. Freimaurer gehen davon aus, dass Werterziehung scheitern muss, wenn sie nicht im Verhalten
| |
− | der einzelnen Menschen innerhalb der Gesellschaft eingeübt und verankert wird.
| |
− | Deshalb versteht sich die Ethik der Freimaurer in erster Linie als eine Ethik der Einübung
| |
− | (Klaus Hammacher).
| |
− | 3. Freimaurer sind der Auffassung, dass die Gruppe das leistungsfähigste Medium der Werterziehung
| |
− | und der Einübung wertbezogener Verhaltensweisen ist. Dies gilt für die Familie,
| |
− | den Kindergarten, die Schule und die Kirchengruppe ebenso wie für die Logen der
| |
− | Freimaurer.
| |
− | 4. Freimaurer sind davon überzeugt, dass in der Freimaurerei geeignete Methoden zur Einübung
| |
− | von Werten vorhanden sind, und sie sehen diese in der sozialen, der diskursethischen
| |
− | und der rituellen Praxis der Loge.
| |
− | 5. Freimaurer wissen, dass sie in der Praxis der Einübung und der alltäglichen Umsetzung
| |
− | von Werten immer wieder scheitern können und sie haben dafür ein anschauliches Symbol,
| |
− | den rauhen, unbehauenen Stein des eigenen Selbst, den sie immer wieder bearbeiten
| |
− | müssen.
| |
− | Freimaurerei war zuerst eine europäische Bewegung, eine Bewegung engagierter europäischer
| |
− | Bürger, bevor sie im 19. und im frühen 20. Jahrhundert – nicht zu ihrem Vorteil und
| |
− | nicht zum Vorteil Europas – nationalstaatlichen Charakter annahm, in Deutschland teilweise
| |
− | gar völkisch wurde und sich zugleich einer lähmenden Innerlichkeit verschrieb.
| |
− | Deshalb sind auch die Freimaurer aufgefordert, erneut über ihre Identität nachzudenken
| |
− | und ihr Selbstverständnis sowie ihr Handeln an ihren besten, ihren europäischen Traditionen
| |
− | auszurichten. Dieser europäischen Dimension hätten sich die Freimaurer – über die
| |
− | bloß repräsentative und gesellige Begegnung hinaus – gegenwärtig verstärkt zu stellen und
| |
− | sich wahrnehmbarer als bisher einzuordnen in die Reihe derer, denen Europa mit seiner
| |
− | Kultur und mit der Tradition seiner Werte als Heimat der Menschen unseres Kontinents
| |
− | am Herzen liegt.
| |
− | 224
| |
− | Die Allgegenwart des Rituellen.
| |
− | Rituale, Ritualforschung, Freimaurerei
| |
− | Die Rückkehr des Rituellen
| |
− | Im Jahre 1969 schrieb die englische Sozialanthropologin Mary Douglas: »Eines der ernstesten
| |
− | Probleme unserer Zeit ist das Schwinden des Verbundenseins durch gemeinsame Symbole
| |
− | … (Es gibt) einen weit verbreiteten Abscheu und Widerwillen gegen das Ritual überhaupt.
| |
− | ›Ritual‹ ist ein anstößiges Wort geworden, ein Ausdruck für leeren Konformismus …
| |
− | Bei den Vorgängen, die wir hier und heute beobachten können, handelt es sich um eine weltweite
| |
− | Revolte gegen alle Formen des Rituals.«1
| |
− | Kurze Zeit danach hatte sich die Szenerie gründlich verändert. Man begann sich der
| |
− | Ubiquität und des zeitüberspannenden Charakters von Ritualen zu erinnern, man betonte
| |
− | zunehmend den Wert von Ritualen für den Zusammenhalt der Gesellschaft, ja man
| |
− | empfahl die Schaffung neuer Rituale zur Bewältigung menschlicher Alltagsprobleme von
| |
− | Paarproblemen über Erziehungsschwierigkeiten bis hin zu Einschlafstörungen. Die Suchmaschine
| |
− | »Google« führt Beispiel um Beispiel zutage.
| |
− | Das, was sich im Hinblick auf die rituelle Praxis und den analytischen Umgang mit
| |
− | Ritualen seit den 1970er/1980er Jahren ereignete, verstand sich als »performative turn«, als
| |
− | performative, handlungsbezogene Wende. Grundlage dafür war die Erkenntnis, dass nicht
| |
− | Symbole und Texte, sondern Inszenierungen und Handlungen Wesen, Wert und Wirksamkeit
| |
− | des Rituellen ausmachen. Es verwundert daher auch nicht, dass Wissenschaftler mit
| |
− | einer starken Affinität zum Theater wie Viktor Turner2 und Richard Schechner3 bei dieser
| |
− | »performativen Wende« eine führende Rolle spielten.
| |
− | In der Folgezeit wurden zahlreiche Ritualkongresse organisiert und Ritualzeitschriften
| |
− | begründet, wie das renommierte »Journal of Ritual Studies«, das seit 1987 erscheint. Auch
| |
− | in Deutschland blühte die Ritualforschung in der Folgezeit auf. Hinzuweisen ist auf die
| |
− | zunehmende Zahl von universitären Lehrveranstaltungen, Dissertationen und Buchveröffentlichungen,
| |
− | vor allem aber auf die komplexen, mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
| |
− | eingerichteten Sonderforschungsbereiche, wie den Sonderforschungsbereich
| |
− | »Ritualdynamik« – Soziokulturelle Prozesse in historischer und kulturvergleichender
| |
− | Perspektive an der Universität Heidelberg, der den weltweit größten Forschungsverbund repräsentiert,
| |
− | der sich ausschließlich mit dem Thema Rituale, deren Veränderungen und ihrer
| |
− | Dynamik befasst, sowie den Sonderforschungsbereich Kulturen des Performativen an der
| |
− | Freien Universität Berlin, der das Verhältnis von Performativität und Textualität sowie die
| |
− | Funktionen und Bedeutungen des Performativen in den großen europäischen Kommunikationsumbrüchen
| |
− | im Mittelalter, in der Frühen Neuzeit und in der Moderne untersucht.
| |
− | 1 Douglas, Mary: Abwendung vom Ritual, in: Douglas, Mary: Ritual, Tabu und Körpersymbolik. Sozialanthropologische
| |
− | Studien in Industriegesellschaft und Stammeskultur, Frankfurt am Main 2004, S. 11.
| |
− | 2 Vgl. Turner, Victor: Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels, Frankfurt/New York
| |
− | 2009.
| |
− | 3 Schechner, Richard: Ritual, Play and Performance, New York 1977.
| |
− | 225
| |
− | »Die neue Kraft der Rituale«
| |
− | Folgen wir dem Selbstverständnis der Ritualforschung, so ist die aktuelle Debatte um die
| |
− | Wiederentdeckung des Rituals nicht zufällig. So weisen Christoph Wulf und Jörg Zirfas in
| |
− | der Einleitung des von ihnen edierten Bandes »Die Kultur des Rituals« – mit dem bezeichnenden
| |
− | Untertitel »Inszenierungen, Praktiken, Symbole« – darauf hin, dass Rituale und Ritualisierungen
| |
− | in der gegenwärtigen politischen Situation, die von Diskussionen um den
| |
− | Zerfall des Sozialen, den Verlust von Werten und der Suche nach einer kulturellen Identität
| |
− | geprägt sei, nicht von ungefähr eine größere Bedeutung gewönnen.4 Seien Rituale im Zuge
| |
− | der 1968er Debatte um den Nationalsozialismus fast ausschließlich unter den Aspekten der
| |
− | Stereotypie, Rigidität und Gewalt thematisiert worden, wenn nicht gleich nur vormodernen
| |
− | Gesellschaften zugeschrieben, so hätten sie jetzt eine Brückenfunktion zwischen den Individuen,
| |
− | den Gemeinschaften und den Kulturen zu übernehmen. Rituale erschienen nun als
| |
− | lebensweltliche Scharniere, die durch ihren ethischen und ästhetischen Gehalt Sicherheit in
| |
− | den Zeiten der Unübersichtlichkeit gewähren sollten. Kurz: Rituale versprächen eine Kompensation
| |
− | für die mit der Moderne verbundenen Verlusterfahrungen von Gemeinschaftlichkeit
| |
− | und Kommunikationsmöglichkeiten, von Identität und Authentizität, von Ordnung
| |
− | und Stabilität.
| |
− | Es ließe sich tatsächlich, so sekundiert der Heidelberger Ritualforscher Axel Michaelis,
| |
− | »eine neue Kraft der Rituale beobachten, auch wenn sie in weiten Teilen nur die alte
| |
− | ist, die wir wiederentdecken. Und vielleicht sehnen wir uns sogar nach dieser Kraft,
| |
− | weil um uns alles flüchtiger geworden ist, sehnen uns nach dem Halt, den Rituale geben
| |
− | oder geben sollen«.5
| |
− | Gleichzeitig betonen Wulf und Zirfas – und hierin stimmen sie mit vielen ihrer Ritualforschungskollegen
| |
− | überein –, dass es angesichts der zentralen Bedeutung von Ritualen in zahlreichen
| |
− | unterschiedlichen gesellschaftlichen und kulturellen Feldern keine allgemein akzeptierte
| |
− | Theorie des Rituals geben könne.6 Dafür seien die Positionen und Methoden in den
| |
− | verschiedenen Wissenschaften zu unterschiedlich. Vielmehr würden je nach Forschungsfeld,
| |
− | Disziplin und methodischem Ansatz unterschiedliche Aspekte betont und unterschiedliche
| |
− | Dimensionen des Rituellen für wesentlich erachtet. Es sei erforderlich, eine Vielfalt von Gesichtspunkten
| |
− | zu thematisieren und dadurch die Komplexität des Feldes sichtbar zu machen,
| |
− | was angemessen nur im Zusammenwirken mehrerer Disziplinen, also in transdisziplinärer
| |
− | Forschung, erfolgen könne.
| |
− | Bevor ich nun in gebotener Kürze versuche, eine Anzahl der im Ritualdiskurs der Forschung
| |
− | erörterten Ritual-Dimensionen aufzuzeigen, insbesondere solche, die von erkennbarer
| |
− | Relevanz für freimaurerische Rituale sind, möchte ich mit ein paar Bemerkungen auf
| |
− | das wechselseitige Verhältnis zwischen Ritualforschung und Freimaurerei eingehen, das ich
| |
− | – um es pointiert zu sagen – für unbefriedigend und korrekturbedürftig halte.
| |
− | 4 Vgl. hierzu und zum Folgenden: Wulf, Christoph/Zirfas, Jörg: Performative Welten. Einführung in die
| |
− | historischen, systematischen und methodischen Dimensionen des Rituals, in: Wulf, Christoph/Zirfas,
| |
− | Jörg (Hrsg.): Die Kultur des Rituals. Inszenierungen. Praktiken. Symbole, Paderborn 2004, S. 7.
| |
− | 5 Michaels, Axel: Vorwort, in: Michaels, Axel (Hrsg.): Die neue Kraft der Rituale, Heidelberg 2008, S. 8f.
| |
− | 6 Wulf, Christoph/Zirfas, Jörg: Performative Welten, a.a.O., S. 8.
| |
− | 226
| |
− | Zum Verhältnis zwischen Ritualforschung und Freimaurerei
| |
− | Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass freimaurerische Rituale in der modernen Ritualforschung
| |
− | kaum analytische Beachtung gefunden haben. Natürlich gibt es Ausnahmen – quasi
| |
− | »hell leuchtende« Ausnahmen – wie Jan Snoek und Andreas Önnerfors, aber diese beiden
| |
− | hochkompetenten Ritualspezialisten sind ja nicht nur Ritualforscher, sondern auch Freimaurer
| |
− | und könnten daher – by their tenure, um es mit den Alten Pflichten zu sagen – in
| |
− | ihrer Forschungstätigkeit gar nicht an masonischen Ritualen vorbeigehen. Aufs Ganze gesehen
| |
− | ist es jedoch eine verhältnismäßig bescheidene Rolle, die die Freimaurerei im Rahmen
| |
− | der modernen Ritualforschung bisher gespielt hat. Nach den Gründen dafür möchte ich
| |
− | allerdings an dieser Stelle nicht weiter fragen. Vielleicht hängen sie ganz einfach damit zusammen,
| |
− | dass wir in unserer masonischen Innensicht die Freimaurerei als Ort des Rituellen
| |
− | schlechthin wahrnehmen, während unsere Rituale in der Perspektive der Ritualforschung
| |
− | eher eine untypische Randstellung einnehmen.
| |
− | Ich möchte mich vielmehr – so knapp wie möglich – der für die Freimaurerei sehr bedeutsamen
| |
− | umgekehrten Frage zuwenden, nämlich warum Methoden und Erkenntnisse der
| |
− | modernen Ritualforschung in den Selbstthematisierungen der Freimaurer bisher (gleichfalls)
| |
− | nur eine sehr geringe Rolle gespielt haben.
| |
− | Dies mag an Desinteresse, an Wissensdefiziten sowie am fehlenden methodischen Zugang
| |
− | zur einschlägigen Fachliteratur liegen. Den tieferen und eigentlichen Grund sehe ich
| |
− | jedoch in der Einseitigkeit des Ritualdiskurses, wie er bislang in der Freimaurerei hierzulande
| |
− | geführt wird. Im Vordergrund der gewiss nicht kleinen Zahl ritualbezogener Betrachtungen
| |
− | stehen ja regelmäßig die Ritualtexte sowie – und vor allem – die freimaurerischen
| |
− | Symbole als Zeichensysteme, die im Hinblick auf Herkunft und Bedeutung analysiert und
| |
− | erläutert werden. Das Ritual als kollektives Handeln, als inszenierter dramatischer Prozess
| |
− | mit all seinen Auswirkungen auf das Denken, Fühlen und Handeln von Individuen und
| |
− | Gruppen wird dagegen kaum thematisiert. Mit anderen Worten: Die »performative Wende«
| |
− | der 1980er und 1990er Jahre, die die Dynamik der modernen Ritualforschung eingeleitet
| |
− | hat, hat in der freimaurerischen Selbstreflexion bisher kaum stattgefunden.
| |
− | Dies kann – wie bereits erwähnt – mit fehlenden inhaltlichen und methodologischen
| |
− | Interessen an der Ritualforschung zusammenhängen. Dies mag aber auch auf das Bestreben
| |
− | zurückzuführen sein, sich unangenehmen Fragestellungen zu entziehen, beispielsweise der
| |
− | Frage, ob sich freimaurerische Rituale neben ihrer gewünschten Funktion als Faktor sozialer
| |
− | Integration (Stichwort »Brüderlichkeit«) und Inkorporierung freimaurerischer Werte
| |
− | (Stichwort »Humanität«) nicht auch dadurch auszeichnen, dass sie in durchaus konfliktträchtigen
| |
− | Mischungen Entwicklungen dienen, die dem »offiziellen« Wertekonsens der Freimaurer
| |
− | widersprechen. Als leicht zu vermehrende Beispiele dafür nenne ich die Sicherung
| |
− | gesellschaftlicher Einflüsse, die Herstellung von »symbolischem Kapital«7 für individuelle
| |
− | Zwecke (das »Ämter- und Ordensyndrom«), das Übergewicht einer bloß zeremoniellen Repräsentation
| |
− | sowie die mannigfaltigen Erscheinungsformen von Reformfeindlichkeit und
| |
− | Bewahrung obsolet gewordener institutioneller Strukturen.
| |
− | 7 Zur Rolle von symbolischem Kapital in der Freimaurerei vgl. Höhmann, Hans-Hermann: Habitus, soziales
| |
− | Feld, Kapital: Freimaurerei im Lichte der Soziologie Pierre Bourdieus, in diesem Band, S. 115–131.
| |
− | 227
| |
− | Hätten diese Erwägungen etwas für sich, so stünden die deutschen Freimaurer vor der
| |
− | Aufgabe, sich zu einem neuen, vertieften Ritualdiskurs zu entschließen, der die Ergebnisse
| |
− | der modernen Ritualforschung einbezieht und sich an den Handlungsaspekten des Rituals
| |
− | orientiert. Erich Kästners berühmte Feststellung »Es gibt nichts Gutes, außer man tut es«
| |
− | gilt für das Ritual ebenso wie die daraus abgeleitete arbeitshypothetisch-skeptische Vermutung,
| |
− | dass nicht alles, was man im Ritual tut, in seinen Auswirkungen auf den Habitus der
| |
− | Brüder auch gut ist.
| |
− | Meine Empfehlung für den Ritualdiskurs wäre nun, sich einfach und analytisch durchaus
| |
− | vorläufig an den »Dimensionen« zu orientieren, mit denen die moderne Ritualforschung
| |
− | unter Vermeidung rigider Theorien das Wesen der Rituale beschreibt.
| |
− | Ritualdimensionen und ihre freimaurerische Bedeutung
| |
− | Einige dieser Dimensionen sind für uns selbstverständlich. Trotzdem halte ich es für gut,
| |
− | sich ihrer zu erinnern, nicht nur um das eigene Ritualverständnis zu vertiefen, sondern auch,
| |
− | weil man anhand der verschiedenen Ritualdimensionen das Wesen des freimaurerischen Rituals
| |
− | ohne Beeinträchtigung der Arkandisziplin sehr überzeugend nach außen vermitteln
| |
− | kann. »Erklären statt Enthüllen« – längst ist es Zeit für eine solche »Wende der Darstellung«
| |
− | im Verhältnis der Freimaurerei zur Öffentlichkeit.
| |
− | Die folgende Auflistung typischer Ritualdimensionen mit erheblicher freimaurerischer
| |
− | Relevanz ist zu einem großen Teil der ritualtheoretischen Literatur entnommen und folgt
| |
− | vor allem der Arbeit des niederländischen Religionswissenschaftlers Jan Platvoet.8
| |
− | Was sind die uns als Freimaurer vertrauten Ritual-Dimensionen, die die Forschung
| |
− | beschreibt?
| |
− | Welche davon hätten wir problemorientiert zu diskutieren?
| |
− | Zu den rituellen Selbstverständlichkeiten ohne weitere Perzeptionsschwierigkeiten gehören
| |
− | zunächst die interaktive und die kollektive Dimension des Rituals. Das Ritual ist ein
| |
− | spezifischer Typus sozialer (verbaler und nichtverbaler) Interaktion zwischen anwesenden
| |
− | und wechselseitig ansprechbaren Personen. Es braucht als Interaktion mindestens zwei
| |
− | Teilnehmer, der Kommunikationstheorie entsprechend einen »Sender« und einen »Empfänger
| |
− | «, wobei sich diese Rollen vertauschen können. Auch göttliche Wesen können in die
| |
− | rituelle Kommunikation einbezogen werden, kaum aber Symbole des Göttlichen, wie der
| |
− | »Große Baumeister aller Welten« – es sei denn, das Ritual würde als Gottesdienst verstanden.
| |
− | 9
| |
− | Selbstverständlich ist auch die Gewohnheits-Dimension. Das Ritual ist eine Folge sozialer
| |
− | Interaktionen, die durch Wiederholungen konventionalisiert sowie formalisiert und
| |
− | somit zur Gewohnheit gemacht werden. Prinzipiell wird das Ritual durch feste, bleibende
| |
− | Regeln bestimmt, die sich sowohl auf Inhalte als auch auf Modalitäten der richtigen Ausführung
| |
− | beziehen. Dennoch sind Rituale alles andere als starr, und »Ritualdynamik« ist
| |
− | ein wesentliches Element des rituellen Geschehens. In Heidelberg wurde – ich erwähnte es
| |
− | 8 Platvoet, Jan: Das Ritual in pluralistischen Gesellschaften, in: Belliger, Andréa/Krieger, David J. (Hrsg.):
| |
− | Ritualtheorien, Opladen/Wiesbaden 1998, S. 173–190, hier S. 175–183.
| |
− | 9 Vgl. Höhmann, Hans-Hermann: »Von Gott und der Religion«. Zum Religionsdiskurs in der deutschen
| |
− | Freimaurerei, in diesem Band, S. 179–197.
| |
− | 228
| |
− | bereits – ein ganzer universitärer Sonderforschungsbereich für die Analyse der Ritualdynamik
| |
− | begründet. Auch die Freimaurerei kennt viele Veränderungen ihrer Rituale, die aus unterschiedlichen
| |
− | Gründen, auf unterschiedliche Weise und in ganz spezifischen Rhythmen
| |
− | erfolgen, Rhythmen, die auch lange Phasen der Stagnation einschließen können.
| |
− | Einige Bemerkungen zur Ritualdynamik in der Freimaurerei:
| |
− | Gewiss sind Symbole und Texte in freimaurerischen Ritualen präsent, aber die Rituale
| |
− | erschöpfen sich nicht darin. Rituale sind »Handlungsformen von Symbolen« (Thomas
| |
− | Luckmann). Sie sind Aufführungen und damit Inszenierungen, die sich von Mal zu Mal
| |
− | in unterschiedlichen Schattierungen von Gestus und Stimme, aber auch in kleineren oder
| |
− | größeren Änderungen der Ritual-Texte und/oder der Handlungsabläufe des Rituals niederschlagen.
| |
− | Dahinter können sich Zufälligkeiten bemerkbar machen wie Erinnerungsdefizite,
| |
− | die dann ihre eigene stilbildende Kraft entfalten. Ritualveränderungen können aber auch
| |
− | bewusste Motive haben, ästhetische Überlegungen etwa (»Es ist doch einfach viel schöner,
| |
− | wenn wir es so machen«), oder semantische Überlegungen (»Es macht freimaurerisch doch
| |
− | viel mehr Sinn, wenn wir es so machen«). Dahinter können allerdings auch Selbstinszenierungsbestrebungen
| |
− | von Ritualgestaltern stehen, etwa, wenn sich ein Großmeister – abweichend
| |
− | vom Brauch – zu Beginn einer Großlogentempelarbeit nicht im Tempel befindet,
| |
− | sondern feierlich von seinem Stellvertreter einführen lässt. Solche »kleinen« Ritualdynamiken
| |
− | sind volatil, tauchen plötzlich auf und werden oft ebenso schnell korrigiert.
| |
− | »Große« Ritualdynamiken sind in der Freimaurerei dagegen seltener. Eigentlich ist es
| |
− | seit dem 19. Jahrhunderts kaum mehr dazu gekommen, auch wenn die konkreten Ritualfassungen,
| |
− | wie etwa beim A.F.u.A.M.-Ritual, neueren Datums sind. Dies nötigt die
| |
− | Freimaurerei zu nicht immer gelingenden Balancen zwischen drei relevanten Polen: dem
| |
− | Zeitgeist, der den aktuellen Hintergrund des rituellen Geschehens bestimmt, dem Selbstund
| |
− | Wertverständnis der Freimaurerei, das sich wandelt, und einer Struktur der Rituale,
| |
− | die im Wesentlichen gleich bleibt. Um unvermeidlich aufbrechende Widersprüchlichkeiten
| |
− | zwischen Ritualtext und performativer Wirkung des Rituals zu überbrücken, muss dann
| |
− | eine Ritualexegese einsetzen, die erklärt, was im Ritual eigentlich gemeint ist bzw. für heute
| |
− | gemeint sein sollte.
| |
− | Eine weitere, Freimaurern durchaus geläufige Dimension des Rituals ist die expressive
| |
− | Dimension: Die Gemeinschaft wird im Ritual durch die bloße Tatsache, dass die
| |
− | eigenen Mitglieder daran teilnehmen, abgebildet. Die Werte der Gemeinschaft und die
| |
− | Beziehungen zwischen den Teilnehmern finden ihren Ausdruck in den Positionen und den
| |
− | Rollen, die das Ritual vorgibt. Insofern, wie das Ritual auf diese Weise Solidarität, Identität
| |
− | und Grenzen einer Gruppe betont zum Ausdruck bringt, wirkt es für gewöhnlich integrativ
| |
− | nach innen, zugleich aber auch trennend nach außen, was in gestaffelten, vielgliedrigen
| |
− | Gradsystemen der Freimaurer durchaus zum Problem werden kann.
| |
− | Weiter nennen möchte ich – als Stichworte einer Checkliste ohne ausführliche Kommentierung
| |
− | – die Ritual-Dimensionen
| |
− | • der Performance: Ritual als Drama: »das meiste, wenn nicht das ganze wird wie auf einer
| |
− | Bühne bewusst dargestellt«10, wobei nicht nur generell die verschiedenen freimaure-
| |
− | 10 Moore, Sally F./Myerhoff, Barbara G.: Secular Rituals: Forms and Meanings, in: dies.: Secular Rituals,
| |
− | Amsterdam 1977, S. 3–24, hier S. 7, 8, zitiert nach: Platvoet, Jan: Das Ritual in pluralistischen Gesellschaften,
| |
− | a. a. O., S. 180.
| |
− | 229
| |
− | rischen Rituale, in deren Zentrum die Initiationen stehen, Bestandteile dramatischer Aufführungen
| |
− | sind, sondern es auch – im Ritual des Meistergrades – zum »Drama im Drama
| |
− | « kommt,
| |
− | • des Performativen: Herstellen neuer Wirklichkeiten durch Sprechakte, die das bewirken,
| |
− | wovon sie sprechen, Beispiel: »Wir bauen den Tempel der Humanität!« Es sind vor allem
| |
− | diese »illokutionären Sprechakte« im Sinne von John L. Austin11, durch die die freimaurerische
| |
− | Gruppe mit ihren Werten und habituellen Prägungen immer wieder neu konstituiert
| |
− | und geschaffen wird,
| |
− | sowie
| |
− | • der Multimedialität: Ritual als Kombination von Sprache, Mimik, Gestik, Bewegung und
| |
− | Musik, wobei es für die Wirkung des freimaurerischen Rituals immer darauf ankommt,
| |
− | die einzelnen Medien sorgfältig aufeinander abzustimmen und dafür zu sorgen, dass
| |
− | Sprechakte und Körperinszenierungen stets im Vordergrund bleiben.
| |
− | All diese Dimensionen sind uns vertraut, können aber durchaus als kritische Maßstäbe unserer
| |
− | Ritualreflexion- und -praxis dienen.
| |
− | Ganz wichtig ist die Dimension der Ritual-Ästhetik. Das Ritual muss »schön« ausgeführt
| |
− | werden, hässlich ausgeführte Rituale scheitern in ihrer Wirkung. Vom Grad der
| |
− | Ästhetik beim Vollzug des Rituals hängt letztlich auch ab, ob sich jene emotionale Verzauberung
| |
− | einstellt, die das »Geheimnis« der Freimaurerei ausmacht, das in der Tat als erlebte
| |
− | Verzauberung nicht verraten werden kann und das im Grunde sehr wesentlich ja auch ein
| |
− | subjektives Geheimnis ist, das jeder Freimaurer auf seine ganz spezifische Weise erlebt.
| |
− | Keine Schwierigkeiten macht dem Freimaurer – zunächst jedenfalls – die symbolische
| |
− | Dimension des Rituals, der Umstand, dass Ausdruck und Kommunikation in Ritualen
| |
− | durch symbolisches Handeln hervorgebracht werden. Dies geschieht vor allem mittels dichter,
| |
− | zentraler Kernsymbole, die in einer repetitiven und redundanten Weise Schüsselkonzepte
| |
− | des jeweiligen gruppenspezifischen Glaubens- und Wertesystem darstellen. Wer von
| |
− | uns dächte beim Stichwort Kernsymbole nicht sogleich an die drei »Großen Lichter der
| |
− | Freimaurerei«?
| |
− | Vertraut sind wir auch damit, »dass Rituale mit einer im höchsten Maße symbolisch
| |
− | aufgeladenen Grenz- und Übergangserfahrung verknüpft sind«12, mit der sich vor allem
| |
− | der Ethnologe und Theateranthropologe Viktor Turner beschäftigt hat. Im Rückgriff auf
| |
− | Arnold van Genneps »Rites de Passage« unterscheidet Turner drei Phasen des rituellen
| |
− | Übergangs: die Trennungsphase, in der der Initiand seinen bisherigen Status verlässt, die
| |
− | Schwellenphase, in der er sich in einem Zustand der Unbestimmtheit, der Liminalität, befindet
| |
− | sowie die Phase der Wiedereingliederung, in der der Initiant schließlich zu seinem
| |
− | neuen Status gelangt und so den Fortbestand der Gemeinschaft sichert.13
| |
− | 11 Vgl. Austin, John L.: How to Do Things with Words, Cambridge (Mass.) 1962, deutsch: Zur Theorie der
| |
− | Sprechakte, Stuttgart 1972.
| |
− | 12 Fischer-Lichte, Erika: Einleitung. Zur Aktualität von Turners Studien zum Übergang vom Ritual zum
| |
− | Theater, in: Turner, Viktor: Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels, Frankfurt/New
| |
− | York 2009, S. vi.
| |
− | 13 Vgl. Turner, Viktor: Vom Ritual zum Theater, a.a.O., S. 34–38.
| |
− | 230
| |
− | Die Ambivalenz des Rituellen
| |
− | Schwieriger wird es allerdings, wenn wir über einen weiteren Aspekt der symbolischen Dimension
| |
− | des Rituals nachdenken, den Umstand nämlich, dass im »Hier« des Rituals auf
| |
− | symbolische Weise etwas vollzogen wird, das sich auf ein »Dort« im außerrituellen Bereich
| |
− | bezieht, dass die Symbole auf etwas verweisen, das zwar im Ritual nicht anwesend ist, auf
| |
− | das symbolisch-rituelles Handeln jedoch unabweisbar bezogen ist.14 »Meine Brüder, baut
| |
− | draußen weiter daran, wozu wir hier an stiller Stätte den Grundstein gelegt haben« ist eine
| |
− | Formel, die Freimaurer wörtlich oder dem Sinne nach regelmäßig in ihren Ritualen verwenden.
| |
− | Damit wird auf die Notwendigkeit einer steten Entsprechung zwischen dem Auftrag
| |
− | des Rituals und einem Alltagsverhalten verwiesen, das aufgrund der im Ritual vermittelten
| |
− | Wert- und Verhaltensgrundlagen erfolgt. Doch ist die Annahme einer solchen Entsprechung
| |
− | innerhalb der Freimaurerei nicht eine Illusion? Wird das Ritual – statt ein über symbolische
| |
− | Orte und Zeiten hinausweisendes Handlungskonzept zu sein – nicht allzu oft zum Endzweck
| |
− | der Freimaurerei verkürzt, um den sich dann das Hamsterrad administrativer Routinen
| |
− | und persönlicher Auseinandersetzungen dreht?
| |
− | Zur Erklärung des dramatischen Absturzes der Freimaurerzahlen in den USA von vier
| |
− | auf 1,4 Millionen innerhalb weniger Jahrzehnte heißt es in einer hochinteressanten Ursachenanalyse
| |
− | der Masonic Service Association of North America mit dem bezeichnenden
| |
− | Titel IT’S ABOUT TIME! Moving Masonry into the 21st Century:15 »Masonic tradition
| |
− | became locked in ritual as an end, not as a process.«
| |
− | »Locked in Ritual« – kann das Ritual auch zur Fessel werden? Etwa, indem es stets nur
| |
− | auf das nächste Ritual und nicht auf die zu gestaltende Wirklichkeit verweist?
| |
− | Wir sollten darüber nachdenken.
| |
− | Schließlich noch – als eine weitere problematische Dimension, die Ritualen zufallen
| |
− | kann – die strategische Dimension.
| |
− | Rituale können auch dazu verwendet werden, Gruppeninteressen zu fördern und
| |
− | Machtpositionen selbst ernannter Eliten zu festigen. Wie die politische Praxis totalitärer
| |
− | Systeme zeigt, werden regelmäßig Rituale eingesetzt, um die gewünschten politischen Rangordnungen
| |
− | durchzusetzen und die Unterwerfung der Beherrschten unter die Institutionen
| |
− | und Personen der Führung zu verstetigen. Es sind nicht zuletzt die Rituale der Herrschaft,
| |
− | die die Willkür der Unterwerfung emotional, habituell und kognitiv in eine natürliche, von
| |
− | der Vorsehung oder von der Geschichte bestimmte Ordnung verwandeln sollen.
| |
− | Rituale bedürfen folglich stets der Hinterfragung, welchen Interessen sie dienen und
| |
− | mit welchen Auswirkungen auf die Struktur und das Zusammenleben der im Ritual dargestellten
| |
− | Gemeinschaft sie verbunden sind. Dies gilt auch für den Fall, dass sie – wie die
| |
− | Rituale der Freimaurerei – prinzipiell von der Gleichheit aller Mitglieder der Gemeinschaft
| |
− | ausgehen, jedoch nicht selten in Gefahr geraten, diese Gleichheit durch Rangerhöhungsrituale
| |
− | sowie durch aufgefächerte Gradhierarchien direkt oder durch die Auswirkungen einer
| |
− | dysfunktionalen Ritualpraxis indirekt in Frage stellen.
| |
− | Mein Fazit zum Schluss: Die Ritualforschung bietet dem freimaurerischen Ritualdiskurs
| |
− | spannendes Material und viele interessante Fragestellungen. Wir sollten dieses Material
| |
− | 14 Vgl. Dücker, Burckhard: Rituale. Formen - Funktionen - Geschichte, Stuttgart/Weimar 2007, S. 33.
| |
− | 15 http://www.msana.com/aboutime_foreword.asp.
| |
− | 231
| |
− | nutzen und unsere Ritualdiskurse ernsthaft und ohne Tabus führen. Dies schulden wir
| |
− | uns selbst. Dies schulden wir aber auch der uns umgebenden Öffentlichkeit mit all ihren
| |
− | Verständnisschwierigkeiten und Informationsdefiziten.
| |
− | Und wir sollten auch die Rituale der Freimaurerinnen in unsere Betrachtung einbeziehen.
| |
− | Diese Rituale können ja auf einem hohen Stand des rituellen Wissens in einem freieren
| |
− | Milieu ohne Tabus und institutionelle Denkbegrenzungen gestaltet werden. Deshalb
| |
− | bieten die Rituale der Freimaurerinnen, vorausgesetzt unsere Schwestern nutzen diese Gestaltungschance
| |
− | und vermeiden eine Wiederholung masonischer Fehlentwicklungen, einen
| |
− | weiteren Maßstab kritischer Selbstreflexion, den wir nutzen sollten.
| |
− | 232
| |
− | »Des Maurers Wandeln, es gleicht dem
| |
− | Leben …« – Überlegungen zur Symbol- und
| |
− | Ritualwelt der Freimaurerei
| |
− | Die Freimaurerei fasst das ihr eigene Menschenbild und ihr Selbstverständnis in drei
| |
− | großen
| |
− | Sinnbild-Komplexen zusammen, die immer wieder in verschiedenen
| |
− | Formen
| |
− | ästhetisch-rituell gestaltet werden: der Symbolik des Lichts, der Symbolik des Wanderns
| |
− | und der Symbolik des Bauens. In der Geschichte des Bundes wurden diese Symbole
| |
− | unterschiedlich verstanden, gestaltet, zusammengefasst und erweitert. Freimaurerei
| |
− | war auch im Hinblick auf ihre Symbolik immer ein Raum, »in dem vieles
| |
− | möglich
| |
− | war« (Monika Neugebauer Wölk), und der dennoch wesentliche Erscheinungsformen
| |
− | und Grundstrukturen gemeinsam hatte. Es gab also gleichzeitig immer die Freimaurerei
| |
− | (Singular) und die Freimaurereien (Plural). Die folgenden Überlegungen verstehen
| |
− | sich als idealtypische Darstellung zur Freimaurerei (Singular), mehr noch, sie spekulieren
| |
− | subjektiv über die Transferbeziehungen zwischen Symbolverständnis und freimaurerischer
| |
− | Praxis, d.h. sie versuchen auszuloten, was sich aus einer erlebnisintensiven und
| |
− | einübungsethisch wirksamen Symbolik für das Verhalten des Freimaurers und die Gestaltung
| |
− | freimaurerischer Institutionen
| |
− | ergibt. Ich folge damit meinem Grundverständnis
| |
− | von Freimaurerei als einer Lebenskunst, die – im Rahmen einer ethisch ausgerichteten,
| |
− | humanitären Freimaurerei – menschliches Miteinander und ethische Lebensorientierung
| |
− | durch Symbole und rituelle Handlungen in der Gemeinschaft der Loge darstellbar,
| |
− | erlebbar und erlernbar macht. Rituale sind »Handlungsformen von Symbolen«
| |
− | (Thomas Luckmann), und nach meinem freimaurerischen Grundverständnis sind es vor
| |
− | allem die Handlungsaspekte des Rituals, die Interesse und ritual-praktische Sorgfalt erfordern.
| |
− | 1. Die Symbolik des Lichts
| |
− | Innerhalb der freimaurerischen Symbolwelt veranschaulicht die Lichtsymbolik, mit der begonnen
| |
− | werden soll, den transzendenten Bezug des Freimaurers, seine Rückgebundenheit
| |
− | an einen tragenden Grund seines Seins, den Anker seiner Verantwortung und die Quelle
| |
− | seiner Hoffnung. Licht symbolisiert Lebenskraft und Lebensgrundlage, Sicherheit
| |
− | und vertrauenswürdige
| |
− | Ordnung. In allen Religionen hat die Lichtsymbolik ihren festen Platz. Sie
| |
− | kennzeichnet, oft konkretisiert in den Bildern der sinnlich erfahrbaren
| |
− | Lichtträger – Sonne,
| |
− | Mond, Sterne, Blitz und Feuer –, Mythen und Kulte und gelangt als zentraler Bestandteil
| |
− | der masonischen Bilderwelt auch in das freimaurerische
| |
− | Ritual. »Ohne dich« – so heißt es
| |
− | beispielsweise in Mozarts Freimaurer-Kantate Dir Seele, des Weltalls, o Sonne, – »lebten wir
| |
− | nicht, von dir nur kommt Fruchtbarkeit,
| |
− | Wärme und Licht!«
| |
− | Licht ist in allen Kulturen das wichtigste Medium der Spiritualität. Es erlaubt – dies
| |
− | ist auch die Erfahrung der großen Mystiker – unmittelbare, subjektive und dogmenfreie
| |
− | Zugänge zur Transzendenz, die den Menschen umgibt und die zugleich in ihm selber
| |
− | wohnt.
| |
− | 233
| |
− | Licht steht aber nicht nur für Spiritualität, sondern auch für Aufklärung, für den
| |
− | menschlichen Akt der Wahrheitserkenntnis, dafür, dass der Maurer – so will es das Ritual –
| |
− | sich vor Lehren hüten soll, die das Licht der Vernunft nicht aushalten. In der Sprache des
| |
− | Rituals:
| |
− | »Was das Licht für die Augen, das ist die Wahrheit für den Geist des Menschen.
| |
− | Unwissenheit und Vorurteil verhalten sich zu der Wahrheit, wie Finsternis und Dunkel
| |
− | zum hellen Tag.« Es ist diese ausgreifende Bedeutung des Lichts als komplexes Symbol für
| |
− | Lebensquelle, Lebenskraft, moralische Wegweisung und Suche nach Wahrheit, welche
| |
− | die
| |
− | »Lichtgebung« zum zentralen Bestandteil des Aufnahmerituals
| |
− | und die »Lichteinbringung
| |
− | «
| |
− | zum Kern der rituellen Einsetzung einer Loge oder der Weihe eines neuen Tempels macht.
| |
− | Die Beziehungen zur freimaurerischen Alltagspraxis sind leicht erkennbar: Redlichkeit
| |
− | und Wahrhaftigkeit werden angemahnt, der Verzicht darauf, als Wahrheit auszugeben, was
| |
− | eigenes Vorurteil ist. Die Loge will – auch dies ist Grundlage des Rituals – »eine sichere
| |
− | Stätte sein für alle, die Wahrheit suchen«. Wohlgemerkt, für die, die Wahrheit suchen, nicht
| |
− | für die, die meinen, universelle Heilsrezepte zu besitzen und ewige Wahrheiten
| |
− | zu verwalten.
| |
− | Hier ist an ein Wort und eine Warnung Lessings zu erinnern, dass nicht die Wahrheit,
| |
− | sondern die Mühe der Wahrheitssuche den Wert des Menschen ausmacht, und dass – so
| |
− | Lessing wörtlich – »nicht der Irrtum, sondern der sektiererische Irrtum, ja sogar die sektiererische
| |
− | Wahrheit das Unglück der Menschen machen oder machen würden, wenn die
| |
− | Wahrheit eine Sekte stiften wollte«. Hierzu kommt mir auch ein Gedicht Erich Frieds in
| |
− | den Sinn, eines sensiblen Aufklärers unserer Tage: »Zweifle nicht an dem, der dir sagt, er
| |
− | hat Angst – aber habe Angst vor dem, der dir sagt, er kennt keinen Zweifel.«
| |
− | 2. Die Symbolik des Wanderns
| |
− | Die Symbolik des Wanderns veranschaulicht den besonderen Charakter der menschlichen
| |
− | Lebensreise. Wandermythen gehören zu den uralten Bestandteilen menschlicher Bewusstwerdung.
| |
− | Wanderepen
| |
− | wie Homers Odyssee erzählen nicht nur das Schicksal von Helden.
| |
− | Sie bezeugen auch die Bestimmung des Menschen, Wanderer zu sein. Auch eine moderne
| |
− | Filmgattung bestätigt immer wieder einen archaischen
| |
− | Befund: Das menschliche Leben ist
| |
− | ein Roadmovie. Der Mensch ist unterwegs, er muss aufbrechen, er verändert sich, er hat
| |
− | Altes hinter sich zu lassen und selbst, wenn er zum Ausgangspunkt
| |
− | zurückkehrt, ist er verändert
| |
− | und hat die Chance, die Veränderung produktiv an sich selbst zu erleben. Rilke hat dieses
| |
− | »Zurückkehren, aber doch Verändertsein« bekanntlich
| |
− | in das schöne Bild vom »Leben in
| |
− | wachsenden Ringen« gefasst: »Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen, die sich über die
| |
− | Dinge ziehn. Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen, aber versuchen will ich ihn.«
| |
− | Freimaurerei hat mit Wanderungen vielerlei Art zu tun: Der Aufnahmekandidat wandert
| |
− | zum Licht, der Lehrling
| |
− | macht »Gesellenreisen«, der Geselle wandert – konfrontiert
| |
− | mit der Unabänderlichkeit des Todes – auf dem Weg zur Meisterschaft, und auch für den
| |
− | Meister wird das »Wandern zwischen Sternen und Gräbern« immer wieder zu Erlebnis
| |
− | und Anstoß. Der Rahmen dieses Wanderns durch die sich durch Wiederholung von Mal
| |
− | zu Mal vertiefenden rituellen Erlebnisse ist das System der drei freimaurerischen Grade
| |
− | Lehrling, Geselle und Meister. Für mich lässt sich dieser Rahmen durch zusätzliche Ritualerfahrungen
| |
− | nicht sinnvoll erweitern.
| |
− | 234
| |
− | Die Wandersymbolik hilft erkennen, dass es sich bei den Ritualen der Freimaurer nicht
| |
− | um Verkündigungsrituale oder Rituale der Manifestation nicht zu hinterfragender Überzeugungen
| |
− | handelt, sondern um Erprobungsrituale oder Rituale der Suche, die schrittweise
| |
− | Erkenntnis und korrigierbares Lernen verdeutlichen, was zugleich bedeutet, dass freimaurerische
| |
− | Rituale bei aller Konstanz ihrer Form »offene« und keine hierarchisch vermittelten
| |
− | Rituale sind – oder doch seien sollten.
| |
− | Leben als Wandern zu verstehen, ist auch den Gedanken und Bildern anderer Denksysteme
| |
− | und Ausdrucksformen von Kultur eigen. Die Anschaulichkeit
| |
− | und Intensität der
| |
− | sinnlichen Erfahrung der freimaurerischen Rituale wird allerdings nur selten erreicht. Das
| |
− | freimaurerische Brauchtum ist nun einmal sowohl durch eine besonders sinnreiche Ritualstruktur
| |
− | als auch durch eine besonders eindruckvolle gruppendynamische
| |
− | Qualität des
| |
− | Ritualvollzugs geprägt.
| |
− | Wir Freimaurer erfahren beim Wandern, bei den Reisen, die Essenz unseres Menschseins.
| |
− | Wir erleben,
| |
− | dass wir unterwegs sind zwischen Geburt und Tod. Wir erleben uns im
| |
− | Aufbruch und im Vollbringen. Wir erleben uns aber auch in der Gefährdung,
| |
− | im Scheitern
| |
− | gar und im Sterben.
| |
− | Die Stimmung der »Winterreise« ist uns vertraut:
| |
− | »Fremd bin ich
| |
− | eingezogen, fremd zieh ich wieder
| |
− | aus.« Doch wir erfahren auch schöpferische Freude, wir
| |
− | erleben die Aufforderung zum Neubeginn, die Chance, aufzubrechen
| |
− | zu uns selber, die Gelegenheit,
| |
− | unsere besseren Möglichkeiten
| |
− | auszuloten, insbesondere die Möglichkeit, das zu
| |
− | werden, was wir eigentlich sind: Wir erleben eben nicht nur das »Stirb«, sondern auch das
| |
− | »Werde!« Aber wir erfahren auch immer wieder, dass der Weg, neu zu empfinden, neu zu
| |
− | denken, neu zu handeln und neu zu werden mühsam bleibt, und dass er nichts zu tun hat
| |
− | mit Esoterikschnellkursen fragwürdiger
| |
− | Provenienz,
| |
− | wie sie heute so gern angeboten werden
| |
− | und von denen uns gründlich abzugrenzen
| |
− | eine ganz zentrale Aufgabe freimaurerischer
| |
− | Öffentlichkeitsarbeit – aber auch der »Arbeit nach innen« – sein muss.
| |
− | Als Wanderer erleben wir Maurer uns allein und in Gemeinschaft.
| |
− | Wir werden mit der
| |
− | Notwendigkeit
| |
− | konfrontiert,
| |
− | Einsamkeit auszuhalten und uns – auf uns zurückgeworfen
| |
− | –
| |
− | selbst zu erkennen.
| |
− | Wir werden dazu angehalten, uns über uns nichts vorzumachen.
| |
− | Doch
| |
− | wir lernen
| |
− | auch, dass Selbsterkenntnis kein Akt narzisstischer Selbstbespiegelung
| |
− | bleiben
| |
− | darf, dass Selbsterkennen und Selbstwerden vielmehr von unseren Fähigkeiten abhängt,
| |
− | auch für den anderen da zu sein, ihn zu begleiten, ihm zu helfen, uns auch von ihm helfen
| |
− | zu lassen und mit ihm zusammen unser Dasein zu meistern.
| |
− | Freimaurerisches Wandern ist nicht nur auf das Erreichen von Zielen angelegt, es ist
| |
− | auch Wandern im Kreise, Weitergehen und Wiederkehr zugleich. Wandern als Kreisen zu
| |
− | verstehen ist von großer anthropologischer Bedeutung. Denn Kreisen heißt, einem Zentrum
| |
− | verhaftet zu bleiben und doch ständig die Perspektive zu verändern. Der Prozess
| |
− | der
| |
− | Selbsterkenntnis ist ein solches Kreisen um die eigene Person, die es von verschiedenen
| |
− | Blickpunkten aus kritisch zu betrachten gilt. Aber auch die Welt enthüllt ihren Charakter
| |
− | nur »schrittweis dem Blicke«, wie es in Goethes »Symbolum« heißt. Und schließlich stellt
| |
− | sich auch unser Bezug zur Transzendenz als ein stetiges Kreisen dar. Wiederum hat Rilke
| |
− | dafür schöne Bilder gefunden, wenn er – ich möchte sagen durch und durch freimaurerisch
| |
− | – dichtet: »Ich kreise um Gott, um den uralten Turm, und ich kreise jahrtausendelang; und
| |
− | ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm oder ein großer Gesang?« Wir wissen
| |
− | nicht, und wir suchen. Wir haben die Wahrheit über Gott und uns selbst nicht parat. Der
| |
− | Turm verschließt mehr als er preisgibt. Das Große im kleinen Bild, im Symbol eben, zu
| |
− | 235
| |
− | fassen, bleibt unser Geschäft. Dass es gelingen
| |
− | kann, im Unsicheren, in der Kontingenz,
| |
− | Sicherheit zu gewinnen, ist für mich eine entscheidende Erfahrung gelingender Freimaurerei.
| |
− | Der Diktatur des Definitiven zugunsten schwebender Möglichkeiten zu entgehen, mag
| |
− | unbequem sein, aber es gibt Freiheit.
| |
− | Wandern macht geistig produktiv. Die peripatetischen Philosophen um Aristoteles
| |
− | wussten davon, die im Peripatos, der Wandelhalle, umhergingen, um Gedanken zu entwickeln,
| |
− | die sie sich für Lehr- und Diskussionszwecke mitteilten. Friedrich Nietzsche, der
| |
− | leidenschaftlich wandernde Umwerter aller Werte, hatte nicht nur am Surleifelsen blitzende
| |
− | Einfälle, die sich zu gedankenmächtigen und wortschönen Aphorismen verdichteten.
| |
− | Schließlich: Zur Persönlichkeitsentwicklung durch Wandern hatte schon Goethe in den
| |
− | Schlusszeilen seines Gedichts über die »Perfektibilität« das Fazit gezogen:
| |
− | »Willst Du besser
| |
− | sein als wir, lieber Freund, so wandre!«
| |
− | Wie immer wir es sehen: Das rituelle Wandern berührt den Kern unserer Person. Dass
| |
− | es des Schutzes bedarf, dass es intern bleiben muss, dass es in diesem Sinne »esoterisch
| |
− | «
| |
− | ist, dass umgekehrt eine allzu große und unbedachte Publizität geradezu schamlos wäre,
| |
− | versteht sich wohl von selbst.
| |
− | 3. Die Symbolik des Bauens
| |
− | Die Bilderwelt des Bauens schließlich umreißt Inhalt und Ziel unserer Arbeit: Wir Freimaurer
| |
− | bauen am Tempel der Humanität. Wir verstehen Sein und Zeit als sinnvoll zu gestaltende
| |
− | Bauwerke. Wir gehen davon aus, dass unserem Bauen eine wertgebundene
| |
− | Bauidee
| |
− | zugrunde liegt, die wir – ohne jede inhaltlicher Bestimmung, fern ab von der Dogmatik
| |
− | eines kreativen Designs und ohne dass die Loge zur religiösen Vereinigung
| |
− | wird – mit dem
| |
− | Symbol eines universellen Großen Baumeisters umschreiben. Gewiss,
| |
− | wir bauen ein Fenster
| |
− | zur Transzendenz,
| |
− | denn »über sich« hinauszuschauen ist eine Grundbefindlichkeit des Menschen.
| |
− | Doch was der Maurer sieht, wenn er durch dieses Fenster blickt, ist innerhalb der
| |
− | Loge sein Geheimnis, das ihm durch seine Religion
| |
− | (und eben nicht durch die Freimaurerei)
| |
− | vermittelt wird, und es wäre schamlos, ihn danach zu fragen.
| |
− | Wir verstehen uns selbst als Bausteine, deren Auftrag und Schicksal es ist, den Weg
| |
− | vom rauhen zum behauenen Stein zu nehmen, lebenslang und unabweisbar, aber – anders
| |
− | als der immer wieder scheiternde Sisyphos – mit der Hoffnung auf Gelingen und auf der
| |
− | festen Grundlage eines positiv-optimistischen Menschenbildes. Wir bauen eine Heimat für
| |
− | Menschen, eine Heimat, die nicht nur am großen Entwurf des Tempelbaus orientiert ist,
| |
− | die vielmehr vor allem im tagtäglichen Bemühen um menschenwürdige Wohnverhältnisse
| |
− | in den Alltagsgehäusen unserer Mitmenschen ihren Ausdruck zu finden hat.
| |
− | Bauen und Wohnen gehören zusammen. Philosophen wie Martin Heidegger, Ernst
| |
− | Bloch und Otto Friedrich Bollnow, aber auch philosophierende Schriftsteller wie Antoine
| |
− | de Saint-Exupéry haben betont, dass der Mensch wesensmäßig ein Wohnender ist, der auf
| |
− | den Schutz durch künstlich errichtete Mauern angewiesen ist und der baut, um beheimatet
| |
− | zu sein. Für Bloch ist Bauen ein Produktionsversuch menschlicher Heimat, und Heidegger
| |
− | formulierte im Rahmen des viel beachteten »Darmstädter Gesprächs« zum Thema
| |
− | »Mensch und Raum« im Jahre 1951: »Das Wesen des Bauens ist das Wohnenlassen. Der
| |
− | Wesensvollzug ist das Errichten von Orten durch das Fügen ihrer Räume. Nur wenn wir
| |
− | 236
| |
− | das vermögen, können wir bauen. Das Wohnen aber ist der Grundzug des Seins.« Das
| |
− | »Nicht-wohnen-Können« umgekehrt, die Obdachlosigkeit, verletzt zutiefst die Würde der
| |
− | davon betroffenen Menschen, nicht nur, weil der Besitz einer Wohnung eine elementare
| |
− | Notwendigkeit für physisches menschliches Überleben ist, sondern auch, weil Haus und
| |
− | Wohnung ganz spezifische kulturelle Identitäten stiften, über die zu verfügen gleichfalls
| |
− | ein Grundanliegen der Menschen ist. Seitdem der Mensch Mensch ist, hat er gebaut,
| |
− | wenn auch – die großen Baulegenden der Religionen geben darüber ebenso Auskunft wie
| |
− | die abschreckenden Beispiele der Baugeschichte – das Maß des Menschlichen oft verfehlt
| |
− | worden ist. Nicht nur einzelne Menschen, auch Gemeinschaften sind auf Raum und
| |
− | Heimat, d.h. auf Verwurzelung an festen Orten angewiesen. Für Logen gilt dies sogar in
| |
− | einem gesteigerten Maße. Ihre Lebenskraft, ihre rituelle, soziale und kulturelle Entfaltung,
| |
− | die sichere Gelassenheit, mit der sie neuen Menschen anzusprechen in der Lage sind, all
| |
− | das hängt davon ab, ob sie Räume besitzen, die Heimat konstituieren. Und von dieser
| |
− | Heimat, diesem Heim her, macht es für uns Freimaurer heute noch Sinn, vom Geheimnis
| |
− | zu sprechen.
| |
− | Unser symbolisches Bauen folgt Regeln und verzichtet doch auf ein festes Bauprogramm.
| |
− | Freimaurerei ist mit Ideologie und Dogma nicht vereinbar, und für den nachdenklichen
| |
− | Maurer taugt kein rigide festgelegter Kurs. Gewiss: Die Freimaurerei hat zentrale
| |
− | Werte, Leitideen, die immer wieder um die Idee des auf Würde und Freiheit angelegten
| |
− | Menschen kreisen und die auch unsere Bilderwelten von Licht, vom Wandern
| |
− | und vom
| |
− | Bauen bestimmen. Aber Ideen sind nun einmal wie Sterne, die nie unmittelbar
| |
− | erreichbar
| |
− | sind und denen wir auch nicht die Pluralität der Auffassungen opfern
| |
− | dürfen, zu der wir
| |
− | Freimaurer uns bekennen. An Ideale darf man sich nur in offenen,
| |
− | der Kritik zugänglichen
| |
− | Suchprozessen annähern. Nicht selten mussten die Menschen erfahren,
| |
− | wie recht der Philosoph
| |
− | Karl Popper mit seiner Feststellung hat, dass »der Versuch, den Himmel auf Erden
| |
− | einzurichten, … stets die Hölle (erzeugt)« und wie ratsam es ist, seiner – sehr freimaurerischen
| |
− | – Empfehlung zu folgen: »Wenn wir die Welt nicht wieder ins Unglück stürzen
| |
− | wollen, müssen wir unsere Träume der Weltbeglückung aufgeben. Dennoch können und
| |
− | sollen wir Weltverbesserer bleiben. Wir müssen uns mit der nie endenden Aufgabe begnügen,
| |
− | Leiden zu lindern, vermeidbare Übel zu bekämpfen und Mißstände abzustellen.«
| |
− | Auch den Freimaurern droht der Einsturz von Gebäuden, wenn sie zu sehr definieren,
| |
− | ideologisieren und polarisieren, wenn Programme und verbandspolitische Profile Vorrang
| |
− | haben gegenüber der einen unverzichtbaren maurerischen Grundsubstanz, bestimmt
| |
− | vom
| |
− | Dreiklang: intellektuelle Redlichkeit, humanitäre Gesinnung und engagierter Mit-Menschlichkeit
| |
− | in allen unseren Beziehungen.
| |
− | Nicht ein festgelegter rigider Plan bestimmt somit das Bauen des Freimaurers. Freimaurerei
| |
− | als Baustil, darauf kommt es an. Und auch dies gilt: Kein abgeschlossener Bau
| |
− | ohne einen neuen Bauauftrag, denn Bauhütten waren nie Selbstzweck, Bauhütten hatten
| |
− | immer einen Auftrag, in Bauhütten wurde und wird immer
| |
− | weitergebaut.
| |
− | Was soll gebaut werden? Und vor allem: Wie sollen wir bauen?
| |
− | Das freimaurerische Ritual gibt umfassend Auskunft: Ein Tempel der Humanität ist
| |
− | es, an dem wir arbeiten, eine Heimat brüderlicher Gesinnung ist zu schaffen, eine Schule
| |
− | edler Menschlichkeit soll begründet und eine sichere Stätte errichtet werden für alle, die
| |
− | Wahrheit suchen. Und die Bausteine, die wir brauchen, sind »Menschen, Menschen,
| |
− | immer
| |
− | neue Menschen«.
| |
− | 237
| |
− | Hier wird sie wieder klar erkennbar, die große schöpferische Leistung der Alten, Freien
| |
− | und Angenommenen Maurer, die Idee des Bauens auf die soziale, auf die moralische
| |
− | Welt,
| |
− | auf das Leben selbst zu übertragen, Menschen als Bausteine zu verstehen, die kein passives
| |
− | Material sind, die sich zwar einordnen müssen in den großen Bau der Mitmenschlichkeit,
| |
− | aber nicht unter Zwang, sondern als Ausdruck individueller Verantwortung,
| |
− | verfügend über
| |
− | den Maßstab des Sittengesetzes, der den Freimaurer lehrt, die symbolischen Werkzeuge recht
| |
− | zu gebrauchen und sie anzuwenden im offenen brüderlichen
| |
− | Miteinander auf der vom Ritual
| |
− | dafür bestimmten Grundlage der schönen, reinen Menschenliebe, der Brüderlichkeit aller.
| |
− | Es sind die alten Sprachformen des Rituals, die uns zu ethischer Einübung verhelfen. Sie
| |
− | ernst zu nehmen in ihrer nachdrücklichen Schlichtheit schützt vor einer gar nicht so seltenen
| |
− | Fehlhaltung der Freimaurer: sich berauschen zu lassen vom Klang der eigenen Worte
| |
− | und zu meinen, im Tempel Humanität zu sagen, hieße bereits Humanität zu verwirklichen.
| |
− | Hier droht ständig die große Gefahr einstürzender Alt- und Neubauten, die es zu vermeiden
| |
− | gilt. Hier ist die Falle der Unglaubwürdigkeit angesiedelt, die darin besteht, bei Zweifeln
| |
− | im Inneren und bei Angriffen von außen nicht mit kritischer Prüfung und Korrektur zu reagieren,
| |
− | sondern mit einem Schwall neuer Wörter, Beteuerungen und Apologien zu erwidern,
| |
− | mit denen dann wiederum das Bild der tatsächlichen Freimaurerei
| |
− | verfehlt wird. Die Freimaurer
| |
− | haben aber nicht auf dem Markt der Parolen zu konkurrieren,
| |
− | sie müssen vielmehr
| |
− | mit Inhalten bestehen. Und dies ist mit Arbeit verbunden:
| |
− | Die großen Bauvorgaben der
| |
− | Freimaurerei – Humanität, Brüderlichkeit, Gerechtigkeit,
| |
− | Friedensliebe und Toleranz – treten
| |
− | nur dadurch aus der Welt der Schlagworte heraus,
| |
− | dass sich jeder einzelne Bruder um ihre
| |
− | Konkretisierung bemüht. Wer helfen will, eine humane Welt zu errichten, muss sich ein realitätsnahes,
| |
− | den Dunstkreisen der Stammtische fernes Bild der Wirklichkeit verschaffen und
| |
− | mit anderen Menschen guten Willens um Erkenntnis dessen ringen, was eine humane Welt
| |
− | angesichts menschenfeindlicher
| |
− | Tendenzen heutzutage bedeuten kann und wie eine solche
| |
− | Welt wenigstens ansatzweise zu erreichen wäre. Am Bau einer besseren Welt mitzuwirken mit
| |
− | Sensibilität,
| |
− | Augenmaß, Empathie und Engagement wurde immer schon als Werkaufgabe
| |
− | der Freimaurerei verstanden. Den Inhalt dieser Aufgabe für unsere Zeit auszuloten, die Dimension
| |
− | des Politischen für die Arbeit der Brüder, der Logen und der Großlogen in ihren
| |
− | Möglichkeiten, aber auch in ihren Grenzen eindeutiger zu fassen und umzusetzen, hieran
| |
− | sollte mit geschärftem Bewusstsein für das Mögliche und Nötige viel intensiver gearbeitet
| |
− | werden als bisher.
| |
− | 4. Symbolische Ordnung, symbolischer Raum, symbolische Zeit
| |
− | Die genannten drei grundlegenden und komplexen freimaurerischen Bilderzählungen vom
| |
− | Licht, vom Wandern und vom Bauen sind großartige Vorgaben für das auf ihrer Grundlage
| |
− | zu vollziehende dramatisch-psychologische Erleben, das Inhalt unserer Rituale ist, und die
| |
− | Rituale des Lehrlings-, Gesellen- und Meistergrades, die diese Bildwelten aufnehmen und variieren,
| |
− | vermitteln auf überzeugende Weise, was ein freimaurerisches
| |
− | Ritual zu leisten vermag:
| |
− | • Ruhe und Nachdenklichkeit zu fördern,
| |
− | • Erfahrung von menschlicher Entwicklung durch gemeinsamen Mitvollzug der Initiation
| |
− | neuer Brüder und anderer »Übergangsriten« (Beförderungen in den Gesellen- und Erhebungen
| |
− | in den Meistergrad) zu vermitteln,
| |
− | 238
| |
− | • ethische Erziehung durch Symbole und rituelle Handlungen zu bewirken,
| |
− | • Erleben von kreativer Öffnung aller Sinne durch die rituelle Multimedialität zu ermöglichen
| |
− | sowie
| |
− | • Impulse zur Auseinandersetzung mit menschlichen Grenzerfahrungen zu geben.
| |
− | Und für mich bestätigt sich immer wieder beim Ritualvollzug, dass freimaurerische Rituale
| |
− | desto überzeugender und erlebnistiefer sind, je näher sie an die universellen Kerne existentieller
| |
− | Menschheitssymbole heranreichen. Doch der dramatische Akt des Rituals ereignet sich
| |
− | keineswegs überall und immer. Er bedarf vielmehr einer festen Ordnung, er bedarf eines besonderen
| |
− | symbolischen Raumes und einer besonderen symbolischen Zeit.
| |
− | Was die Ordnung betrifft, so sind uns die Formen der Symbole und Rituale durch die
| |
− | klare und feste Struktur des freimaurerischen Brauchtums vorgeschrieben. Und es ist gut,
| |
− | dass hinsichtlich
| |
− | der Verbindlichkeit
| |
− | unserer rituellen Formen Konsens in der Bruderschaft
| |
− | besteht. Nur durch den Ausschluss von Willkür lassen sich Desorientierung und Irritation
| |
− | abwehren, nur so kann – im direkten wie im übertragenen Sinne – Ordnung gestiftet
| |
− | werden. Gerade aber diese feste Ordnung
| |
− | in den Formen gewährleistet wiederum Freiheit
| |
− | im Ritualverständnis, und unser Zugang
| |
− | zu Symbol und Ritual kann undogmatisch,
| |
− | offen
| |
− | und kreativ sein. Lessing hat diese Beziehung zwischen fester Bildvorgabe und schöpferischem
| |
− | Nach-Denken in seiner Laokoon-Schrift einmal mit folgenden Worten umrissen:
| |
− | »Dasjenige … allein (ist) fruchtbar, was der Einbildungskraft freies Spiel lässt. Je mehr wir
| |
− | sehen, desto mehr müssen wir hinzudenken können. Und je mehr wir dazu denken, desto
| |
− | mehr müssen wir zu sehen glauben.« Diese subjektiven
| |
− | schöpferischen Annäherungen an
| |
− | ein Ritual, das in fester Form bewahrt wird, müssen wir hüten als kostbaren Schatz in einer
| |
− | Zeit, in der Formen häufig entweder banalisiert, wenn nicht gar zerstört, oder fundamentalistisch
| |
− | eingemauert und sektiererisch übersteigert
| |
− | werden.
| |
− | Schließlich: Im freimaurerischen Ritual gehören symbolischer Raum und symbolische
| |
− | Zeit untrennbar zusammen. Der symbolische Raum wird vom Meister vom Stuhl »geöffnet
| |
− | «. Doch dieser Raum wird erst dadurch zu einem besonderen, von anderen Räumen
| |
− | unterschiedenen Raum, dass gleichzeitig die symbolische Zeit beginnt. »Zum Raum wird
| |
− | hier die Zeit«, so heißt es – wenn auch nicht für das freimaurerische Ritual formuliert, so
| |
− | doch treffend in der Bedeutung – in Richard Wagners Parsifal. Erst durch den Hinzutritt
| |
− | der symbolischen Zeit gewinnt der Raum seinen Charakter als Symbol der Vollendung.
| |
− | Wird nun die Loge als symbolischer Raum geöffnet oder wird die rituelle Arbeit als
| |
− | symbolische
| |
− | Zeit eröffnet?
| |
− | Die großen deutschen Ritualreformer und -autoren waren sich nicht einig, wie die alte
| |
− | englische
| |
− | Formel »I declare the Lodge duly open« korrekt zu übersetzen sei. Friedrich
| |
− | Ludwig Schröder spricht von öffnen, Ignaz Aurelius Feßler – zeitgleich – von eröffnen,
| |
− | und
| |
− | das »Sonnenritual« Johann Caspar Bluntschlis folgt ihm darin, während es im Ritual der
| |
− | Großloge AFuAM wiederum öffnen heißt.
| |
− | Doch was für Worte wir auch immer verwenden, ihr Sinn ist das Entscheidende. Und
| |
− | Sinn der Öffnungsformel kann doch nur sein, dass wir als am Ritual teilnehmende Brüder
| |
− | unsere ganze Aufmerksamkeit im Augenblick des Hammerschlags des Meisters dafür öffnen
| |
− | und dafür schärfen, dass etwas Besonderes geschieht, nichts Magisches freilich, nichts
| |
− | Heiliges im Sinn der Religion, nichts von uns Unabhängiges, sondern etwas, das in uns ist,
| |
− | das von uns ausgehend
| |
− | in uns aktiviert wird. Findet diese Aktivierung nicht statt, bleiben
| |
− | 239
| |
− | wir unkonzentriert und abgelenkt, so war der öffnend-eröffnende Hammerschlag des Meisters
| |
− | vergeblich. Wir selbst, die im Tempel versammelten Brüder, sind es nämlich, die für
| |
− | die besondere Qualität von symbolischem Raum und symbolischer Zeit als grundlegende
| |
− | Ordnungssymbole der Freimaurerei verantwortlich sind.
| |
− | »Öffnen« der Loge, Beginn der symbolischen Zeit heißt: Öffnen des Bewusstseins von
| |
− | uns Brüdern für den besonderen Raum, der uns hier umgibt, einen Raum, der uns schützt,
| |
− | der uns Heimat gibt, der insofern unser »Geheimnis« ist – denn Geheimnis meint sprachgeschichtlich
| |
− | nichts anderes als das zum Heim gehörende – und der uns doch zugleich
| |
− | wachen Sinnes mit unseren Mitmenschen, mit den Problemen der Welt, mit Natur und
| |
− | Kosmos und mit unseren Aufgaben, unserer Verantwortung im Hier und Jetzt verbindet.
| |
− | Denn der symbolische Raum der Loge – wir haben es früh gelernt – ist universell und
| |
− | unendlich, wie unsere Aufgabe, Gutes
| |
− | zu tun; reicht er doch von Ost nach West, von Süd
| |
− | nach Nord und vom Mittelpunkt der Erde bis zu den Sternen.
| |
− | Und die symbolische Zeit? »Die Riten sind in der Zeit, was das Heim im Raum ist«,
| |
− | betont der französische Dichter Antoine de Saint-Exupéry. Dies wird von ihm weiter erläutert:
| |
− | »Denn es ist gut, wenn uns die verrinnende Zeit nicht als etwas erscheint, das uns
| |
− | verbraucht und zerstört, sondern als etwas, das uns vollendet. Es ist gut, wenn die Zeit ein
| |
− | Bauwerk ist.« Das Mittel, die Zeit zu gestalten, ist ihre Gliederung durch herausgehobene
| |
− | Haltepunkte. Die symbolische Zeit unserer Tempelarbeit
| |
− | soll ein solcher Haltepunkt sein,
| |
− | kein sozialer Ausstieg,
| |
− | wohl aber eine Atempause im Strom der geschäftigen Zeit, ein festliches
| |
− | und zugleich besinnlich-schöpferisches »Moratorium des Alltags« (Odo Marquard).
| |
− | Symbolischer Raum und symbolische Zeit gehören zusammen. Und sie gehören
| |
− | zu
| |
− | uns, sie sind unsere Heimat, und sie sind unser Geheimnis. An diesem Geheimnis haben
| |
− | nur die Anteil, und können auch nur diejenigen Anteil haben, die dabei sind, wenn der
| |
− | Meister mit dem wichtigsten Hammerschlag der rituellen Arbeit die Loge öffnet
| |
− | und wenn
| |
− | die symbolische Zeit beginnt. Dieses Geheimnis kann tatsächlich nicht verraten werden,
| |
− | man kann es nur miterleben.
| |
− | Immer, wenn Brauchtum und Ritual vernachlässigt oder für Schauzwecke instrumentalisiert
| |
− | wurden, verlor die Freimaurerei ihre identitätstiftende Grundlage. Freimaurer, Logen
| |
− | und Großlogen haben daher nicht zuletzt der Gefahr zu begegnen, das Ritual einer falsch
| |
− | verstandenen Modernität zu opfern. Im Gegenteil: Die schöpferische
| |
− | rituelle Arbeit erst,
| |
− | das Arbeiten mit den großartigen Bilderwelten des Lichts, des Wanderns und des Bauens,
| |
− | sichert den Kern der Freimaurerei, ist Brücke über die Zeiten
| |
− | und übt den Bruder ein in
| |
− | den richtigen Umgang mit sich selbst, mit der Transzendenz,
| |
− | mit anderen Menschen und
| |
− | mit den Dingen der Welt. Kurz: Die oft so unzeitgemäß
| |
− | empfundenen Rituale tragen bestimmend
| |
− | dazu bei, Freimaurerei als sozial tragende und Daseinsorientierung vermittelnde
| |
− | Lebenskultur zu erhalten. Denn Freimaurerei ist nicht mehr und nicht weniger als ethisch
| |
− | orientierte Freundschaft, eingeübt und gefestigt
| |
− | durch eine lichte Symbolik, die uns wandern
| |
− | und bauen, denken und fühlen, leben und sterben lehrt.
| |
− | 240
| |
− | Plädoyer für die Säule der Schönheit –
| |
− | Zur ästhetischen Dimension der Freimaurerei
| |
− | Drei Säulen bestimmen die symbolische Struktur des freimaurerischen Tempels. Sie tragen
| |
− | den Bau gemeinsam. Zeigt eine von ihnen Risse, so gerät der Bau ins Wanken. Und doch:
| |
− | Fragte man in den Logen, ob es eine Rangfolge der Säulen gäbe, so lägen Weisheit und Stärke
| |
− | vermutlich deutlich in Front, und die Schönheit hätte Mühe, Schritt zu halten. Auch
| |
− | die Sprache
| |
− | der Rituale weist auf eine solche Nachrangigkeit der Schönheit hin: Während
| |
− | Weisheit
| |
− | und Stärke den Bau »leiten« und »ausführen«, soll Schönheit – ein lediglich ist hier
| |
− | durchaus berechtigt – »zieren« oder »vollenden«.
| |
− | Dass der Schönheit diese eher untergeordnete Bedeutung beigemessen wird, scheint mir
| |
− | nicht gerechtfertigt zu sein. Denn für mich ist Schönheit nach alter Freimaurertradition
| |
− | nicht nur das zentrale Gestaltungsprinzip des Tempelbaus, und zwar auch bezüglich des
| |
− | freimaurerischen
| |
− | Verständnisses von Ethik und Moral, sondern Schönheit ist auch das,
| |
− | was die Freimaurerei
| |
− | von anderen, dem Nachdenken oder dem moralischen Handeln gewidmeten
| |
− | gesellschaftlichen
| |
− | Assoziationen unterscheidbar macht. Deshalb habe ich diese
| |
− | Betrachtung »Plädoyer für die Säule der Schönheit« genannt und einige Gedanken zur
| |
− | ästhetischen Dimension der Freimaurerei formuliert.
| |
− | Dimensionen einer »Königlichen Kunst«
| |
− | Freimaurerei verstand sich von Anbeginn als eine »Königliche Kunst«. Früh schon in der
| |
− | Geschichte des Bundes, zu Beginn des 18. Jahrhunderts, entstand in den Logen – sowohl im
| |
− | Denken als auch in der kommunikativen Praxis der Brüder und oft eher spontan gefunden
| |
− | als bewusst entworfen – das Ideal eines guten moralischen Lebens, die Vision eines auf brüderlichem
| |
− | Miteinander beruhenden menschlichen Glücks1.
| |
− | In seiner Umsetzung in die Logenpraxis verband
| |
− | dieses Konzept in sehr unterschiedlichen
| |
− | nationalen und regionalen Ausprägungen drei Elemente – Geselligkeit, aufklärerisches
| |
− | Denken
| |
− | und rituelle Praxis –, und es fand in der Metapher vom »Tempelbau der
| |
− | Humanität«, an dem der Freimaurer arbeitet und der von den drei Säulen Weisheit, Stärke
| |
− | und Schönheit getragen
| |
− | wird, seinen begrifflich-symbolischen Ausdruck. Leben und Lebensästhetik
| |
− | gehörten für die Freimaurer schon früh untrennbar zusammen, Ethik und
| |
− | Kunst ergänzten sich, moralische
| |
− | Praxis entfaltete sich im ästhetischen Raum von Loge
| |
− | und Gesellschaft.
| |
− | Die Logen der Freimaurerei waren von Anfang an Vereinigungen, die ihre Auffassung
| |
− | vom Menschen, von seinem Verhältnis zur Gesellschaft sowie von den Prinzipien, die
| |
− | sie für ein gelingendes Leben entwickelten, durch Kunst, durch bildhafte Symbole ausdrückten.
| |
− | Diese Symbole waren vielfach dem Handwerk der Steinmetzen und ihren Bilder-
| |
− | und Legendenwelten
| |
− | entnommen und waren somit älter als das »System of Morality
| |
− | «, dessen Veranschaulichung
| |
− | sie dienen sollten. Es flossen in sie auch mannigfaltige
| |
− | 1 Vgl. Gutjahr, Ortrud/Kühlmann, Wilhelm/Wucherpfennig, Wolf: Vorwort, in: dieselben (Hrsg.), Gesellige
| |
− | Vernunft. Zur Kultur der literarischen Aufklärung, Würzburg 1993, S. XI.
| |
− | 241
| |
− | esoterisch-hermetische
| |
− | Traditionen der abendländischen Kulturgeschichte ein, und es wurden
| |
− | später – insbesondere
| |
− | in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts – für spezifische
| |
− | Hochgradbedürfnisse dazu Symbole
| |
− | und Legenden der Ritterorden, die an sich wenig mit
| |
− | der freimaurerischen Tradition zu tun hatten, zwecks Abrundung der freimaurerischen
| |
− | Symbolik adoptiert.
| |
− | Zu diesen in Form, Inhalt und Herkunft zwar heterogenen, doch im Wesen übereinstimmenden
| |
− | Bilderwelten der Freimaurerei
| |
− | kamen als weitere ästhetische Elemente Sprache und
| |
− | dramatische Gestaltung der Rituale hinzu. Die Sprache der Rituale brachte nicht nur die
| |
− | moralischen Lehren der Freimaurer zum Ausdruck, sie folgte auch bestimmten
| |
− | Regeln
| |
− | des Sprechens und des dramatischen Ablaufs und war durch einen Sprachduktus
| |
− | und
| |
− | Sprachrhythmus bestimmt, der das Ritual wiederum in die Nähe der Musik rückte. Sicherlich
| |
− | ginge es zu weit, Nietzsche paraphrasierend von einer »Geburt der Freimaurerei aus
| |
− | dem Geiste der Musik« zu sprechen. Doch es gibt in den vielfältigen Erscheinungsformen
| |
− | des freimaurerischen Brauchtums keine Rituale – jedenfalls keine gelungenen Rituale – ohne
| |
− | Musikalität, insbesondere ohne Rhythmus, Rhythmus als einer archaischen Orientierungsund
| |
− | Ordnungsform des Menschen. »Rhythm is it«, diese Feststellung Sir Simon Rattles,
| |
− | die ja auch zum Titel eines faszinierenden Filmes über die Aufführung von Strawinskys »Le
| |
− | Sacre du Printemps« mit Berliner Schülern und den Berliner Philharmonikern
| |
− | geworden
| |
− | ist, bringt eine wichtige anthropologische Grundeinsicht treffend auf den Punkt.
| |
− | Hinzu kommt die für das Ritual kennzeichnende Stimmung der Feierlichkeit. Das Ritual
| |
− | hat nun nicht nur Rhythmus in Sprache und Drama, es erzeugt auch ein hohes Maß
| |
− | an Emotionalität.
| |
− | Dass die feierlichen Zusammenkünfte der Freimaurer durch Stimmungen
| |
− | geprägt waren, war nun wiederum ein weiteres Eingangstor der Musik. Bis heute gehört
| |
− | Musik zur Freimaurerei und trägt sehr wesentlich dazu bei, dass die »Königliche
| |
− | Kunst« in
| |
− | ihrer Gesamtheit
| |
− | in der Lage ist, neue Gemütslagen zu entdecken und seelische
| |
− | Bereiche
| |
− | konstruktiv zu erweitern. Musik generiert eine festlich gehobene, eine – dennoch!
| |
− | – optimistische
| |
− | Stimmung, eine Gefühlslage, die positive Empfindungen mit Ordnung und
| |
− | Maß verbindet und die hilft, jene »gesellige Vernunft« zu bewahren, die seit den Tagen
| |
− | der Aufklärung immer wieder kennzeichnend
| |
− | für die Kultur der Freimaurerei gewesen ist.
| |
− | Formen und Inhalte, Emotionalität und Rationalität, Esoterik und Exoterik, Symbole
| |
− | und Gedanken
| |
− | – dies alles bestimmte in unterschiedlichen Mischungen die Vielschichtigkeit
| |
− | der »Königlichen Kunst« und verlieh der Freimaurerei eine bis heute fortwirkende,
| |
− | gleichsam »gesamtkunstwerkliche« Struktur.
| |
− | Kunst und Künstler
| |
− | Die ästhetische Qualität der Freimaurerei, umhüllt von der Arkandisziplin der Logen, hat
| |
− | von Anfang an die künstlerische Phantasie gereizt. Dies gilt für Freimaurer wie Nichtfreimaurer
| |
− | und hat sehr stark mit dem Wechselspiel von Angriff und Apologie zu tun. Bildende
| |
− | Künstler und Literaten außerhalb der Logen attackierten und verspotteten den Bund, während
| |
− | ihn freimaurerische
| |
− | Künstler und Schriftsteller verherrlichten, lobten und verteidigten.
| |
− | Zahlreiche
| |
− | auf Loge und Freimaurerei fokussierte Essays, Romane und Theaterstücke erschienen
| |
− | insbesondere
| |
− | seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Teils ließen ihre Autoren
| |
− | der Phantasie freien Lauf, teils versuchten sie, Für und Wider sorgfältig abzuwägen. Doch
| |
− | 242
| |
− | wir erleben auch gegenwärtig eine Welle von Freimaurerromanen von Umberto Ecco bis
| |
− | Dan Brown, was als ein weiterer Beleg dafür gedeutet werden darf, dass spätes 18. Jahrhundert
| |
− | und Postmoderne mancherlei Gemeinsamkeiten entdecken lassen.
| |
− | Was die Mitgliedschaft in Freimaurerlogen betraf, so war sie von Anfang an für Künstler
| |
− | attraktiv. Es war nicht nur das erwähnte Wechselspiel der Formen und Ideen, welches sie
| |
− | reizte, weil es ihre Phantasie beflügelte. Es war sehr wesentlich auch der Umstand, dass
| |
− | die Sozialform »Loge« den Künstlern in einer durch Auflösung des barocken Standesgefüges
| |
− | unsicher
| |
− | gewordenen gesellschaftlichen Umwelt sozialen Halt vermittelte. Parallel
| |
− | zum Typus des freischaffenden Künstlers, wie er im 18. Jahrhundert aufkommt, entsteht
| |
− | die Sehnsucht nach einer neuen gesellschaftlichen Dazugehörigkeit, die auch Mozart in
| |
− | seine Wiener Loge führte. Das Bedürfnis nach standesübergreifender sozialer Integration
| |
− | rührte auch daher, dass Kunstschaffende
| |
− | und ausführende Künstler im 18. Jahrhundert
| |
− | in der Hierarchie der Stände noch ziemlich weit unten
| |
− | standen. Sie suchten menschliche
| |
− | Begegnung von gleich zu gleich, als »bloße Menschen« – so Lessings Formulierung –, »auf
| |
− | der Winkelwaage«, wie die Freimaurer in ihrer Symbolsprache
| |
− | sagen.
| |
− | Wie Mozart konnten sich viele andere Künstler und unter ihnen insbesondere Komponisten
| |
− | in der Loge heimisch fühlen, zumal die Geselligkeit der Freimaurerei im 18. und im
| |
− | 19. Jahrhundert
| |
− | viel mehr als in späteren Zeiten eine ausgesprochen »musikalische Geselligkeit
| |
− | « gewesen
| |
− | ist. Umgekehrt interessierten sich die Logen schon früh für die Künstler, die
| |
− | schöpferisch-gestaltenden
| |
− | ebenso wie für die ausführenden. Denn Geselligkeit und Ritual
| |
− | bedurften einer gekonnten
| |
− | Umsetzung des formgebenden und stimmungvermittelnden
| |
− | Faktors Kunst.
| |
− | Freimaurerische Musik
| |
− | Als freimaurerische Kultur voll entfalten konnten sich die Künste in den Logen allerdings
| |
− | erst, als diese – nach der Vorstufe adliger oder gar fürstlicher Tempel- und Gartenanlagen,
| |
− | beginnend in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts – über eigene Logenhäuser verfügten,
| |
− | die im weitesten
| |
− | Sinne, d.h. auch im Sinne von Lebens- und Geselligkeitskultur zu kulturellen
| |
− | Zentren wurden. Die bildenden Künstler konnten nun über Symboldarstellungen für
| |
− | Schurze und Arbeitsteppiche
| |
− | hinausgehen. Es entstanden großformatige Bilder, Reliefs und
| |
− | Ausmalungen
| |
− | von Tempel- und Gesellschaftsräumen. Es entwickelte sich eine spezifische
| |
− | Innen- und Außenarchitektur
| |
− | der Logenhäuser, die einerseits die Stile der Zeit aufnahm
| |
− | (insbesondere
| |
− | Klassizismus,
| |
− | Gründer- und Jugendstil), diese Stile andererseits jedoch durch
| |
− | bildhafte und skulpturale Elemente der freimaurerischen Symbolik anreicherten. Gelegentlich
| |
− | übertrugen
| |
− | Freimaurer im Architektenberuf auch freimaurerische Ideen und Symbole
| |
− | auf die von ihnen gestalteten Profanbauten. Dies lässt sich etwa an dem vom Leipziger Freimaurer
| |
− | Clemens
| |
− | Thieme gestalteten Völkerschlachtdenkmal aufzeigen, wenn auch die These,
| |
− | Thieme habe den Denkmalsbau geradezu als freimaurerischen Tempel gestalten wollen,
| |
− | über das Ziel hinausschießt.
| |
− | Auch die freimaurerische Musik profitierte vom großzügigen Raumangebot der
| |
− | Logenhäuser.
| |
− | Die Musiker freuten sich über die zunehmenden Möglichkeiten der größer
| |
− | und wohlhabender
| |
− | werdenden Logen, Instrumente anzuschaffen und zu installieren, insbesondere
| |
− | Orgeln und hochwertige Klaviere bzw. Flügel. Auf diesen konnten dann gele243
| |
− | gentlich auch europaweit
| |
− | berühmte Freimaurer-Virtuosen wie Franz Liszt ihre Fähigkeiten
| |
− | beweisen.
| |
− | Früh schon wurde in den Logen musiziert und gesungen, zuerst beim heiteren Beisammensein
| |
− | nach der rituellen Arbeit, später – vor allem seit der zweiten Hälfte des 18.
| |
− | Jahrhunderts – auch im Ritual. Die Lieder bei der Tafel waren zunächst oft freimaurerisch
| |
− | adaptierte Volkslieder, teilweise sogar ausgesprochene Gassenhauer. Zeitgenössischen Zeugnissen
| |
− | zufolge waren die frühen Freimaurer durchaus lustige Brüder, Männer, die schon
| |
− | einmal über die Stränge schlugen, wie etwa der Maler und Kupferstecher William Hogart
| |
− | – selbst Freimaurer – auf seinem Stich »Nacht« aus dem bekannten Tageszeitenzyklus
| |
− | zeigt, wo eine empörte Bürgerin über dem lärmend nach Hause schwanken Freimaurer
| |
− | gar das Nachtgeschirr entlädt. Schon der Autor der Konstitutionsurkunde der englischen
| |
− | Freimaurer – der sogenannten »Alten Pflichten« aus dem Jahre 1723 – fühlte sich daher zu
| |
− | Ermahnungen veranlaßt. Im Abschnitt »Vom Betragen, wenn die Loge vorüber ist, die Brüder
| |
− | aber noch nicht auseinander gegangen sind« findet sich das folgende Monitum:2 »Ihr
| |
− | mögt Euch in unschuldiger Lust ergötzen und Euch einander nach Kräften bewirten. Ihr
| |
− | müßt aber jede Ausschweifung vermeiden und keinen Bruder zwingen, über seine Neigung
| |
− | zu essen und zu trinken, oder ihn am Weggehen hindern, wenn ihn seine Angelegenheiten
| |
− | abrufen«, und in einem um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert entstandenen Berliner
| |
− | Freimaurerlied wird die Tugend der Zurückhaltung gar besungen:3
| |
− | »Tobend schwärmen, taumelnd lärmen
| |
− | darf der Maurer nicht;
| |
− | sich mit Anstand freuen, Lasterfeste scheuen
| |
− | ist des Maurers Pflicht.«
| |
− | Freimaurerei als alternative Geselligkeit zur bisher dominierenden höfischen Festkultur
| |
− | musste offensichtlich erst ihre Formen und Regeln finden, was dann vor allem mit den
| |
− | Tafellogen-Ritualen geschah, die seit Mitte des 18. Jahrhunderts in Frankreich entstanden
| |
− | und bald nach Deutschland übernommen wurden. Tafellogen schließen sich gewöhnlich
| |
− | an Aufnahmearbeiten an oder werden an besonderen Festtagen der Loge (Johannisfest, Stiftungsfest,
| |
− | Logenjubiläum) abgehalten.4 Bis in das frühe 20. Jahrhundert hinein waren sie
| |
− | von maurerischer Musik, Instrumentalkunst oder Chorgesang der Loge begleitet, weshalb
| |
− | die Tafelmusik oft sehr reichhaltig war. Für die große Rolle der Musik bereits vor der Tafellogenzeit
| |
− | mag ein Bericht über das Johannisfest der Bayreuther Loge »Zur Sonne« im Jahre
| |
− | 1753 zeugen, in dem es heißt: »Daraufhin brachte man eine Reihe weiterer ›Gesundheiten‹
| |
− | aus, allesamt begleitet von Kanonendonner und vom Schein der Feuerwerkskörper und unterbrochen
| |
− | nur von Freimaurerliedern und den Takten der Hofkapelle.«5 Was das Verhältnis
| |
− | 2 Text in Lennhoff, Eugen/Posner, Oskar: Internationales Freimaurerlexikon, Wien/München 1932, S. 19.
| |
− | 3 Maurice, Florian: Freimaurerei um 1800. Ignaz Aurelius Feßler und die Reform der Großloge Royal York
| |
− | in Berlin, Tübingen 1997, S. 268.
| |
− | 4 Lennhoff, Eugen/Posner, Oskar: Internationales Freimaurerlexikon, a.a.O., Spalte 1552f.
| |
− | 5 Schindler, Norbert: Freimaurerkultur im 18. Jahrhundert. Zur sozialen Funktion des Geheimnisses in
| |
− | der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft, in: Berdahl/Lüdtke/Medick/Poni/Reddy/Sabean/Schindler/
| |
− | Sider: Klassen und Kultur. Sozialanthropologische Perspektiven in der Geschichtsschreibung, Frankfurt
| |
− | am Main 1982, S. 213ff.
| |
− | 244
| |
− | zwischen Loge und Hof betrifft, so fand – wie Norbert Schindler herausgearbeitet hat – offenbar
| |
− | im Ringen um neue Formen der Geselligkeit »hinter den Kulissen wohlabgewogener
| |
− | festlicher Harmonie … ein Machtkampf um symbolische Positionen statt, in dem die Freimaurerloge
| |
− | die Mittel der traditionellen Kultur aufgreift, um sie gegen diese einzusetzen«.6
| |
− | Doch die Freimaurer waren nicht nur heiter und gesellig, sie waren auch ernsthaft und
| |
− | besinnlich, und dieser Wesenszug hat sich gleichfalls in der freimaurerischen Musik niedergeschlagen.
| |
− | Zunächst wurden Kirchenliedern oder Huldigungshymnen freimaurerische
| |
− | Texte unterlegt. Die englischen Brüder Freimaurer sangen beispielsweise nach der Melodie
| |
− | von »God save the King« den Text »Hail masonry divine«.7 Nachdem die Musik zu einem
| |
− | festen Bestandteil auch der freimaurerischen Rituale geworden war, stieg die Zahl der Kompositionen
| |
− | für den Logengebrauch stark an.
| |
− | Freimaurerische Musik musste produziert und aufgeführt werden, und so regte sich schon
| |
− | bald nach dem Entstehen der modernen Freimaurerei durch die Gründung der Londoner
| |
− | Großloge im Jahre 1717 das Interesse der Logen, Musiker in ihre Reihen aufzunehmen. Es
| |
− | entstand die Kategorie der »Musikalischen Brüder«, die sich für Komposition, Arrangement
| |
− | und Ausführung von Ritual- und Tafelmusiken zur Verfügung stellten und in einzelnen Logen
| |
− | einem eigenen Musikmeister unterstanden, der wiederum dem Vorstand der Loge, dem
| |
− | sogenannten »Beamtenrat« angehörte. Vielerorts gab es Chorsänger und Instrumentalisten
| |
− | in den Logen, zahlreiche Logen verfügten zumindest über Pianisten und Streichquartette, zu
| |
− | Beginn des 20. Jahrhunderts erfreute sich das Bläserquartett Dresdner Freimaurer nachgerade
| |
− | überregionaler Berühmtheit, und bis in die Gegenwart hinein gehören bekannte Opernsänger
| |
− | zu den musikalischen Brüdern. Die Logen veranstalteten auch Konzerte für das allgemeine
| |
− | Publikum und trugen auf diese Weise oft wesentlich zum Kulturleben der Städte bei. Die
| |
− | erste Mitteilung über die Aufnahme eines Musikers findet sich übrigens in den Protokollen
| |
− | der »Witham Lodge« im englischen Lincoln bereits am 2. Januar 1732, wo es heißt:8 »Br.
| |
− | Every empfiehlt Mr. Stephan Harrison aus London, Musikmeister, als geeignetes Mitglied
| |
− | und erklärt sich bereit, eine Guinee zu den Aufnahmekosten beizutragen … Im Hinblick
| |
− | darauf, daß Mr. Harrison der Loge von Nutzen sein und zur Unterhaltung beitragen werde,
| |
− | beschließt die Loge, die Aufnahme für 3 Pfund, 13 Schilling, 6 Pence vorzunehmen.«
| |
− | Ihren Gipfel erreichte die freimaurerische Musik zweifellos durch Mozart, der neben
| |
− | der Zauberflöte
| |
− | und dem instrumentalen Höhepunkt seiner »Maurerischen Trauermusik
| |
− | « eine Reihe von Einzelgesängen und Kantaten für seine Wiener Loge komponierte.
| |
− | »Laut verkünde unsre Freude froher Instrumentenschall, jedes Bruders Herz empfinde dieser
| |
− | Mauern Widerhall
| |
− | «, dieses Textbeispiel aus der »Kleinen Freimaurer-Kantate« bezeugt
| |
− | Ethik und Stimmung der Freimaurerei ebenso wie die Schlussstrophe des »Maurergesangs«,
| |
− | der zum Ende der Loge gesungen wurde und in deren zweiter Strophe es heißt: 9
| |
− | »Tugend und die Menschheit ehren,
| |
− | sich und andren Liebe lehren,
| |
− | sei uns stets die erste Pflicht.
| |
− | 6 Ebenda.
| |
− | 7 Lennhoff, Eugen/Posner, Oskar: Internationales Freimaurerlexikon, a.a.O., Spalte 1077.
| |
− | 8 Ebenda, Spalte 1078f.
| |
− | 9 Die Texte zu Mozarts Freimaurermusik sind veröffentlicht in: Strebel, Harald: Der Freimaurer Wolfgang
| |
− | Amadé Mozart, Stäfa (Schweiz) 1991, S. 160ff.
| |
− | 245
| |
− | Dann strömt nicht allein im Osten,
| |
− | dann strömt nicht allein im Westen,
| |
− | auch im Süd und Norden Licht.«
| |
− | Es ist eine helle, lichte Stimmung, die hier vermittelt wird: Die Welt ist gut, der Mensch ist
| |
− | gut, vom Plan der Schöpfung her zumindest, und wenn er an sich arbeitet, wenn er den rauhen
| |
− | Stein seiner Persönlichkeit formt, dann kann der Bau einer besseren Welt gelingen, und
| |
− | zwar weltweit als Ausdruck einer globalen Hoffnung, denn – so endet die letzte Strophe:
| |
− | »Es umschlinge diese Kette,
| |
− | so wie diese heil’ge Stätte,
| |
− | auch den ganzen Erdenball.«
| |
− | Diese Worte sind Widerspiegelungen freimaurerischer Ideen, doch gleichzeitig auch Ausdruck
| |
− | von Stimmungen: Von »Freude« ist die Rede und vom »Herz des Bruders«, das zuerst
| |
− | da ist und danach erst die Zunge reden lässt.
| |
− | Stimmung10 ist nun – insbesondere Martin Heidegger hat nachdrücklich darauf verwiesen
| |
− | – eine sehr ursprüngliche Seinsart des Menschen. Die emotionale Befindlichkeit des
| |
− | Menschen, seine Stimmung eben, erschließt die Welt noch vor dem theoretischen Verstehen.
| |
− | Stimmungen
| |
− | eröffnen Sinnzusammenhänge und vermitteln Impulse zum Handeln.
| |
− | Insbesondere der Tübinger Philosoph und Pädagoge Otto Friedrich Bollnow (aufgrund
| |
− | eines Vorschlags aus der Kölner Loge »Ver Sacrum« Träger des Literaturpreises deutscher
| |
− | Freimaurer) hat dabei die Bedeutung gehobener
| |
− | Stimmungen wie Glück, Freude, »Festigkeit
| |
− | des eignen Selbst«, Überzeugungsgewissheit,
| |
− | Verbundenheit mit anderen Menschen,
| |
− | Getragensein, Geborgenheit und Vertrauen für die psychische, geistige und moralische
| |
− | Entwicklung des Menschen eindrucksvoll
| |
− | hervorgehoben,
| |
− | vor allem in seiner durchaus für
| |
− | die Freimaurerei heutzutage wiederzuentdeckenden Schrift »Das Wesen der Stimmungen«.11
| |
− | Das Erzeugen solch guter, gehobener Stimmungen ist nun auch ein ganz zentrales
| |
− | inneres Form- und Gestaltungsprinzip der Freimaurerei. Das Herstellen von Stimmungen
| |
− | durch den Zusammenklang von Worten, symbolischen Handlungen, Bildern und Musik ist
| |
− | wohl das wichtigste pädagogische Medium der Freimaurerei bis in die Gegenwart hinein.
| |
− | Freimaurerei
| |
− | bedeutet auch heute sehr wesentlich die Einladung, sich besser zu fühlen, um
| |
− | die Möglichkeit
| |
− | zu erfahren, besser zu werden.
| |
− | Kunst und Lebenskunst
| |
− | Freimaurerei als »Königliche Kunst« war aber nicht nur ein Sammelbecken der Künste und
| |
− | der Künstler. Sie verstand sich von Anfang an auch als Lebenskunst. Die Schönheit, von
| |
− | der das Ritual als einer Säule des Tempels spricht, war nicht nur eine ästhetische, sondern
| |
− | auch eine moralische Kategorie. Der Tempel der Humanität, an dem die Freimaurer bauen,
| |
− | 10 Vgl. Stichwort »Stimmung« in, Brockhaus Enzyklopädie, 18. Band, Wiesbaden 1973, S. 145f., sowie die
| |
− | dort angegebene Literatur.
| |
− | 11 Bollnow, Otto Friedrich: Das Wesen der Stimmungen, 2., durchgesehene und erweiterte Auflage, Frankfurt
| |
− | am Main 1943.
| |
− | 246
| |
− | ist Symbol für ein menschliches Verhalten, das – gewiss – von Weisheit geleitet und durch
| |
− | Stärke vollbracht werden soll, das sich aber erst in Schönheit vollendet. Die Tugenden
| |
− | eines guten Lebens galt und gilt es im Tempel einzuüben, und so waren Bilderwelt, Sprachduktus
| |
− | und Musik der Rituale nicht ästhetischer Selbstzweck, sie waren auch kein bloßes
| |
− | Nebeneinander
| |
− | verschiedener Künste, sie bildeten und bilden in ihrer Gesamtheit vielmehr
| |
− | Einübungsstätte
| |
− | und Einübungsmilieu für ein tugendvolles Verhalten, in dem ethisch orientiertes
| |
− | Denken
| |
− | und moralisches Handeln zusammengeführt werden.
| |
− | Arbeit an der »Säule der Schönheit«
| |
− | Freilich ist die ästhetische
| |
− | Dimension der Freimaurerei in den letzten Jahrzehnten der freimaurerischen
| |
− | Geschichte in starkem Maße verschüttet gewesen. Oft fehlte es an Verständnis
| |
− | dafür, an geeigneten Künstlern und an materiellen Möglichkeiten. Doch inzwischen ist die
| |
− | »ästhetische Dimension der Freimaurerei« zumindest in Teilen unseres Bundes wiederentdeckt
| |
− | worden, teils aufgrund wachsender Einsicht, dass diese Dimension für die Praxis der
| |
− | Freimaurerei von großer Bedeutung ist, teils wegen neuer Paradigmen der freimaurerischen
| |
− | Forschung.
| |
− | Ein paar abschließende Bemerkungen hierzu:
| |
− | Die insbesondere auf den Bielefelder Historiker Reinhart Koselleck zurückzuführende Renaissance
| |
− | der wissenschaftlichen Freimaurerforschung nach dem Zweiten Weltkrieg hat den
| |
− | ästhetischen Bereich weitgehend
| |
− | ausgespart. Für Koselleck und viele Forscher, die ihm folgten,
| |
− | ging es um das »Politikum
| |
− | Freimaurerei« im 18. Jahrhundert, um Wesen und Bedeutung
| |
− | des vom Geheimnis geschützten
| |
− | »moralischen« Innenraums der Logen in einem spätabsolutistischen
| |
− | politischen Umfeld, in dem »die Freiheit im Geheimen« zum »Geheimnis der Freiheit
| |
− | « werden konnte (Koselleck). Dies war und ist eine wichtige, aber eben nur eine partielle
| |
− | Möglichkeit der Betrachtung. Die Entdeckung von Bilderwelt und Ritualen, die Betonung
| |
− | der Esoterik, der sich die Ästhetik der Freimaurerei sehr wesentlich verdankt, als einem legitimen
| |
− | Bestandteil der freimaurerischen Forschung ist insbesondere der Hallenser Geschichtsprofessorin
| |
− | Monika Neugebauer-Wölk zu verdanken. Vor allem im Anschluss an ihre Forschung
| |
− | sowie die Arbeiten ihrer Mitarbeiter erscheint es nun sehr lohnend, den Gesamtbereich
| |
− | der freimaurerischen Ästhetik verstärkt in die freimaurerische Forschung einzubeziehen.
| |
− | Dem kommt entgegen, dass es inzwischen auch eine sich erfolgreich entwickelnde
| |
− | internationale
| |
− | Ritualforschung gibt, in der auch die Freimaurerei
| |
− | mit ihren Symbolen und
| |
− | Ritualen eine größere Rolle spielt.
| |
− | Was die Praxis betrifft, so belegen
| |
− | viele Beispiele aus der Gegenwartsästhetik der Freimaurerei,
| |
− | vor allem was die Innenarchitektur
| |
− | der Logentempel und die musikalische Praxis
| |
− | der rituellen Arbeiten betrifft, zunächst
| |
− | bedauerliche Niveauverluste. Andererseits bezeugen
| |
− | die musische Neuorientierung zahlreicher Logen und nicht zuletzt die vielen Künstler,
| |
− | die sich in der freimaurerischen Künstlervereinigung »Pegasus« als einem herausragenden
| |
− | Forum gestalterisch-kreativer Freimaurerei zusammengeschlossen haben (darunter so bekannte
| |
− | wie der Maler und Bildhauer Otmar Alt) eine nachhaltige Wiederentdeckung
| |
− | der
| |
− | ästhetischen Dimension
| |
− | der Freimaurerei, und es spricht vieles für die These, dass es gerade
| |
− | 247
| |
− | diese Besinnung auf ihre ureigenen kulturellen Traditionen ist, was die Freimaurerei in der
| |
− | postmodernen Gesellschaft
| |
− | des 21. Jahrhunderts mit ihrer »neuen Unübersichtlichkeit«
| |
− | (Jürgen Habermas) unterscheidbar
| |
− | sowie lebens- und entwicklungsfähig bleiben lässt.
| |
− | Wenn dies aber so ist, so stellen sich Fragen, die ein Bemühen um Antworten lohnend erscheinen
| |
− | lassen:
| |
− | • Wie können Freimaurer und Freimaurerinnen, Großlogen und Logen heute den Ansprüchen
| |
− | ihres eigenen ästhetischen
| |
− | Erbes genügen? Welche Aufgaben für die bildenden
| |
− | Künste, die Musik und die Verhaltenskultur
| |
− | stellen sich ihnen?
| |
− | • Entspricht die heutige Mitgliederstruktur der Freimaurerei überhaupt den Anforderungen,
| |
− | Kunst in den Logen stimmig zu praktizieren? Und welche Anforderungen sind
| |
− | hier für das Gewinnen neuer Mitglieder erkennbar?
| |
− | • Wo sind Beispiele für erfolgreiche Versuche, Freimaurerei als »Gesamtkunstwerk« inklu-
| |
− | sive
| |
− | ihrer ästhetischen Dimension wirksam lebendig zu halten? Und wie lassen sich die
| |
− | Beispiele
| |
− | verallgemeinern?
| |
− | • Was kann im Hinblick auf die ästhetische Dimension der Freimaurerei von den Logen
| |
− | der Freimaurerinnen gelernt werden? Welche Möglichkeiten und welchen Gewinn lässt
| |
− | ein Ausbau
| |
− | der Kooperation zwischen Männer- und Frauenlogen im »Konzeptions- und
| |
− | Handlungsfeld
| |
− | Ästhetik« erwarten?
| |
− | Darum noch einmal: Drei Säulen hat der Tempel. Schönheit gehört dazu. Als Grundelement
| |
− | der Freimaurerei, nicht als Dekor. Freimaurerinnen und Freimaurer sollten gemeinsam
| |
− | daran arbeiten, dem »Konzeptions- und Handlungsbereich Ästhetik« die ebenso berechtigte
| |
− | wie erforderliche Bedeutung zuteil werden zu lassen.
| |
− | 248
| |
− | Begleiter der Zeit: Engagement und Reflexion
| |
− | 1971–2010
| |
− | In den zweiten Teil des Bandes habe ich eine Reihe von Texten aufgenommen, die während
| |
− | meiner Zeit als Meister vom Stuhl der Loge Ver Sacrum, Großredner und Redner der Großloge
| |
− | A.F.u.A.M., zug. A.F.u.A.M.-Großmeister, Senatsmitglied der VGLvD und Vorsitzender
| |
− | der Freimaurerischen Forschungsgesellschaft »Quatuor Coronati« entstanden sind. Sie sollen
| |
− | einmal zeigen, wie sich die Entwicklung der Zeit in meiner Wahrnehmung gespiegelt hat,
| |
− | wie ich die Probleme der Freimaurerei jener Jahre perzipiert habe und welches meine Überlegungen
| |
− | hinsichtlich der Entwicklungsperspektiven und Handlungsoptionen der Freimaurerei
| |
− | in Deutschland gewesen sind. Sie dokumentieren auch die Entwicklung meiner persönlichen
| |
− | Sichtweisen im Hinblick auf den Bund. Dabei zeigen sich Akzentverschiebungen und
| |
− | Kontinuitäten, die letztlich auf die Überzeugung hinauslaufen, dass Freimaurerei als ethisch
| |
− | orientierter Freundschaftsbund mit einer symbolisch-rituellen Lehr- und Erfahrungsmethode
| |
− | nicht nur eine bedeutende Vergangenheit, sondern auch eine hoffnungsvolle Zukunft besitzt,
| |
− | wenn sie es versteht, ein klares Konzept mit einer menschlich überzeugenden freimaurerischen
| |
− | Praxis zu verbinden.
| |
− | Die Beiträge sind unverändert und lediglich orthographisch überprüft. Ihre Authentizität
| |
− | ist freilich mit dem Nachteil gelegentlicher Wiederholungen verbunden, wenn auch
| |
− | bekannte Standpunkte oft neu und anders akzentuiert und in veränderte Kontexte eingeordnet
| |
− | sind. Die Texte bedürfen keiner weiteren Einführung. Nur den beiden ersten
| |
− | Beiträgen möchte ich einige Anmerkungen vorausschicken. Sie stammen beide aus dem
| |
− | Jahre 1971 und waren – gleichsam als »68er Spuren« – als Beiträge zu der damals immer
| |
− | intensiver werdenden freimaurerischen Reformdiskussion gedacht, die vor allem in der
| |
− | Großloge A.F.u.A.M. stattfand, für die aber auch Foren in den Vereinigten Großlogen
| |
− | von Deutschland zur Verfügung standen. Mit diesen Beiträgen sollte ein Versuch gemacht
| |
− | werden, einen Ausweg aus den damals bereits deutlich erkennbaren Stagnationstendenzen
| |
− | des Freimaurerbundes aufzuzeigen. Heute würde ich die Akzente anders setzen: Einmal ist
| |
− | die rituelle Komponente der Freimaurerei für mich im Laufe der Zeit wichtiger geworden,
| |
− | und ich bin mittlerweile mehr an einem plausiblen »Gesamtkonzept von Freimaurerei«
| |
− | interessiert, das gleichermaßen Geselligkeit, ethischen Diskurs und Ritual als feste, in dieser
| |
− | Form nur in der Freimaurerei anzutreffende Gesamtheit einbezieht. Zum anderen sehe ich
| |
− | die Grenzen klarer, die einem öffentlichen Engagement des Bundes entgegenstehen. Meine
| |
− | jetzige Position hierzu ist in zahlreichen Beiträgen zu diesem Band dargelegt.
| |
− | Weil ich jedoch meine, dass meine Beiträge von 1971 recht gut die Grenzen bezeichnen,
| |
− | bis an die humanitären Konzepte der Freimaurerei heranreichen können, habe ich
| |
− | sie in diese Sammlung aufgenommen – und auch, weil ich ein bisschen stolz darauf bin,
| |
− | die Gemüter der Brüder Freimaurer mit Gedanken in Wallung versetzt zu haben, die trotz
| |
− | inzwischen eingekehrter Skepsis aus meiner Sicht auch heute noch einiges an Klarheit und
| |
− | Konsequenz für sich haben. Es wäre spannend für mich zu erfahren, wie die gegenwärtige
| |
− | Generation der unter 40-jährigen Freimaurer die Stichhaltigkeit oder Abwegigkeit von »Thesen
| |
− | « und »Plädoyer« beurteilt.
| |
− | 249
| |
− | Vier Thesen zur Erneuerung der
| |
− | Freimaurerei (1971)1
| |
− | Ausgangsbasis für eine Erneuerung der Freimaurerei muss die Konkretisierung ihrer Wertpositionen
| |
− | sein. Reformen unseres Bundes sind ebenso wie seine Einordnung in die Gesellschaft
| |
− | nur möglich, wenn die Bezugspunkte für Reform und soziale Aktivität deutlich gemacht
| |
− | und vom Konsens der Freimaurer bestätigt werden. Die Notwendigkeit klarer geistiger
| |
− | Profilierung ist mir auch in Gesprächen mit vielen interessierten und urteilsfähigen Außenstehenden
| |
− | deutlich geworden, die mit Recht auf den unbestimmten, verschwommenen, leerformelhaften
| |
− | Charakter der hergebrachten freimaurerischen Wertvorstellungen hinweisen.
| |
− | Hierauf bezieht sich die erste These:
| |
− | Die Freimaurerei muss die Unverbindlichkeit und Verschwommenheit ihrer hergebrachten
| |
− | Wertvorstellungen überwinden und sich sowohl geistig als auch in ihrer gesellschaftlichen
| |
− | Aktivität als humanitäre, soziale, demokratisch-pluralistische und antiideologische
| |
− | Kraft profilieren.
| |
− | Es bedarf, um es anders zu formulieren, einer – weit präziser als bisher formulierten –
| |
− | sozialethischen
| |
− | Fundierung der Freimaurerei, die ihre traditionelle individual-ethische Haltung
| |
− | zugleich ergänzt und überwindet. Um einem möglichen Missverständnis gleich entgegenzutreten:
| |
− | Es wird kein verbindliches weltanschauliches System oder gar eine einheitliche
| |
− | Ideologie angestrebt. Dies verbietet das Wesen der Freimaurerei, und es wäre erfreulich, wenn
| |
− | sich diese Einsicht überall durchsetzte. Die Absage an eine freimaurerische Einheitsideologie
| |
− | bedeutet aber nicht den Verzicht auf ein klares Artikulieren jener auf das Verhältnis von
| |
− | Mensch und Gesellschaft bezogenen sozialethischen Gemeinsamkeiten, in denen wir übereinstimmen,
| |
− | weil wir Freimaurer sind oder (normativ) in denen die übereinstimmen sollten, die
| |
− | eine bestimmte Form der Freimaurerei, die demokratisch-humanitäre, als die ihnen gemäße
| |
− | Form der Freimaurerei verstehen. Dieses geistige Gut soll in seiner formalen Struktur mit dem
| |
− | in Fribourg/Schweiz lehrenden Philosophen Josef M. Bochenski, der diese Gedanken allerdings
| |
− | in einem anderen Zusammenhang entwickelt hat, folgendermaßen beschrieben werden:
| |
− | • Es muss sich aus einigen wenigen, aber grundlegenden sozialethischen Positionen zusammensetzen,
| |
− | die weder ein weltanschauliches System noch eine Ideologie darstellen;
| |
− | • diese sozialethischen Positionen müssen uneingeschränkt und unbedingt gelten, d.h. verbindlich
| |
− | sein für das Handeln der sich dazu bekennenden Freimaurer;
| |
− | • die sozialethischen Positionen müssen positiv sein, d.h. nicht als Negationen anderer
| |
− | Wertungen in Erscheinung treten;
| |
− | • die sozialethischen Positionen müssen den verschiedenen Weltanschauungen und Glaubensüberzeugungen
| |
− | der einzelnen Freimaurer gemeinsam sein.
| |
− | Die Aufgabe, die sich nun stellt, ist eine dreifache: einmal gilt es, die erwähnten sozialethischen
| |
− | Positionen aufzufinden, zweitens kommt es darauf an, sie in Diskussionen durch
| |
− | 1 Dieser Beitrag wurde ursprünglich veröffentlicht in: Die Bruderschaft, Heft 1, 1971, S. 3–6.
| |
− | 250
| |
− | Konfrontation mit der Wirklichkeit zu konkretisieren, und drittens gilt es, reformerisch
| |
− | nach ihnen in und außerhalb der Freimaurerei zu verfahren.
| |
− | Die nachfolgend – ebenfalls im Anschluss an J. M. Bochenski – vorgeschlagene Klassifizierung
| |
− | ist nur arbeitshypothetisch zu verstehen. Es handelt sich lediglich darum, Positionen
| |
− | freimaurerischen Wertverständnisses für die Zwecke der weiteren Diskussion zu
| |
− | umreißen. Hierzu dienen auch die Erläuterungen der einzelnen Begriffe.
| |
− | Ich hatte in der ersten These Freimaurerei als humanitäre, soziale, demokratisch-pluralistische
| |
− | und anti-ideologische Kraft umrissen. Über diese Wertpositionen sollte unter Freimaurern
| |
− | Einverständnis bestehen. Die vorläufigen näheren Bestimmungen wären ebenfalls
| |
− | in der Diskussion zu überprüfen:
| |
− | • Humanitär: Die möglichst freie Entfaltung und Selbstverwirklichung des Menschen in
| |
− | der gesellschaftlichen Wirklichkeit von heute ist der höchste freimaurerische Wert und
| |
− | steht folglich
| |
− | im Zentrum freimaurerischer Bemühungen. Da Selbstverwirklichung des
| |
− | Menschen nur in der Gesellschaft erfolgen kann, muss »Arbeit am rauhen Stein« sowohl
| |
− | Selbsterziehung des Einzelnen sein als auch Einsatz dafür sein, dass angesichts konkreter
| |
− | gesellschaftlicher Kräfte Selbstverwirklichung des Menschen möglich wird. Der bei uns
| |
− | vielfach heimische »ethische Narzissmus« der Selbstveredler muss somit durch eine soziale
| |
− | Orientierung des Humanitätsbegriffes überwunden werden. Die geforderte »Öffnung
| |
− | zur Gesellschaft« gehört zum Wesen einer konsequent verstandenen Freimaurerei.
| |
− | • Sozial: Jedem Menschen kommen unveräußerliche Grundrechte zu. Im Hinblick auf diese
| |
− | Grundrechte sind die Menschen gleich. Missbrauch geistiger, politischer und ökonomischer
| |
− | Macht zur Unterdrückung von Minderheiten ist unzulässig. Es gibt für den Freimaurer
| |
− | keine »besseren« sozialen Klassen, Rassen und Religionen (oder doch?). Niemand
| |
− | darf wegen seiner Klassen- und Rassenzugehörigkeit sowie aufgrund seines weltanschaulich-
| |
− | religiösen Bekenntnisses (und sei dieses ein humanitär-atheistisches) am Eintritt in
| |
− | Freimaurerlogen gehindert werden. Soziale Gerechtigkeit gehört zu den Hauptzielen des
| |
− | Freimaurers.
| |
− | • Demokratisch-pluralistisch: Zum Schutz vor unfreiheitlichen Herrschaftsverfassungen
| |
− | bekennt sich der Freimaurer zur demokratisch-pluralistischen Ordnung. Demokratie soll
| |
− | Mitwirkung an der politischen Willensbildung und Kontrolle des politischen Prozesses sichern.
| |
− | Die pluralistische
| |
− | Gesellschaftsverfassung soll vor Machtkonzentration in den Händen
| |
− | weniger und damit vor physischem Zwang sowie psychischer Manipulation schützen.
| |
− | Dabei muss durch umfassende Demokratisierung dafür Sorge getragen werden, dass Pluralismus
| |
− | nicht zu einer ungerechte Machtverhältnisse konservierenden Institution wird.
| |
− | • Anti-ideologisch: Die Tatsachen unserer Welt sind mit den Methoden der empirischen
| |
− | Wissenschaften festzustellen und zu erklären. Vorwissenschaftliche Autoritäten sind als
| |
− | Mittel zur Erkenntnis und rationalen Kommunikation nicht brauchbar.
| |
− | Wie bereits angedeutet, darf es mit der Entwicklung der aufgezeigten, durch explizite Formulierungen
| |
− | aus der traditionellen Wertverschwommenheit herausführenden sozialethischen
| |
− | Positionen nicht sein Bewenden haben. Der nächste Schritt muss zu einer kritischen
| |
− | Reflexion von Freimaurerei und Umwelt führen, um erstens die sozialethischen Postulate
| |
− | durch Konfrontation mit der Wirklichkeit zu konkretisieren und zweitens Entwürfe für Reformen
| |
− | zu erarbeiten.
| |
− | 251
| |
− | Hierzu die zweite These:
| |
− | Die Freimaurerei muss bereit sein, ihre eigene soziale Wirklichkeit wie die ihrer gesellschaftlichen
| |
− | Umwelt im Hinblick auf eine Übereinstimmung mit ihren sozialethischen
| |
− | Positionen stets aufs Neue kritisch zu reflektieren.
| |
− | Dieser Prozess der geistigen Auseinandersetzung ist in manchen Logen und vor allem auch
| |
− | durch die »Collegia Masonica« der Großen Landesloge A.F.u.A.M. bereits in Gang gekommen.
| |
− | Oft aber sind die Arbeitskalender der Bauhütten noch schlechte Imitationen von Volkshochschulen.
| |
− | Auch ist die Beschäftigung mit der sozialen Umwelt vielfach noch zu willkürlich,
| |
− | weil in kein begründetes Gesamtkonzept eingeordnet. Ein solches Konzept ist aber –
| |
− | eine Erfahrung, die ich oft gemacht habe – gerade dann notwendig, wenn man geistige Arbeit
| |
− | der Loge unter Hinzuziehung von intelligenten und kritischen Gästen durchführt. Genau
| |
− | dieses aber sollte im Interesse der eigenen geistigen Lebendigkeit dringend erwünscht sein.
| |
− | Wir könnten uns manchen geistigen Schlendrian nicht mehr leisten, würden wir uns mehr
| |
− | dem Gespräch mit kritischen Außenstehenden stellen. Das, was im Bruderkreise als liebgewordene,
| |
− | wenn auch nicht gerade originelle Vorstellung durchgeht, enthüllt sich angesichts
| |
− | einer kritischen Öffentlichkeit nur allzu schnell als hohle Phrase. Deshalb habe ich auch
| |
− | – leider bisher ohne Erfolg – auf dem Würzburger Großlogentag (1969) vorgeschlagen, im
| |
− | Rahmen der »Loge 67« den Dialog mit der Fachwissenschaft herzustellen und institutionell
| |
− | zu verankern. Eins jedoch sollte endlich klar sein: Die Freimaurer können in ihrer Loge, sofern
| |
− | es um Freiheit und Würde des Menschen als Inbegriffen freimaurerischer Humanitas
| |
− | gehen soll, nicht an den gesellschaftlichen
| |
− | und politischen Bedingungen
| |
− | einer freiheitlichen
| |
− | und würdigen menschlichen Existenz vorbeisehen. Daher gehört die in kritischer Radikalität
| |
− | durchgeführte Reflexion von Gesellschaft und Politik zum Wesen humanitärer Freimaurerei.
| |
− | Ein – vorläufig – Letztes zur »kritischen
| |
− | Reflexion«: Die Landesgroßlogentage und die
| |
− | Konvente müssen – dafür ist es längst »Hochmittag« – endlich zu Foren geistiger Auseinandersetzung
| |
− | werden. Namentlich die Konvente erinnern gegenwärtig immer noch mehr an
| |
− | die Hofhaltung konstitutioneller Monarchen als an Hauptversammlungen eines ethischen
| |
− | Bundes. Weitaus mehr Dialog – nach Möglichkeit unter Einschluss profilierter Außenstehender
| |
− | – und weitaus weniger Selbstdarstellung der »Würdenträger
| |
− | «: So wünschte man sich
| |
− | hier die Entwicklung.
| |
− | Kritische Reflexion muss nun auf zwei Ebenen in reformerisches Handeln umgesetzt
| |
− | werden.
| |
− | Zunächst bedarf unser Bund selbst dringend so mancher Reform. Hierzu die dritte These:
| |
− | Die Freimaurerei muss sich in ihrem Aufbau als Muster einer ihren Zielen gestalteten
| |
− | Sozialform verstehen
| |
− | und in einem konsequenten Reformprozess Widersprüche zwischen
| |
− | Leitbild und Wirklichkeit zu überwinden versuchen.
| |
− | Die hier gestellte Aufgabe ist groß, wobei ich in der Frage der Reformbedürftigkeit allerdings
| |
− | Unterschiede zwischen den einzelnen deutschen Großlogen machen würde. Auf drei Ebenen
| |
− | müssten Reformen ansetzen: bei der Konzeption, bei Aufbau und Organisation sowie
| |
− | 252
| |
− | beim rituell-bildhaften Ausdruck. Diese Ebenen sind freilich nicht immer voneinander zu
| |
− | trennen.
| |
− | Was die Reform im Konzeptionellen betrifft, so geht es um das, wozu diese Ausführungen
| |
− | ein Beitrag sein sollen: um die Überwindung geistiger Leerformel-Positionen, um
| |
− | die Profilierung als ernst zu nehmende geistige Kraft. Es geht um die Verankerung offener,
| |
− | demokratischer Gesinnung in allen Formen und Institutionen. Es geht umgekehrt um den
| |
− | Abbau von Ideologien (Mysterienbund, geistige Elite) und um die Überwindung autoritärer
| |
− | Gesinnung (Ordo-Konzeption). Es geht darum, endlich deutlich zu machen, dass
| |
− | Freimaurerei ein weltanschaulich offener (also kein »christlicher«) sozialethischer Bund
| |
− | und weder eine Religion, noch ein Religionsersatz, noch eine Einrichtung zur Befriedigung
| |
− | metaphysischer Restbedürfnisse ist.
| |
− | Im Organisatorischen muss Freimaurerei
| |
− | auf dem Prinzip der gleichen Wahl von unten
| |
− | nach oben aufgebaut sein. Berufungs- und Vorschlagsrechte von oben nach unten sowie
| |
− | Kooptationsprinzipien »höherer Gremien« ohne periodische demokratische Kontrolle fördern
| |
− | die Oligarchienbildung und dürfen keinen Platz in freimaurerischen Gemeinschaften
| |
− | haben. (Seien wir ehrlich: Wäre unser Staat nach den Statuten mancher freimaurerischer
| |
− | Organisation aufgebaut, es wäre Zeit zur Emigration.) Die einheitliche deutsche Großloge
| |
− | – auch dies gehört zur organisatorischen Reform – muss von den Johannislogen her und
| |
− | auf ihrer Grundlage geschaffen werden. Hätten wir endlich die Möglichkeit, die deutsche
| |
− | Großloge als Zusammenschluss autonomer Johannislogen aufzubauen, wir hätten die freimaurerische
| |
− | Einheit in kürzester Zeit! Es ist an der Zeit, auf dieser Grundlage, d.h. durch
| |
− | eine Vereinigungsbewegung der Johannislogen, der Großlogenidee neue Impulse zu geben.
| |
− | Und wenn eine solche Bewegung keinen Erfolg bringt, dann sollte man – ehrlicherweise –
| |
− | in Freundschaft auseinandergehen.
| |
− | Im Formalen sollte Reform Streben um zeitgemäßen sprachlichen und bildlichen Ausdruck
| |
− | bedeuten, ein Problem, das mir beispielsweise auch nach der Ritualneubearbeitung
| |
− | der GL A.F.u.A.M. noch nicht gelöst erscheint. Alle Reformen sollten sich hier darauf
| |
− | konzentrieren, im rituellen Brauchtum Wesen und Ziele unseres Bundes zum besseren Verstehen
| |
− | zu bringen. Unser Brauchtum sollte die Aufgabe haben, die existentielle Situation
| |
− | des Menschen in einem gefährdeten Dasein, seine Verwiesenheit auf Gemeinschaft und
| |
− | seinen Auftrag in ihr deutlich zu machen. Bauhüttensymbolik als Ausdruck produktiver,
| |
− | solidarischer Daseinsbewältigung – welche Möglichkeit und wie oft wird sie von romantisierendem
| |
− | Schwulst verdeckt!
| |
− | Auf historische Schaustücke sollte ebenso verzichtet werden wie auf organisatorische
| |
− | Arabesken, die im Erscheinungsbild mehr an Opern der Barockzeit als an einen humanitären
| |
− | Bund erinnern. Auch sollte im Umgang mit »Würdenträgern« Einfachheit walten.
| |
− | »Bruder Großmeister« – warum eigentlich nicht? Wann endlich stehen Männer an der
| |
− | Spitze unseres Bundes, die angesichts längst sinnentleerter Titulaturen und Huldigungsprozeduren
| |
− | sagen: »Liebe Brüder, habt ihr’s nicht ein bisschen schlichter?« Abschied vom
| |
− | Serenissimusgehabe – auch das ist ein Beitrag zu neuer, brüderlicher Form.
| |
− | Das tätige Engagement darf sich aber nicht nur auf die Freimaurerei selbst beschränken. Unser
| |
− | Bund bedarf der Verankerung in und der Konfrontation
| |
− | mit der Gesellschaft. Hierzu die
| |
− | vierte These:
| |
− | 253
| |
− | Die Freimaurerei muss den ihrer sozialethischen Grundhaltung entsprechenden
| |
− | Platz in der Gesellschaft suchen und sich für die Verwirklichung ihrer Ziele im gesellschaftlich-
| |
− | politischen Raum engagieren.
| |
− | Damit kann und darf keiner parteipolitischen Stellungnahme der Freimaurerei das Wort
| |
− | geredet werden. Aber im Bereich von Gesellschaft und Politik gibt es ja im pluralistischen
| |
− | System Gruppen verschiedenster Struktur, die sich neben den Parteien oder quer durch sie
| |
− | hindurch für Menschlichkeit in der Welt von heute einsetzen. Hier vermisse ich mit vielen
| |
− | Brüdern nur allzu oft die Stimme und die Mitarbeit unseres Bundes. Warum wirken wir, die
| |
− | wir die Entfaltung und Erhaltung von Freiheit und Würde des Einzelmenschen zu unserem
| |
− | ersten Anliegen machen wollen, nicht mit an zahlreichen hilfreichen Aktivitäten auf diesem
| |
− | Gebiet: Bürgerinitiativen gegen Willkür und Machtmissbrauch starker Gruppen, Umweltschutz,
| |
− | Jugendschutz, Schutz diskriminierter Minderheiten, Hilfsmaßnahmen für Gewissensgefangene
| |
− | (Amnesty International)? Hat es nicht etwas Steriles, sich vorwiegend auf
| |
− | Urteile über die Humanität anderer zu beschränken? Hier liegt eine Fülle echter Aufgaben,
| |
− | die in der Diskussion geprüft und in tätigem Einsatz in Angriff genommen werden sollten.
| |
− | Lasst uns endlich die bequeme, aber unerträglich lähmende Angst vor dem öffentlichen Engagement
| |
− | überwinden. Viele scheinen noch nicht gemerkt zu haben, dass wir nicht mehr
| |
− | dem absolutistischen Staat, sondern der demokratischen Öffentlichkeit gegenüberstehen.
| |
− | Eine Frage zum Schluss: Die Freimaurerei
| |
− | sei, so hört man oft, eine »geschlossene« Gesellschaft.
| |
− | Aber bedarf es nicht vielmehr einer »offenen« Freimaurerei ? Einer Freimaurerei,
| |
− | die offen ist für die Probleme des Menschen, offen für die Gebote der Zeit, offen für Wandlungen
| |
− | und Reformen? Einer Freimaurerei jenseits des Konservatismus der Gralshüter und
| |
− | jenseits utopischer Schwärmerei? Einer sozial engagierten Freimaurerei? Einer Freimaurerei,
| |
− | die nicht die Vergangenheit konserviert, sondern vergangene Hoffnungen einlöst?
| |
− | Es bedarf einer solchen Freimaurerei! Ob allerdings die deutsche Freimaurerei die Kraft
| |
− | zur Wandlung hat?
| |
− | Sicher nur, wenn viele sie wollen und sich zur Arbeit an ihr mit Leidenschaft und
| |
− | klarem Blick die Hände reichen.
| |
− | 254
| |
− | Plädoyer für eine verantwortliche
| |
− | Freimaurerei – Hat die Freimaurerei
| |
− | öffentliche Aufgaben und wie sollen sie
| |
− | wahrgenommen werden? (1971)1
| |
− | Die Frage nach den öffentlichen Aufgaben der Freimaurerei ist oft gestellt und oft beantwortet
| |
− | worden. Wenn es sich dennoch als erforderlich erweist, erneut nach Antworten zu
| |
− | suchen, so deshalb, weil bisher kaum Konsequenzen aus den vielen ermutigenden Anstößen
| |
− | gezogen wurden, mit denen deutsche Freimaurer in den letzten Jahren immer wieder versucht
| |
− | haben, den Standort ihres Bundes in der Gegenwartsgesellschaft zu bestimmen. Von
| |
− | dem von Br. Bolle (München) als Gefahr beschworenen »allzu hektisch betriebenen exoterischen
| |
− | Aktivismus« kann jedenfalls keine Rede sein. Im Gegenteil: Es häufen sich in letzter
| |
− | Zeit die Stimmen derer, die sich gegen jede öffentliche Aufgabe der Freimaurerei oder freimaurerischer
| |
− | Gruppen wenden. Zwei Beispiele aus den Diskussionen dieses Jahres:
| |
− | Br. Wiemann (Wuppertal) in einem Leserbrief an die »Bruderschaft«: »Es gibt nicht
| |
− | die Taten der Freimaurer. Tat ist immer nur individuell, und so kann es – anders und auch
| |
− | hier – immer nur Taten einzelner aus freimaurerischem Geist geben.«
| |
− | Und, prononcierter noch, Br. Hoede (Würzburg) in »Euro Mason«: »Ich wehre mich
| |
− | gegen jeden Versuch der Gleichschaltung. Hierzu gehört an erster Stelle die Irrlehre von
| |
− | irgendwelchen Aufgaben des Freimaurerbundes. Aufgaben hat immer nur der einzelne
| |
− | Freimaurer, in seiner Loge, im profanen Leben.«
| |
− | Greifen wir das Problem auf:
| |
− | Öffentliche Aufgaben als wesensgemäßer Auftrag zum Handeln oder als Irrlehre – das ist die
| |
− | Frage, um die es heute geht.
| |
− | Und: Steht bei ihrer Beantwortung Behauptung gegen Behauptung oder gibt es Kriterien
| |
− | für eine eindeutige und verlässliche Antwort – das ist die Vorfrage, die zunächst zu
| |
− | beantworten ist.
| |
− | Kriterien der Prüfung
| |
− | Ich meine, wir haben verlässliche Kriterien, wobei es mir vor allem auf die folgenden fünf
| |
− | anzukommen scheint:
| |
− | 1. Die Verfassungen der Großlogen;
| |
− | 2. die sozialethischen Werte unseres Bundes;
| |
− | 3. die überlieferten Rituale;
| |
− | 4. die Tradition unseres Bundes;
| |
− | 5. das Wollen der Brüder Freimaurer, die heute Freimaurerei gestalten.
| |
− | 1 Einleitungsreferat zum Podiumsgespräch auf dem Braunschweiger Konvent der Vereinigten Großlogen
| |
− | von Deutschland 1971. Dieser Beitrag wurde ursprünglich veröffentlicht in: Die Bruderschaft, Heft 12,
| |
− | 1971, S. 210–214.
| |
− | 255
| |
− | Prüfen wir die Frage nach den öffentlichen Aufgaben im Lichte dieser Kriterien.
| |
− | Was sich für unsere Frage erstens aus den Verfassungen ableiten lässt, ist für die Alten,
| |
− | Freien und Angenommenen Maurer eindeutig. Die Verfassung dieser Großloge enthält
| |
− | bereits im ersten Artikel die unmissverständliche Formulierung:
| |
− | Die Aufgaben der Freimaurerei sind humanitär: »Sie tritt ein für die Freiheit der Person,
| |
− | für allgemeine Menschenliebe, Brüderlichkeit, Toleranz, Mildtätigkeit und Erziehung
| |
− | dazu.«
| |
− | »Sie tritt ein« kann sinnvoll nur verstanden werden als »sie tritt öffentlich ein«, und
| |
− | zwar da, wo die von ihr bekannten Werte bedroht sind.
| |
− | Diesen Verfassungsauftrag unterstreicht Artikel 4, der die Freimaurerei als ethischen
| |
− | Bund bezeichnet. Ein ethischer Bund hat die Aufgabe, sich zu ethischen Prinzipien zu
| |
− | bekennen und ethische Prinzipien zu verwirklichen. Hier kann es nicht das von Br. Hoede
| |
− | beschworene »Seligwerden nach eigener Fasson« geben, hier darf nicht zur missverständlichen
| |
− | Alibiformel vom »Bund der Ungleichgesinnten« gegriffen werden. Ethik aber als
| |
− | Aufgabe heute ernst nehmen heißt, die individual-ethischen Positionen unseres Bundes
| |
− | zu überwinden, seine sozialethischen Grundlagen zu präzisieren und zu vertiefen sowie
| |
− | gemäß dieser sozialethischen Grundlagen die Gesellschaft so zu verändern zu helfen, dass
| |
− | ethisches Handeln des Einzelnen überhaupt möglich wird.
| |
− | Weiter heißt es im Artikel 4: »Die Freimaurerei nimmt nicht Stellung in parteipolitischen
| |
− | Auseinandersetzungen.« Dieser Passus hieß bis 1967: »Sie nimmt nicht Partei in
| |
− | politischen Auseinandersetzungen.« Die auf dem Münchener Großlogentag beschlossene
| |
− | Verfassungsänderung sollte durch die Abgrenzung vom parteipolitischen Engagement das
| |
− | politische Stellungnehmen der Freimaurerei ermöglichen. Es kann also davon ausgegangen
| |
− | werden, dass eine deutliche Mehrheit deutscher Stuhlmeister im Bereich der GL A.F.u.A.M.
| |
− | den öffentlichen, ja politischen Auftrag der Freimaurerei mit dieser Verfassungsänderung
| |
− | unterstreichen wollte.
| |
− | Eine öffentliche Aufgabe der Freimaurerei
| |
− | ist somit nicht nur keine Irrlehre, sie ist
| |
− | Verfassungsauftrag an die Freimaurerei, jedenfalls an die Brüder der GL A.F.u.A.M. Andere
| |
− | Verfassungen zu prüfen, mag Aufgabe der Diskussion sein. Doch scheinen mir etwa die §§
| |
− | 8 und 9 der Ordensregel ebenso im Sinne eines öffentlichen Engagements zu deuten zu
| |
− | sein, wie – wiederum beispielsweise – die Präambel zur Konstitution des AASR.
| |
− | Wie steht es zweitens mit den sozialethischen Werten unseres Bundes? Was lässt sich
| |
− | von ihnen für unser Thema ableiten? Wir umreißen diese Werte gemeinhin mit den Begriffen
| |
− | Humanität, Toleranz und Brüderlichkeit. An ihnen lässt sich das über die Aufgaben
| |
− | eines ethischen Bundes Ausgeführte weiter verdeutlichen. Man kann, so meine ich, als
| |
− | ethischer Bund heute nicht Humanität vom Einzelnen fordern, ohne zu fragen, ob und
| |
− | in welcher Weise der Zustand der Gesellschaft humanes Handeln überhaupt ermöglicht.
| |
− | Man kann nicht Toleranz verlangen, ohne sich zu fragen, wo inhumane Gegenkräfte Toleranz
| |
− | begrenzen, man kann nicht Brüderlichkeit als Tugend preisen in einer Zeit, in der
| |
− | gesellschaftliche Machtverhältnisse vielerorts in der Welt soziale Abhängigkeiten schaffen,
| |
− | die Brüderlichkeit – wenn man überhaupt noch von ihr spricht – zur bloßen Fassade degradieren.
| |
− | Die sozialethische Naivität der Freimaurer des 19. Jahrhunderts lässt sich mit dem
| |
− | Erfahrungsschatz des 20. Jahrhunderts nicht mehr verantworten. Für die Freimaurer des 19.
| |
− | Jahrhunderts, zumal die »altpreußischen«, war Obrigkeit im Sinne Luthers von Gott und
| |
− | als solche nicht unsittlich, für sie war der Staat Verkörperung Hegel’schen Weltgeistes und
| |
− | 256
| |
− | konnte als solcher nicht fehlen. Unsittlich war allein der Einzelne. Wir wissen aber heute
| |
− | nicht zuletzt aufgrund des Schocks des »Dritten Reiches«, dass Humanität, Toleranz und
| |
− | Brüderlichkeit bestimmten gesellschaftlichen Kräften stets aufs Neue abgerungen werden
| |
− | müssen. Und wenn ein ethischer Bund, der sich auf Humanität, Toleranz und Brüderlichkeit
| |
− | beruft, nicht teilhaben will an diesem Abringen, wenn er nicht hier seine Aufgabe, seine
| |
− | öffentliche Aufgabe sieht, so verliert er seine Glaubwürdigkeit als ethischer Bund. Das,
| |
− | meine Brüder, was uns die seriöse Öffentlichkeit mehr und mehr vorhält, sind ja längst
| |
− | nicht mehr unsere vermeintlichen Gräueltaten und Verbrechen. Was man kritisiert, ist, dass
| |
− | wir in oft unerträglich penetranter
| |
− | Weise in blütenweißen seelischen Sonntagsanzügen unter
| |
− | Goethe-, Fichte- und Herderbildern paradieren, die Verantwortung für sozial verantwortungsbewusstes
| |
− | Handeln dann aber mit der Vokabel vom »Bund der Ungleichgesinnten«
| |
− | an andere Kräfte der Gesellschaft abschieben.
| |
− | Ich fasse Punkt 1 und 2 zusammen und folgere: Sowohl die Verfassung der Mehrheit
| |
− | deutscher Freimaurer als auch unsere ethischen Werte weisen den Mitgliedern des Bundes
| |
− | öffentliche Aufgaben zu.
| |
− | Wie steht es drittens mit dem Ritual, dem Brauchtum unseres Bundes? Auch von hier
| |
− | aus leitet sich, so würde ich meinen, ein Auftrag zum Wirken in der Gesellschaft ab. Hier
| |
− | denke ich – nicht nur, aber in erster Linie – an Ritus und Symbolik des 2. Grades, des Gesellengrades,
| |
− | der mir geradezu ein Lehrstück gemeinsamen sozialen Handelns in der Gesellschaft
| |
− | zu sein scheint. Das Reisen mit verschlungenen Händen deutet die Gemeinsamkeit,
| |
− | der Weg vom rauhen zum kubischen
| |
− | Stein den Inhalt der Aufgabe an: Gesellen zu sein
| |
− | beim Bau einer brüderlichen
| |
− | Welt, einen Beitrag zur Lösung
| |
− | der Probleme unserer Zeit in
| |
− | produktiver Solidarität zu leisten.
| |
− | Befragen wir viertens die Geschichte unseres Bundes und jenes Dokument, das unsere
| |
− | Tradition im Bewusstsein vieler Freimaurer gleichsam auf wenigen
| |
− | Seiten zusammenzieht,
| |
− | die »Alten Pflichten«. Hier scheint die Antwort deutlich von den bisherigen Ergebnissen
| |
− | abzuweichen. »We are resolved against all politicks« scheint eine klare Aussage zu sein,
| |
− | an der es nichts zu deuten gibt. Und doch wäre es falsch, aus der Ablehnung politischen
| |
− | und gesellschaftlichen Engagements in der Freimaurerei des 18. Jahrhunderts auf den unpolitischen
| |
− | Charakter der Logen in dieser Zeit zu schließen. Wer so unhistorisch urteilt,
| |
− | verkennt den funktionalen Charakter der proklamierten politischen Neutralität ebenso wie
| |
− | den dialektischen Zusammenhang zwischen
| |
− | Geheimnis und Aufklärung.
| |
− | Beides: Geheimnis und Absage an die Politik sichern im absoluten Staat jenen Spielraum,
| |
− | in dem – innerhalb des Arcanums der Logen – bürgerliche Freiheit und soziale
| |
− | Gleichheit in Vorwegnahme der kommenden bürgerlichen Revolutionen erfahren wird. Die
| |
− | Absage an die Politik erst ermöglicht die politische Funktion der Aufklärungsfreimaurerei.
| |
− | Die »Freiheit im Geheimen
| |
− | « wird – so ein Wort des Historikers Reinhart Koselleck – zum
| |
− | »Geheimnis der Freiheit«. Sie wird zum Geheimnis der Freiheit jener »moralischen Internationalen
| |
− | « (Koselleck), als die die Freimaurerei im 18. Jahrhundert wirkt.
| |
− | Lösen wir uns also von der bei uns so beliebten unhistorisch-dogmatischen Bewertung
| |
− | der »Alten Pflichten«, lösen wir uns von den blinden Flecken unseres eigenen Geschichtsbildes
| |
− | für das 18. Jahrhundert sowohl wie für die spätere Zeit. Rezipieren wir endlich die
| |
− | bei uns kaum beachteten Forschungsergebnisse von Historikern wie Koselleck, Habermas
| |
− | und Contiades. Freimaurerei ist nie unpolitisch gewesen. Weder im 18. Jahrhundert als
| |
− | Vorwegnahme bürgerlicher Freiheit noch im 19. Jahrhundert als treue Stütze von Thron
| |
− | 257
| |
− | und Altar, und schon gar nicht im 20. Jahrhundert, zumal nach dem Ersten Weltkrieg vor
| |
− | ihrer Auflösung, und wir täten gut daran, den in unserem Bund vor und nach 1933 weit
| |
− | verbreiteten Nationalismus nicht immer zur taktischen Betriebspanne herunterzuspielen.
| |
− | Etwas mehr Problembewusstsein – oder sagen wir schlicht Ehrlichkeit – im Umgang mit
| |
− | der eigenen Geschichte stünde uns wohl an. Wir haben also nicht zu wählen, ob wir an
| |
− | Traditionen politischer oder politisierter Freimaurerei anknüpfen wollen, wir haben zu
| |
− | wählen, an welcher Tradition politischer Freimaurerei wir anknüpfen wollen. Und da meine
| |
− | ich, dass wir jene vergangenen Hoffnungen der Aufklärungsfreimaurerei auf ein freies, würdiges
| |
− | Dasein einzulösen haben, die immer noch und aufs Neue bedroht sind. Wir haben
| |
− | anzuknüpfen an das, was als vorweggenommene bessere Zukunft in unserer
| |
− | Vergangenheit
| |
− | aufleuchtet und etwa in Lessings »Gesprächen für Freimäurer« Gestalt annimmt, was aber
| |
− | die Gegenwart noch nicht eingelöst hat: die Hoffnung auf den von nationalen Schranken,
| |
− | weltanschaulichen Vorurteilen und gesellschaftlicher Unterdrückung befreiten Mensch.
| |
− | Kehren wir zu dieser, ich möchte meinen, eigentlichen Tradition zurück, so weist auch der
| |
− | Blick in die Vergangenheit auf Aufgaben hin, die in der Gesellschaft
| |
− | zu erfüllen sind. Dabei
| |
− | muss uns freilich klar sein, dass wir es nicht mehr mit dem absolutistischen Staat, sondern
| |
− | der demokratischen Öffentlichkeit zu tun haben.
| |
− | Fragen wir fünftens und letztens, was die Freimaurer heute selbst wollen, so ist die
| |
− | Antwort wohl weniger eindeutig. Sicher aber scheint zu sein, dass die Zahl derer wächst,
| |
− | die Freimaurerei als lebendige Kraft in der Gesellschaft wirken lassen wollen. Vom Einsatz
| |
− | dieser Brüder wird es abhängen, ob die deutsche Freimaurerei in ihrer Gesamtheit eine
| |
− | positive Einstellung zu ihren öffentlichen Aufgaben findet.
| |
− | Öffentliche Aufgabe – aber wie?
| |
− | Wie aber, meine Brüder, sollen nun diese öffentlichen Aufgaben der Freimaurerei wahrgenommen
| |
− | werden?
| |
− | Sicher nicht oder nicht allein durch Stellungnahmen der Großlogen zu dieser oder jener
| |
− | Zeitfrage. Bliebe die öffentliche Aufgabe auf Deklarationen ohne eigene Leistung beschränkt,
| |
− | man würde lieber völlig davon Abstand nehmen. Es gilt also, einen umfassenderen,
| |
− | und wenn man so will, auch unbequemeren Ansatz zu wählen. Meines
| |
− | Erachtens
| |
− | kommt es dabei auf dreierlei an:
| |
− | 1. auf das klare Profilieren der sozialethischen Grundlagen, die Maßstab der Bewertung der
| |
− | Wirklichkeit und unseres Handelns werden müssen;
| |
− | 2. auf das kritische Reflektieren der Gesellschaft im Hinblick auf jene Abweichungen zwischen
| |
− | sozialethischem Postulat und Wirklichkeit, die uns zum Handeln provozieren;
| |
− | 3. auf gesellschaftlich relevantes Handeln selbst, wobei zwischen dem Handeln des einzelnen
| |
− | Freimaurers und dem Handeln freimaurerischer Gruppen von der Loge bis zu internationalen
| |
− | Großlogenzusammenschlüssen zu unterscheiden ist.
| |
− | Was das Erste betrifft, so geht es, wie ich es an anderer Stelle ausgeführt habe, darum, »die
| |
− | Unverbindlichkeit und Verschwommenheit unserer hergebrachten Wertvorstellungen zu
| |
− | überwinden und uns sowohl geistig als auch in unserer gesellschaftlichen Aktivität als huma258
| |
− | nitäre, soziale, demokratisch-pluralistische und antiideologische Kraft zu profilieren« (Vier
| |
− | Thesen zur Erneuerung der Freimaurerei). Ich will meine Argumentation jetzt nicht im Einzelnen
| |
− | wiederholen. Ich weise nur ergänzend auf Folgendes hin:
| |
− | Die gewählten Wertpositionen humanitär, sozial, demokratisch-pluralistisch und antiideologisch
| |
− | scheinen mir erstens geeignet, unsere sozialethischen Werte präziser und verbindlicher
| |
− | zu fassen als bisher, und zweitens öffnen sie sich leichter dem Verständnis einer
| |
− | Öffentlichkeit, die ebenfalls um eine neue sozialethische Fundierung ringt.
| |
− | Zwei Beispiele dafür: Der Regierende Bürgermeister von Berlin sprach in seinem Glückwunsch
| |
− | zur 200-Jahr-Feier der Großen Landesloge von den »freiheitlichen, demokratischen,
| |
− | sozialen und pluralistischen Strukturen«, die es zu festigen gelte. Und die Hamburger
| |
− | Tageszeitung WELT unterstrich die Zeitoffenheit der deutschen Freimaurerei
| |
− | – meine Wünsche
| |
− | für die Wirklichkeit nehmend – mit dem Hinweis:
| |
− | »Die Logen sind humanitär, sozial, demokratisch-pluralistisch und antiideologisch
| |
− | strukturiert. Sie leben aus der Evolution der Reformen nach innen, wie nach außen. Sie
| |
− | orientieren sich nicht am Zopf von gestern, sondern an den Aufgaben von morgen.«
| |
− | Insofern halte ich die gewählten Positionen
| |
− | sowohl für die eigene Neuorientierung als auch
| |
− | als Brückenschlag zur Gesellschaft für durchaus geeignet.
| |
− | Der zweite Schritt muss zu einer intensiven
| |
− | Reflexion über die Wirklichkeit führen. In
| |
− | den Logen sollten viel konsequenter Zeitfragen untersucht werden, um herauszuarbeiten,
| |
− | in welchen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens soziale Realität und freimaurerisches
| |
− | Ideal auseinanderklaffen. Tut man dies unter Einschluss der Öffentlichkeit, d.h. mit qualifizierten
| |
− | Gästen, so hat dies zugleich den Vorteil, aus der eigenen Enge auszubrechen und
| |
− | nach draußen hin zu zeigen, wie ernsthaft Freimaurer nach Lösungen
| |
− | wichtiger Zeitfragen
| |
− | suchen. In diesen zweiten Bereich gehört auch das Veranstalten von Preisverleihungen, von
| |
− | Tagungen und das Ausrichten
| |
− | von Podiumsgesprächen, in denen wichtige Probleme des
| |
− | gesellschaftlichen Lebens, insbesondere die Schattenseiten unseres Wohlstandssystems, von
| |
− | verschiedenen Seiten beleuchtet werden können. Es wäre zum Beispiel zu prüfen, ob die oft
| |
− | kritisierte geistige
| |
− | Leere von Großlogentagen und Konventen nicht dadurch überwunden
| |
− | werden könnte, dass ein wichtiges humanitäres Zeitproblem – Friedenssicherung, Umweltschutz,
| |
− | Lage der Jugendlichen, Alten und Kranken – von Freimaurern und Nichtfreimaurern
| |
− | in der Öffentlichkeit gründlich diskutiert wird. Dieses Thema könnte dann zugleich
| |
− | die Jahresaufgabe der deutschen Freimaurer in der Öffentlichkeit umreißen, womit die
| |
− | dritte Ebene, die des gesellschaftlich relevanten Handelns,
| |
− | angesprochen wäre.
| |
− | Auf dieser Ebene gilt es zunächst eine Unterscheidung einzuführen, die bereits
| |
− | Lessing
| |
− | in seinen »Gesprächen für Freimäurer« angedeutet hat. Lessing unterscheidet die
| |
− | konkreten Aufgaben innerhalb der einzelnen Staatsverfassungen, wir würden sagen den
| |
− | Bereich
| |
− | der Parteipolitik, vom Kampf gegen jene Übel, die dem Charakter des Gesellschaftlichen
| |
− | im Allgemeinen eigen sind, und er versteht darunter bekanntlich den Kampf
| |
− | gegen die Trennungen der Menschen in Staaten, Weltanschauungen und soziale Klassen.
| |
− | Im Bereich parteipolitischer Auseinandersetzungen hat sich der Freimaurer als Bürger zu
| |
− | engagieren. Hier handelt nicht die Freimaurerei, und schon Lessing wandte sich nicht
| |
− | ohne Ironie gegen Bestrebungen eines amerikanischen Freimaurers, den Kongress in eine
| |
− | Loge zu verwandeln.
| |
− | 259
| |
− | So bleibt das andere Feld der zwar unvermeidlichen, aber nicht unbekämpfbaren Übel
| |
− | als großes Feld der freimaurerischen Öffentlichkeitsaufgabe. Engagement hier verhindert,
| |
− | dass Freimaurerei zur politischen Partei wird, was ihr Ende wäre, und lässt doch zu, dass sie
| |
− | in vielen Fragen parteilich ist. Wenden wir Lessings These von den unvermeidlichen Übeln
| |
− | des Staates
| |
− | als dem Feld der freimaurerischen Taten in eine moderne Sprache, so können
| |
− | wir folgern: Die öffentlichen Aufgaben der Freimaurerei liegen im Schutz des Friedens
| |
− | oder umgekehrt im Kampf gegen den Krieg, sie liegen im Kampf gegen weltanschauliche
| |
− | Intoleranz, Unterdrückung der Meinungsfreiheit
| |
− | sowie Diskriminierung weltanschaulicher
| |
− | und religiöser Minderheiten, und sie liegen schließlich im Kampf gegen soziale Ungerechtigkeit,
| |
− | gegen Not und Unterdrückung. Anders formuliert: Im Kampf gegen Krieg,
| |
− | Intoleranz, Unterdrückung und Hunger gibt es Freimaurerei als »Gemeinschaft der Ungleichgesinnten
| |
− | « nicht – oder Freimaurerei würde sich als ethisch-humanitärer Bund selbst
| |
− | aufheben.
| |
− | Wie soll nun die Freimaurerei ihre öffentliche Aufgabe in dem ihr zugewiesenen Bereich
| |
− | wahrnehmen?
| |
− | Hierfür gibt es verschiedene Möglichkeiten freimaurerischer Gruppierungen und verschiedene
| |
− | Methoden. Was die Gruppierungen betrifft, so sollten zunächst die Logen
| |
− | selbst mit geeigneten Aktivitäten im Sozialleben der Städte weit mehr präsent sein als
| |
− | bisher. Hierher gehören nicht nur Aufgaben örtlicher Karitas, hierzu gehören auch vorbild-
| |
− | und modellhafte Beiträge zur Lösung bestimmter bisher nur unzureichend gelöster
| |
− | sozialer Probleme: Schaffen von Stätten zur Integration deutscher und ausländischer Kinder,
| |
− | Hilfe bei der Betreuung alter Menschen, Mitarbeit im Jugendschutz, bei der Resozialisierung
| |
− | Straffälliger, in den verschiedenen Gremien kommunaler Wohlfahrtspf lege. Eine
| |
− | solche gesellschaftliche Präsenz einer oder mehrerer Logen im Leben einer Stadt hat nicht
| |
− | nur den konkreten humanitären Effekt, dass Not gelindert wird, sie ist auch ein wirksamer
| |
− | Beitrag zur freimaurerischen Öffentlichkeitsarbeit. Und schließlich: Es ist meine Überzeugung
| |
− | aufgrund meiner Kölner Erfahrung, dass auch die Lösung des Nachwuchsproblems
| |
− | zu einem großen Teil davon abhängt, inwieweit Freimaurerlogen im sozialen Leben ihrer
| |
− | Städte ein Begriff sind.
| |
− | Ein sinnvoller weiterer Ansatz freimaurerischer Gruppentätigkeit ist die Gründung von
| |
− | überregionalen spezialisierten Arbeitskreisen. Ich denke an Arbeitskreise freimaurerischer
| |
− | Journalisten,
| |
− | freimaurerischer Juristen, freimaurerischer Pädagogen, freimaurerischer
| |
− | Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler. Das Erarbeiten von Ergebnissen
| |
− | in fachlich kompetenten
| |
− | Gremien,
| |
− | die Zusammenarbeit mit anderen
| |
− | entsprechenden Gruppen und die
| |
− | Umsetzung des Erarbeiteten durch den Einzelnen am Arbeitsplatz sowie durch geeignete
| |
− | Publikationsmedien der Gruppen (Publikationen, Tagungen
| |
− | und dergleichen) dürfte ihre
| |
− | Wirkung auf die Öffentlichkeit nicht verfehlen. Es dürfte unseren Zielen nachhaltigen
| |
− | Einfluss sichern und – nimmt man qualifizierte
| |
− | Nichtfreimaurer gelegentlich
| |
− | oder generell
| |
− | zu diesen Arbeitskreisen
| |
− | dazu – ein guter Weg zu qualifiziertem Nachwuchs sein. Auch
| |
− | hier gilt: Arbeit in der Öffentlichkeit ist die beste Öffentlichkeitsarbeit.
| |
− | Was schließlich die Großlogen betrifft, so sollten sie ihre Aufgabe einmal in einer
| |
− | sinnvollen Koordination der einzelnen freimaurerischen Gruppenaktivitäten sehen. Hierzu
| |
− | wäre ein Amt oder eine Arbeitsstelle für öffentliche Aufgaben sinnvoll und nötig. Die
| |
− | Großlogen sollten weiter ihre jährlichen
| |
− | Zusammenkünfte – wie schon aufgezeigt – mehr
| |
− | als bisher zu Foren des Ringens um Lösungen drängender Zeitfragen machen. Sie sollten
| |
− | 260
| |
− | weiter versuchen, in überregionalen kulturellen,
| |
− | gesellschaftlichen und politischen
| |
− | (nicht
| |
− | parteipolitischen) Organisationen
| |
− | in geeigneter Form mitzuarbeiten
| |
− | (Beispiel: Friedensforschung),
| |
− | sie sollten mit Preisverleihungen und schließlich gelegentlich auch mit Stellungnahmen
| |
− | und Resolutionen an die Öffentlichkeit treten. Hierbei ist jedoch wichtig,
| |
− | dass erstens Stellungnahmen wohldosiert abgegeben werden und dass zweitens die Freimaurer
| |
− | zur Lösung
| |
− | der angeschnittenen Probleme selbst in der einen oder anderen Weise
| |
− | beitragen. Das bloße Fordern von anderen ohne eigenen konstruktiven
| |
− | Beitrag wäre in der
| |
− | Tat eine zu bequeme Erfüllung der öffentlichen Aufgabe, im Gegenteil: Die Gefahr, sich
| |
− | der Lächerlichkeit preiszugeben, ist hier sehr groß.
| |
− | So gibt es, wie ich meine, eine Fülle sinnvoller und nötiger Ansätze, sich den öffentlichen
| |
− | Aufgaben der Freimaurerei zu stellen. Wir sollten uns dabei nicht nur an humanitäre
| |
− | Aktivitäten
| |
− | anderer anhängen, sondern unsere
| |
− | eigenen, uns gemäßen Ansätze suchen.
| |
− | Dabei dürfen drei Gesichtspunkte nicht außer Acht gelassen werden: Die freimaurerischen
| |
− | Aktivitäten in der Öffentlichkeit müssen erstens unseren sozialethischen Postulaten entsprechen,
| |
− | sie müssen zweitens ohne Dilettantismus durchführbar sein und sie müssen
| |
− | drittens möglichst viele Brüder Freimaurer beteiligen. Ein Modell, das die Freimaurer hätten
| |
− | ausdenken und verwirklichen können, ist etwa die Arbeit von Amnesty International.
| |
− | Und es ist erfreulich, dass eine wachsende Zahl von Freimaurern, wohl auch mitbedingt
| |
− | durch die Kasseler Preisverleihung, an dieser Arbeit mitwirkt. Aus der Anwesenheit solcher
| |
− | Gruppen aber zu schließen, andere hätten unser humanitäres Erbe übernommen und die
| |
− | Freimaurerei könne sich auf Ritualpflege zurückziehen, ist eine für einen ethischen Bund
| |
− | fatale Konsequenz. Und wir sollten uns auch bewusst sein, dass wir, je mehr wir humanitäre
| |
− | Preise an andere verleihen, desto intensiver auch nach unseren eigenen humanitären
| |
− | Leistungen gefragt werden.
| |
− | Ich fasse zusammen und stelle – aus meiner Sicht und in Erwartung einer lebhaften Diskussion
| |
− | – Folgendes fest:
| |
− | • Erstens: Die Frage, ob es öffentliche Aufgaben der Freimaurer gibt, lässt sich bei gründlicher
| |
− | Prüfung der verschiedenen relevanten Kriterien mit einem eindeutigen Ja beantworten,
| |
− | ja man muss weitergehen: Eine Freimaurerei, die ihre öffentlichen Aufgaben
| |
− | nicht sieht, veruntreut sich gegen ihre Verfassung, ihre Tradition und ihre Ideale.
| |
− | • Zweitens: Die Wahrnehmung der öffentlichen Aufgaben ist unter Wahrung der notwendigen
| |
− | parteipolitischen Neutralität
| |
− | möglich. Sie fordert klare sozialethische Positionen,
| |
− | intensive Reflexion der Wirklichkeit im Lichte dieser sozialethischen Positionen und engagiertes
| |
− | Handeln auf den verschiedenen organisatorischen Ebenen der Freimaurerei.
| |
− | • Drittens: Die öffentlichen Aufgaben sind daher nicht nur, ja nicht einmal in erster Linie
| |
− | eine Angelegenheit der Großlogen. Viele freimaurerische Gruppierungen müssen
| |
− | dazu beitragen, dass die öffentlichen Aufgaben ohne Dilettantismus
| |
− | in Angriff genommen
| |
− | und durchgeführt werden können.
| |
− | • Viertens: Es sollte möglichst bald mit einer Bestandsaufnahme sinnvoller öffentlicher
| |
− | Aufgaben und ihrer Realisierungsmöglichkeiten begonnen werden. Hierzu wäre es wünschenswert,
| |
− | dass Großmeister und Senat ein Amt oder eine Arbeitsstelle für öffentliche
| |
− | Aufgaben schaffen. Es wäre weiter wünschenswert,
| |
− | dass aus diesem Konvent eine Arbeitsgemeinschaft
| |
− | »Freimaurerei und Gesellschaft« hervorgeht, die Logenvertreter und
| |
− | andere interessierte Brüder zusammenfasst, um sinnvolle Ansätze zur Lösung öffent261
| |
− | licher Aufgaben zu erarbeiten und den zuständigen freimaurerischen Gruppen
| |
− | und
| |
− | Gremien vorzulegen. Dieser »Braunschweiger Kreis« könnte informell und ohne jede
| |
− | Hierarchie zu einem Forum brüderlicher Meinungsbildung
| |
− | quer durch die Großlogensysteme
| |
− | hinweg werden und hierdurch auch einen Beitrag zur echten, weil auf gemeinsame
| |
− | Ziele gegründeten und von den Brüdern selbst getragenen Einheit der deutschen
| |
− | Freimaurer leisten.
| |
− | Die deutsche Freimaurerei befindet sich angesichts unzureichender innerer Konsequenz
| |
− | sowie mangelnder Beachtung
| |
− | durch die Öffentlichkeit und rückläufiger Mitgliederzahlen
| |
− | in einer Situation des Scheidewegs. Sie wird sich zwischen dem bequemen und dem unbequemen
| |
− | Weg entscheiden müssen.
| |
− | Der bequeme Weg ist der des Rückzugs auf sich selbst,
| |
− | auf karg dosierte
| |
− | Karitas und unverbindliche Erbaulichkeit, auf Selbstveredelung unter Ausschluss
| |
− | der Öffentlichkeit, während vielerorts die Welt in Not verkommt. Der andere Weg
| |
− | führt in die Öffentlichkeit. Er hat Gefahren und Risiken, wer wollte dies verkennen. Aber er
| |
− | bietet die Chance, Freimaurerei als gestaltende Kraft in unserer Gesellschaft vorzuleben und
| |
− | glaubhaft zu machen. Es ist der unbequeme Weg. Er erfordert von uns allen, Einzelnen und
| |
− | gemeinsam das, was wir oft gedankenlos
| |
− | und unverbindlich über unsere Zusammenkünfte
| |
− | schreiben: Arbeit!
| |
− | 262
| |
− | Eine Großloge wird vorgestellt: Leitgedanken
| |
− | zu Standort und Identität der Großloge der
| |
− | Alten Freien und Angenommenen Maurer von
| |
− | Deutschland (1986)1
| |
− | Freimaurerei ist geistig offen und entzieht sich jeder dogmatischen Festlegung. Sie entwickelt
| |
− | sich im Zusammenwirken ihrer Mitglieder, die sich Brüder nennen. Sie kennt kein
| |
− | zentrales Lehramt, das verbindlich festlegen oder interpretieren dürfte, was, wie und wo
| |
− | als Freimaurerei zu gelten habe, und es wäre gut, wenn alle Maurer auf der Erde sich immer
| |
− | hieran erinnern würden. Dennoch ist Freimaurerei nichts Beliebiges oder gar Willkürliches.
| |
− | Ihre Formen- und Ideenwelt kreist um einen zentralen Kern, der am Grundwert der
| |
− | Menschlichkeit orientiert ist, im brüderlichen Miteinander allerdings immer wieder aufs
| |
− | Neue herausgearbeitet und lebendig gehalten werden muss. In diesem Sinne haben drei
| |
− | Mitglieder der Großloge der Alten Freien und Angenommenen Maurer von Deutschland
| |
− | – Klaus Horneffer, Jens Oberheide und ich selbst – auf dem diesjährigen Großlogentag in
| |
− | Limburg eine Reihe von Gedanken zu Standort und Identität humanitärer Freimaurerei in
| |
− | Deutschland vorgetragen und ihren Brüdern zur Diskussion angeboten. Da Freimaurerei
| |
− | zur Information der sie umgebenden Gesellschaft ebenso verpflichtet wie auf lebendige
| |
− | Auseinandersetzung mit ihr angewiesen ist, sollen die »Gedanken« in diesem, vor allem für
| |
− | die Öffentlichkeit bestimmten Spezialheft der »Humanität« publiziert werden. Die Autoren
| |
− | stellen damit ihre Großloge aus eigener Sicht vor. Sie haben es vermieden, ihre Gedanken
| |
− | als Thesen oder gar Leitsätze zu bezeichnen, meinen aber doch, unter sieben Gesichtspunkten
| |
− | die wesentlichen Elemente gegenwärtigen freimaurerischen Selbstverständnisses
| |
− | erfasst zu haben.
| |
− | Der erste Gedanke bezieht sich auf die Stellung des Freimaurerbundes zur eigenen Tradition,
| |
− | zur deutschen Geschichte und zum Miteinander der deutschen Freimaurer in den »Vereinigten
| |
− | Großlogen von Deutschland«, in denen fünf Großlogen zusammenarbeiten. Das
| |
− | Bekenntnis zu den alten und doch immer neuen Werten Würde, Freiheit und Selbstbestimmung
| |
− | des Menschen verbindet sich mit dem Eingeständnis historischer, von deutschen Freimaurern
| |
− | mit zu verantwortender Fehlentwicklungen und der Bereitschaft, hieraus Konsequenzen
| |
− | für Gegenwart und Zukunft zu ziehen. Die kräftige Betonung eigener Identität der
| |
− | Großloge A.F.u.A.M. ist vereinbar mit dem Bekenntnis zur Einheit aller deutschen Freimaurer
| |
− | und mit der Idee einer weltumspannenden Bruderkette.
| |
− | Der zweite Gedanke unterstreicht die für den Freimaurerbund ganz zentrale Einheit von
| |
− | Idee, Gemeinschaft und symbolischem Ausdruck, die zugleich seine Vielgestaltigkeit ausmacht.
| |
− | Diese öffnet für Menschen unterschiedlicher geistiger und emotionaler Ausprägung
| |
− | nicht nur unterschiedliche Zugangsmöglichkeiten zu unserem Bund. Sie erlaubt es auch,
| |
− | auf viele Probleme unserer Zeit Antworten zu geben, die suchende Menschen ansprechen,
| |
− | mit Ideen gegen den Verlust von Sinn anzukämpfen, mit dem Bruderbund der Gefahr der
| |
− | 1 Dieser Beitrag wurde ursprünglich veröffentlicht in: Humanität. Das deutsche Freimaurermagazin, Nr.
| |
− | 8, Dezember 1986, S. 10–12.
| |
− | 263
| |
− | Vereinzelung zu begegnen, mit Symbolen und feierlichen Handlungen Emotionalität zu
| |
− | fördern und der »Entzauberung der Welt« (Max Weber) entgegenzuwirken.
| |
− | Der dritte Gedanke präzisiert die zuvor angesprochene leitende Idee des Freimaurerbundes.
| |
− | Er betont die Notwendigkeit, die Welt immer wieder in redlicher geistiger Arbeit
| |
− | daraufhin zu überprüfen, wo sie nicht menschlich, nicht brüderlich, nicht tolerant ist. Dies
| |
− | soll dem Freimaurer Maßstäbe und Motivation für sein eigenes Handeln vermitteln. Freimaurerei
| |
− | hat kein gesellschaftlich-politisches Programm, denn sie ist keine Partei. Wo Menschenrechte
| |
− | grob verletzt werden, kann und muss sie allerdings Stellung beziehen. Vor allem
| |
− | aber soll die geistige Arbeit von Loge und Großloge Raum und Atmosphäre dafür schaffen,
| |
− | dass der einzelne Freimaurer durch Information, Besinnung auf Grundwerte und vorurteilsbefreites
| |
− | Nachdenken seinen Weg zu verantwortungsbewusster Lebensgestaltung findet.
| |
− | Der vierte Gedanke beschreibt die Arbeit der Loge. Als Bruderbund steht sie im Zentrum
| |
− | freimaurerischen Lebens. Das menschliche, geistige, soziale und kulturelle Miteinander
| |
− | in der Loge allein entscheidet über die Glaubwürdigkeit der Freimaurerei. Wir sind uns
| |
− | bewusst, dass wir unsere hohen Ansprüche nicht erreichen und dass sich auch in den Logen
| |
− | oft egoistische Verhaltensweisen und andere menschliche Unzulänglichkeiten antreffen
| |
− | lassen. Dennoch: Freimaurer bemühen sich stets aufs Neue, denn sie wissen, dass nur die
| |
− | praktizierte ›Königliche Kunst‹ Lebenskraft besitzt.
| |
− | Der fünfte Gedanke unternimmt den schwierigen Versuch, etwas zum Brauchtum des
| |
− | Freimaurerbundes auszusagen. Dieses Brauchtum hat mit seinen Symbolen und feierlichen
| |
− | Handlungen einen ganz besonderen, auf andere Weise nicht zu erfüllenden Auftrag: Es
| |
− | stiftet Gemeinschaft, schafft Raum für Nachdenklichkeit, erzieht, fördert kreatives Erleben,
| |
− | bringt Wandlung und Veränderung zum Bewusstsein, verweist auf Transzendenz. Das
| |
− | »Buch des Heiligen Gesetzes« als eines der Hauptsymbole soll keinerlei religiös-dogmatische
| |
− | Festlegung bedeuten. Es kann vielmehr als Sinnbild für die Gesamtheit der sittlichen
| |
− | Normen und ethischen Werte des Freimaurerbundes verstanden werden.
| |
− | Der sechste Gedanke behandelt die Beziehungen zwischen Freimaurerei, Weltanschauung
| |
− | und Religion. Freimaurerei ist keine Religion, sondern ein ethischer Bund. Menschlichkeit
| |
− | im Diesseits, nicht Jenseitsortentierung ist sein Anliegen. Offenheit für alle weltanschaulichen
| |
− | Überzeugungen, soweit sie redlich sind und sich am Menschen orientieren,
| |
− | gehört zu den unverrückbaren maurerischen Prinzipien. Freimaurerei berührt sich aber insofern
| |
− | mit Religion, als sie in ihrem Brauchtum den Bezug des Menschen zur Transzendenz
| |
− | anspricht. Freimaurerei ist nicht kirchenfeindlich, wohl aber gibt es intolerantes Gehabe
| |
− | von Kirchen, das nicht mit Freimaurerei vereinbar ist.
| |
− | Der siebte Gedanke schließlich spricht das freimaurerische Geheimnis an, das immer
| |
− | noch missverstanden wird. Freimaurerei ist kein Geheimbund. Sie muss sich nicht mehr
| |
− | durch Geheimhaltung schützen wie in Epochen der Verfolgung. Wenn sie am Geheimnis
| |
− | festhält, so, weil es ihr auf Verschwiegenheit ankommt. Verschwiegenheit soll Vertrauen
| |
− | ermöglichen, die einzig verlässliche Brücke von Mensch zu Mensch in einer redselig-indiskreten
| |
− | Gesellschaft. Hierdurch soll das Wirklichkeit werden, was oft als das eigentliche
| |
− | Geheimnis der Freimaurerei bezeichnet wird: das Entstehen brüderlicher Beziehungen zwischen
| |
− | Menschen, die sich – wie es die »Alten Pflichten« schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts
| |
− | gesagt haben – sonst immer fremd geblieben wären.
| |
− | 264
| |
− | Als wir unsere Gedanken auf dem Großlogentag 1986 vorgestellt haben, fanden sie Beifall,
| |
− | aber auch Kritik. Manche unserer Gesprächspartner empfanden sie als selbstverständlich
| |
− | oder gar blutleer. Gewiss: Die Gedanken sollten selbstverständlich sein – aber sind sie
| |
− | es auch? Sind lebendige geistige Arbeit, aufrichtige brüderliche Gemeinschaft und sinnerfülltes
| |
− | Brauchtum wirklich Besitz der Logen? Sind sie nicht sehr viel mehr Verpflichtung,
| |
− | die stets aufs Neue erfüllt werden muss? Gerade der Freimaurer mit seinen anspruchsvollen,
| |
− | weil unbequemen Prinzipien muss sich immer wieder auf die zentralen Grundlagen seiner
| |
− | Überzeugung besinnen. Nur so bleibt der Freimaurerbund lebendig und glaubwürdig.
| |
− | Freimaurerei muss mehr sein als Teilbegegnung im besten Seelengewand, einmal wöchentlich.
| |
− | Diese ganze, lebendige Freimaurerei kann nur in einer lebendigen Loge entstehen, sie
| |
− | ist in der Tat nicht in »Gedanken« zu erschöpfen. Was wir allerdings vorschlagen wollten,
| |
− | war eine Orientierungsplattform, war ein Kern, gedacht zum Weiterentwickeln des eigenen
| |
− | maurerischen Selbstverständnisses und zur Klärung des Bildes von Freimaurerei in der Öffentlichkeit.
| |
− | Noch einmal: Leitgedanken sind nicht die Freimaurerei, sie können aber helfen,
| |
− | uns und andere immer wieder an den bleibenden Auftrag unseres Bundes zu erinnern.
| |
− | Leitgedanken der Großloge A.F.u.A.M. von Deutschland
| |
− | 1. Die Großloge der Alten Freien und Angenommenen Maurer von Deutschland
| |
− | Die Freimaurer der Großloge der Alten Freien und Angenommenen Maurer von Deutschland
| |
− | bekennen sich zu den auf Würde, Freiheit und Selbstbestimmung des Menschen
| |
− | ausgerichteten Traditionen ihres Bundes. Dieses Erbe zu bewahren und es angesichts der
| |
− | Herausforderungen der Gegenwart in Denken und Handeln neu zu bestimmen, ist wichtigster
| |
− | Inhalt freimaurerischer Arbeit. Damit zieht die Großloge A.F.u.A.M.v.D. zugleich
| |
− | die Konsequenz aus der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, aus der sie hervorgegangen
| |
− | ist. Im Bewusstsein eigener Identität wirkt sie mit den anderen Großlogen im
| |
− | Rahmen der »Vereinigten Großlogen von Deutschland« zusammen und fühlt sich als Bestandteil
| |
− | einer weltumspannenden Gemeinschaft.
| |
− | 2. Das Wesen des Freimaurerbundes
| |
− | Das Wesen des Freimaurerbundes besteht in der Einheit von leitender Idee, tragender
| |
− | brüderlicher Gemeinschaft und vertiefendem symbolischen Erlebnis. Als Glieder eines
| |
− | ethischen Bundes treten die Freimaurer für Menschlichkeit, Brüderlichkeit, Toleranz,
| |
− | Friedensliebe und soziale Gerechtigkeit ein. Als Gemeinschaft brüderlich verbundener
| |
− | Menschen ist die Loge Übungsstätte dieser Werte. Als Symbolbund dient die Freimaurerei
| |
− | der Verinnerlichung von Idee und Gemeinschaft. Hierin liegt ihre Besonderheit gegenüber
| |
− | allen anderen Zusammenschlüssen mit verwandten Zielen.
| |
− | 3. Die geistige Arbeit
| |
− | Freimaurer wissen, dass die Werte, zu denen sie sich bekennen, immer wieder lebendig gemacht,
| |
− | angesichts vorhandener Gefährdung präzisiert und in stets neuem Bemühen verwirklicht
| |
− | werden müssen. Der Freimaurerbund verzichtet darauf, politische Programme
| |
− | zu formulieren, und nimmt nicht teil an parteipolitischen Auseinandersetzungen. Logen
| |
− | sollen vielmehr Stätten sein, an denen durch Information und gemeinsames Nachden265
| |
− | ken verantwortliches persönliches Handeln vorbereitet wird. Ihre unverändert wichtige
| |
− | aufklärerische Aufgabe erfüllen die Freimaurer der Großloge A.F.u.A.M.v.D. durch Überwinden
| |
− | von Vorurteilen, durch Entwickeln von Sensibilität für Zeitprobleme und durch
| |
− | Bemühen um gemeinsame Wahrheitssuche.
| |
− | 4. Die Loge
| |
− | Grundlage freimaurerischen Wirkens ist die Loge. Sie ist Zentrum geistiger Arbeit, Stätte der
| |
− | Begegnung und Ort ernster Besinnung. Für den Erfolg ihrer Arbeit ist offenes, ehrliches und
| |
− | hilfsbereites Miteinander Voraussetzung. Zum Zeichen engster Verbundenheit und Vertrautheit
| |
− | nennen sich die Freimaurer untereinander »Brüder«. Am geselligen Leben der Loge nehmen
| |
− | auch die Frauen der Mitglieder und ihre Familien teil. Trotzdem ist die Freimaurerei
| |
− | aus Tradition ein Männerbund. Sie sieht hierin keinen Widerspruch zur Gleichberechtigung
| |
− | von Mann und Frau, hält vielmehr Vereinigungen, die nur Männer (oder nur Frauen) umfassen,
| |
− | für ebenso legitime wie sinnvolle Formen menschlicher Gemeinschaft.
| |
− | 5. Das Brauchtum
| |
− | Der Freimaurerbund besitzt ein überliefertes Brauchtum, dessen Ursprung die mittelalterlichen
| |
− | Bauhütten sind. Die rituellen Arbeiten dienen der Einfügung neuer Mitglieder in
| |
− | die Gemeinschaft, der Vertiefung menschlicher Bindungen innerhalb der Bruderschaft,
| |
− | der Besinnung auf die moralischen Normen des Freimaurerbundes, der Sammlung und
| |
− | Erbauung des einzelnen Bruders. Die freimaurerischen Hauptsymbole sind das Buch
| |
− | des Heiligen Gesetzes, das Winkelmaß und der Zirkel. Sie erinnern an die ethischen Verpflichtungen
| |
− | des Menschen, seine Verbundenheit mit seinen Mitmenschen und seinen
| |
− | Bezug zur Transzendenz. Die Freimaurerei verzichtet auf jede inhaltliche Festlegung religiöser
| |
− | Symbole. Sie überlässt dies der persönlichen Überzeugung des einzelnen Bruders.
| |
− | 6. Freimaurerei, Weltanschauung, Religion
| |
− | Freimaurerei ist ein ethischer Bund und weder Religion noch Kirche. Sie will vielmehr
| |
− | Menschen der verschiedensten Weltanschauungen und religiösen Überzeugungen im Bewusstsein
| |
− | verbindender Werte auf der Grundlage einer gemeinsamen Symbolsprache zusammenschließen.
| |
− | Die Zugehörigkeit zu einer Konfessionsgemeinschaft hindert die Mitgliedschaft
| |
− | im Freimaurerbund nicht.
| |
− | 7. Das Geheimnis
| |
− | Die Freimaurerei ist kein Geheimbund. Geschichte, Wesen, Ziele, Satzung und Namen
| |
− | der Vorstände von Großloge und Logen sind öffentlich zugänglich. Selbst die Rituale
| |
− | sind oft publiziert worden. Trotzdem halten die Freimaurer an der Verschwiegenheit über
| |
− | die Einzelheiten ihres Brauchtums fest. Dieses Schweigen schützt das Erlebnis und stiftet
| |
− | Vertrauen.
| |
− | Die Leitgedanken wurden verfasst von
| |
− | Hans-Hermann Höhmann, Klaus Horneffer, Jens Oberheide
| |
− | unter Mitwirkung von
| |
− | Gerhard Grossmann, Hans-Joachim Jung, Friedrich Wilhelm Schmidt
| |
− | 266
| |
− | 1737–1987: Vergangene Hoffnungen
| |
− | einlösen! 250 Jahre Freimaurerei in
| |
− | Deutschland (1987)1
| |
− | Deutsche Freimaurer feiern in Hamburg, und die Öffentlichkeit der Freien und Hansestadt
| |
− | feiert mit. Die Hamburger Bürger, die im Dezember 1737 die Loge »Absalom« als erste
| |
− | Freimaurerloge auf deutschem Boden gründeten, setzten nicht nur einen Markstein in
| |
− | der Geschichte des Freimaurerbundes, sondern leisteten auch einen wesentlichen Beitrag
| |
− | zur Ideen- und Sozialgeschichte der Aufklärung. Dass deutsche Freimaurer mit ihren Hamburger
| |
− | Brüdern dieses Datum feiern, dass die Öffentlichkeit daran Interesse nimmt, hat allerdings
| |
− | nicht nur mit Rückblick auf Vergangenes zu tun. Wichtiger – weil bleibender – ist,
| |
− | dass damals und im weiteren Verlauf der freimaurerischen Geschichte Ideen formuliert und
| |
− | Hoffnungen begründet wurden, die auf die Zukunft bezogen waren.
| |
− | Dimensionen der Hoffnung
| |
− | Die Hamburger Logengründung erfolgte zwei Jahrzehnte nach der Entstehung der Londoner
| |
− | Großloge. Diese wiederum stand im Zeichen der wenig später formulierten »Alten
| |
− | Pflichten«, die in der weiteren Entwicklung der Großen Loge von Hamburg immer einen
| |
− | zentralen Platz eingenommen haben. Das Besondere der »Alten Pflichten« aber war, dass das
| |
− | Sittengesetz anstelle religiös-dogmatischer Bindungen und staatlicher Gesinnungskontrolle
| |
− | zum obersten Maßstab menschlichen Handelns und folglich auch zur Richtschnur für den
| |
− | Freimaurer erklärt wurde. Gewiss empfand sich die Aufklärungsfreimaurerei nicht als politische,
| |
− | in ihren Absichten gegen feudale Gesellschaft und absolutistischen Staat gerichtete
| |
− | Aktionsgruppe. Doch indem die Logen neue Sozialformen nach eigenen Regeln darstellten,
| |
− | indem sie bürgerliche Gleichheit und Offenheit, ja »Freiheit im Geheimen« (R. Koselleck)
| |
− | praktizierten, gerieten sie potentiell mit Staat und Religion in Konflikt. Die »Alten Pflichten
| |
− | « selbst sind ein anschaulicher Spiegel dieser Ambivalenz. Einerseits grenzen sie die Logen
| |
− | von der Politik scharf ab (»Wir wenden uns entschieden gegen jedes Politisieren«), andererseits
| |
− | erklären sie, dass – im Unterschied zu moralischen Verfehlungen – Widerstand gegen
| |
− | die Obrigkeit für sich allein genommen kein Grund zum Ausschluss aus der Loge ist. Im
| |
− | Selbstverständnis der frühen Maurer steht das Sittengesetz eben über politischer Loyalität.
| |
− | Was das Sittengesetz inhaltlich ausmacht, ist allerdings begrifflich immer wieder neu gefasst
| |
− | worden. Menschlichkeit, Brüderlichkeit und Toleranz sind als Ausdruck freimaurerischer
| |
− | Überzeugungen ebenso bekannt geworden wie Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Die
| |
− | genannten Werte waren als Maßstäbe des Sittlichen zunächst immer plakativ und vielfältiger
| |
− | Konkretisierung offen. In der Geschichte des Bundes – und auch außerhalb der Freimaurerei
| |
− | – wurden sie folglich unterschiedlich gewichtet und ausgelegt, was zur Quelle von Konflikten,
| |
− | ja Spaltungen und Neugründungen verschiedener Art geführt hat. Dennoch ist die
| |
− | Idee des Sittengesetzes und der ihm entsprechenden ethischen Werte unverzichtbar. Jede
| |
− | 1 Dieser Beitrag wurde ursprünglich veröffentlicht in: Humanität. Das deutsche Freimaurermagazin, Nr.
| |
− | 8, Dezember 1987, S. 10–12.
| |
− | 267
| |
− | Generation von Freimaurern steht vor der Aufgabe, für sich zu bestimmen, was der Inhalt
| |
− | sein soll. Dies setzt eine anhaltende Bereitschaft voraus, die soziale und politische Wirklichkeit
| |
− | im Lichte ethischer Überzeugungen stets aufs Neue kritisch zu reflektieren.
| |
− | Damit ist Freimaurerei von Anfang an mehr Prozess als Zustand, mehr Anstoß zur Frage
| |
− | als Gewissheit der Antwort. Viele Ausdrucksformen der älteren und neueren Geschichte
| |
− | bringen dies zum Ausdruck: Der Mensch ist »Suchender«, er »geht seinen Weg« durch die
| |
− | Grade des Lehrlings, Gesellen und Meisters, er »misst« sich an Symbolen, soll »vom rauhen
| |
− | zum behauenen Stein werden«. Freimaurerei ist mehr Ethos als Inhalt. Die Große Loge
| |
− | von Hamburg etwa hatte diesen Gesichtspunkt in ihrer Verfassung ausdrücklich verankert.
| |
− | Begriffe wie »Gesinnungsart«, »Lebenskunst«, »Mitarbeit an allem Guten« (aber auch an
| |
− | der Bekämpfung von Übeln), »Förderung von menschlicher Glückseligkeit« (aber auch
| |
− | Erziehung zu Pflichtbewusstsein) bringen den methodischen Ansatz zum Ausdruck. Mit
| |
− | Hamburg verbunden ist auch Gotthold Ephraim Lessing, der in seinen »Gesprächen für
| |
− | Freimäurer« einen weiteren Wesenszug des Bundes umriss. Freimaurer kämpfen gegen die
| |
− | unvermeidlichen Übel der Welt, indem sie die politisch-gesellschaftlichen Trennungen zwischen
| |
− | den Menschen überwinden helfen, die ohne Zerstörung der Gesellschaft prinzipiell
| |
− | nicht aufhebbar sind – hier ist Lessing im Vergleich zu Marx der weitaus größere Realist
| |
− | –, die aber dennoch nichts Positives darstellen. Freimaurer überwinden Gräben, und das
| |
− | Mittel, das sie dazu anwenden, ist die Freundschaft. Leitmotivisch heißt es gleich zu Beginn
| |
− | von Lessings Schrift: »Nichts geht über das laut denken mit einem Freunde«. Freimaurerei
| |
− | »beruht auf dem gemeinschaftlichen Gefühl sympathisierender Geister«, Freimaurerei ereignet
| |
− | sich nur, wo Freundschaft ist. Damit ist zugleich die »wahre Ontologie« der Loge aufgezeigt,
| |
− | die, will sie lebendig sein und Kraft entfalten, ein Freundschaftsbund zu sein hat.
| |
− | Das Sittengesetz, das aufgezeigte methodische Vorgehen und die Idee vom Menschen
| |
− | als dem Freund, dem Mitmenschen stehen schließlich auch im Zentrum des gleichfalls als
| |
− | Gabe der Geschichte überkommenen freimaurerischen Brauchtums. Dieses Brauchtum hat
| |
− | mit seinen Symbolen und feierlichen Handlungen einen ganz besonderen, auf andere Weise
| |
− | nicht zu erfüllenden Auftrag: Es stiftet Gemeinschaft, schafft Raum für Nachdenklichkeit,
| |
− | erzieht, fördert kreatives Erleben, bringt Wandlung und Veränderung zum Ausdruck und
| |
− | verweist schließlich auf eine übergeordnete Verantwortung des Menschen, auf seinen transzendenten
| |
− | Bezug. Wenn Freimaurer von Beginn an das Symbol des Großen Baumeisters
| |
− | aller Welten als zentrales Symbol verwenden, so erinnern sie daran, dass sinnvolles Leben
| |
− | nur dann gelingen kann, wenn sich der Mensch einer höheren Ordnung verantwortlich
| |
− | und auf diese rückbezogen fühlt. Und das Aufschlagen des Johannes-Evangeliums mit seiner
| |
− | Mahnung, dass »das Leben das Licht der Menschen ist«, mag in einer Zeit umfassender
| |
− | Lebensbedrohung wahrhaft aufrüttelnden Charakter besitzen.
| |
− | Hoffnung in Gefahr
| |
− | Die Geschichte der deutschen Freimaurerei seit 1737 ist nun in keiner Weise ein einheitlicher,
| |
− | kontinuierlicher Prozess gewesen, in dem die aufgezeigten Hoffnungen umfassend
| |
− | hätten eingelöst werden können. Verwoben mit der Geschichte Deutschlands generell gab es
| |
− | Aufschwünge und Stagnation, Verbot und Unterdrückung, ungerechte Verleumdung, aber
| |
− | auch eigene Beteiligung an reaktionär-nationalistischen Rückfällen. Zeiten äußerer Blüte wa268
| |
− | ren zudem nicht immer auch Zeiten geistiger Profilierung und sozialer Lebendigkeit. Phasenweise
| |
− | trat an die Stelle des aufklärerischen Erbes, sich vorwärtstreibend-kritisch zur Gesellschaft
| |
− | in Beziehung zu setzen, die Anpassung an Zeitgeist und politisch-sozialen Status
| |
− | quo. Phasenweise traten auch die Mächtigen den Logen bei und förderten die Tendenz mancher
| |
− | Freimaurer, Logen und Großzogen, sich vor allem als treue Diener von Thron und Altar
| |
− | zu verstehen. Auch erlag man zuweilen der Versuchung, die ständische Struktur der Gesellschaft,
| |
− | die doch ursprünglich im Bund »bloßer Menschen« überwunden werden sollte,
| |
− | in Form differenzierter Hierarchien auf Logen und Großzogen zu übertragen, und dies
| |
− | noch zu einer Zeit, als die feudale Gesellschaft längst von der sozialen Realität überholt war.
| |
− | Dennoch: Es besteht kein Grund zu genereller Distanzierung von der freimaurerischen Geschichte.
| |
− | Immer, bei aller Gefährdung der Hoffnung, war die Idee der Freimaurerei lebendig,
| |
− | und die Logen boten den Menschen Heimat und gaben ihnen Kraft. Das Ringen um die Lebendigkeit
| |
− | der Freimaurerei, das nie nachgelassen hat, schlug sich auch in vielen lebendigen
| |
− | Auseinandersetzungen und auch in einer Reihe von Neugründungen von Logen und Großlogen
| |
− | nieder. Dies ist oft bedauert und als eine Ursache für den zu schwachen Widerstand
| |
− | gegen die Welle des Nationalismus im frühen 20. Jahrhundert diagnostiziert worden. Für
| |
− | uns heute bietet das lebendige Meinungsspektrum der Freimaurerei vor 1933 jedoch viele
| |
− | Anregungen zum Nachdenken über die Freimaurerei der Gegenwart.
| |
− | Mut zur alten Hoffnung
| |
− | Wir sollten nicht von 1737 sprechen, ohne nach 1987 zu fragen. Vergleichen wir die deutsche
| |
− | Freimaurerei der Aufklärungszeit und auch späterer Perioden mit der der Gegenwart,
| |
− | so könnte sich zunächst Resignation einstellen. Große Namen sind selten geworden, große
| |
− | Zahlen fehlen. Aber gibt dies wirklich den Ausschlag? Freimaurerei ging ja immer vom einzelnen
| |
− | Menschen aus. Menschen einander näher zu bringen, die sich sonst fremd geblieben
| |
− | wären (so die »Alten Pflichten«), heißt doch, einzigartige, individuelle Beziehungen zu
| |
− | schaffen. Lessings »laut denken mit dem Freunde« setzt gleichfalls die kleine, überschaubare
| |
− | Gemeinschaft voraus. Schließlich geht es auch im Ritual stets um den Einzelmenschen, seine
| |
− | Würde, seine Anfechtungen, seine Beziehung zum Bruder. Nicht, dass wir an Wachstum
| |
− | desinteressiert sein dürften. Unser Bund hat nicht nur Erbe, sondern auch Auftrag. Zitieren
| |
− | wir diesen Auftrag mit den Worten der alten Hamburger Großlogenverfassung: die
| |
− | Pflege des Wahren, Guten, Schönen im Menschentum; die Verminderung des physischen
| |
− | und moralischen Übels in der Welt; die sittliche Veredelung seiner Mitglieder. Zum Auftrag
| |
− | des Bundes kommt die Suche der Außenstehenden: Wir wissen, dass viele Menschen nach
| |
− | dem streben, was dem Freimaurer, der »seine Kunst recht versteht«, am Herzen liegt: Selbstfindung
| |
− | und Sinnfindung, Nachdenklichkeit, Geborgenheit und Schutz vor Indiskretem,
| |
− | menschliche Offenheit und Freundschaft. Dennoch sollten wir den Mut zur kleinen Zahl
| |
− | und den Wenigen haben. Mehr als äußeres Wachstum zählt innere Lebendigkeit. Gelingt
| |
− | es, die »vergangenen Hoffnungen« im Kleinen einzulösen, werden sich Ausstrahlung und
| |
− | Wachstum von selbst einstellen. Dafür, dass es lebendige Freimaurerei in Deutschland gibt,
| |
− | stehen viele ermutigende Beispiele.
| |
− | Fragt man sich, was eine Loge und Großloge lebendig und ausstrahlungsfähig macht, so
| |
− | deutet die Erfahrung auf vier Prinzipien hin, die mit den Stichworten Qualität, Redlichkeit,
| |
− | 269
| |
− | Offenheit und Konsequenz umrissen werden können. Qualität bedeutet, hohe Maßstäbe
| |
− | an uns selbst und unsere Logen anzulegen. Das beginnt mit sorgfältigster Auswahl der
| |
− | Suchenden, setzt sich fort über ein hohes Niveau des rituellen, gesellschaftlichen und
| |
− | geistigen Lebens von Loge und Großloge und fordert von jedem Einzelnen den anspruchsvollen
| |
− | Umgang mit sich selbst und seinem Bruder. Redlichkeit meint vor allem, uns selbst
| |
− | und unseren Bund richtig einzuschätzen. Eine Gemeinschaft, die viel zu geben hat, kann
| |
− | es sich leisten, auch die Fehlentwicklungen von Vergangenheit und Gegenwart einzugestehen.
| |
− | Schließlich gehören Suchen und Irren nun einmal zusammen. Offenheit bedeutet
| |
− | dreierlei: Offenheit für neue Menschen (Qualität vorausgesetzt!), Offenheit für den Bruder
| |
− | in der Loge und Offenheit für die Probleme der Zeit, die den Einzelnen beschäftigen
| |
− | und nach Orientierung suchen lassen. Dies bedeutet keine Politisierung der Logen, kann
| |
− | sich wohl aber als indirekte politische Kraft erweisen, wie dies schon für die Logen der
| |
− | Aufklärungszeit charakteristisch war. Wenn der Freimaurer nach alter Lehre dem Sittengesetz
| |
− | gehorchen soll, wenn er sich zu einem sinnvollen Lebens- und Weltentwurf bekennt,
| |
− | dann sollte er mit seinen Brüdern danach fragen können, wie es um die Verwirklichung
| |
− | seiner Wertvorstellungen in der Realität bestellt ist. Er sollte Orientierung finden, sein Urteil
| |
− | schärfen, Vorurteile ablegen und zu individuellem Handeln motiviert werden können.
| |
− | Schließlich überzeugt Freimaurerei nur, wenn sie konsequent ist. Unser Bund formuliert
| |
− | hohe Ansprüche. Wir sollten so handeln, dass wir bestehen, wenn andere uns selbst mit
| |
− | diesen Ansprüchen messen.
| |
− | Die Vergangenheit, so zeigt der Rückblick auf 250 Jahre Geschichte der Freimaurerei in
| |
− | Deutschland, hat Hoffnungen geweckt. Diese Hoffnungen kreisen um Würde, Freiheit und
| |
− | Selbstbestimmung des Menschen. Die Geschichte hat zugleich den ganzen Reichtum von
| |
− | Ideen, Ausdrucksformen und brüderlicher Gemeinschaft hervorgebracht, der das Wesen
| |
− | unseres Bundes ausmacht. Die Geschichte hat freilich auch die Möglichkeit des Scheiterns
| |
− | aufgezeigt. Hieraus kann der Schluss gezogen werden, dass Freimaurerei durch jede Generation
| |
− | von Freimaurern neu entsteht. Ob 1737 ein Datum mit Glanz ist, hängt davon ab, ob
| |
− | wir in der Lage sind, diesen Glanz zu reflektieren. Worauf es dabei ankommt, haben Horkheimer
| |
− | und Adorno in der Vorrede zu ihrer »Dialektik der Aufklärung« zum Ausdruck
| |
− | gebracht: »Nicht um die Konservierung der Vergangenheit, sondern um die Einlösung der
| |
− | vergangenen Hoffnung ist es zu tun.«
| |
− | 270
| |
− | Lessing und die Freimaurerei der
| |
− | Gegenwart (1991)1
| |
− | Immer wieder gehen Freimaurer auf die Suche nach Selbstverständnis und Identität. Dies
| |
− | verwundert nicht. Hängt doch die Entwicklung des Bundes ausschließlich davon ab, ob es
| |
− | gelingt, Freimaurerei überzeugend zu begründen und engagiert zu praktizieren. Diese Aufgabe
| |
− | leistet für uns kein Lehramt und keine verbindliche Ideologie. Viele Ansätze sind möglich
| |
− | und können miteinander konkurrieren. Ich will in diesem Beitrag da auf die Suche gehen,
| |
− | wo längst überzeugende Antworten gefunden wurden: Bei Lessing und seiner in Ernst
| |
− | und Falk vorgenommenen Wesensbestimmung (»wahren Ontologie«) der Freimaurerei. An
| |
− | Lessings Wort angelehnt frage ich: Was ist von den spekulativischen Wahrheiten des großenAufklärers
| |
− | für heute gemeinnütziger und dem Logenleben ersprießlicher zu machen? Ich
| |
− | könnte auch direkter fragen: Hilft uns Lessing bei der Erarbeitung eines freimaurerischen
| |
− | Selbstverständnisses für die Gegenwart?
| |
− | Das Vorhaben einer gegenwartsbezogenen »Lessingnahme« ist als solches keineswegs
| |
− | neu und originell. Immer wieder wurde versucht, Lessing im Allgemeinen und Ernst und
| |
− | Falk im Besonderen für jeweils konkrete freimaurerische Begründungsbedürfnisse zu nutzen.
| |
− | Aus der Schrift in Vorträgen, Tempelzeichnungen und Artikeln zu zitieren, war seit
| |
− | jeher weit verbreitet. Allerdings wurden dabei Gesamtheit und Dialektik des Ansatzes oft
| |
− | verfehlt, so dass von Lessings geschlossenem Entwurf meistens nicht viel mehr übrig blieb
| |
− | als ein Steinbruch für Zitate. »Freimaurerei war immer«, »Freimaurerei ist nichts Willkürliches,
| |
− | nichts Entbehrliches«. Wer von uns kennte und schätzte solche Worte nicht, wer
| |
− | hätte sich ihrer nicht gern und oft bedient. Doch was fast regelmäßig verloren ging, ist die
| |
− | komplexe Vielschichtigkeit des Lessing’schen Freimaurerbegriffes und die eminente Bedeutung
| |
− | von Ernst und Falk als freimaurerkritischer Schrift.
| |
− | Auch (und vielleicht gerade) die humanitäre Freimaurerei war – indem sie Lessing unter
| |
− | Verzicht auf Reflexion zu ihrem Heros machte und es versäumte, den mehrdimensionalen,
| |
− | ja kritisch-widersprüchlichen Charakter seines Freimaurerbegriffes auszuloten, – nur sehr
| |
− | partiell in der Lage, Lessing wirklich produktiv zu rezipieren. Der Autor von Ernst und
| |
− | Falk war sich der drohenden Verständnisschwierigkeiten im Übrigen durchaus bewusst und
| |
− | fasste Claudius gegenüber seine Skepsis in die Worte: »Es sollte mich wundern, wenn es
| |
− | nur einer richtig versteht.«
| |
− | Standortbestimmung erforderlich
| |
− | Wie sinnvoll der Rückgriff auf Lessing für heutige Standortbestimmungen ist, soll später erprobt
| |
− | werden. Doch zuvor ist zu fragen, ob es überhaupt eine »wahre Ontologie«, eine Wesensermittlung
| |
− | der Freimaurerei also, für unsere Zeit geben kann, ob ein Konsens der Brüder
| |
− | hierüber möglich ist, ja ob eine solche Übereinstimmung überhaupt wünschenswert wäre?
| |
− | Zunächst lässt sich wohl feststellen, dass es tatsächlich eine Fülle »wahrer Ontologien« bzw.
| |
− | 1 Dieser Beitrag wurde ursprünglich veröffentlicht in: Humanität. Das deutsche Freimaurermagazin, Nr.
| |
− | 7, Oktober/November 1991, S. 13–17.
| |
− | 271
| |
− | »freimaurerischer Selbstverständnisse« gibt, die mehr oder weniger durchdacht und ausformuliert
| |
− | sind. In jeder Logendiskussion, jedem Heft der »Humanität« treten sie uns entgegen.
| |
− | Die außerordentliche Spannbreite der Definition sollte dabei nicht überraschen. Einmal
| |
− | ist Freimaurerei nicht auf klar bestimmte konkret-operative Aufgaben festgelegt, woraus
| |
− | sich folglich auch keine präzise, von klaren Zielen abgeleitete Bestimmung des Begriffes
| |
− | »Freimaurerei« ergeben kann. Zum andern vertritt die Großloge A.F.u.A.M. eine konzeptionell
| |
− | weitgehend »offene« Freimaurerei, was gleichfalls eine Fülle unterschiedlicher subjektiver
| |
− | Wesensbestimmungen möglich macht. Dies ist im Prinzip durchaus in Ordnung. Schädlich
| |
− | ist nur zweierlei: Erstens die Komplexitätsverkürzung, die mit vielen der gängigen Definitionen
| |
− | wie »Mysterienbund«, »Geisteshaltung«, »Kulturtechnik«, »initiatische Gemeinschaft«
| |
− | etc. verbunden ist, und zum zweiten die ganz und gar unfreimaurerische Neigung, solche Definitionen
| |
− | absolut zu setzen und sie nicht als verschiedene koexistenzfähige Aspekte des vielschichtigen
| |
− | Phänomens »Freimaurerei« zuzulassen.
| |
− | Einerseits diese Vielfalt, andererseits die Notwendigkeit, nach innen und außen ein klares
| |
− | Bild zu entwickeln und glaubwürdig zu sein, macht es erforderlich, immer wieder an einer
| |
− | gemeinsamen freimaurerischen Grundorientierung zu arbeiten. Dies kann allerdings auch
| |
− | ganz anders gesehen werden. Gerade die scheinbar willkürliche, widersprüchliche, ja zuweilen
| |
− | chaotisch anmutende Erscheinungsweise der Freimaurerei repräsentiert für manchen von
| |
− | uns den dringend erwünschten Kontrapunkt zur Zweckrationalität des Alltags. Konsequenz
| |
− | und Glaubwürdigkeit gelten deshalb gelegentlich geradezu als kontraproduktiv.
| |
− | Ich habe durchaus Sympathie für diesen Standpunkt, denn unprätentiöse Buntheit gefällt
| |
− | auch mir besser als anspruchsvolles Pathos ohne konzeptionelle Grundlage und intellektuelle
| |
− | Redlichkeit. Dennoch halte ich den Diskurs um das freimaurerische Selbstverständnis
| |
− | unserer Zeit, ja das Entstehen miteinander diskutierender »Denkschulen« innerhalb unseres
| |
− | Bundes für dringend erforderlich, und zwar erstens wegen der unbefriedigenden Lage der
| |
− | Freimaurerei in Deutschland und zweitens wegen der Zuspitzung von Krisenerscheinungen
| |
− | in der heutigen Welt, mit denen sich der humanitäre Freimaurer – by his tenure – nun einmal
| |
− | auseinanderzusetzen hat.
| |
− | Zur Freimaurerei in Deutschland in aller Kürze Folgendes: Der Bestand unseres Bundes
| |
− | ist nicht unmittelbar gefährdet. Doch muss bedenklich stimmen, dass trotz Dynamik und
| |
− | guter Entwicklung vieler Bruderschaften nicht wenig kleine und überalterte Logen in ihrer
| |
− | Existenz bedroht sind, ja dass man im Einzelfalle auch um ganze Distrikte besorgt sein
| |
− | muss. Sicherlich arbeiten viele Gruppen und einzelne Brüder unserer Großloge intensiv
| |
− | und erfolgreich. Ob allerdings diese Arbeit dem Bund insgesamt zugute kommt, ob innerer
| |
− | Glanz zugleich auch Ausstrahlung nach außen bedeutet, ob die aktiven Maurer auch die
| |
− | gesamte Bruderschaft bereichern, ob sich unsere in besonderem Maße »würdigen Männer
| |
− | von gehöriger Anlage« (Lessing) im Sinne der dringend erwünschten »Elitenzirkulation« für
| |
− | Leitungsfunktionen zur Verfügung stellen oder ob sich nicht allzu oft ein steriles »Ämterkarussell
| |
− | « dreht – das sind durchaus offene Fragen. Sind solche Fragen aber berechtigt, verlangen
| |
− | sie gar dringend nach Antwort, so hilft – meine ich – nur eine verstärkte Selbstverständnisdiskussion,
| |
− | und was wiederum Lessing dabei helfen kann, ist gleich weiter auszuloten.
| |
− | Ich hatte als zweiten Grund für diese Selbstverständniserörterung die Krise der Welt um
| |
− | uns herum genannt. Die moderne Entwicklung seit der Aufklärung hat große Errungenschaften
| |
− | gebracht. Sie hat aber auch zu sich häufenden Problemen geführt, die eine erneute
| |
− | Wende erforderlich machen. Bedrohungen nehmen zu, und Trennungen reißen auf: Tren272
| |
− | nungen zwischen Menschen, Gesellschaften und Kulturen, zwischen Mensch und Natur,
| |
− | innere Trennungen und Entfremdungen des Menschen. Hier kann und darf die Freimaurerei
| |
− | nicht abseits stehen, hier sollte sie am Einlösen ihrer eigenen »vergangenen Hoffnungen«
| |
− | arbeiten, etwa der Utopie der Weltbruderkette, hier sollte sie freimaurerisches Handeln nicht
| |
− | an andere delegieren, sondern ihren Beitrag zum Überwinden der genannten Trennungen
| |
− | leisten.
| |
− | Überwinden von Trennungen aber ist nichts anderes als das große Thema Lessings in
| |
− | Ernst und Falk. Fragen wir also: Was hilft uns Lessing heute, kann seine »wahre Ontologie
| |
− | der Freimaurerei« auch die unsere sein, lässt sich seine Schrift mit Gewinn im Kontext gegenwärtiger
| |
− | Freimaurerei interpretieren?
| |
− | Lessings Argumentation
| |
− | Ausgangspunkt Lessings in Ernst und Falk – und damit zentraler Angelpunkt seiner freimaurerischen
| |
− | Anthropologie – ist die »Glückseligkeit jedes einzelnen Menschen«. Staat und bürgerliche
| |
− | Gesellschaft sind für die Menschen geschaffen, damit »in dieser Vereinigung jeder
| |
− | einzelne von ihnen seinen Teil von Glückseligkeit desto besser und sicherer genießen kann«.
| |
− | Überindividuelle, kollektivistisch-ideologische Staatszwecke lehnt Lessing ab: »Jede andere
| |
− | Glückseligkeit des Staates« – so heißt es weiter (und hier liegt auch der Kern von Lessings Kritik
| |
− | am Preußen Friedrichs) – »bei welcher auch noch so wenig einzelne Glieder leiden und leiden
| |
− | müssen, ist Bemäntelung der Tyrannei. Anders nicht!«
| |
− | Aber Staat und bürgerliche Gesellschaft können nur vereinigen, indem sie die Menschen
| |
− | zugleich trennen. Auch die beste Staatsverfassung kann nicht die Existenz mehrerer Staaten
| |
− | verhindern. Der universelle Weltstaat wäre aufgrund seiner ungeheuren Dimension keiner
| |
− | Verwaltung fähig. Mehrere Staaten aber haben unterschiedliche Interessen, Gewohnheiten
| |
− | und Sitten, folglich unterschiedliche Sittenlehren und deshalb wiederum verschiedene Religionen.
| |
− | Aber nicht nur in verschiedene Völker und Religionen teilt und trennt die bürgerliche
| |
− | Gesellschaft, nein, in Form der unterschiedlichen Stände setzt sie ihre Trennungen gleichsam
| |
− | bis ins Unendliche fort.
| |
− | Diese Trennungen sind schrecklich, aus ihnen folgt das Übel der Welt, und dennoch sind
| |
− | sie – dies sieht Lessing viel realistischer als hundert Jahre später Marx – prinzipiell unaufhebbar:
| |
− | Würde doch ihre Beseitigung Staat und Gesellschaft selbst zerstören. Von Übel ist
| |
− | auch die Rückwirkung der Trennungen auf die Menschen, denn »wenn jetzt ein Deutscher
| |
− | einem Franzosen, ein Franzose einem Engländer … begegnet, so begegnet nicht mehr ein
| |
− | bloßer Mensch einem bloßen Menschen, die vermöge ihrer gleichen Natur gegeneinander
| |
− | angezogen werden, sondern ein solcher Mensch begegnet einem solchen Menschen, die
| |
− | ihrer verschiedenen Tendenz sich bewußt sind, welches sie gegeneinander kalt, zurückhaltend,
| |
− | mißtrauisch macht, noch ehe sie für ihre einzelne Person das geringste miteinander zu
| |
− | schaffen und teilen haben«.
| |
− | Mit der gleichen Notwendigkeit, wie die Menschen den Staat brauchen, wie dann aber
| |
− | Trennungen entstehen zwischen Völkern, Religionen und Ständen, wie diese Trennungen
| |
− | wiederum mit unvermeidbaren Übeln verbunden sind, muss es nun Menschen geben, die
| |
− | durch Taten besonderer Art, Taten nämlich, die überflüssig machen, was man gemeinhin
| |
− | »gute Taten« nennt (und was wir heute als Sozialpolitik bezeichnen), die durch Taten also
| |
− | 273
| |
− | die genannten schrecklichen Trennungen so weit als möglich aufheben. Doch nicht alle
| |
− | Menschen sind zu solchen Taten befähigt, nur eine Elite wirkt an diesem guten Werk (am
| |
− | »opus supererogatum«) mit. Diese Menschen, die weisesten und besten eines jeden Staates,
| |
− | aber sind die Freimaurer, die es »mit zu ihrem Geschäft gemacht haben, die Trennungen,
| |
− | durch die die Menschen einander so fremd werden, wieder so eng wie möglich zusammenzuziehen
| |
− | «.
| |
− | Freimaurerei als jetzt und in Zukunft wahrzunehmende gesellschaftliche Funktion und
| |
− | Freimaurerei als reale historische Erscheinung fallen allerdings nicht zwangsläufig zusammen,
| |
− | denn »Loge verhält sich zur Freimaurerei wie Kirche zum Glauben«. Hier setzt der
| |
− | freimaurerkritische Schriftsteller Lessing ein, der eine anregende, aber auch unbequeme
| |
− | Lektüre zur Frage bietet, wie weit die jeweils konkret-historische Freimaurerei von der »Wesenheit
| |
− | « Freimaurerei abfallen und Freimaurerei sich sozusagen von sich selbst entfernen
| |
− | kann. Falk (Lessing) kritisiert aber nicht nur das zu seiner Zeit verwirklichte »konkrete
| |
− | Schema der Freimaurerei«, er stellt auch den Ansatz einer institutionalisierten Freimaurerei
| |
− | überhaupt in Frage, beruhe Freimaurerei doch »im Grunde nicht auf äußerliche Verbindungen,
| |
− | die so leicht in bürgerliche Anordnungen ausarten«, sondern auf dem »gemeinschaftlichen
| |
− | Gefühl sympathisierender Geister«. Freimaurerei ist ein Freundschaftsbund.
| |
− | Trennungen durch und in Freundschaft zu überwinden, über die »wichtigsten Dinge« laut
| |
− | mit dem Freunde nachzudenken, darin bestehen die Taten der Freimaurer. Lessing spricht
| |
− | vom Hang, »in und neben der großen bürgerlichen Gesellschaft, kleinere vertraute Gesellschaften
| |
− | zu bilden« und definiert am Ende seiner Schrift Freimaurerei als die Gesellschaft,
| |
− | »die sich von der Praxis des bürgerlichen Lebens zur Spekulation erhebt, um zu untersuchen,
| |
− | was unter dem Brauchbaren (d.h. dem Tatsächlichen) wahr ist«.
| |
− | Insgesamt lässt Lessings vielschichtiger Begriff von Freimaurerei mindestens vier verschiedene,
| |
− | bis heute fruchtbare Aspekte erkennen:
| |
− | • Freimaurerei »ihrem Wesen nach«, d.h. als gesellschaftliche Funktion, Trennungen zu
| |
− | überwinden, und als solche »ebenso alt wie die bürgerliche Gesellschaft«;
| |
− | • Freimaurerei als Elite der Weisesten und Besten, die die genannte gesellschaftliche Funktion
| |
− | des Brückenschlags zwischen Nationen, Religionen und Ständen ausübt;
| |
− | • Freimaurerei als historisch-konkrete Erscheinung des ausgehenden 18. Jahrhunderts, die
| |
− | von Lessing überwiegend kritisch behandelt wird, und schließlich
| |
− | • Freimaurerei als Freundschaftsbund, als Mitmenschlichkeit im Dialog, (»Nichts geht
| |
− | über das laut denken mit einem Freunde«), als helfende Methode auch, durch Fragen
| |
− | dem Gesprächspartner zu Wissen und klaren Begriffen zu verhelfen.
| |
− | Auf heute übertragen ergeben sich folgende Konsequenzen:
| |
− | Zunächst: Lessings Verständnis der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Trennungen lässt
| |
− | sich auf die Freimaurerei übertragen. Auch der Freimaurerei geht es um den konkreten Einzelmenschen,
| |
− | seine Freiheit und Würde, rituell bestimmt durch seine individuelle Initiation.
| |
− | Um diese zu vermitteln, bedarf es der Vereinigung zur Freimaurergruppe, zur Loge,
| |
− | zur Großloge. Diese Freimauergruppen aber sind wie Staat und Gesellschaft: Sie vereinigen
| |
− | nicht nur, sondern sie trennen auch. Und während sie institutionell-organisatorisch trennen,
| |
− | verändern und verwandeln sie die Menschen in den Logen: Aus bloßen Brüdern werden solche
| |
− | Brüder, Brüder unterschiedlicher Logen mit zuweilen gegensätzlichen Interessen, Brüder
| |
− | 274
| |
− | verschiedener Großlogen und Lehrarten, anglophile und frankophile Brüder, Brüder mit hohen
| |
− | Graden und Brüder ohne solche, »reguläre« Brüder und – horribile dictu – »irreguläre«
| |
− | gar und so weiter und so fort. Die Folge ist, dass aufgrund dieser Trennungen alles andere
| |
− | als ein hohes Konfliktpotential innerhalb der Freimaurerei erstaunlich wäre. Deshalb bedarf
| |
− | es immer wieder intensiver Anstrengungen, um die unvermeidlichen, aber keineswegs guten,
| |
− | ja – mit Lessing – durchaus »schrecklichen« Trennungen zwischen den Brüdern zu überwinden:
| |
− | es bedarf permanent der Freimaurerei in der Freimaurerei!
| |
− | Wichtiger sind allerdings die Konsequenzen, die sich aus Lessings Einordnung der Freimaurerei
| |
− | in umfassende gesellschaftliche Zusammenhänge ergeben. Vor allem vier Gesichtspunkten
| |
− | kommt eine aktuelle Bedeutung zu:
| |
− | Erstens: Lessing kann uns helfen, die alte, doch auch für uns entscheidende Frage zu klären,
| |
− | »was und warum Freimaurerei ist, wann und wo sie gewesen, wie und wo sie befördert oder
| |
− | gehindert wird«. Lessings Antwort ist: Freimaurerei ist da lebendig und nur da, wo sie eine
| |
− | gesellschaftliche Funktion wahrnimmt, wo sie mit der Gesellschaft in einer Beziehung von
| |
− | Herausforderung und Antwort verknüpft ist, wo sie durch »wahre Taten«, das heißt Überwindung
| |
− | von Trennungen, langfristig und dauerhaft Gutes bewirkt. Fazit für heute: Die Lebensfähigkeit
| |
− | des Freimaurerbundes kann nur durch Wahrnehmen notwendiger gesellschaftlicher
| |
− | Funktionen gesichert werden. Wir müssen sie bestimmen und ausüben!
| |
− | Zweitens: Lessing macht uns aufmerksam, dass Freimaurerei sich selbst verfehlen kann. Daher
| |
− | ist das jeweilige »heutige Schema« des Bundes immer wieder kritisch zu überprüfen, ja
| |
− | wir müssen uns mit Lessing der bohrend provozierenden Frage stellen, ob Freimaurerei im
| |
− | Sinne seiner »wahren Ontologie« im heutigen Freimaurerbunde überhaupt noch möglich
| |
− | ist. Vielleicht hilft da die schlichte Frage: Möchte ich in einer Gesellschaft leben, die nach
| |
− | dem Modell meiner Loge gestaltet ist? Auch müssen wir – wenn wir Lessing folgen – wohl anerkennen,
| |
− | dass es Freimaurerei auch außerhalb der Freimaurerei gibt, ja dass wir Freimaurer
| |
− | nur ein kleiner Teil dieser Freimaurerei sind, und auch dies nur, wenn wir – mit Lessing – »da
| |
− | herum arbeiten«, nämlich da, wo es gilt, gegen die Trennungen zu arbeiten.
| |
− | Drittens: Institutionen wie Logen, Großlogen, bruderschaftliche Vereinigungen sind – was
| |
− | ihren Charakter als Organisationsformen betrifft – von relativ geringer Bedeutung. Entscheidend
| |
− | ist »das gemeinschaftliche Gefühl sympathisierender Geister«, von Bedeutung allein
| |
− | sind die Taten der Freundschaft. Freimaurer sind vor allem Freunde, die gemeinsam nachdenken,
| |
− | die nicht mit Vorurteilen und Ideologien gegeneinander vorgehen, die kritisch sind
| |
− | und offen. Fazit: Nur Männer aufnehmen, die Freunde sein können!
| |
− | Viertens: Suchen wir schließlich Orientierungen für unser Handeln, so ist es wohl auch hier
| |
− | Lessing gewesen, der bis heute gültige Maßstäbe vorgeben hat:
| |
− | »Über die Vorurteile der Völkerschaft hinweg sein und wissen, wo Patriotismus Tugend zu
| |
− | sein aufhört« – das begründet den Maßstab Frieden.
| |
− | »Den Vorurteilen der angeborenen Religion nicht zu unterliegen und nicht zu glauben,
| |
− | dass alles gut und wahr ist, was man für gut und wahr hält«, das postuliert Toleranz.
| |
− | Verhältnisse zu schaffen, »wo der Geringe sich dreist erhebt«, – das meint und verpflichtet
| |
− | zu Gerechtigkeit.
| |
− | 275
| |
− | So sind Friede, Toleranz und Gerechtigkeit zentrale Orientierungen freimaurerischer
| |
− | Verantwortung. Anders formuliert, wo Toleranz, Gerechtigkeit und Frieden in Frage gestellt
| |
− | sind, müssen gesellschaftliche Probleme zu Herausforderungen des Freimaurers werden.
| |
− | Das Rituelle wird von Lessing weitgehend ausgespart. Dies hängt sowohl mit der Intention
| |
− | seiner »wahren Ontologie« zusammen als auch mit dem rituellen Wirrwarr der Zeit
| |
− | und dem fehlenden eigenen Zugang zu Logenveranstaltungen. Nehmen wir jedoch das
| |
− | Ritual als sinnlich-bildhaften Ausdruck, riskieren wir die Gleichsetzung von Ritual und
| |
− | Kunstwerk, so finden wir bei Lessing durchaus eine fruchtbare Deutung des Wechselspiels
| |
− | von Ritual und maurerischer Idee. Lessing sagt nämlich von Laokoon in seiner gleichnamigen
| |
− | Schrift, was (wie von jeder großen Kunst) auch vom Ritual zu sagen ist: »Dasjenige
| |
− | aber ist allein fruchtbar, was der Einbildungskraft freies Spiel läßt. Je mehr wir sehen, desto
| |
− | mehr müssen wir hinzudenken können. Und je mehr wir dazu denken, desto mehr müssen
| |
− | wir zu sehen glauben.«
| |
− | Zusammenfassend: Es lohnt sich, Lessings Ernst und Falk immer wieder neu zu lesen, und
| |
− | zwar im Zusammenhang und nicht selektiv als Sammlung von Zitaten. Seine »wahre Ontologie
| |
− | « kann durchaus die unsere sein. Sein Geist ist undogmatisch frisch, und seine Argumentation
| |
− | hilft wirklich, eigentliches Wesen und konkret realisierte Form der Freimaurerei
| |
− | mit all ihren Ärgerlichkeiten voneinander zu trennen. Lessing formuliert die gültig gebliebenen
| |
− | Ziele der Freimaurerei und vermittelt unverzichtbare Maßstäbe für die erforderliche
| |
− | kritische Selbstaufklärung. Gewiss: Heute fehlt dem Freimaurerbund der Rückenwind des
| |
− | Zeitgeistes, der die Aufklärungsmaurerei so kräftig beförderte, und wir sind selber gefordert,
| |
− | jeder von uns, nach den Maßstäben unserer Ideen und Symbole zu handeln.
| |
− | Wir haben allerdings einen vortrefflichen Lehrer: Lessing!
| |
− | 276
| |
− | Herausforderung Deutschland.
| |
− | Überlegungen nach der deutsch-deutschen
| |
− | Vereinigung (1991)1
| |
− | Seit dem 3. Oktober 1990 ist Wirklichkeit, was noch vor einem Jahr niemand erwarten konnte:
| |
− | Die staatliche Einheit der Deutschen in einer neuen, größeren Bundesrepublik ist wieder
| |
− | hergestellt. Uns erfüllt Freude darüber, denn die deutsche Vereinigung bedeutet das Ende
| |
− | von Unfreiheit und ideologischer Bevormundung in den Ländern der ehemaligen DDR,
| |
− | bringt die Rückkehr von Bürgerrechten, gesellschaftlichem Pluralismus und Demokratie und
| |
− | schafft langfristig auch die Voraussetzungen dafür, dass die Deutschen im Osten am hierzulande
| |
− | erreichten
| |
− | Wohlstand teilhaben können. Bei aller Freude des Neubeginns ist allerdings
| |
− | Nachdenklichkeit
| |
− | angebracht, und es verbieten sich platter Überschwang und falsches nationales
| |
− | Pathos. Eine realistische Betrachtung gibt ja kritischen Beobachtern nur allzu recht,
| |
− | die schon frühzeitig feststellten: Die Einheit ist erreicht, aber die eigentliche Vereinigung in
| |
− | einem möglichst homogenen politisch-sozialen Lebensraum mit gleichen Entfaltungsmöglichkeiten
| |
− | und übereinstimmenden materiellen Bedingungen, eingeordnet in ein vereintes
| |
− | Europa und offen für die globalen Probleme unserer Zeit, ist eine von den Deutschen noch
| |
− | zu leistende Aufgabe, ist eine Herausforderung, die Antwort, die Verantwortung verlangt.
| |
− | Herausforderung für den Bürger und Bruder
| |
− | Deutschland als Herausforderung – dies gilt auch für uns Freimaurer, und so hat der vorige
| |
− | Großlogentag in Königswinter der Bruderschaft der Großloge A.F.u.A.M. aus gutem Grund
| |
− | zur Bearbeitung das Jahresthema aufgegeben: »Die deutsche Vereinigung als Herausforderung
| |
− | für das Denken und Handeln des Freimaurers«.
| |
− | Dieses Thema hat viele Aspekte, zunächst für den Bruder als Bürger, dann aber auch
| |
− | für den Bruder als Freimaurer.
| |
− | Wie immer, so ist auch hier der Bürger in uns aufgerufen,
| |
− | nach eigener Verantwortung zu handeln. Eine Großlogenmeinung zur deutschen Vereinigung
| |
− | gibt es nicht. Was es aber gibt, wozu uns unser Jahresthema einlädt und wofür die
| |
− | Logen den Rahmen bieten können, ist das Gespräch über die deutschen Dinge, das »laut
| |
− | denken mit dem Freunde«. Hierdurch kann dem einzelnen Bruder geholfen werden, sich
| |
− | ein Urteil zu bilden und sich auf politisches Handeln vorzubereiten. Hierdurch kann zu
| |
− | jener Sensibilität für politisch
| |
− | Nötiges und Mögliches beigetragen werden, auf die es vor
| |
− | allem ankommt, um die Probleme der deutschen Vereinigung in den Griff zu bekommen.
| |
− | Hierdurch kann patriotisch oberflächlichen wie desinteressierten oder gar resignierenden
| |
− | Einstellungen entgegengewirkt werden.
| |
− | Kurz: Es gibt zwar kein »Deutschlandbild« der Freimaurerei, aber die Loge hat die
| |
− | Chance, sich als »sichere Stätte« für Nachdenken und Diskurs über das Woher und Wohin
| |
− | Deutschlands in Europa und in der Welt zu bewähren. Einige Aspekte aus meiner Sicht
| |
− | sollen im Folgenden zu einem solchen Diskurs beigesteuert werden.
| |
− | 1 Dieser Beitrag wurde ursprünglich veröffentlicht in: Humanität, Das deutsche Freimaurermagazin, Nr. 1,
| |
− | Januar/Februar 1991, S. 9–12.
| |
− | 277
| |
− | Aspekte der politischen Vereinigung
| |
− | Der deutsch-deutsche Vereinigungsprozess hat viele Ebenen und vollzieht sich in unterschiedlichen
| |
− | Geschwindigkeiten. Bei der Angleichung politischer Institutionen verläuft die
| |
− | Entwicklung zweifellos am zügigsten. Die staatliche Einheit ist hergestellt. Formen und Verfahren
| |
− | der parlamentarischen Demokratie sind in die neuen Bundesländer übernommen
| |
− | worden.
| |
− | Parteien haben sich gebildet. Wahlen wurden durchgeführt. Eine andere Frage ist
| |
− | freilich, ob sich Politikfähigkeit und Bürgerbewusstsein ebenso schnell entwickeln konnten
| |
− | wie die Institutionen der Demokratie, denn die lange Zeit der Diktatur bedeutete ja eine
| |
− | ebenso lange Abwesenheit von eigentlicher Politik im Sinne des Gegeneinanders und Miteinanders
| |
− | unabhängiger
| |
− | politischer Kräfte. Hier sind sicher noch Lernprozesse erforderlich.
| |
− | Anlass zu Überheblichkeit
| |
− | und Misstrauen unsererseits besteht freilich nicht: War es doch
| |
− | vor allem der vernehmliche
| |
− | Protest mutiger Bürger, der den krisengerüttelten Spät-Totalitarismus
| |
− | des Honecker-
| |
− | Regimes so schnell und gründlich zum Einsturz brachte.
| |
− | Die deutsche Vereinigung markiert nicht nur einen Wendepunkt in der politischen Entwicklung
| |
− | der ehemaligen DDR. Sie bedeutet auch eine historische Zäsur für die Menschen
| |
− | in der alten Bundesrepublik. Die demokratische Identität hierzulande lebte ja seit dem
| |
− | Ende des Zweiten Weltkrieges in starkem Maße vom Ost-West-Gegensatz. Jetzt kommt
| |
− | für ganz Deutschland die Stunde der Bewährung einer von den Denkmustern des Kalten
| |
− | Krieges unabhängigen,
| |
− | sich gleichsam selbst tragenden demokratischen politischen Kultur.
| |
− | Der Zusammenbruch
| |
− | des real existierenden Sozialismus hinterlässt zwar tiefe Spuren,
| |
− | vermag aber nicht deutsche Politik langfristig mit positiven Inhalten zu füllen. Ob ganz
| |
− | Deutschland in demokratischem
| |
− | Sinne zukunftsfähig ist, darauf kommt es an. Dazu gehört
| |
− | vieles und ich nenne nur einige zentrale Elemente: die endgültige Anerkennung der heutigen
| |
− | Grenzen, das Bekenntnis, dass vom Boden Deutschlands nie wieder Krieg ausgehen
| |
− | darf, und die entschlossene Festigung
| |
− | des sozialen Rechtsstaats, dessen Bürger sich alle
| |
− | Rückfälle in vor- und undemokratische Mentalitäten versagen.
| |
− | Deutschland in Europa und der Welt
| |
− | Das demokratische Deutschland ist zugleich ein europäisches Deutschland. Die alte Bundesrepublik
| |
− | war auf dem Weg nach Europa, zum Binnenmarkt 1993, zur politischen Union.
| |
− | Für das vereinigte Deutschland muss diese europäische Orientierung in einem erweiterten
| |
− | Sinne selbstverständlich werden. Die Verankerung im Westen muss bleiben, vor allem als
| |
− | Verankerung Deutschlands in westeuropäischer politischer Kultur. Doch zugleich gilt es,
| |
− | die europäische Mittellage als Brücke nach Zentral- und Osteuropa zu nutzen. Die Länder
| |
− | Osteuropas,
| |
− | in denen der spättotalitäre Staatssozialismus zusammenbrach, gehören zu Europa
| |
− | und sie brauchen, um politisch und wirtschaftlich zu überleben, die Hilfe des Westens.
| |
− | Wenn Vaclav Havel, zur Zeit der Unterdrückung engagierter Bürgerrechtler und heute Präsident
| |
− | der Tschechoslowakischen Föderativen Republik, für die frei gewordenen Länder in der
| |
− | Mitte und im Osten unseres Kontinents eine »Rückkehr nach Europa« ankündigt, so muss
| |
− | klar sein, dass es eine solche Rückkehr ohne westliches Entgegenkommen nicht geben kann.
| |
− | Hierzu gehört wirtschaftliche Hilfe, insbesondere aber auch das Öffnen westeuropäischer
| |
− | Institutionen
| |
− | für die Länder Zentral- und Osteuropas. Ein solches Verhalten liegt nebenbei
| |
− | 278
| |
− | auch im wohlverstandenen Selbstinteresse des Westens; denn die politisch höchst unerfreulichen
| |
− | Alternativen
| |
− | wären politische
| |
− | Destabilisierung mit der Gefahr
| |
− | autoritärer Rückfälle,
| |
− | neuer Nationalismus,
| |
− | ökonomisch-ökologische Dauerkrise und Anschwellen einer europäischen
| |
− | Ost-West-Völkerwanderung. Europa ist dabei weit zu fassen. Auch hier ist dem
| |
− | Wort des Bundespräsidenten nichts hinzuzufügen: Die Westgrenze der UdSSR darf nicht
| |
− | zur Ostgrenze Europas werden. Dauerhafte Reformchancen haben die Republiken der sich
| |
− | auflösenden Sowjetunion nur, wenn sie von europäischer politischer Kultur geprägt und in
| |
− | europäische
| |
− | Institutionen einbezogen werden.
| |
− | Offenheit für Europa meint zugleich ein offenes Europa in einer sich verändernden
| |
− | Welt. Die gesamteuropäische Dimension hat diese Welt einerseits für Deutschland größer
| |
− | gemacht. Andererseits wird diese Welt zusehends kleiner, zunehmender Problemdruck lässt
| |
− | die Länder der Welt zusammenrücken. Der in Anbetracht der Golfkrise wieder unsicherer
| |
− | gewordene Friede, die zunehmende Wohlstandspolarisierung in reiche und arme Völker,
| |
− | die drohende globale Umweltkatastrophe: All das erfordert über die deutsche und europäische
| |
− | Verantwortung
| |
− | hinaus auch eine globale Verantwortung, und der Zusammenbruch des
| |
− | »real existierenden
| |
− | Sozialismus« bedeutet nicht, dass die ihm überlegenen Strukturen und
| |
− | Instrumente gegenwärtiger
| |
− | westlicher Politik und Wirtschaft zur Bewältigung der vor uns
| |
− | liegenden globalen Oberlebensprobleme
| |
− | wirklich ausreichen.
| |
− | Schwerwiegende Wirtschaftsprobleme
| |
− | Im Vergleich zur politischen Vereinigung
| |
− | erweist sich die wirtschaftliche Vereinigung, d.h. die
| |
− | Angleichung von Wohlstand, Arbeitswelt und Sozialverhältnissen
| |
− | in den neuen Bundesländern
| |
− | als weitaus schwieriger. Wie zu vermuten war, hat die Währungs-
| |
− | und Wirtschaftsunion als
| |
− | Schock gewirkt, dem nun die Therapie zu folgen hat. Die bürokratische Planwirtschaft hat
| |
− | eine verheerende ökonomische Erbschaft hinterlassen: niedrige Arbeitsproduktivität,
| |
− | fehlende
| |
− | Wettbewerbsfähigkeit, veraltete Produktionsanlagen, heruntergewirtschaftete
| |
− | Infrastruktur,
| |
− | Regionen am Rande der ökologischen Katastrophe. Jetzt geht es um den schwierigen Aufbau
| |
− | eines Wirtschaftssystems sozialer Marktwirtschaft, und dieser erfordert
| |
− | Zeit. Insbesondere
| |
− | muss eine wettbewerbsfähige
| |
− | Eigentumsstruktur entstehen,
| |
− | und die Menschen müssen lernen,
| |
− | sich in einer Marktwirtschaft zurechtzufinden. Wir im Westen müssen bei diesem Prozess helfen.
| |
− | Die Teilung – so wurde oft und richtig gesagt – ist nur durch Teilen zu überwinden.
| |
− | Nicht zuletzt aber bedarf es beim sich belebenden deutsch-deutschen
| |
− | Miteinander in der
| |
− | Wirtschaft einer verbindlichen ökonomischen
| |
− | Ethik. Man vermittelt nicht Sympathie für
| |
− | die Marktwirtschaft und Wissen um ihr Funktionieren, indem man seine Mitbürger in den
| |
− | neuen Bundesländern – wie es leider nicht selten geschieht – zunächst erst einmal über den
| |
− | Tisch zieht.
| |
− | Die menschliche Dimension
| |
− | Eine wirkliche deutsch-deutsche Vereinigung ist vor allem auch eine menschliche Vereinigung.
| |
− | Die Menschen
| |
− | in den neuen Bundesländern sind unsere Mitbürger. Sie kommen
| |
− | nicht als Bittsteller. Sie erwarten nicht mehr als jene selbstverständliche menschliche Soli279
| |
− | darität, über die in reichem Maße zu verfügen die Menschen
| |
− | im Westen ja stets behauptet
| |
− | haben. Diese deutsch-deutsche Grundsolidarität darf nicht in dem Moment abbröckeln, wo
| |
− | mehr verlangt wird, als Kerzen in die Fenster zu stellen. Die Menschen im Osten haben es
| |
− | schwerer als wir. Sie müssen sich persönlich und gesellschaftlich neu orientieren. Die alten
| |
− | Ordnungen zerfallen und damit verschwinden Möglichkeiten der Identifizierung
| |
− | – sei es in
| |
− | Übereinstimmung oder im Protest. Die alten Systeme sozialer Sicherung entfallen, Eigentumsverantwortung
| |
− | muss gelernt werden.
| |
− | Doch die Menschen in den neuen Bundesländern
| |
− | haben auch viel einzubringen:
| |
− | Solidarität,
| |
− | menschliches Zusammenrücken,
| |
− | persönliche Verlässlichkeit, Gesinnungstreue und
| |
− | eine bei uns oft verloren gegangene Bürgerkultur. Ich halte gar nichts von der These einer
| |
− | kranken, neurotischen Gesellschaft im Osten unseres Landes, und ich mag es nicht, wenn
| |
− | man die Bürger der ehemaligen DDR im Kollektiv auf die psychoanalytische Couch verfrachtet.
| |
− | Es sind Menschen so wie wir. Sie haben ihre Erfahrungen,
| |
− | Schicksale, Ängste und
| |
− | Hoffnungen genauso wie wir.
| |
− | Aufbau der Freimaurerei: engagiert und ehrlich
| |
− | Während es bisher um den Diskurs mit dem Bürger ging, ist jetzt die Herausforderung des
| |
− | Bruders als Freimaurer angesprochen. Seit einer Reihe von Monaten schon gehen Brüder
| |
− | unserer
| |
− | Großloge in die neuen Bundesländer, um Menschen für unsere Idee zu gewinnen,
| |
− | neue Brüder zu finden und Logen zu gründen. An anderer Stelle dieses Heftes wird darüber
| |
− | ausführlich
| |
− | berichtet. Wir gehen in die ehemalige DDR, weil wir ein Angebot für die Menschen
| |
− | haben, weil wir meinen, ihnen
| |
− | als Freimaurer helfen zu können, und weil es dort Menschen
| |
− | gibt, die versprechen, prächtige Freimaurer zu werden! Gewiss können wir beim Aufbau
| |
− | des Bundes an das historische Erbe der Freimaurerei anknüpfen und Logen von Rang
| |
− | und Namen wiederbeleben wie Goethes »Amalia« zu Weimar.
| |
− | Aber dies ist nicht der Grund für unsere
| |
− | Arbeit, und wir dürfen auch gar nicht da
| |
− | anfangen,
| |
− | wo wir 1935 aufgehört haben: bei einer weitgehend nationalistisch angepassten
| |
− | Freimaurerei,
| |
− | in einigen Fällen gar mit Großlogenführungen auf verzweifelter Suche nach
| |
− | einem Platz für unseren Bund im NS-System. Wir sollten der Gesellschaft im Osten
| |
− | Deutschlands, die zur Bewältigung ihrer Vergangenheit nichts so nötig braucht wie die
| |
− | Wahrheit, keine eigenen Lebenslügen zumuten. Im Gegenteil: Der deutsche Neubeginn
| |
− | sollte auch von uns als Chance historisch-kritischer Aufarbeitung genutzt werden. Wer
| |
− | Zukunft will, muss auch erinnern wollen und darf am Verdrängen nicht allzu hartnäckig
| |
− | Gefallen finden.
| |
− | Es geht um den Aufbau einer veränderten
| |
− | Freimaurerei in einem anders gewordenen
| |
− | Deutschland. Erste erfolgreiche Schritte wurden unternommen, die ersten Suchenden sind
| |
− | zu Brüdern geworden. Wir setzen unsere Arbeit fort, ohne Hektik, aber auch ohne unnötige
| |
− | Verzögerungen. Die Großloge hat die organisatorischen Voraussetzungen
| |
− | geschaffen und
| |
− | gibt Hilfestellung.
| |
− | An Konzepten für eine erfolgreiche
| |
− | Öffentlichkeitsarbeit – insbesondere
| |
− | zum Herstellen einer günstigen lokalen Öffentlichkeit – wird gearbeitet. Die bisherigen
| |
− | Erfahrungen
| |
− | zeigen ein großes Maß an Aufgeschlossenheit für Idee und Wirklichkeit von
| |
− | Freimaurerlogen,
| |
− | die gerade in der ehemaligen DDR als »offene« Männerbünde auch die
| |
− | Familien einbeziehen
| |
− | müssen. Jetzt ist es Aufgabe jedes einzelnen Bruders und jeder Loge,
| |
− | 280
| |
− | sich ein örtliches
| |
− | Betätigungsfeld zu schaffen, Menschen
| |
− | für unseren Bund zu gewinnen
| |
− | und nach Kräften auch ganz direkt menschlich-tatkräftig zu helfen.
| |
− | Schließlich ist Freimaurerei als gelebte
| |
− | Mitmenschlichkeit nur da glaubwürdig, wo sich
| |
− | Denken und Empfinden
| |
− | in humanitäres Handeln umsetzen. Gewiss bietet Freimaurerei
| |
− | auch für die Menschen in den neuen Bundesländern kein flächendeckendes Programm
| |
− | zur Bewältigung der Unzahl von Problemen und bedeutet schon gar keinen politischen
| |
− | Aktionismus. Die Radikalität des Freimaurers, wenn es denn eine solche
| |
− | überhaupt gibt, ist
| |
− | eine stille Radikalität in die Tiefe der eigenen Seele. Es geht um eine alte Idee von zeitloser
| |
− | Gültigkeit: Freimaurerei als gelebte Mitmenschlichkeit, der Freundschaftsbund,
| |
− | der Menschen
| |
− | zusammenführt, die sich sonst nicht nähergekommen wären, der nationale, soziale
| |
− | und weltanschauliche Grenzen übersteigt, weil es auf den wirklichen, heutigen
| |
− | Einzelmenschen,
| |
− | den bloßen Menschen, den Menschenbruder ankommt. Es ist die Idee der Loge als
| |
− | Schutzraum für Selbstfindung und Selbstwerdung, der »allen, die Wahrheit suchen
| |
− | «, neue
| |
− | Geborgenheit vermitteln kann.
| |
− | Die Aufgabe, von der staatlichen Einheit zur wirklichen Vereinigung der Deutschen
| |
− | in einem neuen Europa zu kommen, ist groß. Wir wollen unseren Beitrag dazu leisten,
| |
− | denn unsere
| |
− | Überzeugungen und Symbole fordern uns dazu auf. Der Aufbau der Logen
| |
− | in den neuen Bundesländern ist allerdings schwer und erfordert Einsatz. Es geht nicht mit
| |
− | der linken Hand und ein paar schwärmerischen Worten. Es geht nur mit Anstrengung,
| |
− | Ideenreichtum
| |
− | und der Hoffnung auf Freiheit und Gerechtigkeit.
| |
− | In der ehemaligen DDR waren es Menschen mit dieser Hoffnung, die sich entschieden
| |
− | gegen
| |
− | etablierte Ungerechtigkeit
| |
− | gewehrt und mutig nach Gerechtigkeit verlangt haben.
| |
− | Nicht zuletzt ihnen ist es zu verdanken, dass es ein neues Deutschland gibt, vor dessen
| |
− | Herausforderung
| |
− | wir zu bestehen haben.
| |
− | 281
| |
− | Enthusiasmus und Verantwortung –
| |
− | Zum 230. Stiftungsfest der Loge »Anna
| |
− | Amalia zu den drei Rosen« in Weimar (1994)1
| |
− | »Das Beste, was wir von der Geschichte haben«, so schreibt Goethe in seinen »Maximen
| |
− | und Ref lexionen«, »ist der Enthusiasmus, den sie erregt.« Versetzen wir uns 230 Jahre zurück.
| |
− | Es ist der 28. Oktober 1764. Die Brüder versammeln sich zur Einsetzung der Loge
| |
− | »Anna Amalia zu den drei Rosen.« Nicht weit von hier findet die Feier statt, im Wittumspalais,
| |
− | dem Sitz der Herzogin Anna Amalia, die Förderin und Namenspatronin der Loge ist.
| |
− | Es liegt kein Protokoll der ersten Arbeit vor und keine Teilnehmerliste. Doch wir wissen,
| |
− | dass Namen mit einem guten Klang in Weimar unter den Maurern der ersten Stunde sind.
| |
− | Kaum vorstellen können wir uns, wie das Ritual gehandhabt wurde. Es ist anzunehmen,
| |
− | dass dabei viel kreative Improvisation geherrscht hat, und Mitglieder heutiger Ritualkollegien
| |
− | – zeitreisend 230 Jahre zurückversetzt – hätten wohl runzelnd ihre Augenbrauen hochgezogen.
| |
− | Doch wir können versichert sein, dass die Regularität der Herzen stimmte, dass
| |
− | der Zauber des Aufbruchs trug und dass eine ansteckende Freude die Stimmung bestimmte.
| |
− | Die Hoffnung auf Aufklärung, auf Unterscheidungsfähigkeit »zwischen Hell und Dunkel,
| |
− | Licht und Finsternis« (so Wielands spätere Definition), die Erwartung einer durch Offenheit
| |
− | und Freiheit geprägten politisch-sozialen Zukunft, das Erlebnis menschlicher Gleichheit,
| |
− | die Möglichkeit, sich jenseits der Schranken von Stand, Nation und Bekenntnis als
| |
− | »bloße Menschen« zu begegnen – all das prägte Bewusstsein und Gefühl der Bruderschaft.
| |
− | »Laut verkünde unsre Freude froher Instrumentenschall,
| |
− | jedes Bruders Herz empfinde dieser Mauern Widerhall.«
| |
− | Gewiss, dieser Text nach Mozarts Noten wurde nicht in Weimar anno 1764 angestimmt,
| |
− | sondern erst 25 Jahre später in Wien. Doch die Töne der Kantate bringen wohl mehr als
| |
− | Dokumente jenen eigentümlichen Zusammenklang von Idee und Stimmung, von Intellektualität
| |
− | und Emotionalität zum Ausdruck, der kennzeichnend gewesen ist für die Frühzeit
| |
− | der modernen Freimaurerei und der auch die Atmosphäre am Weimarer Musenhof bestimmt
| |
− | haben mag.
| |
− | Goethe wird im Jahre 1780 Mitglied der Loge »Anna Amalia«. Es habe ihm beim Reisen
| |
− | allein am »Titel Freimaurer« gefehlt, um mit Personen, die er schätzen lernte, in nähere
| |
− | Verbindung zu treten, so lautet bekanntlich die weltmännisch-pragmatische Begründung
| |
− | seines Aufnahmegesuchs. Eine verständliche Begründung, denn – so konnte die moderne
| |
− | Aufklärungsforschung 200 Jahre später feststellen –: »Im Zeichen des Maurermysteriums
| |
− | entstand das soziale Gerüst der moralischen Internationale, die sich aus den Kaufleuten
| |
− | und Reisenden, den Philosophen, Seeleuten und Emigranten, kurz den Kosmopoliten im
| |
− | Verein mit dem Adel und den Offizieren zusammensetzte. Die Logen wurden zum stärksten
| |
− | Sozialinstitut der moralischen Welt im achtzehnten Jahrhundert« (Reinhart Koselleck).
| |
− | Ein starkes Sozialinstitut war auch die Loge »Anna Amalia«, sowohl im Kontext der
| |
− | sich formierenden deutschen Freimaurerei als auch im gesellschaftlichen Mikrokosmos
| |
− | 1 Dieser Beitrag wurde bisher nicht veröffentlicht.
| |
− | 282
| |
− | der Weimarer Gesellschaft. Männer wie Goethe, aber auch Herder und Wieland bestimmten
| |
− | geistig-kulturelle Inhalte und Ausstrahlung und vernetzten Weimar mit anderen Zentren
| |
− | der deutschen Aufklärung, ja verschafften ihm einen führenden Platz darin.
| |
− | Viele – aus heutiger Sicht unaufgebbare, und doch leider periodisch immer wieder vergessene
| |
− | – Grundideen unseres Bundes wurden in Weimar formuliert. »Der Freimaurer ist
| |
− | als solcher ein Weltbürger«, so etwa Wieland in einer seiner Logenreden, und – so Wieland
| |
− | weiter – »Freiheit, Gleichheit und Verbrüderung sind die wahren Grundpfeiler unserer Gesellschaft
| |
− | und niemand,
| |
− | der sich das nicht völlig klarzumachen vermag, rühme sich, den
| |
− | Schlüssel zu unserem
| |
− | Geheimnis gefunden zu haben.«
| |
− | Zielvorstellungen und Stimmungslagen der Aufklärung im Denken und Schreiben der
| |
− | Weimarer Brüder, die mit von ihnen entworfene Utopie eines befreiten Menschen in einer
| |
− | nicht durch die Willkür weltlicher und religiöser Herrscher bestimmten, sondern von
| |
− | moralischen Gesetzen geordneten sozialen Wirklichkeit, Humanität – wie Herder erläutert
| |
− | – als Inbegriff von »Menschheit, Menschlichkeit, Menschenrechten, Menschenpflichten,
| |
− | Menschenwürde und Menschenliebe« – all das berechtigt wohl, hier und jetzt jenen Enthusiasmus
| |
− | zu teilen, der – so noch einmal Goethe – das Beste ist, was wir von der Geschichte
| |
− | haben. Und wenn wir an diesem Stiftungsfest – wie immer in unserem Bunde an solchen
| |
− | Schnittstellen
| |
− | der Zeit – in historischer Rückschau Ansatzpunkte suchen für eine in die Zukunft
| |
− | gerichtete Identität von Freimaurerei und Loge: Hier müssen wir sie suchen und hier
| |
− | müssen wir fündig werden, bei der historischen Leistung unserer »Brüder Aufklärer« für
| |
− | die Entwicklung der Humanitätsidee, für die Formulierung des Konzepts der universellen
| |
− | Menschenrechte und für die Bestimmung der Rolle von geistiger wie staatlich-rechtlich
| |
− | institutionalisierter Toleranz als dem regulativen Prinzip einer offenen Gesellschaft.
| |
− | Und wir können noch etwas lernen von unseren frühen Brüdern in Weimar und
| |
− | anderswo, wo unser Bund im 18. Jahrhundert lebte und wuchs: nämlich dass eine Freimaurerei,
| |
− | die etwas zur Zeit und aus der Zeit heraus zu sagen vermag, von der Außenwelt
| |
− | gehört und angenommen
| |
− | wird auf eine Weise, die eine Freimaurerei ohne produktive
| |
− | Spannung zur Gesellschaft
| |
− | nie erreichen kann, oder anders formuliert, dass Größe und
| |
− | Geltung unseres Bundes über das Heute in das Morgen hinein davon abhängt, ob es gelingt,
| |
− | freimaurerische
| |
− | Formen und aufklärerische Inhalte zusammenzuhalten.
| |
− | So weit, so gut. Allein, das bloße und selektive Sich-Berufen auf jene Teile der Geschichte,
| |
− | die zu Enthusiasmus Anlass geben, reicht nicht aus. Geschichte darf nicht zum
| |
− | Selbstbedienungsladen für ideologische Zwecke, zum Materialdepot für die Kulissen gefälliger
| |
− | Selbstinszenierungen werden. Der Umgang heutiger Freimaurer mit der Vergangenheit
| |
− | muß komplex und redlich ausfallen. Wieder führt – so meine ich – Goethe auf die
| |
− | rechte Spur:
| |
− | »Wer nicht von dreitausend Jahren
| |
− | sich weiß Rechenschaft zu geben,
| |
− | bleib im Dunkel unerfahren,
| |
− | mag von Tag zu Tage leben.«
| |
− | »3000 Jahre«, das steht im übertragenen Sinne für die notwendige Vollständigkeit historischer
| |
− | Ref lexion. Und »Rechenschaft« hat mit Sich-Verantworten zu tun. Sich-Verantworten
| |
− | 283
| |
− | nicht für das historische Geschehen als solches – das ist die Aufgabe der jeweils Handelnden
| |
− | – wohl aber Sich-Verantworten für den Umgang mit Geschichte.
| |
− | Und wie man den rechten Umgang mit Geschichte verfehlen kann, thematisiert gleichfalls
| |
− | und wohl unübertreff lich Goethe im Dialog zwischen Wagner und Faust:
| |
− | Wagner:
| |
− | »Verzeiht! Es ist ein groß Ergetzen,
| |
− | sich in den Geist der Zeiten zu versetzen;
| |
− | Zu schauen, wie vor uns ein weiser Mann gedacht,
| |
− | und wie wirs dann zuletzt so herrlich weitgebracht.«
| |
− | Faust:
| |
− | »O ja, bis an die Sterne weit!
| |
− | Mein Freund, die Zeiten der Vergangenheit
| |
− | sind uns ein Buch mit sieben Siegeln.
| |
− | Was ihr den Geist der Zeiten heißt,
| |
− | das ist im Grund der Herren eigner Geist,
| |
− | in dem die Zeiten sich bespiegeln.«
| |
− | Das heißt, wenn wir vom Enthusiasmus sprechen, den Geschichte vermittelt, so müssen wir
| |
− | uns redlich fragen, ob es historische Fakten sind, die uns begeistern, oder überlieferte,
| |
− | nicht
| |
− | mehr reflektierte, wenn nicht gar selbstgemachte Geschichtsbilder. Wir müssen
| |
− | den Mut haben,
| |
− | nach der ganzen historischen Wahrheit zu fragen und auch festzustellen,
| |
− | was mit unserem
| |
− | Bund und unseren Logen in jenen Phasen der Geschichte war, auf die nicht das helle Licht der
| |
− | Weimarer Klassik fällt, in denen Freimaurerei gleichsam von sich selbst abgefallen ist.
| |
− | Wer von Weimar spricht, darf von Buchenwald nicht schweigen!
| |
− | Für den notwendigen ehrlichen Umgang mit der Vergangenheit gibt es zwei ganz schlichte,
| |
− | überzeugende Gründe:
| |
− | Erstens: Unredlichkeit im Umgang mit der Vergangenheit ist ein für allemal keine Basis für
| |
− | freimaurerische Lebenskraft im Heute und Morgen.
| |
− | Zweitens: Wir sollten nicht riskieren, früher oder später von Außenstehenden beim Paradieren
| |
− | unter falschen Geschichtsbildern erwischt zu werden.
| |
− | Wir haben also Fragen zu stellen und uns um Antworten zu bemühen, wobei es heute beim
| |
− | Fragen bleibt:
| |
− | Gilt für das 18. Jahrhundert wirklich so eindeutig, was wir über die frühe Blüte der
| |
− | Freimaurerei
| |
− | immer sagen?
| |
− | Gewiss, wir lernen aus den Dokumenten der Zeit, dass die Idee der Freimaurerei viele
| |
− | führende
| |
− | Geister überzeugte, aber wurde die Umsetzung von Freimaurerei in der Logenund
| |
− | Großlogenpraxis nicht von Anfang an des öfteren als kritikwürdig empfunden? Finden
| |
− | wir nicht gerade bei unseren Großen fast regelmäßig eine durchaus gebrochene Einstellung
| |
− | zum Bund? Unter den Weimarern bei Goethe etwa, bei Herder, bei Wieland? Was sonst
| |
− | 284
| |
− | hätte Letzteren veranlasst, eine seiner Amalia-Logenreden mit der Frage zu überschreiben:
| |
− | »Wie verhält sich das Ideal der Freimaurerei zu ihrer dermaligen Beschaffenheit?«
| |
− | Und wir haben weiter zu fragen:
| |
− | Wie stand es im 19. und 20. Jahrhundert um unseren Bund? Müssen wir beispielsweise,
| |
− | wenn wir einem führenden Historiker wie Rudolf Vierhaus in seiner positiven Würdigung
| |
− | der Freimaurerei für das 18. Jahrhundert folgen, uns nicht auch damit auseinandersetzen,
| |
− | wenn er für die Wende zum 19. Jahrhundert ein »Versinken in bloßer Honoratiorengeselligkeit,
| |
− | in Pseudomystik
| |
− | und Geheimnistuerei als Ausdruck einer selbst beigelegten, nach
| |
− | außen nicht rechtfertigungsbedüftigen Bedeutsamkeit« konstatiert?
| |
− | Und wie stehen wir heute zur nationalistischen Wende beträchtlicher Teile unseres Bundes,
| |
− | die Mitte der zwanziger Jahre einsetzte, nicht zuletzt in Thüringen und dabei auch hier
| |
− | in Weimar – Stichwort Großlogenwechsel der »Anna Amalia«?
| |
− | Kann es befriedigen, demokratische Überzeugung und Widerstandsbewusstsein gegen
| |
− | den aufkommenden Nationalsozialismus vorwiegend an den Brüdern Carl von Ossietzky
| |
− | und Kurt Tucholsky zu exemplifizieren, wenn deren Großlogen gleichzeitig nach wie vor
| |
− | als irregulär abqualifiziert werden?
| |
− | Dürfen Verbot und Verfolgung der Freimaurerei durch die Nationalsozialisten so nahtlos
| |
− | mit Widerstand gegen den Nazismus gleichgesetzt werden, wie es immer wieder geschieht?
| |
− | Wie gesagt: Ich kann heute und hier nur Fragen stellen. Aber das Jahr 1995 ist bekanntlich
| |
− | ein Jahr der Jahrestage – seit 1925 sind siebzig, seit 1935 achtzig und seit 1945 sind 50
| |
− | Jahre vergangen.
| |
− | Auch wir Freimaurer sollten dieses Jahr zum Anlass nehmen, uns der Geschichte – der
| |
− | deutschen wie der freimaurerischen – zu stellen. Denn insbesondere die Zeitgeschichte,
| |
− | um die es hier vor allem geht, »ist nicht toter Stoff. Wir Nachlebende sind Teil dieser
| |
− | Geschichte,
| |
− | und damit ist Geschichte ein Teil unserer Gegenwart« (Heinz Friedrich). Vielleicht
| |
− | hilft uns eine solche Standortbestimmung in der Geschichte auch dabei, aus dem
| |
− | wenig produktiven Zustand introvertierter, nach außen nicht vermittelbarer Organisations-,
| |
− | Satzungs- und Regularitätsdebatten herauszukommen, den viele von uns gegenwärtig so
| |
− | bedrückend empfinden.
| |
− | Zum Schluss: Stichwort »Gegenwart« und noch einmal Stichwort »Enthusiasmus«. Ich begann
| |
− | mit der Freude des Aufbruchs 1764, vor 230 Jahren. Ich möchte schließen mit jener
| |
− | Freude, die vor fünf Jahren, im Herbst 1989 begann. Damals brach die kommunistische Diktatur
| |
− | zusammen, überall in Osteuropa und auch in der DDR. Mit der Freiheit kehrte die
| |
− | Freimaurerei zurück, und auch in unserer guten Loge »Anna Amalia zu den drei Rosen« wurde
| |
− | wieder das Licht angezündet. Dieses Licht tut, was Lichter überall tun, es wärmt, und es
| |
− | leuchtet. Es symbolisiert die menschliche Wärme, die uns mit unseren Brüdern hier verbindet.
| |
− | Es steht wie das Licht von 1764 aber auch für Aufklärung, für ein genaues Hinschauen
| |
− | auf das, was Weimar heute ist und sein kann, für ein präzises Wahrnehmen der Lebenssituation
| |
− | der Menschen hier und für ein sensibles Umsetzen unserer Aufgaben.
| |
− | Ehrlichkeit und Enthusiasmus schließen sich nicht aus: Wenn Freimaurerei als überzeugend
| |
− | gelebte Mitmenschlichkeit gegenwärtig ist, dann hat das, was 1764 begann, nicht nur Vergangenheit,
| |
− | dann tragen uns Erbe und Auftrag kraftvoll in die Zukunft.
| |
− | 285
| |
− | Regularität und Humanität: Freimaurerei vor
| |
− | dem Jahr 2000 (1995)1
| |
− | Interview: Im Gespräch mit Rüdiger Oppers
| |
− | Die Disharmonien im Vorfeld des letzten VGL-Konvents haben in vielen Logen zu Missstimmungen
| |
− | geführt. Kopfschüttelnd haben die Brüder registriert, dass sich die Freimaurerei
| |
− | offenbar intensiver mit ihren vereinsrechtlichen Interna beschäftigt als mit
| |
− | überlebenswichtigen Zeitfragen. Wie wichtig wird das Thema »Regularität« für die Zukunft
| |
− | der europäischen Freimaurerei sein?
| |
− | Das Unerfreuliche an den von dir angesprochenen Missstimmungen, die ja weit hinter den
| |
− | letzten Konvent zurückreichen, war die Art und Weise, wie die Regularitätsdebatte geführt
| |
− | wurde.
| |
− | Erstens: So wichtig einerseits die Festlegung von Grundsätzen und Verhaltensmaßstäben
| |
− | ist, so gefährlich ist andererseits eine unangemessen rigide Fixierung darauf. Sie schafft unnötigerweise
| |
− | Loyalitätskonflikte, die die Bruderschaft stark belasten und lenkt unsere Aktivitäten
| |
− | von dem, was heutzutage für die Freimaurerei wichtig ist, auf Nebenschauplätze
| |
− | um. Dies kostet Energie, die anderswo sinnvoller eingesetzt werden könnte. Freilich schadet
| |
− | nicht nur Rigidität, auch bloße Provokation ist zu vermeiden.
| |
− | Zweitens: Es kann keinerlei Zweifel daran bestehen, dass die Großloge A.F.u.A.M. als Nachfolgegroßloge
| |
− | der humanitären Freimaurerei in Deutschland schon von ihrer Herkunft her
| |
− | die reguläre deutsche Großloge ist. Ziel, Aufbau und Arbeitsweise entsprechen vollkommen
| |
− | der Gesamtheit der in den »Basic Principles« festgelegten Grundsätzen. Für die deutsche
| |
− | Großlogenwirklichkeit insgesamt kann dies mit gleicher Bestimmtheit nicht gesagt werden.
| |
− | Deshalb darf die Diskussion über das, was regulär ist in der Freimaurerei, weder einseitig in
| |
− | der Sache noch politisch-taktisch in der Intention geführt werden. Wenn man eine solche
| |
− | Debatte überhaupt für nötig hält, so müssen alle Aspekte der »Basic Principles« (Willensbildung
| |
− | innerhalb der Großlogen, Unabhängigkeit der blauen Logen, Grenzen religiöser Festlegung)
| |
− | einbezogen und zum Maßstab einer Bewertung unserer Partnergroßlogen und der
| |
− | VGLvD selbst gemacht werden.
| |
− | Ich halte es jedoch für viel wichtiger, dass wir über Regularität in einem wesentlich weiteren
| |
− | Sinne nachdenken und gemeinsam die Regeln bestimmen, die in der Lage sind, Freimaurerei
| |
− | in das kommende Jahrhundert hinein lebensfähig zu halten, und die garantieren, dass wir
| |
− | mit unserer Botschaft die Menschen in Europa überhaupt noch erreichen. Das können wir
| |
− | nicht mit schönen Spruchbändern aus alter Zeit, das können wir nur durch konzeptionelle
| |
− | Überzeugungskraft, intellektuelle Redlichkeit und engagierte Mitmenschlichkeit in der Praxis.
| |
− | Für mich steht und fällt Freimaurerei letztlich mit der Frage, ob sie vor den folgenden
| |
− | drei Maßstäben bestehen kann:
| |
− | 1 Interview: Im Gespräch mit Rüdiger Oppers. Dieser Beitrag wurde ursprünglich veröffentlicht in: Humanität.
| |
− | Das deutsche Freimaurermagazin, Nr. 2, März/April 1995, S. 16–20.
| |
− | 286
| |
− | • der Universalität der Freimaurerei (d.h. ihrer Offenheit für wirklich alle Männer, wie und
| |
− | wo auch immer),
| |
− | • dem Bekenntnis zu den durch die drei »Großen Lichter« symbolisierten Grundlagen (Brüderlichkeit,
| |
− | Ethik, Transzendenz) und
| |
− | • der im konzeptionellen Selbstverständnis, in der inneren Gestaltung und im äußeren
| |
− | Umgang strikt eingehaltenen und voll angewandten Überzeugung, dass »die Würde des
| |
− | Menschen unantastbar« ist.
| |
− | Muss die Anerkennung einzelner Logen oder ganzer Obödienzen nicht demokratischer geregelt
| |
− | werden können? Immerhin haben die Freimaurer viel zum Entstehen einer europäischen
| |
− | Einigung geleistet. Organisatorisch hinken wir der politischen Entwicklung hinterher. Selbst
| |
− | die äußerst unvollkommene EU erscheint demokratischer als die Großlogenstrukturen auf
| |
− | europäischer Ebene. Schlimmer noch: Es gibt offensichtlich keine Strukturen, die unsere europäischen
| |
− | Großlogen fest miteinander verbinden würden. Wann wird es eine europäische
| |
− | Großmeisterkonferenz mit eindeutigen Zuständigkeiten und Befugnissen geben?
| |
− | Wer sich mit Hierarchien und Entscheidungsstrukturen in Politik und Gesellschaft beschäftigt,
| |
− | wird immer wieder feststellen, dass organisatorische Lösungen regelmäßig nur dann zur
| |
− | Bewältigung anstehender Probleme beitragen, wenn sie den Anforderungen der sich stellenden
| |
− | Aufgaben entsprechen und eine breite soziale Akzeptanz finden. Deshalb – um ein
| |
− | Beispiel aus der Nachkriegsgeschichte der Freimaurerei in Deutschland zu wählen – war die
| |
− | Paulskirchen-VGL von 1949 umso vieles erfolgreicher als die VGLvD von 1958. Für die Entwicklung
| |
− | der europäischen Freimaurerei bedeutet dies, dass auch hier die Impulse vor allem
| |
− | von unten, das heißt aus den Logen, kommen müssen. Basisinitiativen dürften auch hier
| |
− | viel wirksamer sein als kopflastige Institutionen, was nicht heißt, dass nicht auch die Großlogen
| |
− | dazu beitragen können, die europäischen Bruderschaft zusammenzubringen. Dabei
| |
− | stimmen die Entwicklungsmöglichkeiten der Freimaurerei in einem Punkt vollkommen mit
| |
− | denen der Politik überein: Ohne eine breite deutsch-französische Zusammenarbeit geht es
| |
− | nicht. Meine Position hierzu ist, dass mit dem Teil der französischen Freimaurerei, der nach
| |
− | seiner inneren Struktur, seinen Leitideen sowie dem dafür gefundenen symbolischen Ausdruck
| |
− | den Prinzipien der Weltfreimaurerei entspricht, auf brüderlicher Basis wirksam und
| |
− | vielschichtig zusammengearbeitet werden sollte.
| |
− | Für die Diskussion grundsätzlicher und aktueller Fragen des Verhältnisses von Freimaurerei
| |
− | und Gesellschaft in einem offenen Rahmen außerhalb des Rituals, ohne formelle
| |
− | Regelung und ohne jeden Affront gegen die United Grand Lodge of England sollte es
| |
− | auch keine Berührungsängste mit Mitgliedern des Grand Orient de France geben, der nun
| |
− | einmal zur europäischen Tradition der Freimaurerei dazugehört. Regularität ist eine Frage
| |
− | des »Wie-man-ist« und nicht des »Mit-wem-man-spricht«. Auf alle Fälle braucht die europäische
| |
− | Freimaurerei ein Klima geistiger Offenheit. Eine Atmosphäre thematischer Tabus
| |
− | oder gar von Denk- und Sprechverboten darf es in ihr nicht geben. Direkte Gespräche zwischen
| |
− | der Großloge A.F.u.A.M. und der United Grand Lodge of England zur Klärung der
| |
− | anstehenden Fragen scheinen mir dringend erforderlich. Die Magna Charta bietet hierfür
| |
− | bekanntlich ja auch einen Rahmen.
| |
− | 287
| |
− | Welches sollten die Themen sein, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen, um die Logen
| |
− | attraktiv für junge Menschen zu machen, die mitten im Leben stehen, Verantwortung
| |
− | übernehmen und als Baumeister an der Entwicklung unserer Gesellschaft mitwirken wollen?
| |
− | Zunächst: Ich bin vollkommen davon überzeugt, dass die Freimaurerei ein Angebot für junge
| |
− | Menschen hat. Sie muss nur besser als bisher in der Lage sein, dieses Angebot an junge
| |
− | Menschen heranzutragen. Dazu müssen wir die Menschen zu uns bringen und mit der Freimaurerei
| |
− | vertraut machen. Dies geht vor allem über den alten, bewährten, doch leider viel
| |
− | zu oft vernachlässigten Weg der persönlichen Einladung aus dem Familien-, Freundes- und
| |
− | Bekanntenkreis. Ich meine jedoch, dass wir auch neue Kommunikationstechniken brauchen,
| |
− | um junge Menschen als potentielle Mitglieder anzusprechen. Wir müssen sozusagen
| |
− | »intelligente Schleppnetze« auswerfen. Entsprechende Aktivitäten der Großloge sind bisher
| |
− | leider immer wieder stecken geblieben, sodass es auch hier vor allem auf eine kreative Arbeit
| |
− | der einzelnen Logen ankommt.
| |
− | Kämen dann junge Menschen zu uns, so müssen aus Gästen Suchende werden. Auch
| |
− | dies gelingt nur durch eine überzeugende und kreativ-interessante Arbeit der Logen. Die
| |
− | Ideen der Freimaurerei werden nur dann Menschen zu uns bringen, wenn wir durch eine
| |
− | »Freimaurerei zum Anfassen« deutlich machen, dass die Logen Brüderbünde sind, die
| |
− | Geborgenheit vermitteln und den Menschen helfen, Wege zu sich selbst und anderen
| |
− | zu finden. Wenn wir vermitteln könnten, dass die menschlichen Beziehungen bei uns
| |
− | stimmen, dass sich Konfliktsfähigkeit und Friedensbereitschaft die Waage halten, dass
| |
− | wir Themen ansprechen, die für Gegenwart und Zukunft der Menschen von Bedeutung
| |
− | sind, und wenn wir deutlich zu machen verstehen, welche Schätze unser altes rituelles
| |
− | Brauchtum in sich birgt, dann brauchten wir um die weitere Entwicklung unseres Bundes
| |
− | nicht zu bangen.
| |
− | Die jungen Menschen von Niveau, die wir brauchen, suchen einen jungen Bund mit
| |
− | Niveau. Das heißt nicht, dass uns unsere Alterstruktur im Wege steht: Junge Menschen
| |
− | suchen durchaus das Gespräch über die Generationen hinweg, wenn es redlich und lebendig
| |
− | ist. Das heißt auch nicht, auf unser bewährtes Erbe zu verzichten. Im Gegenteil:
| |
− | Gerade in einer Zeit, die Aufklärung infrage stellt und in der auch innerhalb unseres
| |
− | Bundes gelegentlich auf sonderbare Weise versucht wird, dieses Erbe abzuschütteln, bleibt
| |
− | die stets neue und kreative Rückbesinnung auf unsere »vergangenen Hoffnungen« eine
| |
− | existenznotwendige Aufgabe.
| |
− | Ganz wichtig ist mir dies: Wenn wir mit jungen Menschen über Freimaurerei sprechen,
| |
− | so müssen wir sie ehrlich und redlich darstellen, auch da wo unsere Geschichte Wege ging,
| |
− | die wir heute kritisch sehen müssen. Von Legenden, wie etwa der einer freimaurerischen
| |
− | Gegenposition zum NS-System, sollten wir Abschied nehmen, endgültig und gründlich.
| |
− | Es gab Mut und Opfer in Einzelfällen, auch bei einzelnen Gruppierungen, aufs Ganze
| |
− | gesehen aber dominierte Anpassung, ja Unterwerfung, vor allem bei den altpreußischen
| |
− | Großlogen. Sollte hier nicht endlich aufgearbeitet werden? 1995 als vielschichtiges Erinnerungsjahr
| |
− | gäbe Gelegenheit dazu.
| |
− | Und in diesem Zusammenhang noch einmal zur Regularität: Dürfen wir uns wirklich
| |
− | noch zumuten, Ergebensheitsadressen an Hitler im Kontext regulärer Freimaurerei zu
| |
− | verstehen, wenn die brüderliche Heimat Carl von Ossietskys, auf den wir uns so gern
| |
− | berufen, gleichzeitig nach wie vor als irregulär eingeschätzt wird?
| |
− | 288
| |
− | Gibt es in der deutschen Freimaurerei überhaupt Gremien oder »Brain Trusts«, die einmal
| |
− | wagen, über die Grenzen des jetzt bestehenden und Arrivierten in der Freimaurerei hinauszudenken
| |
− | und die Konzepte für die Zukunft der Freimaurerei im Jahre 2020 entwickeln?
| |
− | Es gibt in der deutschen Freimaurerei viele Brüder, die über ihren Bund nachdenken. Es gibt
| |
− | auch bewährte Plattformen dafür, wie das Collegium und das Forum Masonicum. Freilich
| |
− | gibt es – nicht zuletzt unter den Amtsträgern – auch Brüder, die ein kritisches Nachdenken
| |
− | über Zustand und Entwicklungsnotwendigkeiten der Freimaurerei in Deutschland gar nicht
| |
− | schätzen. Auch drängt gelegentlich kurzatmiges politisch-taktisches Kalkül die notwendigen
| |
− | strategisch-konzeptionellen Überlegungen allzu sehr in den Hintergrund. Was dabei herauskommt,
| |
− | kann oft nicht befriedigen. Ob neue Gremien, z.B. ein wie immer gearteter »Brain
| |
− | Trust«, helfen können, scheint mir zweifelhaft. Auch hier gilt: Neue Gremien helfen nur,
| |
− | wenn sie von neuen und kräftigen Basisimpulsen getragen werden. Wichtiger als neue Gremien
| |
− | zu schaffen, wäre es meines Erachtens, großlogenweite Impulse für ein gemeinsames
| |
− | Nachdenken zu geben. Leider gibt es zu wenig kritisch-kreative »Großlogenöffentlichkeit«.
| |
− | Hätten wir eine solche, so wäre nicht nur die Regularitätsdiskussion befriedigender verlaufen,
| |
− | auch der Prozess hin zu der auf dem Lübecker Großlogentag angenommenen neuen
| |
− | A.F.u.A.M.-Verfassung wäre ergiebiger gewesen. Dann hätten wir nicht Sparzwänge in den
| |
− | Vordergrund gerückt, wir hätten mit der Bestimmung unserer Aufgaben hier und heute begonnen
| |
− | und dann gefragt, welche organisatorischen Strukturen wir brauchen, um unsere
| |
− | Aufgaben besser zu lösen.
| |
− | Zum Beispiel noch einmal Stichwort »Brain Trust«: Wenn man einen solchen für
| |
− | nützlich gehalten hätte, so wäre der Großlogenrat dafür geeignet gewesen. Dann aber hätte
| |
− | er nicht so »verwaltungszentriert« besetzt sein dürfen, dann müsste er als echter Rat vor
| |
− | allem Mitglieder haben, die ohne Einbindung in bestimmte Funktionen konzeptionell
| |
− | und langfristig denken. Dass er dann auch kleiner und somit kostensparender sein könnte,
| |
− | käme hinzu. Doch noch einmal: Besser als das Nachdenken weniger in neuen Gremien
| |
− | wäre wohl das Nachdenken vieler und der lebendige geistige Austausch innerhalb der
| |
− | Bruderschaft: kurz die kritisch-kreative Großlogenöffentlichkeit. Zum Entstehen einer
| |
− | solchen beizutragen ist, so meine ich, eine wesentliche Aufgabe der »Humanität«.
| |
− | Kann die Freimaurerei überhaupt etwas für die Gesellschaft leisten, oder bleibt sie, als einer
| |
− | der letzten noch existierenden westlichen Einweihungswege, nur auf den Einzelnen bezogen?
| |
− | Es wurde oft und richtig festgestellt: Was die Freimaurerei für die Gesellschaft leistet, leistet
| |
− | sie vor allem durch den einzelnen Freimaurer, und der Weg der Initiation ist dabei von zentraler
| |
− | Bedeutung. Dies schließt jedoch nicht aus, ja es impliziert geradezu, dass der Freimaurer
| |
− | politisch-gesellschaftliche Verantwortung trägt. In Deutschland zeigen sich derzeit Tendenzen
| |
− | eines Verfalls der politischen Kultur. Menschenfeindlichkeit, die versucht, sich als
| |
− | »Ausländerfeindlichkeit« ein Image des »Schließlich-kann-man-es-verstehen« zu verschaffen,
| |
− | macht sich breit. Die Gewaltbereitschaft beträchtlicher Teile der Bevölkerung nimmt zu.
| |
− | Die »politische Klasse« Deutschlands reagiert aufs Ganze gesehen hilflos, weil sie nur allzu
| |
− | oft der populistischen Versuchung erliegt, auf Machterhalt statt auf politische Führung mit
| |
− | – wenn es sein muss – unbequemen Vorgaben zu setzen. In einer solchen Situation mannig289
| |
− | faltigen deutschen Missvergnügens könnte dem Freimaurer die Funktion zukommen, sich
| |
− | im Rahmen seiner sicher nicht zu überschätzenden Möglichkeiten verstärkt der politischen
| |
− | Kultur hierzulande anzunehmen. Unser Bund hat aus seiner Tradition das hierfür geeignete
| |
− | geistige Werkzeug erhalten. Ich nenne nur den redlichen Diskurs der Brüder – Lessings »laut
| |
− | denken mit dem Freunde« – und das Konzept einer um Aufklärung bemühten »offenen Gesellschaft
| |
− | «, die sich als Lebenswelt »toleranter Ungleichgesinnter« versteht, in der selbstverständlich
| |
− | Konflikte ausgetragen werden müssen, in der es aber auch Mechanismen zur Lösung
| |
− | von Konflikten geben muss und in der die Menschen als Mitglieder einer universellen
| |
− | Loge verpflichtet sind, ihre Lebensressourcen auch für kommende Generationen zu bewahren.
| |
− | Freilich bedarf die Freimaurerei hierzu die Bereitschaft seiner Mitglieder zu Profil, Konsequenz
| |
− | und zum beharrlichen Bohren dicker Bretter.
| |
− | Nun gibt es auch in der Freimaurerei die »Brüder Bilderstürmer«, die am liebsten gleich
| |
− | in die Politik einsteigen wollen. Tradition und Ritual werden entweder sinnleer verfremdet
| |
− | oder nur noch zu Schauzwecken eingesetzt. Meiner Ansicht nach ist das keine Freimaurerei
| |
− | mehr. Kann die Freimaurerei solche Bestrebungen kompensieren, oder muss sie sich notgedrungen
| |
− | von solchen Einflüssen befreien? Immerhin besteht die Gefahr, dass der wesentliche
| |
− | Kern unseres Bruderbundes, die Initiation, auf dem Weg angeblicher Modernisierung
| |
− | verloren geht.
| |
− | Freimaurerei ist eine untrennbare Einheit von brüderlicher Gemeinschaft, aufklärerisch-humanitärer
| |
− | Ideenwelt und symbolischem Werkbund. Wo immer diese Einheit verloren ging,
| |
− | ging es bergab mit der Freimaurerei. Wenn die Gemeinschaft nicht stimmt, fühlt sich niemand
| |
− | wohl in der Loge; wenn die ideelle Wurzel abstirbt, füllt sich Freimaurerei mit beliebigen
| |
− | Inhalten zwischen religiöser Sekte und politischem Zirkel; wenn Brauchtum und Ritual
| |
− | vernachlässigt oder für Schauzwecke instrumentalisiert werden, verliert die Freimaurerei
| |
− | ihre Grundlage. Es ist also stets der Gefahr zu begegnen, das Ritual einer falsch verstandenen
| |
− | Modernisierung zu opfern. Im Gegenteil: Die schöpferische rituelle Arbeit erst sichert den
| |
− | Kern der Freimaurerei und übt den Bruder ein in den richtigen Umgang mit sich selbst, der
| |
− | Transzendenz, anderen Menschen und den Dingen der Welt.
| |
− | 290
| |
− | Kulturpreis Deutscher Freimaurer:
| |
− | Kultur des Erinnerns – Kultur der
| |
− | Kommunikation (1998)1
| |
− | Die Großloge der Alten, Freien und Angenommenen Maurer von Deutschland verleiht heute
| |
− | den »Kulturpreis Deutscher Freimaurer« an zwei Rundfunkjournalisten. Sie würdigt damit das
| |
− | von beiden Preisträgern seit 1993 im Landesfunkhaus Schwerin des Norddeutschen Rundfunks
| |
− | projektierte und gestaltete Hörfunkprojekt »Erinnerungen für die Zukunft«. Ziel des Projekts
| |
− | von Ernst-Jürgen Walberg und Thomas Balzer ist es, DDR-Geschichte darzustellen: die alltägliche
| |
− | und die besondere,
| |
− | die wirkliche und die verfälschte, die verschwiegene und die verdrängte,
| |
− | die typische Mischung
| |
− | der damaligen Lebensmischung also.
| |
− | Menschen mit ihrer unterschiedlichen Individualität und ihrem spezifischen Erleben
| |
− | kommen zu Wort: Frauen und Männer, die in den Bezirken Schwerin, Rostock und Neubrandenburg
| |
− | gelebt und gearbeitet haben; Menschen, die dageblieben sind, und Menschen,
| |
− | die gegangen sind oder vertrieben wurden; Opfer und Täter; »Normalbürger« und Mitläufer;
| |
− | Entscheidungsträger
| |
− | und Mitarbeiter ausführender Organe; Unpolitische und Überzeugte; Widerständige,
| |
− | Anpasser und »Wendehälse«.
| |
− | Ein freimaurerischer Kulturpreis für »oral history« also, für »hörbar gemachte Geschichte«.
| |
− | Das erweitert das Spektrum der Verleihungstradition unseres Kulturpreises und lässt fragen, worauf
| |
− | sich die Überzeugung einer guten, für die deutsche Gegenwart und für den Verleihungsort
| |
− | Magdeburg besonders angebrachten Preisträgerwahl gründet.
| |
− | Kultur ist mehr als die Welt der schönen Dinge. Kultur ist auch nicht nur der Ausdruck des
| |
− | künstlerischen und intellektuellen Schaffens einer Zeit. Kultur bedeutet auch, ja vor allem die
| |
− | Art und Weise des Umgangs der Menschen miteinander, mit der sie umgebenden Gesellschaft,
| |
− | mit ihren Zukunftsentwürfen und mit ihrer Vergangenheit. Es war die Zeit der Aufklärung, in
| |
− | der sich dieses Verständnis von Kultur durchgesetzt hat. Immer stärker wurde Kultur primär als
| |
− | Prozess begriffen, in dem der Mensch seine individuellen Ziele moralisch zu begründen lernt
| |
− | und wo auch für alle Lebensäußerungen von Völkern und Gesellschaften die Gültigkeit des
| |
− | Humanitätsprinzips zu fordern ist.
| |
− | Kultur als moralisch gebundener gesellschaftlicher Prozess – von diesem aufklärerischen
| |
− | Kulturbegriff,
| |
− | dessen zeitgleiches Enstehen mit der Begründung der modernen Freimaurerei ja
| |
− | nicht zufällig ist, haben sich die Freimaurer dieser Großloge bei der Verleihung ihres als Ehrung
| |
− | und als Selbstverpflichtung zugleich verstandenen Kulturpreises immer leiten lassen. Namen
| |
− | von Preisträgern wie Max Tau, Siegfried Lenz, Yehudi Menuhin, Lew Kopelew und Reiner
| |
− | Kunze – um nur einige zu nennen – machen dies deutlich.
| |
− | Kultur als qualitative Eigenschaft des politisch-gesellschaftlichen Prozesses: Im Sinne eines
| |
− | solchen erweiterten Kulturbegriffes wird heute auch von der politischen Kultur eines Volkes
| |
− | gesprochen und darauf hingewiesen, dass ohne eine entwickelte Kultur der Verhaltensstile und
| |
− | Umgangsformen eine stabile und zugleich innovativ-flexible Entwicklung einer demokratischen
| |
− | Gesellschaft nicht möglich ist.
| |
− | 1 Laudatio für Ernst-Jürgen Walberg und Thomas Balzer anlässlich der Verleihung des Kulturpreises Deutscher
| |
− | Freimaurer am 22. Mai 1998 in Magdeburg. Dieser Beitrag wurde auszugsweise veröffentlicht in:
| |
− | Humanität. Das deutsche Freimaurermagazin, Nr. 2, März/April 1998, S. 8–11.
| |
− | 291
| |
− | Zur Kultur der Umgangsstile beizutragen, war seit jeher ein fester Bestandteil freimaurerischen
| |
− | Selbstverständnisses. Die Loge galt und gilt nicht zuletzt als Ort, an dem sich Menschen
| |
− | mit all ihren ganz spezifischen Individualitäten in Umgangsstile einarbeiten können,
| |
− | deren besondere Qualität individuelles und soziales Leben gelingen lässt: Stile des Umgangs
| |
− | mit sich selbst, mit anderen Menschen, mit den Anforderungen der Umwelt und mit
| |
− | Transzendenz. Nur wenn der einzelne Mensch immer wieder dazu bereit ist, sich in eine so
| |
− | verstandene Kultur der Kommunikation
| |
− | einzuüben, kann er einen Beitrag zum Entstehen
| |
− | und Bewahren einer humanen Welt leisten.
| |
− | Freimaurer, die zu diesem Auftrag stehen, Großlogen, die diesen Auftrag fördern wollen,
| |
− | können
| |
− | auch heute – bescheiden, aber wirksam – zur Entwicklung der politischen Kultur
| |
− | in Deutschland beitragen, insbesondere auch zu den Prozessen der deutsch-deutschen
| |
− | Vereinigung
| |
− | mit all ihren Chancen und Brüchen, mit all ihrem Gelingen und Scheitern,
| |
− | Prozesse, die nicht zuletzt wegen der Brüder Freimaurer hier in den Neuen Ländern eine
| |
− | besondere Verantwortung
| |
− | für uns begründen.
| |
− | Einüben in Umgangsstile, Sensibilität im zwischenmenschlichen Bereich, Handeln aus
| |
− | Verantwortung
| |
− | und mit Augenmaß: All das setzt Redlichkeit und Wahrhaftigkeit voraus,
| |
− | die wiederum
| |
− | Mut zum Erinnern erfordern. Immer wieder bestätigt sich, dass die Qualität
| |
− | der politischen
| |
− | Kultur einer Gesellschaft von der Ehrlichkeit im Umgang mit ihrer Vergangenheit
| |
− | abhängt.
| |
− | Die Vergangenheit jedes einzelnen Menschen wie die Vergangenheit
| |
− | ganzer Gesellschaften
| |
− | sind wie Heimaten und Häuser, in denen sich Menschen einrichten.
| |
− | Ohne einen solchen
| |
− | Bezug zur Vergangenheit kann der Mensch als »unbehaustes Wesen«
| |
− | nicht existieren. Doch sich ehrlich an Vergangenheit zu erinnern, fällt erfahrungsgemäß
| |
− | schwer. Menschen, Gruppen und ganze Gesellschaften neigen dazu, die individuellen und
| |
− | kollektiven Häuser der Vergangenheit je nach Bedarf neu anzustreichen, umzuräumen oder
| |
− | gar ganze Bezirke zu sperren und zu verbotenen Kammern zu erklären. Nicht wirkliche
| |
− | Heimat, sondern zweckdienliche
| |
− | Heimatklischees, nicht verlässliche Wohnungen, sondern
| |
− | Bühnenkulissen sind die Folge. Gefällige Selbstinszenierungen des Vergangenen erweisen
| |
− | sich aber kaum als tragfähige Fundamente für ein zukunftsträchtiges Bauen – »Erinnerungen
| |
− | für die Zukunft«, der Titel des Projekts unserer Preisträger, liefert demgegenüber
| |
− | das für ehrliche Alternativen erforderliche Stichwort.
| |
− | Erinnern an Vergangenes ist in Phasen des politisch-gesellschaftlichen Umbruchs besonders
| |
− | wichtig. Nur allzu leicht ist sonst die Basis für den Neubeginn brüchig, sowohl im
| |
− | Hinblick auf Fakten, die man kennen muss, als – und besonders – auch im Hinblick auf
| |
− | Moral. Zweimal in der jüngeren deutschen Vergangenheit gab es grundstürzende Veränderungen:
| |
− | beim Zusammenbruch
| |
− | des Nazisystems 1945 und bei der osteuropaweiten Implosion
| |
− | des Kommunismus 1989. Jedesmal bekannten sich die Deutschen zur Notwendigkeit
| |
− | einer »Bewältigung der Vergangenheit
| |
− | «, doch jedesmal zeigten sich große Schwierigkeiten
| |
− | damit, und »der Bequemlichkeit
| |
− | des Mitläufertums folgte (jeweils nur allzu rasch) die Beqemlichkeit
| |
− | des Vergessens« (Stefan Wolle).
| |
− | Nach 1945 fiel es den Deutschen schwer, das große Maß ihrer Verstrickung in das
| |
− | NS-System zu akzeptieren. Als »Unfähigkeit zu trauern« haben Alexander und Margarete
| |
− | Mitscherlich das vielschichtige Syndrom des Vergessens und Verdrängens, der fehlenden
| |
− | Bereitschaft zur Auseinandersetzung
| |
− | mit der Vergangenheit beschrieben, ein Syndrom von
| |
− | Teil- und Unehrlichkeit, dem sich auch die deutsche Freimaurerei zu stellen hat.
| |
− | 292
| |
− | Nach 1989 wurde innerhalb und außerhalb der zusammengebrochenen DDR mit großer
| |
− | Entschiedenheit
| |
− | die Aufarbeitung der totalitären Vergangenheit, insbesondere der Stasi-
| |
− | Verbrechen,
| |
− | eingefordert. Behörden wurden gegründet, Enquetekommissionen eingesetzt,
| |
− | Forschungsprogramme
| |
− | projektiert und Institute eingerichtet. Und doch sind erneut viele
| |
− | Fehlentwicklungen
| |
− | auszumachen:
| |
− | • westdeutscher Übereifer in Kompensation eigener, im Bezug auf die NS-Vergangenheit
| |
− | versäumter Aufarbeitungserfordernisse nach 1945;
| |
− | • Weiterwirken allzu simpler antikommunistischer Klischees;
| |
− | • Erscheinungen von DDR-Nostalgie in den neuen Bundesländern, Sehnsüchte nach der
| |
− | (vermeintlich) »heilen Welt der Diktatur« (Stefan Wolle);
| |
− | • Symptome einer vielschichtigen »Verabredung des Vergessens« – um eine Kennzeichnung
| |
− | von Joachim Gauck zu verwenden –, mit besonders negativen Folgen für die Anerkenung
| |
− | und Entschädigung der Opfer, oft jeder Gerechtigkeit und Güte bar;
| |
− | • freches Auftrumpfen der politischen Akteure von gestern (über die Wolf Biermann schon
| |
− | 1990 bitter spottete: »Sie haben uns alles verziehen, was sie uns angetan …«);
| |
− | • schließlich die Einseitigkeiten der Konzentration auf die oft dürre Analyse totalitärer Systemstrukturen
| |
− | bei gleichzeitigem Vergessen der individuellen Schicksale einzelner Menschen.
| |
− | Das Vergessen einzelner Menschen trägt besonders inhumane Züge, denn es darf und kann
| |
− | doch nicht darüber hinweggegangen werden, dass das, was sich rückschauend zu Geschichte
| |
− | verdichtet, zunächst und vor allem auf den Geschichten der Einzelnen beruht. Gerade der
| |
− | Freimaurer, der von Wert und Würde jedes einzelnen konkreten Menschen ausgeht, muss
| |
− | oder sollte wissen, dass vergessene Opfer doppelt geopfert werden und dass ein Nicht-erinnern-
| |
− | Wollen von in der Vergangenheit erlittenem Unrecht, von Unterdrückung und Gewalt
| |
− | neues Unrecht, ja neue Unmenschlichkeit in der Gegenwart bedeutet.
| |
− | Gewiss: Sich an Wahrheiten zu erinnern kann unbequem sein, es erfordert Mut und
| |
− | die Bereitschaft,
| |
− | auf die erwähnten bequemen »Neuerfindungen der Vergangenheit« zu
| |
− | verzichten. Es ist dem Politikwissenschaftler Stefan Wolle darin zuzustimmen, dass alles,
| |
− | was gemeinhin unter dem Signum von »Aufarbeitung« und »Vergangenheitsbewältigung«
| |
− | rubriziert wird, der natürlichen
| |
− | Gravitationskraft des Alltagsdenkens widerstrebt und dass
| |
− | die »Schlussstrichzieher aller Zeiten« stets den gesunden Menschverstand auf ihrer Seite zu
| |
− | haben scheinen.
| |
− | Hier kommt mir Erich Frieds Gedicht über die »Vorteile der Unwissenheit« in den Sinn:
| |
− | »Nichtwissen
| |
− | tut niemand weh
| |
− | mit Ausnahme derer
| |
− | denen weh getan werden kann
| |
− | weil niemand es weiß.«
| |
− | Wehtun, weil niemand es weiß: Das Projekt »Erinnerungen für die Zukunft«, für das
| |
− | Ernst-Jürgen
| |
− | Walberg und Thomas Balzer heute mit dem »Kulturpreis deutscher Freimaurer
| |
− | « ausgezeichnet
| |
− | werden, will dieser Unmenschlichkeit des Vergessens vieler einzelner
| |
− | 293
| |
− | Lebensschicksale
| |
− | entgegenwirken. Es will durch das Sichtbarmachen einzelner Lebensschicksale
| |
− | zugleich aber auch einen Beitrag zum Verständnis der vergangenen DDR-Realitäten
| |
− | leisten, der offiziellen
| |
− | wie der alltäglichen. Es vermittelt dringend erforderliche Information
| |
− | über ein Land, das im Westen Deutschlands immer noch weithin unbekannt
| |
− | geblieben ist, und es dient als sensibler Kompass für die gerade heute in West- wie Ostdeutschland
| |
− | so notwendige richtige Standortbestimmung
| |
− | der SED-Diktatur zwischen
| |
− | Dämonisierung und Verharmlosung. Es macht die Zusammenhänge zwischen der Omnipräsenz
| |
− | der Unterdrückung
| |
− | und der Nischengesellschaft des Alltags sichtbar und verdeutlicht
| |
− | eine auch aus der NS-Zeit bekannte Grundstruktur totalitärer
| |
− | Gesellschaften, dass
| |
− | nämlich in solchen Systemen
| |
− | vermeintliche Harmlosigkeiten des Alltags
| |
− | dämonische Dimensionen
| |
− | und tatsächliche Schrecklichkeiten des Systems gemütlich-alltägliche
| |
− | Seiten
| |
− | besitzen können (Stefan Wolle). Der KZ-Aufseher als Beethoven spielender Familienvater,
| |
− | der Lebenspartner als inoffizieller Stasi-Mitarbeiter, aber auch der Widerständler aus dem
| |
− | System heraus sind Prototypen dieser totalitären Gemengelage.
| |
− | Walberg und Balzer setzen hier an und spüren hier auf. Zu Recht erhalten sie den Preis
| |
− | gemeinsam.
| |
− | Die beiden Journalisten wirken als engagiertes und kreatives Team zusammen.
| |
− | Die gemeinsame
| |
− | Arbeit des älteren und des jüngeren Journalisten, des »Wessis« und des
| |
− | »Ossis«, erwies
| |
− | und erweist sich dabei als besonders fruchtbar.
| |
− | Nicht nur das Projekt als solches, auch die Gestaltungsweise der beiden Autoren überzeugt
| |
− | und ist preiswürdig. Walberg und Balzer gehen mit Sensibilität und Neugier, mit
| |
− | Leidenschaft und Augenmaß an ihre Aufgabe heran. Sie blenden eigene Betroffenheit, ja
| |
− | Ratlosigkeit nicht aus. Sie hören zu, sie sind neugierig, aber nie auf Sensation versessen.
| |
− | Sie fragen und kommentieren
| |
− | nüchtern, doch zugleich empathisch. Sie wollen wirklich
| |
− | Neues erfahren und wissen nicht im Voraus schon Bescheid.
| |
− | Die Darstellungsformen sind vielfältig: Stundensendungen stehen neben Kurzbeiträgen,
| |
− | Dokumentationen
| |
− | wechseln mit langen Interviews, gründlich vorbereitet, eingeordnet
| |
− | in die konkrete
| |
− | Situation der DDR und der Ost-West-Beziehungen, durch Quellenstudium
| |
− | fundiert, nicht selten wirkliche Meisterwerke des zeitgeschichtlichen Journalismus. Das
| |
− | gewählte Medium, das Radio, das in dieser Form wohl nur öffentlich-rechtlich existieren
| |
− | kann, bewährt sich in seiner Qualität. Es dokumentiert nicht nur, sondern bringt den
| |
− | Hörer auch auf seine so überzeugend unspektakulär-altmodische Art zum Nachdenken
| |
− | und regt zum Entwickeln eigener Bilderwelten
| |
− | an.
| |
− | Gespräche, wie Walberg und Balzer sie führen – mit Zeitzeugen, mit Opfern, auch
| |
− | mit Tätern, soweit sie bereit sind zu sprechen – machen nicht nur Geschichte hörbar
| |
− | und mitvollziehbar. Die Gespräche erweisen sich auch als Schritte zur Befreiung der
| |
− | Gesprächspartner aus den Fesseln einer bisher als unabänderlich empfundenen Unterdrückung
| |
− | und zur Stärkung des Selbstbewusstseins (Hildegard Bussmann). Erinnern,
| |
− | um vergessen zu können: Auch diesen Prozess kann der Hörer miterleben und für sich
| |
− | nachvollziehen. Dankbarkeit ist am Platz: Die Zeitzeugen erinnern sich nicht nur für sich
| |
− | selbst, sondern leisten Erinnerungs- und Trauerarbeit
| |
− | auch für die Hörer der Sendungen,
| |
− | auch für uns.
| |
− | Geschichte durch Geschichten lebendig zu machen, an Opfer zu erinnern und Täter
| |
− | zu benennen:
| |
− | Das darf freilich nicht vergessen lassen, dass es bei jeder Diskussion über
| |
− | Schuld und Verstrickung
| |
− | in totalitären Systemen auch um Verhaltensmöglichkeiten der
| |
− | Spezies Mensch, d.h. jedes Menschen, geht und dass – so ein Wort Dietrich Bonhoef294
| |
− | fers – »nichts von dem, was wir im anderen verachten, uns selbst ganz fremd ist«. Diese
| |
− | Ambivalenzen sind oft beschrieben, analysiert und kommentiert worden. Wir Freimaurer
| |
− | stellen sie im rituellen Brauchtum dramatisch
| |
− | dar, und es war die Jüdin Hannah Arendt,
| |
− | die denen, die sich nach 1945 schämten, Deutsche
| |
− | zu sein, zurief, sie schäme sich, ein
| |
− | Mensch zu sein (zitiert nach Peter Steinbach).
| |
− | Doch auch hier – im Bereich menschlich-allzumenschlicher Ambivalenzen und
| |
− | Doppelbödigkeiten
| |
− | – löst nichts so sehr Nachdenklichkeit und Betroffenheit aus wie persönliches
| |
− | Erleben. So mag am Ende meiner Würdigung ein Vorgang aus der Arbeit der
| |
− | Preisträger stehen, den Ernst-Jürgen Walberg im Wortlaut folgendermaßen berichtet:
| |
− | »Im Studio sitzt ein damals 68-jähriger Mann. Er hat einst für die Kampfgruppe gegen
| |
− | Unmenschlichkeit
| |
− | Informationen nach Westberlin geschmuggelt und Flugblätter verteilt
| |
− | in der DDR. Er ist verhaftet und 1952 in Greifswald zu zwölf Jahren Zuchthaus
| |
− | verurteilt worden und zu zehn Jahren Sühnemaßnahmen anschließend ….
| |
− | Sachlich hatte er im Vorgespräch seine Geschichte erzählt. Im Studio bricht er in Tränen
| |
− | aus, der alte Mann bekommt keine Luft mehr – das Angebot, das Gespräch abzubrechen,
| |
− | lehnt er ab: Wenn ich das jetzt nicht erzähle, erzähle ich es nie wieder, sagt
| |
− | er leise. Er ist rehabilitiert
| |
− | worden, inzwischen, als einer der ersten in Mecklenburg-
| |
− | Vorpommern. Und deshalb frage ich ihn ganz am Schluss nach der Bedeutung, die
| |
− | diese Rehabilitation für ihn hat. Diese Rehabilitierung zeigt mir, dass ich damals …
| |
− | (stockt) … richtig gedacht … und gehandelt habe. Zwar ist die Einheit … bedeutend
| |
− | … später verwirklicht worden, aber … ich hab’ sie noch erlebt
| |
− | … (Schluchzen, dann
| |
− | Weinen) …
| |
− | Dieses Interview ist nicht gesendet worden bisher, wir wollten ihn nicht vorführen,
| |
− | den alten Mann mit seinen Schwächen, seiner Trauer, seinem Weinen. Wir waren
| |
− | selbst hilflos, ratlos.
| |
− | Monate später kommt die Information: Dieser Mann war jahrelang inoffizieller Mitarbeiter
| |
− | des Ministeriums für Staatssicherheit.«
| |
− | Zum Schluss und zusammenfassend: Der Kulturpreis Deutscher Freimaurer Magdeburg
| |
− | 1998 ist nicht ein Kulturpreis traditionellen Kulturverstehens. Er mag daher auch kein Kulturpreis
| |
− | der Schönheit sein. Doch man sollte nicht vorschnell an der Weisheit der Preisverleiher
| |
− | zweifeln.
| |
− | Die Großloge versteht ihn als einen Kulturpreis der Stärke, der ein gelungenes
| |
− | und bitter notwendiges Engagement zur Förderung der politischen Kultur im vereinigten
| |
− | Deutschland auszeichnen und zugleich zur Fortsetzung eines solchen Engagements
| |
− | provozieren will.
| |
− | Die Verleihung des Preises an Ernst-Jürgen Walberg und Thomas Balzer für ihr Projekt
| |
− | »Erinnerungen für die Zukunft« will auch die Brüder Freimaurer auffordern, redlich mit
| |
− | der Geschichte, ihrer eigenen und der deutschen, umzugehen, den Mut zu haben, sich zu
| |
− | erinnern und zu jener Kultur des Verhaltens beizutragen, die sowohl Erfordernis gesamtdeutscher
| |
− | Gegenwart
| |
− | als auch Überlieferung bester freimaurerischer Tradition ist.
| |
− | Es ist der Kulturpreis einer unbequemen Freimaurerei, die es nicht aufgegeben hat,
| |
− | Fragen an die Zeit zu stellen und sich selbst zu einem verantwortlichen Handeln zu verpflichten.
| |
− | Nach deutschen Wirklichkeiten zu fragen, über sie nachzudenken, Geschichte
| |
− | nachzuarbeiten, ehrlich
| |
− | und redlich, mit Anteilnahme am Einzelschicksal – all das gehört
| |
− | 295
| |
− | zur bürgerlichen Verantwortung
| |
− | hinzu, trägt bei zur Bewahrung des Politischen gegenüber
| |
− | den gegenwärtigen gefährlichen
| |
− | Tendenzen hin zu einer oberflächlichen, lediglich
| |
− | scheinpolitischen Event-Gesellschaft und ist Bestandteil jener zivilen Kultur, derer die Demokratie
| |
− | im wieder vereinigten Deutschland so dringend bedarf. Und hier schließt sich
| |
− | der Kreis: Der Historiker Jürgen Habermas
| |
− | hat die Logen des 18. Jahrhunderts einmal als
| |
− | publizistische Enklaven bürgerlichen Gemeinsinns gekennzeichnet, und Lessing spekulierte
| |
− | bekanntlich gar darüber, ob die bürgerliche
| |
− | Gesellschaft überhaupt nicht nur ein Sprössling
| |
− | der Freimaurer sei. Die Loge als Enklave bürgerlichen Gemeinsinns innerhalb der Gesellschaft
| |
− | – wäre das nicht ein Ziel, »recht sehr zu wünschen« auch für unsere Zeit? Und der
| |
− | Weg dahin: könnte er nicht ein innovatives und kreatives »Daherum-Arbeiten« bedeuten,
| |
− | dass der Freimaurerei die ihr von Lessing zugedachte Patenrolle auch heutzutage gelingt?
| |
− | Lieber Ernst-Jürgen Walberg, lieber Thomas Balzer, wir beglückwünschen Sie herzlich
| |
− | zum Kulturpreis Deutscher Freimaurer, aber wir sind weit davon entfernt, gönnerhaft neben
| |
− | ihnen zu stehen. Das, was sie geleistet haben und was sie weiter tun, hat und verdient
| |
− | unseren Respekt,
| |
− | weil es gut ist, aber auch, weil es uns selber angeht. Es lädt uns ein zur
| |
− | Identifizierung, und es hilft uns dadurch, unsere eigene freimaurerische Identität zeitgemäß
| |
− | zu begründen!
| |
− | 296
| |
− | Quatuor Coronati: neue Leitung – alte
| |
− | Aufgaben (1999)1
| |
− | Die Forschungsgesellschaft (Forschungsloge) »Quatuor Coronati« will in drei Erscheinungsformen
| |
− | für die Bruderschaft der deutschen Freimaurer wirken: als Forschungsloge, als Wissensloge
| |
− | und als Kommunikationsloge.
| |
− | Forschungsloge
| |
− | Als Forschungsloge fasst »Quatuor Coronati« Brüder aus allen deutschen und aus befreundeten
| |
− | europäischen
| |
− | Großlogen zusammen, die freimaurerische Forschung betreiben und/oder
| |
− | sich für die Ergebnisse freimaurerischer Forschung interessieren. Quatuor Coronati soll dafür
| |
− | den Rahmen schaffen, Kommunikationsmöglichkeiten öffnen – auch mit der »profanen«
| |
− | (besser: »externen«) Freimaurerforschung – und Publikationsorgane (TAU, Quatuor-Coronati-
| |
− | Jahrbuch für Freimaurerforschung)
| |
− | bereitstellen. Diese Forschung soll redlich und solide
| |
− | sein, denn Forschung ist nun einmal
| |
− | Forschung. Diese Forschung soll aber auch Freude
| |
− | machen, soll etwas vermitteln vom Charme jenes kreativen Spiels, das Freimaurerei als Königliche
| |
− | Kunst ja auch ist. Die Forschungsarbeit unserer Brüder soll sich auf viele Felder erstrecken,
| |
− | die für die Entwicklung der Freimaurerei von Bedeutung sind und die immer wieder
| |
− | neu abzustecken sind. Für mich als Sozialwissenschaftler sind dabei Fragen aus den Spannungsfeldern
| |
− | »Loge und Gesellschaft« sowie »Bruder und Loge« besonders wichtig, zumal wir
| |
− | zweifellos zu wenig darüber wissen.
| |
− | Aber schon für die Gründer der Forschungsloge war ganz klar, dass sich »Quatuor
| |
− | Coronati« vor allem mit Geschichtsforschung
| |
− | zu befassen habe, wobei Ritualistik für mich
| |
− | Bestandteil geschichtlicher, genauer kulturgeschichtlicher Forschung ist. Warum ist historische
| |
− | Forschung so wichtig? Die Antwort kann nur lauten: Vor allem aus den Gegenwartsbedürfnissen
| |
− | der Freimaurerei heraus. Freimaurerei kann sich – gerade, wenn sie im Heute
| |
− | leben und kein erstarrtes Relikt der Vergangenheit sein will – nur von ihren historischen
| |
− | Fundamenten her, nur aus ihrer – zuweilen auch schmerzlich gebrochenen
| |
− | – Geschichte
| |
− | heraus entwickeln.
| |
− | Nur Geschichte liefert der Gegenwartsfreimaurerei Legitimation, nur Geschichte schafft
| |
− | Identität,
| |
− | nur Geschichte bietet Zukunftsorientierung, Orientierung auch für die notwendigen
| |
− | Prozesse der Veränderung, vor denen wir stehen. Das Wort des Bielefelder Historikers
| |
− | Jörn Rüsen: »Historische
| |
− | Erinnerung ist ein Lebenselixier« gilt für die Freimaurerei ebenso
| |
− | wie die Feststellung des englischen Historikers F. Powicke, dass Menschen ohne »konstruktiven
| |
− | Ausblick auf die Vergangenheit
| |
− | entweder dem Mystizismus oder dem Zynismus verfallen
| |
− | «. Wir Freimaurer brauchen weder dem Mystizismus noch dem Zynismus zu verfallen.
| |
− | Wenn wir historisch ausblicken, so können wir mit Stolz eine Feststellung des polnischen
| |
− | Philosophen Leszek Kolakowski auf unseren Bund beziehen:
| |
− | »Glücklich sind die, denen ihre
| |
− | 1 Am 9. Juli 1999 wurde Bruder Hans-Hermann Höhmann in Weimar zum Meister der Forschungsloge
| |
− | Quatuor Coronati gewählt. Nachstehend veröffentlichen wir Auszüge aus seinen Überlegungen zur Arbeit
| |
− | der Loge. Dieser Beitrag wurde ursprünglich veröffentlicht in: Humanität. Das deutsche Freimaurermagazin,
| |
− | Nr. 5, September/Oktober 1999, S. 24–25.
| |
− | 297
| |
− | eigene Tradition den Glauben an die Gemeinschaft der menschlichen Gattung, den Glauben
| |
− | an Toleranz, die Bereitschaft zum Zusammenwirken und den Kritizismus überliefert hat.
| |
− | Andere haben aus der Tradition den National- und Rassenhass, den Fanatismus,
| |
− | den Kult
| |
− | der Gewalt übernommen.«
| |
− | Doch Geschichte als Lebenselixier, als Legitimationsgrundlage, als Identitätsstifter und
| |
− | als Gegenwartsorientierung
| |
− | kann nicht von uns nach dem jeweiligen Gegenwartszweck
| |
− | neu erfunden werden. Bedarfsgerecht gemalte historische Kulissen, zweckorientierte Geschichtslegenden
| |
− | und flache »Geschichtspolitik« spenden ebenso wenig Kraft wie das unref
| |
− | lektierte Verbreiten von Listen
| |
− | mit den Namen prominenter Freimaurer. Kraft im Sinne
| |
− | von Lebenselixier entsteht nur durch ein solides und redliches Bemühen um historische
| |
− | Wahrheit.
| |
− | Das hat Konsequenzen für unsere Arbeit: Wir müssen uns an wissenschaftliche Standards
| |
− | heranarbeiten,
| |
− | auch wenn diese vielleicht gelegentlich unbequem sind; wir sind zu
| |
− | ernsthafter Selbstprüfung
| |
− | und kritischem Diskurs innerhalb unserer Forschungsloge verpflichtet;
| |
− | wir müssen auf die Gefahren ideologischer Entstellungen der historischen Wahrheit
| |
− | hinweisen und zugleich Verzicht leisten, selbst Ideologien oder Legenden zu schaffen;
| |
− | wir brauchen das intensive Zusammenwirken mit der »profanen« (externen) Forschung.
| |
− | Wissensloge
| |
− | Wenn es richtig ist, dass die Lebenskraft der Freimaurerei nicht zuletzt aus ihrem historischen
| |
− | Bewusstsein kommt, und wenn es wiederum zutrifft, dass historisches Bewusstsein
| |
− | auf geschichtliches Wissen und zwar richtiges, geprüftes Wissen angewiesen ist, dann hat,
| |
− | so folgt für mich daraus, »Quatuor Coronati« gewissermaßen als »Wissenloge« die Aufgabe,
| |
− | wesentlich daran mitzuwirken, ein solches Wissen in der deutschen Bruderschaft zu verbreiten.
| |
− | Das können wir über unsere Publikationen und unsere Tagungen (nicht zuletzt unsere
| |
− | Arbeitstagungen) tun, das kann über unsere regionalen und örtlichen Arbeitszirkel erfolgen,
| |
− | das kann in den Logen über alle unsere Mitglieder geschehen, auch wenn nicht jeder von
| |
− | uns selbst aktiv forscht.
| |
− | Seien wir ehrlich: Der Bestand an wirklich verlässlichem Wissen über das Wie und
| |
− | Woher der Freimaurerei ist in der deutschen Bruderschaft relativ niedrig. Historische Erinnerung
| |
− | als Lebenselixier
| |
− | – um noch einmal Jörn Rüsens Kennzeichnung zu verwenden
| |
− | – ereignet sich viel zu wenig. Das bedeutet aber auch, dass wir wesentliche Ressourcen
| |
− | unserer Lebens- und Überlebenskraft nur unzureichend nutzen: nämlich zu wissen, wer wir
| |
− | sind und wohin wir gehen, weil wir wissen, wer wir waren und woher wir kamen!
| |
− | Es ist in der Vergangenheit oft die Frage gestellt worden, ob »Quatuor Coronati«
| |
− | »programmatisch
| |
− | « werden, ob die Forschungsloge Entwürfe freimaurerischer Zukunft liefern
| |
− | solle. Ich bin hier außerordentlich skeptisch, nicht nur, weil wir als Forschungsloge
| |
− | nicht in den Entscheidungsbereich
| |
− | von Logen und Großlogen eingreifen können und
| |
− | dürfen, sondern vor allem, weil nicht ein Defizit an Thesen, Programmen und Aufrufen
| |
− | für die in der Tat offenkundigen Entwicklungsprobleme
| |
− | der deutschen Freimaurerei
| |
− | verantwortlich ist, sondern die zu wenig kernige und kraftvolle Identität der deutschen
| |
− | Bruderschaft insgesamt.
| |
− | 298
| |
− | Hier ist aber genau der Platz, wo wir als Quatuor Coronati-Brüder wirken können,
| |
− | wirken können
| |
− | als eine zwar indirekte, aber doch wichtige Kraft (wobei ich beides betone:
| |
− | »indirekt« und »Kraft«): durch unsere Beiträge zu einer produktiven Kultur des historischen
| |
− | Erinnerns, die Identität
| |
− | und Orientierung der deutschen Bruderschaft fördert; durch unsere
| |
− | Beiträge zu den bereits von Lessing unverbesserbar klar gestellten Grund- und Lebensfragen
| |
− | unseres Bundes: »Was und warum
| |
− | die Freimaurerei ist, wann und wo sie gewesen, wie
| |
− | und wodurch sie befördert oder gehindert wird«.
| |
− | Kommunikationsloge
| |
− | Schließlich, aber nicht zuletzt besteht die Arbeit der Forschungsloge im Vermitteln einer
| |
− | intensiven Kommunikation (Quatuor Coronati als »Kommunikationsloge«). Das bedeutet:
| |
− | • Kommunikation der Quatuor Coronati-Brüder untereinander:
| |
− | Durch Arbeitstagungen, durch das Wirken der Zirkel, durch Kommunikation im Internet.
| |
− | Insgesamt geht es um immer neue Ansätze zum »laut denken mit einem
| |
− | Freunde« (Lessing).
| |
− | Die Parallelität von Forschungsloge und Forschungsgesellschaft, wie sie unsere neue Satzung
| |
− | vorsieht, und die Öffnung der Mitgliedschaft in der Forschungsgesellschaft über den
| |
− | Kreis der Freimaurermeister hinaus führen hier zu neuen, bereichernden Möglichkeiten.
| |
− | • Kommunikation zwischen QC und der deutschen Bruderschaft:
| |
− | Hier geht es um das Wirken als »Wissensloge«, um Einsatz für Wissensvermittlung, um
| |
− | Sensibilisierung für zentrale Fragen unseres
| |
− | Bundes, um eine Erweiterung der Mitgliederbasis
| |
− | vor allem auch durch die jungen Meister; hier geht es darum deutlich zu machen,
| |
− | dass die Forschungsloge mit ihrer Offenheit für Brüder aller Systeme, mit ihrem Verzicht
| |
− | auf jedes einengende Profil und ihrer Internationalität eine vorzügliche
| |
− | Stätte brüderlicher
| |
− | Begegnung und kreativer Nachdenklichkeit ist.
| |
− | • Kommunikation mit den Großlogen, die die VGLvD bilden, und den VGLvD selber:
| |
− | Diese sollten mit uns gemeinsam überlegen, wie sie die »Ressource Quatuor Coronati«
| |
− | noch besser nutzen
| |
− | können, von der sie keinerlei großlogenpolitischen Ehrgeiz zu befürchten
| |
− | haben. Es ist bedauerlich, wie unzureichend die Großlogenleitungen den Wert
| |
− | von »Quatuor Coronati« erkennen. Es geht ihnen wohl immer noch mehr um Administration
| |
− | und Interessenbewahrung als um inhaltlich-freimaurerische Arbeit. Verwaltung
| |
− | geht offensichtlich vor Gestaltung. Nur sehr selten sind QC-Vertreter zu Sitzungen des
| |
− | Senats der VGLvD eingeladen worden – obwohl die Forschungsloge mit ihren 1500 Mitgliedern
| |
− | die drittgrößte Vereinigung innerhalb der VGLvD ist.
| |
− | • Kommunikation mit den Brüdern von Forschungslogen im Ausland:
| |
− | Wie groß ist unsere Freude, so viele von ihnen immer wieder unter uns zu haben! Von der
| |
− | Forschung her zum Zusammenwachsen der europäischen Freimaurer beizutragen – auch
| |
− | hierin sehe ich einen wichtigen Aspekt der Arbeit von QC.
| |
− | • Kommunikation mit der »profanen« (externen) Freimaurerforschung:
| |
− | Wir brauchen diesen Kontakt zur inhaltlichen Bereicherung der Forschung und als kritisches
| |
− | Korrektiv in methodologischer
| |
− | Hinsicht. Wir brauchen diesen Kontakt auch, weil
| |
− | »externe« Forscher an manche Frage unbefangener
| |
− | herangehen können als wir selbst. Die
| |
− | Zusammenarbeit sollte über die Geschichtsforschung
| |
− | hinaus zu anderen Disziplinen ausgebaut
| |
− | werden.
| |
− | 299
| |
− | • Schließlich Kommunikation mit der Öffentlichkeit:
| |
− | Durch das Veröffentlichen von Forschungsergebnissen,
| |
− | durch öffentliche Vorträge unserer
| |
− | Mitglieder, über eine geeignete Homepage im Internet
| |
− | u.s.w. können wir zur dringend
| |
− | notwendigen Klärung des Freimaurerbildes in der deutschen Gesellschaft beitragen.
| |
− | Über all dies möchte ich mit allen Brüdern im Gespräch bleiben. Es würde mich freuen,
| |
− | wenn das Forum brüderlicher Begegnung, das die Forschungsloge »Quatuor Coronati« bietet,
| |
− | noch besser genutzt würde. Wir wollen durch Forschung, durch das Wecken von Interesse
| |
− | an freimaurerischem Wissen und durch kreative Kommunikation einer erfolgreichen
| |
− | Entwicklung und der Einigkeit der deutschen Bruderschaft dienen.
| |
− | Neue Mitarbeiter sind hochwillkommen!
| |
− | 300
| |
− | Toleranz als politisches Prinzip und
| |
− | persönliche Tugend – die Sicht eines
| |
− | Freimaurers (2000)1
| |
− | Wir alle haben erlebt, wie sehr Toleranz in den vergangenen Monaten zu einem bestimmenden
| |
− | Thema der politischen
| |
− | Diskussion in Deutschland geworden ist. Hierfür gibt es
| |
− | zunächst aktuelle Ursachen: Die zunehmende rechtsextremistische Gewalt gegen Ausländer
| |
− | und deutsche Bürger
| |
− | jüdischen Glaubens macht klare Antworten der deutschen Demokratie
| |
− | und ihrer engagierten Bürger erforderlich. So hat die Bundesregierung zu einem »Bündnis
| |
− | für Demokratie und Toleranz – gegen Extremismus und Gewalt« aufgerufen, und so haben
| |
− | politische Gruppen, Kirchen, Intellektuelle und Bürger wiederholt gegen die gewalttätige
| |
− | Intoleranz von Rechts Stellung bezogen, besonders eindrucksvoll auf der großen Berliner
| |
− | Kundgebung vom 9. November 2000, zu der nicht weniger als 200.000 Menschen demonstrierend
| |
− | und protestierend zusammenkamen.
| |
− | Doch auch die jüngsten Diskussionen um Einwanderung, »deutsche Leitkultur«, Nationalstolz
| |
− | und multikulturelle Gesellschaft haben zu intensiven Anstrengungen geführt,
| |
− | Toleranz als politisches Grundprinzip einer weltoffenen Demokratie neu zu bestimmen.
| |
− | Was bedeutet der gegenwärtige hohe Stellenwert der Toleranz im gesellschaftlichen
| |
− | Diskurs der Bundesrepublik?
| |
− | Er signalisiert zumindest eine bemerkenswerte Tendenz zur öffentlichen Sensibilisierung.
| |
− | Doch mir scheint, dass den Reaktionen, die wir beobachten und an denen wir teilhaben,
| |
− | bisher etwas ausgesprochen Defensives anhaftet.
| |
− | Demokratie und Toleranz sollen gegen Intoleranz und Gewalt verteidigt, aber auch
| |
− | vertraute deutsche Verhältnisse gegen ein vermeintliches Zuviel an Toleranz abgeschirmt
| |
− | werden. Fruchtbar werden kann die Toleranzdebatte jedoch wohl nur dann, wenn Toleranz
| |
− | zu einer permanenten politischen Gestaltungsaufgabe wird, wenn sie positiv definiert und
| |
− | aktiv gestaltet wird, wenn es gelingt, den demokratischen Verfassungskonsens um den Toleranzbegriff
| |
− | herum zu erneuern und im Verhalten der Bürger zu verankern.
| |
− | Im Verhalten der Bürger zu verankern – denn es ist ebenso selbstverständlich wie unabdingbar,
| |
− | dass »Toleranz die erste und wichtigste Tugend ist, die geübt werden muss, um
| |
− | das Leben in einer Sozietät nicht nur erträglich, sondern auch effizient zu gestalten … Sie
| |
− | bleibt Bedingung der Möglichkeit von Freiheit und Würde des Menschen als eines sozialen
| |
− | Wesens, sie bleibt gefordert im Zusammenleben von Mann und Frau, sie ist unerlässlich im
| |
− | Verkehr zwischen großen und kleinen gesellschaftlichen Gruppen, gleich, ob es sich dabei
| |
− | um soziale Schichten, um Ethnien und Völker oder um Religionsgemeinschaften handelt«
| |
− | (Ivo Frenzel).
| |
− | Toleranz ist auch eine alte freimaurerische Wertvorstellung. Seit dem 18. Jahrhundert
| |
− | waren es nicht zuletzt Vertreter des Freimaurerbundes, die sich für einen toleranten Umgang
| |
− | der Menschen miteinander über nationale, religiöse und soziale Grenzen eingesetzt
| |
− | haben. Doch das bedeutet nicht, dass Freimaurer allein aus ihrer Tradition heraus auch
| |
− | heutzutage besonders viel von toleranten Prinzipien und Formen der Praxis verstünden.
| |
− | 1 Festvortrag zur Preisverleihung beim Wettbewerb »Aktive Toleranz im Zeitalter der Globalisierung« der
| |
− | Loge »Zur deutschen Redlichkeit« in Iserlohn am »Internationalen Tag der Toleranz«, 16. November
| |
− | 2000. Dieser Beitrag wurde bisher nicht veröffentlicht.
| |
− | 301
| |
− | Auch für sie muss Toleranz wieder mehr sein als ein »moralischer Aufputz« (so Friedrich
| |
− | Nietzsches kritisches Wort), und deshalb müssen auch sie erneut und ernsthaft ihren Beitrag
| |
− | leisten sowohl zur Verstetigung und Vertiefung der Toleranzdiskussion als auch zur
| |
− | Einübung einer toleranten Praxis.
| |
− | Deshalb möchte ich meine Skizze zur »Toleranz als politisches Prinzip und persönliche
| |
− | Tugend« auch weniger als Festansprache verstehen und mehr als Werkstattbericht, als Annäherung
| |
− | an eine komplexe Problematik, die uns auf Dauer beschäftigen wird und muss.
| |
− | Ich möchte vermeiden, gleichsam zum Mitglied einer Bordkapelle zu werden, die besinnliche
| |
− | Weisen spielt, während der Dampfer weiterzieht, wohin er will – auch wenn die Reise
| |
− | unverkennbar in die falsche Richtung geht.
| |
− | Zunächst: Die aktuellen Debatten und politischen Zuspitzungen müssen auf dem Hintergrund
| |
− | der grundstürzenden gesellschaftlichen Veränderungen gesehen werden, die seit
| |
− | den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts Deutschland und die Welt um uns herum
| |
− | erfasst haben.
| |
− | Moderne Gesellschaften
| |
− | sind seit ihrer Entstehung pluralistische Gesellschaften gewesen.
| |
− | Doch in jüngster Zeit hat die Vielfalt der modernen Lebenswelten beschleunigt zugenommen.
| |
− | Dies gilt für die »realen Welten« von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft ebenso
| |
− | wie für die Vielfalt der kulturellen Ausdrucksformen, Verhaltensweisen, Lebensstile, religiösen
| |
− | Überzeugungen und Wertvorstellungen der Menschen. Jede moderne pluralistische
| |
− | Gesellschaft ist daher zugleich eine kulturell differenzierte Gesellschaft. Dies beschreibt ihr
| |
− | Wesen, bedeutet ihren Reichtum, ist aber auch Ursache zahlreicher Konflikte und macht
| |
− | eine gründliche kognitive Aufarbeitung ebenso erforderlich wie die Bereitschaft zu institutionellen
| |
− | Reformen und politischem Engagement der Bürger.
| |
− | Auch die Prozesse, die zur weiteren Auffächerung der Pluralität geführt haben, sind
| |
− | vielschichtig. Ihre Intensität, ihre Gleichzeitigkeit und ihr weltweiter Charakter haben wiederum
| |
− | zur Folge, dass sie schwer beherrschbar sind und weltweit zum Ansteigen von Intoleranz
| |
− | und Gewalttätigkeit führen.
| |
− | Um die erwähnte Komplexität zu umreißen, möchte ich in gebotener Kürze sechs Prozesse
| |
− | nennen:
| |
− | Da ist erstens die Globalisierung, die als Verdichtung und Beschleunigung einer weltweiten
| |
− | Vernetzung von Menschen, Informationen, ökonomischen Prozessen, Kapitalströmen und
| |
− | Kulturen dazu führt, dass mühsam und konfliktreich zusammenwachsen muss, was durchaus
| |
− | nicht immer zusammengehört hat.
| |
− | Da gibt es zweitens das Ende der bipolaren
| |
− | Welt nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion
| |
− | und das Aufbrechen der totalitären Verkrustungen innerhalb des ehemaligen kommunistischen
| |
− | Machtbereichs, was nationale, ethnische und religiöse Konflikte freilegt oder neu
| |
− | entstehen lässt und vielfach geradezu als Übergang vom Wettstreit der Systeme zum Kampf
| |
− | der Kulturen wahrgenommen wurde. Wegfall hegemonialer Kontrollen und zunehmende
| |
− | Intensität innerer Konflikte in vielen Teilen der Welt lösen wiederum Vertreibungs-, Fluchtund
| |
− | Wanderungswellen aus, die nun in den Aufnahmeländern zu Prüfsteinen toleranten Verhaltens
| |
− | werden.
| |
− | Hinzuweisen ist drittens auf die in vielen soziologischen Konzepten unter wechselnden Leitbegriffen
| |
− | beschriebenen sozialen Veränderungen in Deutschland und den anderen westlichen
| |
− | Industrieländern, die alte gesellschaftliche Verhältnisse auflösen und zu neuen sozi302
| |
− | alen Strukturen führen. Auch diese Veränderungen, einerlei ob mehr als Risiko oder mehr
| |
− | als Chance gewertet, erweitern die Vielfalt, führen zu zunehmender Pluralität und erhöhen
| |
− | den Bedarf an Toleranz.
| |
− | In gleiche Richtung wirken viertens die Veränderungen der sozialleitenden Werte. Auch sie
| |
− | werden unterschiedlich gedeutet, erscheinen teils als Werteverfall, teils als Neubegründung
| |
− | von Werten, laufen aber jedenfalls auf eine Pluralisierung von Verhaltensweisen sowie auf eine
| |
− | zunehmende kulturelle Differenzierung hinaus, was wiederum bedeutet, das der Toleranzbedarf
| |
− | wächst.
| |
− | Fünftens ist auf die Folgen der deutschen Vereinigung mit ihren Friktionen und sozialen Verwerfungen
| |
− | zu verweisen, die unter anderen auch dazu beitragen, jene rechtsradikalen Milieus
| |
− | zu generieren, mit denen wir uns zunehmend auseinanderzusetzen haben.
| |
− | Und da ist sechstens schließlich die Zuspitzung der demographischen Prozesse in Deutschland,
| |
− | die tendenzielle Abnahme und Überalterung der Bevölkerung, die partielle Verknappung
| |
− | der Arbeitskräfte, die unser Land – ob gewollt oder ungewollt – zum Einwanderungsland
| |
− | werden lassen, gleichzeitig aber – in Anbetracht beträchtlicher Arbeitslosigkeit und
| |
− | erheblicher Fremdenfeindlichkeit – wiederum den Toleranzbedarf hierzulande erhöhen.
| |
− | Da andererseits in Deutschland wie in vielen anderen Ländern ein weitgehender Konsens der
| |
− | Bürger darüber besteht, auch zukünftig in einer freiheitlichen, sozial verträglichen und zugleich
| |
− | ökonomisch effizienten Welt leben zu wollen – und das nicht nur national, sondern
| |
− | auch im Verhältnis zwischen den Staaten, – stellt sich mit Nachdruck die Frage, was erforderlich
| |
− | ist, damit dies wenigstens in Annäherungen gelingen kann.
| |
− | Wie oft in der Politik lassen sich die Bedingungen leicht bestimmen, aber schwer realisieren.
| |
− | Erforderlich sind Anstrengungen auf drei Ebenen, die miteinander verbunden und aufeinander
| |
− | angewiesen sind:
| |
− | Erforderlich ist erstens der Erhalt und die Weiterentwicklung staatlich-demokratischer Institutionen,
| |
− | die Freiheitsrechten und sozialen Grundrechten entsprechen, die klare Regelmechanismen
| |
− | für politische Entscheidungen zur Verfügung stellen und die verlässlich durchsetzen,
| |
− | dass Verfassung und Recht von allen Bürgern respektiert werden.
| |
− | Geboten ist zweitens das Bemühen um soziale Gerechtigkeit als dem wesentlichen Inhalt und
| |
− | zugleich Fundament der Demokratie. Das demokratische Regelspiel leidet und Konflikte
| |
− | nehmen überhand, wenn das Prinzip Gerechtigkeit zu kurz kommt. Dabei ist nicht Gerechtigkeit
| |
− | im Sinne von Gleichheit anzustreben. Ziel muss vielmehr sein, die vertretbaren Ungleichheiten
| |
− | und die wünschenswerten Gleichheiten in ein produktives und ausgewogenes
| |
− | Verhältnis zueinander zu bringen, ein Verhältnis, in dem der Freiheit des Einzelnen, dem gesellschaftlichen
| |
− | Fortschritt, der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und dem solidarischen
| |
− | Zusammenhalt der Gesellschaft gleichermaßen gedient ist.
| |
− | Notwendig ist drittens die Bewahrung und die Praktizierung von Toleranz. Toleranz ist das
| |
− | unverzichtbare Medium, das die verschiedenen sozialen, weltanschaulichen und ethnischnationalen
| |
− | Gruppen der Gesellschaft verträglich miteinander
| |
− | auskommen lässt und das
| |
− | den politischen Prozess zugleich für Innovationen öffnet. Die UNESCO-Erklärung der
| |
− | Prinzipien der Toleranz vom 16. November 1995 stellt daher überzeugend fest: »Toleranz
| |
− | ist der Schlussstein, der Menschenrechte, Pluralismus, Demokratie und Rechtsstaat zusammenhält.
| |
− | «
| |
− | 303
| |
− | Doch bevor ich meine Anmerkungen zur Toleranz fortsetze, möchte ich einige mir heutzutage
| |
− | und hierzulande wichtig erscheinende Zwischenbemerkungen machen: Die genannten
| |
− | Prinzipien – insbesondere Demokratie, freiheitlicher Rechtsstaat und Toleranz – sind sehr
| |
− | wesentlich aus der europäischer Entwicklung der letzten 300 Jahre hervorgegangen. Sie sind
| |
− | im Kern jedoch älter, haben Wurzeln auch in anderen, nichtchristlichen Kulturen – etwa im
| |
− | maurisch-islamischen Spanien vor der Reconquista – und werden mehr und mehr auch zum
| |
− | Bestandteil einer sich formierenden politischen Weltkultur. Deutsche Leitkultur sind sie allerdings
| |
− | über entscheidende Phasen des 19. und 20 Jahrhundert nicht gewesen. Gewiss, die
| |
− | deutsche Tradition der Aufklärung und des Liberalismus vermittelte im 19. Jahrhundert viele
| |
− | Impulse in andere Länder, und Deutschland ist gewiss kein Land, das dem Westen kulturell
| |
− | nicht verbunden gewesen wäre und nicht an seiner Entwicklung teilgenommen hätte. Gleichwohl:
| |
− | Der politischen Wertegemeinschaft westlicher Länder gehörte Deutschland in politisch
| |
− | entscheidenden Phasen der jüngeren Geschichte nicht an – nach 1918 noch weniger als vor
| |
− | 1914, und schon gar nicht nach 1933.
| |
− | Insbesondere seit dem Ersten Weltkrieg wurden den »Ideen von 1789« in Theorie und
| |
− | Praxis die »Ideen von 1914« entgegengesetzt. Eigene Beiträge zur Tradition von Aufklärung
| |
− | und Toleranz wurden verleugnet, lange bevor die Nazis Lessings Nathan von den deutschen
| |
− | Bühnen verbannten. »Machtgeschützte Innerlichkeit« trat an die Stelle demokratischer Offenheit,
| |
− | westliche Zivilisation wurde gegenüber deutscher Kultur abgewertet, Gemeinschaft
| |
− | wurde verklärt, Gesellschaft verdammt. Und so waren es nach 1945 – bei allen ihren Verdiensten
| |
− | – nicht primär die Väter des Grundgesetzes, die eine verlässliche Basis für den
| |
− | demokratischen Rechtsstaat schufen, sondern das internationale Umfeld, und es ist nicht
| |
− | zuletzt der Faktor »gelungener Transfer politischer Kultur von außen«, was den Erfolg und
| |
− | die zunehmende Verwurzelung der Demokratie im Deutschland der Nachkriegszeit erklärt –
| |
− | was uns andererseits allerdings auch fragen lässt, wie sicher wir uns unserer politischen Kultur
| |
− | heute eigentlich sein dürfen.
| |
− | Zurück zur Toleranz: Toleranz bestimmt die Prozessqualität der Demokratie. Toleranz
| |
− | hat eine vermittelnde, eine gemeinschaftserhaltende, eine die individuellen und gruppenbezogenen
| |
− | Freiheitsrechte sozialisierende Funktion. Toleranz ist dabei nicht im Sinne von
| |
− | bloßer Duldung zu verstehen (das war schon Goethe zu wenig), sondern im Sinne einer
| |
− | Anerkennung des Gegenübers, die auf der Einsicht beruht, dass andere nicht nur einfach anders
| |
− | sind, sondern dass sie als Menschen ein Recht haben, anders zu sein, und dass gerade in
| |
− | einem flexiblen Miteinander abgegrenzter und doch offener Identitäten der soziale und kulturelle
| |
− | Reichtum (sozusagen das »Lebenselixier«) einer pluralistischen Gesellschaften besteht.
| |
− | Nicht nur Strukturen und politische Auffassungen müssen im Sinne von Anerkennung
| |
− | toleriert werden, sondern auch Kulturen. Kulturen regeln das Verhalten der Menschen und
| |
− | bestimmen ihr Weltbild. Kulturen sind Quellen von individueller und kollektiver Identität,
| |
− | und – Kulturen stiften Heimat! Das müssen wir wissen, wenn wir uns mit den Kulturen
| |
− | der Menschen auseinandersetzen, die zu uns kommen. Fehlende interkulturelle Toleranz
| |
− | zerstört Heimat, entwurzelt Menschen und vergrößert wiederum das Konflikt- und Gewaltpotenzial
| |
− | in unserer Gesellschaft.
| |
− | Toleranz ist das ebenso grundlegende wie unverzichtbare Stilprinzip der Demokratie.
| |
− | Als Stilprinzip kann Toleranz allerdings kaum politisch geregelt und durchgesetzt werden.
| |
− | Gewiss: Der Staat hat institutionelle Voraussetzungen zu schaffen, vernünftige und verlässliche
| |
− | Gesetze insbesondere. Das Gelingen von Toleranz hängt jedoch weitgehend vom to304
| |
− | leranten Verhalten engagierter
| |
− | Bürger ab. Insofern ist Toleranz nicht nur ein unabdingbares
| |
− | politisches Prinzip, sondern auch eine persönliche Tugend,
| |
− | die es überall einzuüben und zu
| |
− | praktizieren gilt.
| |
− | Tugend scheint nun zunächst ein altmodischer Begriff zu sein, der zudem in den
| |
− | 1960er und 1970er Jahren mit Kritik an damals als peinlich empfundenen deutschen
| |
− | Sekundärtugenden wie Gehorsam, Sauberkeit und Fleiß abgewertet wurde – wie ja auch
| |
− | die Toleranz als herrschaftsstützende »repressive Toleranz« (Herbert Marcuse) zeitweise in
| |
− | einem eher negativen Licht erschien.
| |
− | Was aber meint der Tugendbegriff wirklich? Wenn wir ihn – auf den Spuren des
| |
− | Aachener Universitätsphilosophen Klaus Hammacher – historisch zurückverfolgen, so
| |
− | begegnen wir bereits bei Aristoteles der Auffassung, dass gute Handlungen nicht aus
| |
− | dem Denken des Guten hervorgehen, sondern aus guten Gewohnheiten. Und selbst der
| |
− | Rationalist Descartes spricht in deutlicher Umkehrung der Vorstellung von einer bloß gedanklichen
| |
− | Auslösbarkeit richtigen Handelns von den Tugenden als den »Gewohnheiten
| |
− | der Seele, die diese zu bestimmten Gedanken veranlassen«. Und so kann wohl auch die
| |
− | Idee der Toleranz nur dann wirksam werden, wenn sie in ein solchermaßen tugendhaftes
| |
− | Verhalten eingebettet ist, das heißt, wenn das Miteinanderauskommen in einer pluralen
| |
− | Welt von jedem einzelnen Bürger im persönlichen Umgang immer wieder eingeübt wird.
| |
− | Tolerantes Verhalten einzuüben, ist nach aller Erfahrung allerdings schwer. Denn uns
| |
− | begegnet immer wieder Fremdes, und das Fremde stört, irritiert und macht Angst. Einen
| |
− | Weg, wie die Idee der Toleranz im toleranten Umgang miteinander umgesetzt werden
| |
− | kann, zeigt Lessing im Nathan. Lessings Weg ist die Anerkennung des ursprünglich Fremden
| |
− | als Freund. »Wir müssen, müssen Freunde sein«, so Nathan zum Tempelherrn, –
| |
− | »Geh, aber sei mein Freund«, so Saladin zu Nathan.
| |
− | Freilich, das Miteinander von Nathan, Tempelherr und Saladin ist für die Beteiligten
| |
− | angenehm, scheinen sie doch – bei allen religiösen Unterschieden – Vertreter einer
| |
− | Kultur und eines Verhaltensstils zu sein. Saladin ist ein Morgenländer nach abendländischem
| |
− | Geschmack (wie ja auch Goethes Suleika eher Marianne von Willemer ist als
| |
− | das Abbild eines wirklichen persischen Mädchens). Um beim »Westöstlichen Diwan«
| |
− | zu bleiben: Goethes »Wer sich selbst und andre kennt, wird auch hier erkennen: Orient
| |
− | und Okzident sind nicht mehr zu trennen« gilt gewiss im Sinne der mit der Globalisierung
| |
− | verbundenen Vernetzungen, doch kaum für konkretes Aufeinandertreffen von
| |
− | Kulturen. Da gibt es Fremdheiten, die uns auch ganz persönlich begegnen, und unsere
| |
− | Einübungsaufgabe besteht darin, mit diesen Fremdheiten zu leben und sie dennoch zu
| |
− | überbrücken; Identitäten zu schonen, kulturelle Heimat zu belassen und dennoch das
| |
− | Miteinander zu versuchen; Grenzen zu respektieren und sie trotzdem zu öffnen; Vermischungen
| |
− | von Kulturen zuzulassen und sich des entstehenden Reichtums zu freuen,
| |
− | beispielsweise durch Wahrnehmung einer so gelungenen Kulturmischung, wie sie etwa
| |
− | das Rheinland repräsentiert.
| |
− | Um zum Beginn zurückzukehren und gleichzeitig zu schließen: Es ist zu hoffen, dass die
| |
− | gegenwärtigen Entwicklungen
| |
− | und Debatten in unserem Lande als folgenreicher »Ruck
| |
− | durch Deutschland« wirken. Das bedeutet, dass es nicht beim Symbolakt des im Mai 2000
| |
− | initiierten »Bündnisses für Demokratie
| |
− | und Toleranz« bleiben darf, sondern dass alle Anstöße
| |
− | in einen anhaltenden Prozess einmünden sollten:
| |
− | 305
| |
− | • intensiv über die Grundlagen
| |
− | deutscher Geschichte und Kultur nachzudenken,
| |
− | • sich darüber klar zu werden, in welcher Welt wir morgen leben wollen und welche Voraussetzungen
| |
− | dafür zu erfüllen sind und
| |
− | • sich bewusst zu machen,
| |
− | wie sehr wir dazu der Toleranz bedürfen, der Toleranz, die ganz
| |
− | privat und persönlich im konkreten Miteinander der Menschen beginnt, die sich aber –
| |
− | wenn sie als Anerkennung
| |
− | des anderen in seiner Verschiedenheit praktiziert wird – umgehend
| |
− | in eine unverzichtbare
| |
− | öffentliche Tugend verwandelt.
| |
− | Auch wir Freimaurer müssen Fragen an uns selber stellen:
| |
− | • Ist die Loge wirklich so umfassend, so plural, so lebendig, dass sie zu einer Übungsstätte
| |
− | für anerkennend-aktive Toleranz taugt?
| |
− | • Ist die Vielfalt der Themen, mit denen wir uns beschäftigen, groß genug, um die Chance
| |
− | einer kontroversen Aufarbeitung zu bieten?
| |
− | • Entspricht das freimaurerische Engagement für Toleranz heute der ständigen Berufung
| |
− | auf Teilhabe von Freimaurern an der Entwicklung der Toleranzidee?
| |
− | • Toleranz als persönliche Tugend mit öffentlicher Wirkung, wird sie von uns Freimaurern
| |
− | ausreichend geübt?
| |
− | In seiner Ansprache anlässlich der Gründung des »Bündnisses für Demokratie und Toleranz
| |
− | « am 23. Mai 2000 in Berlin betonte György Konrad, ungarischer Dissident, heute Präsident
| |
− | der Akademie der Künste in Berlin und jüngst mit dem Aachener Karlspreis ausgezeichnet,
| |
− | wie einfach und wie schwer zugleich die Aufgabe ist: »Wo die Idee der zivilen Gesellschaft
| |
− | wie selbstverständlich verankert ist«, so Konrad, »wird Demokratie nicht nur von
| |
− | denen verteidigt, die von Berufswegen dazu berufen sind, sondern auch von denen, die eigentlich
| |
− | einer anderen Arbeit nachgehen. Ein selbstbewusster Bürger verzichtet nicht auf
| |
− | das Recht öffentlichen Nachdenkens. Wenn es die Situation erfordert, dann stellt er sich hin
| |
− | und sagt, was zu sagen ist, und wenn die Gesellschaft im Denken, in der Sprache, in der Argumentation
| |
− | und im Verhalten dem Anspruch der Demokratie gerecht wird, dann finden
| |
− | Extremisten keine Bühne zum Krakelen.«
| |
− | Und György Konrad schloss mit einer Anmahnung des eigentlich Selbstverständlichen:
| |
− | »Der Anspruch auf ein Europa, in dem der Nächste von niemandem getötet, geschlagen
| |
− | oder beleidigt wird, nur weil er ist, wie er ist, sollte doch keine so große Sache sein. Um
| |
− | das zu erreichen, müssen wir nun wirklich keine Engel sein. Engel zu sein, damit hat es da
| |
− | drüben noch Zeit genug.«
| |
− | Aber – und damit komme ich zum Ende – uns einüben in Toleranz, das müssen wir
| |
− | hier und heute.
| |
− | 306
| |
− | Lob eines Brückenbauers:
| |
− | Dr. Alois Kehl zum 80. Geburtstag (2003)1
| |
− | Meine Damen und Herren,
| |
− | liebe Schwestern und Brüder,
| |
− | vor allem aber: lieber Herr Kehl!
| |
− | Es ist eine herzliche Freude für uns alle, dass wir heute Ihren achtzigsten Geburtstag mit Ihnen
| |
− | hier im Kölner Logenhaus feiern können. Und wir feiern zugleich Ihre ganz spezifische
| |
− | Zugehörigkeit zu unserem Bund und zu unserer Loge, die in diesem Jahr 35 Jahre besteht,
| |
− | eine Zugehörigkeit, durch die Sie in vielerlei Hinsicht unser Freund und Wegbegleiter geworden
| |
− | sind, deren Wert jedoch gerade auch in der von Ihnen bewahrten Unabhängigkeit besteht.
| |
− | Sie sind zum Begleiter der Freimaurer geworden, ja – wie Sie selbst gern sagen – zum
| |
− | »Bruder im freien Geist«, ohne selbst Freimaurer zu werden.
| |
− | Dr. Kehl hat dieses »außen und zugleich innen Sein« im Bezug auf die Freimaurerei
| |
− | einmal mit folgenden Worten eindrucksvoll beschrieben: »Ich bin Außenstehender, ja. Ich
| |
− | gehöre dem Freimaurerbund nicht an und bin nicht Mitglied in einer Loge. Und doch, meine
| |
− | ich, wenn ich auf meine 30-jährige (jetzt 35-jährige) Verbundenheit mit den Freimaurern
| |
− | zurückschaue, eine gewisse Initiation erlebt zu haben. Keine rituelle natürlich, sondern eine
| |
− | spirituelle. Keine Initiation, die zur Aufnahme führt, sondern eine Initiation in die Geistesgemeinschaft
| |
− | der Freimaurer.«
| |
− | Und er hat diesen speziellen und ihn sehr prägenden Initiationsweg dann weiter beschrieben:
| |
− | »Es begann mit einem Zufall. Der Zufall brachte mich in Kontakt mit der Loge
| |
− | Ver Sacrum in Köln. Dieser Kontakt weckte meine Neugierde. Und indem ich ihr nachgab,
| |
− | kam ich zu guten Kenntnissen. Diese Kenntnisse bewirkten meine Sympathie. Die Sympathie
| |
− | wurde zum Vertrauen. Und aus dem Vertrauen wurde Freundschaft.«
| |
− | Das sind – nicht zufällig wohl – sieben Stufen einer Initiation, erfüllt von freimaurerischer
| |
− | Geisteshaltung und dargelegt in der Sprache eines freimaurerischen Katechismus.
| |
− | Die genannten Stufen vermitteln nebenbei auch eine überzeugende Anleitung, auf welche
| |
− | Weise allein der Weg eines zukünftigen Mitglieds in die Loge gelingen kann, und sie
| |
− | beinhalten damit auch eine beherzigenswerte Empfehlung an uns Freimaurer für den Umgang
| |
− | mit Suchenden: sich Zeit lassen, behutsam Kontakt herstellen, Neugierde wecken,
| |
− | Kenntnisse vermitteln und wieder warten, ob Sympathie entsteht, auf deren Grundlage sich
| |
− | Vertrauen und Freundschaft entwickeln können.
| |
− | Für Alois Kehl und für uns Freimaurerbrüder und -schwestern (denn Dr. Kehl war und ist
| |
− | ja auch ein Brückenbauer zwischen der traditionellen männlichen und der dynamisch-neuen
| |
− | femininen Freimaurerei in Deutschland) hat dieser Initiationsweg zu 35 Jahren Freundschaft,
| |
− | menschlicher Offenheit füreinander und einem nie endenden Gespräch geführt.
| |
− | Lieber Herr Kehl, heute feiern wir mit Ihnen Ihren 80. Geburtstag, und ich freue mich
| |
− | über die Ehre, Ihre Person und Ihr Wirken zu würdigen, wenn es sicherlich auch nur unvoll-
| |
− | 1 Laudatio auf einen »Bruder im freien Geist«, 15. September 2003, Logenhaus Köln. Dieser Beitrag wurde
| |
− | ursprünglich veröffentlicht in: TAU, Zeitschrift der Forschungsloge »Quatuor Coronati«, Nr. II, 2003,
| |
− | S. 50–53.
| |
− | 307
| |
− | kommene Skizzen sind, die ich vortragen kann und die sich in vielerlei Hinsicht ergänzen
| |
− | ließen.
| |
− | Vom Menschen Alois Kehl, vom Wissenschaftler – und das heißt für uns vor allem vom
| |
− | Freimaurerforscher und intellektuellen Begleiter – sowie vom Priester, vom Mann der Kirche
| |
− | und des Glaubens, gilt es gleichermaßen zu sprechen. Anders gesagt: Vom Freund und Bruder
| |
− | Kehl, vom Dr. Kehl und vom Pater Kehl wird die Rede sein.
| |
− | Wenn ich den Menschen würdige, wie ich ihn erlebt habe und erlebe, so formen sich nachhaltige
| |
− | Eindrücke:
| |
− | • menschliche Zugewandtheit verbunden mit nobler Zurückhaltung, Interesse am anderen,
| |
− | Ernst und Humor, stiller, feiner Humor, Hilfsbereitschaft, Treue, Treue auch zum Bund
| |
− | der Freimaurer, wie sie bei Freimaurern selbst nicht immer erlebbar ist;
| |
− | • Gesprächs- und Kommunikationsbereitschaft, die Fähigkeit zuzuhören und andere Positionen
| |
− | vom eigenen Standpunkt aus anzuerkennen;
| |
− | • aktive Toleranz auf der Basis einer einmal von ihm selbst folgendermaßen formulierten
| |
− | Toleranzmaxime: »Dem anderen die Freiheit geben, die ich mir selbst nehme; aber auch
| |
− | mir selbst die Freiheit nehmen, die ich dem anderen gebe.«
| |
− | Das ist weit mehr als eine abstrakte Formel. Dahinter ist die Fähigkeit zur Liebe erkennbar,
| |
− | verbunden mit dem Mut zur Kritik, wo eigene Überzeugung kritische Stellungnahme
| |
− | erfordert.
| |
− | Und dahinter wird immer wieder die Überzeugung spürbar, dass Wahrheit zu zweit beginnt,
| |
− | dass sie im Dialog gefunden werden muß und dass – nach Lessings Wort – »nichts
| |
− | über das laut denken mit dem Freunde geht«.
| |
− | Und damit komme ich vom Freund, vom »Bruder im freien Geist« Alois Kehl zum Dr.
| |
− | Kehl, zum Freimaurerforscher, zum Historiker, Philosophen und Religionswissenschaftler,
| |
− | zum intellektuellen Begleiter der Freimaurer.
| |
− | An der Universität zu Köln und Bonn als Altphilologe tätig, konnte er uns seine profunden
| |
− | Kenntnisse frühchristlicher Geschichte und Religiosität, aber auch der griechischrömischen
| |
− | Philosophie vermitteln. Als Priester der römisch-katholischen Kirche war und
| |
− | ist er Fachmann für das schwierige Verhältnis zwischen Kirche und Freimaurerei. Aber
| |
− | er ist mehr als bloßer Experte, er ist Brückenbauer und Moderator in einem Konflikt,
| |
− | der zwar in vielerlei Hinsicht historisch verstehbar, vom Wesen der Freimaurer wie der
| |
− | Religion her aber überholt und unbegründet ist. Die Seriosität dieser Mittlerfunktion ist
| |
− | dabei darin begründet, dass seine doppelte Loyalität außer Zweifel steht: als Freund der
| |
− | Freimaurer und als gläubiger Christ sowie als Priester seiner Kirche. Ich werde hierauf
| |
− | später noch einmal zurückkommen.
| |
− | »Laut denken mit dem Freunde«: Wenn man das schöne Buch mit seinen Beiträgen
| |
− | zur Freimaurerei zu Hand nimmt, so wird deutlich, wie sehr das Nachdenken über Freimaurerei
| |
− | und ihre historisch-philosophischen Hintergründe und Begleitphänomene entscheidende
| |
− | Impulse aus Dr. Kehls Mitarbeit in freimaurerischen Einrichtungen erhalten
| |
− | hat, mögen es die Logen sein, die Forschungsloge »Quatuor Coronati« oder die Akademie
| |
− | »Forum Masonicum«. Die intellektuelle Wegbegleitung erfolgte auf der Grundlage
| |
− | einer festen Einbindung in die freimaurerische Gruppe. Nicht zuletzt die Kontinuität
| |
− | der Freundschaft vermittelte Anregung, Brüder und Schwestern fragten, und Alois Kehl
| |
− | 308
| |
− | gab Antworten, oder – so wird er es vermutlich lieber hören –, er bemühte sich um Antworten,
| |
− | um Annäherungen an das Wahre, das Vernünftige. Denn es ging Alois Kehl nie
| |
− | um ein Verkünden feststehender Wahrheiten, es ging um ein Vermitteln von Sichtweisen,
| |
− | um ein Erproben von Perspektiven, um rationalen Diskurs, um klare Gedanken, um das
| |
− | unpathetische Wort.
| |
− | Dr. Kehl hat uns geholfen, Freimaurerei in Kontexte einzuordnen und Bezüge zu Umfeldern
| |
− | herzustellen. Er hat mit uns über die mannigfaltigen Einbettungen der Freimaurerei
| |
− | nachgedacht, die sich ja nie außerhalb historischer, geistesgeschichtlich-religiöser und
| |
− | kultureller Zusammenhänge entwickelt hat. Viele seine Beiträge müssten zur Pflichtlektüre
| |
− | jedes Freimaurers werden, etwa der bedeutende Aufsatz über »Symbol und Wirklichkeit«,
| |
− | wobei der Abschnitt »Schwierigkeiten und Gefahren im Umgang mit Symbolen« besonders
| |
− | wichtig ist.
| |
− | Intellektuelle Wegbegleitung, Einordnen in Kontexte, Deuten von Phänomenen, die
| |
− | Bedeutung haben für den Freimaurerbund – hier denke ich etwa an die schönen Arbeiten
| |
− | über »Vertrauen«, über die »heilende Wirkung des Wortes« und über »das Verstehen fremder
| |
− | Kulturen« – die Mitwirkung an unserer Arbeit durch ein parallel zu ihr verlaufendes
| |
− | Philosophieren für und mit uns –, all dies bedeutet ein großes Geschenk für uns.
| |
− | Wir Freimaurer haben ja mit unserem Selbstverständnis ein beträchtliches Problem:
| |
− | Wir können uns nur aus unserer Geschichte heraus legitimieren. Diese Verwiesenheit auf
| |
− | Geschichte führt aber leicht zu Versuchen, Geschichte umzudeuten, selektiv mit ihr zu
| |
− | verfahren, gar Neues zu erfinden und gefällige historische Kulissen für zeitgenössische
| |
− | Stücke zu entwerfen. Kurz: Es schieben sich – befördert durch die Abgeschlossenheit der
| |
− | Loge, das sogenannte »freimaurerische Geheimnis« – innere Bedürfnisse und Innensichten
| |
− | übermächtig in den Vordergrund. Es droht der Verlust einer richtigen, einer vernünftigen,
| |
− | einer realistischen Perspektive. Die Komplexität der Vergangenheit, ihre Gebrochenheiten,
| |
− | ihre Widersprüche, all das, was zusammengenommen ja erst das hervorbringt, was der
| |
− | Historiker Jörn Rüsen das »Lebenselixier historischer Erinnerung« genannt hat, geht verloren.
| |
− | Es drohen Verf lachung und Ideologie. »Deshalb, – so haben Sie einmal ebenso anschaulich
| |
− | wie prägnant gesagt – »müssten die Freimaurer die Fenster des Tempels öffnen,
| |
− | nicht, damit die Welt hineinschauen kann, sondern damit die Freimaurer hinausschauen
| |
− | können«.
| |
− | Sie, lieber Herr Kehl, sind immer ein Lehrer dieses Hinausschauens, ein Anwalt komplexer
| |
− | Sichtweisen gewesen. Sie haben vielfältige Zugänge zum Phänomen Freimaurerei
| |
− | erschlossen, und Sie haben nachhaltig gewirkt, wenn es darum ging, die Freimaurerei zu
| |
− | sich selbst zurückzuführen. Ihre im Buch dokumentierten klärenden Beiträge zu Themen
| |
− | wie »Die Freimaurerei«, »Freimaurerei und Religion« sowie »Der Große Baumeister der
| |
− | Welt« – um wieder die Titel nur einiger Ihrer Publikationen zu nennen – mögen als beispielhaft
| |
− | für dieses Wirken genannt sein.
| |
− | Doch wir verdanken Alois Kehl nicht nur wissenschaftliche Darstellungen und analytische
| |
− | Interpretationen. Wir haben ihm auch für zahlreiche Beiträge zu danken, die
| |
− | »Zeichnungen« darstellen im vollen Sinne des alten freimaurerischen Brauchs, rituelles
| |
− | Geschehen durch Worte der Nachdenklichkeit, der Wegweisung und der Ermutigung zu
| |
− | ergänzen. Wie anders wäre zu verstehen, wenn einmal Sie das Bibelwort vom Licht für
| |
− | die Welt und vom Salz für die Erde folgendermaßen auf die Freimaurerei bezogen haben:
| |
− | »Die Loge ist das Licht, das nicht übersehen werden kann. Der Freimaurer ist wie das Salz,
| |
− | 309
| |
− | das, unter die Speise gemischt, nicht mehr zu sehen ist, aber seine Wirkung kann man
| |
− | schmecken. So ist der einzelne Freimaurer vielleicht als Freimaurer gar nicht zu erkennen,
| |
− | aber er wirkt und hilft, dass seine Umgebung ein wenig menschenwürdiger, freundlicher
| |
− | wird.«
| |
− | Wer über den Wissenschaftler und Redner Alois Kehl spricht, wird schließlich seine
| |
− | Sprache, seine Gabe überzeugender schriftlicher und mündlicher Vermittlung zu erwähnen
| |
− | haben. Dr. Kehl schreibt eine wissenschaftliche Prosa von hoher Qualität, er ist ein
| |
− | Meister klarer Begriffe und stringenter analytischer Verknüpfungen. Doch auch und vielleicht
| |
− | in besonderem Maße ist ihm die Kunst der klaren und eindrücklichen mündlichen
| |
− | Vermittlung von Gedanken eigen, die Kunst der wissenschaftlichen und didaktischen
| |
− | Rede, die Begabung zum Philosophieren für andere und vor anderen, die Fähigkeit, Charisma
| |
− | mit Schlichtheit und allem Verzicht auf Prätention und Pathos zu verbinden.
| |
− | Zum Schluss nun einige Worte zum Pater Kehl, zum Mann des Glaubens und der
| |
− | Kirche. Die Freundschaft mit Freimaurern und Freimaurerinnen, die Wertschätzung für
| |
− | unseren Bund und das Gedankengut der Freimaurerei auf der einen und die feste Verankerung
| |
− | im Glauben und in seiner Kirche auf der anderen Seite brachten es konsequenterweise,
| |
− | ja man könnte sagen zwangsläufig mit sich, dass das Bemühen um wechselseitiges Verständnis,
| |
− | dass Aufklärung hüben und drüben, dass Vermittlung zwischen beiden Seiten,
| |
− | Kirche wie Freimaurerei, zu den Hauptanliegen des Freimaurerfreundes und katholischen
| |
− | Priesters Alois Kehl geworden ist. Dabei leitete ihn die Überzeugung, »dass« – ich zitiere
| |
− | – »auch der katholische Freimaurer seine gläubige und katholische Weltanschauung unbeschadet
| |
− | bewahren und dem freimaurerischen Vorstellungsrahmen einfügen kann«. So
| |
− | musste ihn – wie uns Freimaurer – die Erklärung der Unvereinbarkeit von Logen- und
| |
− | Kirchenmitgliedschaft seitens der Deutschen Bischofskonferenz vom 12. Mai 1980 sehr
| |
− | enttäuschen, und er hat publizistisch mit großem Engagement darauf reagiert. Für beide
| |
− | Seiten fair, nobel im Ton und überzeugend in der intellektuellen Qualität der Argumente,
| |
− | stellte er den Feststellungen der Erklärung seine Sicht von Freimaurerei gegenüber: dem
| |
− | Vorwurf der Verschwommenheit das Prinzip der Offenheit, dem Vorwurf der Ersatzreligion
| |
− | das Prinzip der primär ethischen Interpretation der Rituale, dem Vorwurf antireligiöser
| |
− | freimaurerischer Positionen das Prinzip der Absage an dogmatische Festlegungen
| |
− | seitens der Freimaurerei.
| |
− | Freilich hat er in seinen Stellungnahmen auch auf Fehler, Ungeschicklichkeiten und
| |
− | Törichtes auf Seiten der Freimaurer verwiesen, was leider unsererseits nicht so gern gehört,
| |
− | nicht so eifrig zitiert und nicht so redlich aufgearbeitet worden ist.
| |
− | Inzwischen hat sich erfreulicherweise herausgestellt, dass der Dialog trotz aller Rückschläge
| |
− | weitergeht, und die Tatsache, dass das Verhältnis von Freimaurerei und katholischer
| |
− | Kirche nicht von der Agenda kirchlicher Einrichtungen, insbesondere der Ausbildungszentren
| |
− | und Akademien verschwunden ist, ist sicher auch das Verdienst von Pater
| |
− | Alois Kehl und seiner Unerbittlichkeit, für die Freimaurer die faire Chance einzufordern,
| |
− | kirchlicherseits so wahrgenommen zu werden, wie sie sich selbst verstehen.
| |
− | Doch nicht nur in der Auseinandersetzung auf der oberen organisatorischen und
| |
− | weltanschaulichen Ebene, auch in der ganz konkreten menschlichen Beziehung in der
| |
− | Loge ist der Pater Kehl eben auch als Pater Kehl wichtig geworden. An Pater Kehl konnten
| |
− | sich die Brüder gleichsam abarbeiten, die offene, unbewältigte Probleme mit Kirche
| |
− | und Glauben hatten. Mit Einfühlung und Toleranz, doch auch mit festen Standpunkten
| |
− | 310
| |
− | half er auch hier zu ordnen, ohne zu bevormunden oder gar zurechtzuweisen. Er hat
| |
− | die seelsorgerische Dimension seines Wirkens in der Loge nie betont und schon gar
| |
− | nicht beansprucht, und doch war und ist diese Dimension vorhanden, zum Beispiel und
| |
− | vielleicht vor allem dann, wenn es nach dem Tod von Brüdern um die Verwirklichung
| |
− | des Wunsches ging, als gläubige Christen nach dem Ritus der katholischen Kirche verabschiedet
| |
− | und bestattet zu werden. Pater Kehl war dann ganz einfach präsent als Mensch
| |
− | und als Priester.
| |
− | Zum Schluss und mit Nachdruck:
| |
− | Lieber Doktor, lieber Pater, lieber Bruder Kehl,
| |
− | die Freimaurer und Freimaurerinnen schulden Ihnen Dank, und sie wünschen Ihnen Glück,
| |
− | Gesundheit, Schaffenskraft und auch weitere Freude an der Königlichen Kunst.
| |
− | Sie gratulieren Ihnen herzlich zu Ihrem hohen Ehrentag, Ihrem 80. Geburtstag, und sie
| |
− | hoffen, dass der Große Baumeister das Seine tut, damit Sie noch lange bleiben, was sie oft
| |
− | und gern von sich gesagt haben: »unser Bruder im freien Geist«!
| |
− | 311
| |
− | »Ver Sacrum« – junge Loge in veränderter
| |
− | Zeit (2005)1
| |
− | Im Jahre 2005, in einer Zeit des Umbruchs und der Neuorientierung – Stichwörter: Reformen
| |
− | von Wirtschaft und Gesellschaft, Wertewandel, Globalisierung, fundamentalistischer
| |
− | Terror sowie Gefährdung der internationalen Sicherheit und Stabilität – feiert die
| |
− | Freimaurerloge »Ver Sacrum« die 50. Wiederkehr ihres Gründungsjahrs. Im Jahre 1955, in
| |
− | einer Zeit der Konsolidierung nach Krisen, Umbrüchen und Katastrophen – Stichwörter:
| |
− | Nazi-Diktatur und Zweiter Weltkrieg, Niederlage, Befreiung und Neuaufbau – wurde sie gegründet.
| |
− | Ursprünglich entstanden ist die Loge »Ver Sacrum« als Deputationsloge der Loge
| |
− | »Zum Ewigen Dom«. Das in Namen und Auftrag der damals bestehenden Landesgroßloge
| |
− | Nordrhein-Westfalen seitens der Mutterloge erteilte Konstitutionspatent trägt das Datum
| |
− | des 9. Mai 1949. Am 26. Juni desselben Jahres wurde durch den stellvertretenden Landesgroßmeister,
| |
− | Br. Otto Schulze, das maurerische Licht eingebracht. Erster Meister vom
| |
− | Stuhl war der Kölner Facharzt für Orthopädie Dr. Alfred Habicht, ein menschlich wie
| |
− | fachlich hochgeschätzter Mediziner. Neben ihm sind aus den frühen Tagen der Loge insbesondere
| |
− | auch die Brr. Herbert Buchwald, Rudolf Jardon und Hans Schultheis als wichtige
| |
− | Impulsgeber zu nennen. Große Unterstützung
| |
− | fanden die Gründer-Brüder der Loge
| |
− | bei Dr. Theodor Vogel, dem ersten bedeutenden Großmeister der deutschen Freimaurer
| |
− | nach dem Zweiten Weltkrieg, der von der Idee des »Ver Sacrum«, des Neuaufbruchs der
| |
− | Jungen, begeistert war. Dr. Rudolf Jardon war der geistige
| |
− | Kopf und rituelle Architekt der
| |
− | neuen Loge. Unter seiner Stuhlmeisterschaft wurde »Ver Sacrum« am 30. Oktober 1955
| |
− | eine selbständige, gerechte und vollkommene Loge. Die feierliche
| |
− | Einsetzung nahm Br.
| |
− | Fritz Theiß vor, der Großmeister der »Vereinigten Großloge von Deutschland«. Redner der
| |
− | Festarbeit war der spätere AFuAM- und VGLvD-Großmeister Dr. Hans Gemünd, der mit
| |
− | seiner Zeichnung »Recht auf Freiheit des Denkens« eines der Leitmotive der Entwicklung
| |
− | der jungen Loge ansprach. Die Loge »Ver Sacrum« ist seit ihrer Gründung Mitgliedsloge
| |
− | der heutigen »Großloge der Alten, Freien und Angenommenen Maurer von Deutschland«
| |
− | (GL AFuAM), die wiederum den »Vereinigten Großlogen von Deutschland – Bruderschaft
| |
− | der Freimaurer« (VGLvD) angehört. Im Rahmen der VGLvD trägt die Loge die Matrikelnummer
| |
− | 797.
| |
− | Die Loge »Ver Sacrum« wollte von Anfang an junge und jung gebliebene Menschen
| |
− | in eine zukunftsorientierte Freimaurerei einbinden. Dies verdeutlicht auch der gewählte
| |
− | lateinische Logenname, der auf eine altrömische Legende verweist: Eine Stadt wird von
| |
− | tödlichem Unheil
| |
− | bedroht. Um verschont zu werden, versprechen die Einwohner, den
| |
− | Göttern die nächste Generation junger Menschen zu opfern. Die Götter verzichten auf
| |
− | dieses Opfer, verpflichten aber die Jugend der Stadt zum Aufbruch aus den alten Mauern
| |
− | und zur Errichtung einer neuen Stadt. Ludwig Uhland hat diesen Auftrag in seinem Gedicht
| |
− | »Ver Sacrum« mit folgenden Worten umschrieben:
| |
− | 1 Dieser Beitrag wurde ursprünglich veröffentlicht in: Ver Sacrum als Auftrag 1955–2005. Festschrift zum
| |
− | 50-jährigen Bestehen der Loge, Köln 2005, S. 17–27
| |
− | 312
| |
− | … »Nicht lässt der Gott von seinem heil’gen Raub,
| |
− | Doch will er nicht den Tod, er will die Kraft;
| |
− | Nicht will er einen Frühling welk und taub
| |
− | Nein, einen Frühling, welcher treibt im Saft.
| |
− | … Ihr seid das Saatkorn einer neuen Welt;
| |
− | Das ist der Weihefrühling, den er will.«
| |
− | Wie viele Gestaltungsvorschläge für die neue Loge geht auch der Name »Ver Sacrum« auf
| |
− | den großen Anreger der Bauhütte, Br. Rudolf Jardon
| |
− | zurück, der sich bei der Namenswahl
| |
− | an der gleichnamigen Zeitschrift der Wiener Sezession orientierte, einer Vereinigung von
| |
− | Künstlern, die – wie die junge Loge – eigene und zugleich neue Wege gehen wollte. Auch die
| |
− | Gestaltung des Logenbijous durch Br. Jakob Bachem weist mit ihrem eleganten Jugenstildesign
| |
− | auf den Wiener Anstoß hin.
| |
− | Die Loge »Ver Sacrum« hat versucht, den mit ihrem Namen formulierten Auftrag zu
| |
− | erfüllen. Ihre Mitgliederzahl wuchs nach der Gründung an, erreichte in den 1960er Jahren
| |
− | ihren Höhepunkt und beläuft sich gegenwärtig auf 50 Brüder. Der stete Wechsel in der
| |
− | Logenführung, den das Hausgesetz vorsieht – nach längstens drei Jahren muss bei den
| |
− | hammerführenden Beamten ein Amtsübergang stattfinden –, vermittelte der Loge immer
| |
− | wieder neue Impulse für die Gestaltung ihrer Arbeit, wenn es auch manchmal schwerfiel,
| |
− | die geeigneten Nachfolger in den leitenden Beamtenpositionen zu finden und Schwankungen
| |
− | im Aktivitätsniveau der Loge nicht zu vermeiden waren.
| |
− | Die innere Arbeit der Loge wurde und wird geprägt durch kreative Pflege des freimaurerischen
| |
− | Rituals. Das von Br. Rudolf Jardon bereits vor Gründung der damaligen »Vereinigten
| |
− | Großloge von Deutschland«, die am 19. Juni 1949 in der Frankfurter Paulskirche stattfand,
| |
− | auf der Grundlage bestehender Rituale
| |
− | (vornehmlich des Rituals der Großloge »Zur Sonne
| |
− | « in Bayreuth) erarbeitete Ritual des Lehrlings-, Gesellen- und Meistergrades vermittelt auf
| |
− | überzeugende Weise, was ein freimaurerisches
| |
− | Ritual zu leisten vermag: Ruhe und Nachdenklichkeit
| |
− | zu fördern, ethische Erziehung durch Symbole und rituelle Handlungen zu
| |
− | bewirken und Impulse zur Auseinandersetzung mit menschlichen Grenzerfahrungen zu
| |
− | vermitteln.
| |
− | Zu den Grundlagen der Loge »Ver Sacrum« gehört auch die im Hausgesetz festgelegte Beschränkung
| |
− | der Mitgliedschaft auf die alten symbolischen Grade Lehrling, Geselle und Meister.
| |
− | Diese Entscheidung, auf der »Freimaurerischen Ordnung« der Großloge beruhend und im
| |
− | Gestaltungsrecht der Loge als dem zentralen Ort der freimaurerischen Initiation begründet, behindert
| |
− | in keiner Weise den brüderlichen Einklang mit Brüdern und Logen, die mehrgliedrige
| |
− | freimaurerische Systeme bearbeiten. Die Konzentration auf die freimaurerischen
| |
− | Grundgrade
| |
− | ist im Verständnis der »Ver Sacrum«-Brüder positiv, nicht negativ oder abgrenzend
| |
− | bestimmt:
| |
− | Sie ist Ausdruck der Überzeugung,
| |
− | • dass die im Lehrlings-, Gesellen- und Meistergrad thematisierten und symbolisch-drama-
| |
− | tisch ausgestalteten Grundbefindlichkeiten des Menschen vom Leben bis zum Tode den
| |
− | symbolischen Reichtum des Bundes bestimmen,
| |
− | • dass das auf menschliche Grenzerfahrungen ausgerichtete Ritualgut der drei freimaurerischen
| |
− | Basisgrade gegenüber historisierenden, philosophierenden, ideologisierenden
| |
− | 313
| |
− | oder dezidiert religiösen Ritualbestandteilen dadurch ausgezeichnet ist, dass die auf seiner
| |
− | Grundlage gestalteten Rituale unverändert aktuell sind, nicht in Konflikt zu veränderten
| |
− | Geschichtsbildern sowie institutionellen oder individuellen Glaubensvorstellungen
| |
− | geraten können und keine Textbestandteile aufweisen, die im Sinne politischer Handlungsaufträge
| |
− | missverstanden werden könnten,
| |
− | • dass das »System der drei Grade« aus der Sicht der »Ver Sacrum«-Brüder die Sinneinheit
| |
− | von Leben und Tod, von Kunst und Wirklichkeit sowie von Reflexion und Handeln auf
| |
− | überzeugende Weise zum Ausdruck bringt, weil es erlaubt, ein kreatives, symbolisch und
| |
− | emotional verzweigtes Ritualerleben in konzentrierte, beständig wiederkehrende Formen
| |
− | zu fassen,
| |
− | • dass die für alle Brüder gleiche Initiationsgrundlage vom Lehrling über den Gesellen zum
| |
− | Meister die Homogenität der Logengruppe bewahrt und vor Konflikten schützt,
| |
− | • dass das auf den drei Basisgraden beruhende Logensystem jederzeit als Modell für eine
| |
− | Ordnung gelten kann, die gemäß demokratischer und pluralistischer Maßstäbe »in der profanen
| |
− | Welt«, d.h. im Leben der Gesellschaft, reproduziert werden könnte, und schließlich
| |
− | • dass die dreigradige Grundform der Freimaurerei viel leichter in die Gesellschaft hinein
| |
− | zu vermitteln ist als komplizierte, hierarchische Gradsysteme und auch kaum dazu angetan
| |
− | ist, Vorurteile und Verschwörungsvorstellungen auf sich zu ziehen.
| |
− | Die praktizierte Ernsthaftigkeit des Ritualvollzugs schloss auch Gespräche im Tempel ein.
| |
− | Br. Rudolf Jardon führte eine Form der Tempelarbeit ein, die er »Collegium Masonicum«
| |
− | nannte und bei der nach der Öffnung der Loge die rituelle Logenordnung aufgehoben wurde,
| |
− | um in fester gedanklicher Ordnung und besonnener Sprache Themen zu diskutieren, die
| |
− | meist den rituellen Kontexten der Freimaurerei entnommen waren. Freilich war die Praxis
| |
− | der »Collegia Masonica« stark von der rituellen Einstellung und Diskursfreude des jeweiligen
| |
− | Meisters vom Stuhl bestimmt und kam im Laufe der Logengeschichte unterschiedlich
| |
− | intensiv zum Zuge.
| |
− | Stets fanden die vielerorts in der deutschen Freimaurerei zur Tradition gewordenen
| |
− | Tempelfeiern
| |
− | mit den Frauen und Lebenspartnerinnen der Brüder statt, wie sich überhaupt
| |
− | die Loge »Ver Sacrum« von Anfang an als »offener« Männerbund verstand, der Partnerin,
| |
− | Familie und Freunde weitgehend in das Gemeinschaftsleben der Loge einbezieht. In
| |
− | jüngster Zeit wurde dann auch versucht, mit den Schwestern der Kölner Frauenloge »Sci
| |
− | Viam« unter Beachtung freimaurerischer
| |
− | Gepflogenheiten gemeinsame rituell-zeremonielle
| |
− | Erlebnisformen zu erkunden.
| |
− | Die rituelle Öffnung der Loge korrespondierte mit der Öffnung der von den Brüdern –
| |
− | oft in Anwesenheit von Gästen und Suchenden – vorgenommenen thematischen Öffnung
| |
− | der Gespräche
| |
− | für Fragen zum Zeitgeschehen und seinen materiellen, ideellen und gesellschaftlichen
| |
− | Grundlagen. So gab es bereits in den 1960er Jahren eine Vortragsreihe »Humanität
| |
− | und Unmenschlichkeit in Deutschland«, im Rahmen derer Fragen wie »Gastarbeiter
| |
− | oder Fremdarbeiter?
| |
− | – Zur Integration von Ausländern in Deutschland«, »Umweltschutz als
| |
− | politische Aufgabe« und »Notstand im deutschen Gesundheitswesen« behandelt wurden.
| |
− | Landtagspräsident Wilhelm Lenz, Bundesinnenminister Gerhard Baum, Staatssekretärin
| |
− | Katharina Focke, Bundesjustizminister Wolfgang Stammberger sowie der hessische Justizminister
| |
− | Johannes Strelitz (die beiden letzteren Freimaurer) sprachen über Grundlagen des
| |
− | Politischen. In einer Vortragsreihe »Freimaurerei von außen gesehen« sollte – so hieß es in
| |
− | 314
| |
− | der Ankündigung – »von der üblichen freimaurerischen Selbstbestätigung abgegangen und
| |
− | kritischen Beobachtern außerhalb unseres Bundes (Vertretern von Wissenschaft, Presse,
| |
− | kulturellem Leben, Kirchen usw.) das Wort gegeben werden«. Wie in Köln als historisch katholisch
| |
− | geprägter, allerdings auch bürgerlich-liberaler Stadt kaum anders vorstellbar, wurde
| |
− | in Vorträgen und Diskussionen wiederholt das Verhältnis zwischen katholischer Kirche und
| |
− | Freimaurerei aufgegriffen. Prominente katholische Referenten, die wir bald unsere Freunde
| |
− | nennen durften, waren die Professoren Dr. Herbert Vorgrimler und Dr. Karl Hoheisel sowie
| |
− | Pater Dr. Alois Kehl, unser Wegbegleiter durch viele Jahrzehnte hindurch.
| |
− | Mit der Öffnung zur Zeit verband sich stets auch die Öffnung zur Kultur: Künstler
| |
− | musizierten
| |
− | im Tempel, im Bankettsaal fanden Konzerte junger Sänger und Instrumentalisten
| |
− | statt, Brüder und Schwestern besuchten gemeinsam Opern und Schauspiele.
| |
− | Viele gute brüderliche Erfahrungen hat die Loge »Ver Sacrum« mit ihren zahlreichen
| |
− | Kontakten
| |
− | zu anderen Logen gemacht. Gewiss, nicht alle davon hatten Bestand, einige sind
| |
− | inzwischen abgerissen, andere, die unterbrochen waren, wurden wiederangeknüpft. Gern
| |
− | denken
| |
− | wir an die Zusammenarbeit mit den Logen in Köln, beispielsweise an viele Jahre
| |
− | gemeinsamer
| |
− | Johannisfeste mit der Loge »Freimut und Wahrheit zu Köln«. Höhepunkte
| |
− | waren Auslandsbesuche
| |
− | in England, Luxemburg und den Niederlanden, oder Besuche von
| |
− | Brüdern aus dem Ausland bei uns, etwa die Köln-Reise von Brüdern der Großloge von
| |
− | Maine aus den USA. Zu Beginn der 1970er Jahre gab es einen Partnerschaftsvertrag mit der
| |
− | Loge »Zur Freundschaft« in Kassel
| |
− | (GL FvD) und der Loge »Zur Treue« (GNML 3WK),
| |
− | nachdem die damals jungen Stuhlmeister
| |
− | der drei Logen auf dem Braunschweiger Konvent
| |
− | der VGLvD im Jahre 1972 einen Initiativantrag zur Einleitung nachhaltiger Fortschritte
| |
− | auf dem Wege zur Einheit der deutschen
| |
− | Freimaurerei eingebracht hatten, der freilich am
| |
− | Beharrungsvermögen alter Strukturen scheitern musste. Heute werden Gemeinschaftsarbeiten
| |
− | mit zahlreichen Logen durchgeführt, entweder in Köln oder im Partnerorient, und
| |
− | die gemeinsame Jahresbeginnfeier Kölner Logen unter Einschluss der Schwestern von »Sci
| |
− | Viam« gehört inzwischen zu den markanten Festlichkeiten des Logenjahres.
| |
− | Dass Arbeit und Bruderkreis der Loge »Ver Sacrum« innerhalb der deutschen Freimaurerei
| |
− | beachtliche Resonanz fanden, zeigt die Berufung vieler »Ver Sacrum«-Brüder in
| |
− | Distriktslogen- und Großlogenämter: So stellte die Loge drei NRW-Distriktsmeister, zwei
| |
− | Großredner der GL AFuAM, einen leitenden Meister der Forschungsloge »Quatuor Coronati
| |
− | «, ein Mitglied des Senats der VGLvD, einen zug. Großmeister der GL AFuAM sowie
| |
− | einen Vorsitzenden des Obersten Gerichts der VGLvD. Alle in solche Ämter berufenen
| |
− | Brüder waren stolz auf ihre maurerische Heimat »Ver Sacrum« und deren prägende Kraft.
| |
− | Auch den karitativen Verpflichtungen der Freimaurerei hat sich die Loge »Ver Sacrum
| |
− | « gestellt, und zwar mit der aus brüderlicher und schwesterlicher Spendenbereitschaft
| |
− | hervorgegangenen
| |
− | »Habicht-Schultheis-Stiftung«. Die gemeinnützige Stiftung hat sowohl
| |
− | Brüdern in materieller Bedrängnis geholfen als auch mannigfaltige Unterstützung geleistet,
| |
− | wenn es galt, außerhalb der Loge Not zu lindern, Jugendlichen in ihrer Entwicklung beizustehen
| |
− | und Nachwuchskünstler
| |
− | zu fördern.
| |
− | Insgesamt versuchte die Bruderschaft der unverzichtbaren Einheit der drei Säulen des freimaurerischen
| |
− | Tempels – Weisheit, Stärke und Schönheit – gerecht zu werden:
| |
− | • Weisheit als wertbezogene Vernunft, intellektuelle Klarheit und Redlichkeit der geistigen
| |
− | Vermittlung;
| |
− | 315
| |
− | • Stärke als Tatkraft, als das konstruktive Vermögen, Ideen auch umzusetzen, und
| |
− | • Schönheit als Gestaltungsprinzip, dass, ausgehend vom Ästhetischen, von der apollinischen
| |
− | Dimension hinüberreicht in Lebenskunst und Lebenskultur, worin sich ja Freimaurerei
| |
− | – wenn sie gelingt – als »Königliche Kunst« vollendet.
| |
− | Weisheit, Stärke und Schönheit – über alle drei wurde immer wieder nachgedacht, zumal
| |
− | die Freimaurerei mit ihren Säulen ja durchaus ihre Probleme hat. Geht es doch stets darum,
| |
− | Weisheit vor Worthülsen und Plattitüden zu bewahren, Stärke nicht in Kraftmeierei und
| |
− | verbale
| |
− | Kraftakte ausarten zu lassen und Schönheit gegen Hässlichkeit im Umgang miteinander
| |
− | zu schützen. Dass Letzteres gelang, geht u.a. daraus hervor, dass der Ehrenrat der
| |
− | Loge in der 50-jährigen Logengeschichte nicht ein einziges Mal zusammentreten musste.
| |
− | Dass die Loge »Ver Sacrum« mit Stolz, Freude und Bereitschaft zu weiterem Aufbruch
| |
− | auf die ersten 50 Jahre ihres Bestehens zurückblickt, bedeutet nun freilich nicht, dass
| |
− | die Bruderschaft in jeder Phase ihres Bestehens den von ihren Gründern definierten
| |
− | anspruchsvollen Maßstäben vollständig hätte genügen können. Nicht alle Blütenträume
| |
− | konnten reifen. Von den Problemen, die für die Entwicklung vieler Gruppen in modernen
| |
− | (oder »postmodernen«) Gesellschaften kennzeichnend sind – abnehmende Bindungsbereitschaft
| |
− | der Menschen insbesondere –, blieb auch die Loge »Ver Sacrum« nicht verschont.
| |
− | Auch wäre es unrealistisch anzunehmen, dass nicht auch Gruppen und ihre Leiter
| |
− | ihre »Durchhänger« hätten. So gilt das Symbol des »Rauhen Steins« nicht nur für den
| |
− | einzelnen Maurer, sondern auch für freimaurerische Gemeinschaften, und die delphische
| |
− | Aufforderung »Erkenne dich selbst« ist gleichermaßen ein individueller wie ein gruppenspezifischer
| |
− | Appell. Doch das Ausmaß an gelungener Freimaurerei seit Gründung der
| |
− | Loge und die Wirkungskraft des in der Vergangenheit erarbeiteten Logenprofils erwiesen
| |
− | sich stets als gutes Fundament für zukünftiges Wirken, vor allem, weil sie für jene Identität
| |
− | bürgen, aus der heraus die Loge sich entwickelt hat und weiter entwickeln kann. Zukunft
| |
− | braucht Herkunft, diese, insbesondere von dem Gießener Philosophen Odo Marquard
| |
− | wiederholt anregend ref lektierte Feststellung lässt sich – ihm weiter folgend – durch
| |
− | ihre Umkehrung ergänzen: Herkunft ist auf Zukunft angewiesen. Herkunft und Zukunft
| |
− | gehören zusammen. Für die Logen im Speziellen ebenso wie für die Freimaurerei im Allgemeinen
| |
− | gilt, dass sie der chronischen Gefahr der »Herkunftslastigkeit« entkommen und
| |
− | zukunftsfähig bleiben müssen. Doch wo Herkunft mit Freude und Stolz erinnert werden
| |
− | kann, braucht Sorge um Zukunft nicht zu einem handlungslähmenden Gefühl zu werden.
| |
− | Freimaurerei als Gemeinschaft brüderlich verbundener Menschen, Freimaurerei als
| |
− | System ethischer Werte und Überzeugungen, Freimaurerei als Symbolbund: Dies zusammen
| |
− | macht Reichtum und Wesen der freimaurerischen Überlieferung aus und umschreibt
| |
− | auch das Fundament
| |
− | der Loge »Ver Sacrum«. Freimaurerei in diesem Sinne
| |
− | lebendig zu halten und hineinwirken zu lassen in die Gegenwart – engagiert und redlich,
| |
− | ohne Kleinmut, aber auch ohne Überheblichkeit – ist unsere Aufgabe, ist der Auftrag
| |
− | einer Loge, die sich die Geschichte eines Frühlings zum Gründungsmythos gewählt hat,
| |
− | den die Legende als »heiligen Frühling«, als »Ver Sacrum« überliefert hat. Wenn »Frühling
| |
− | « dabei den ständigen Auftrag zum Aufbruch meint, den Schwung auch, den man
| |
− | bei der Arbeit braucht, sowie eine gehörige Portion rheinischer Heiterkeit, dann mag
| |
− | das »heilig« für die Ernsthaftigkeit und die verantwortungsbewusste Rückgebundenheit
| |
− | dieses Auftrags stehen.
| |
− | 316
| |
− | Drei Kettensprüche für die Loge »Ver Sacrum«
| |
− | Kettenspruch I. Grad, Aufnahme zum Freimaurerlehrling:
| |
− | Brüder, diese Kette bindet
| |
− | unser Herz und unsern Sinn.
| |
− | Jeder, der hier Heimat findet,
| |
− | findet Kraft zum Neubeginn.
| |
− | Einerlei, woher wir stammen:
| |
− | unter eines Himmels Zelt,
| |
− | bauen wir sie nur zusammen,
| |
− | diese eine bessre Welt!
| |
− | Lasst uns drum zur Arbeit gehen,
| |
− | sorgt, dass Licht ins Dunkel dringt,
| |
− | dass die Menschen sich verstehen
| |
− | und der große Bau gelingt.
| |
− | Kettenspruch II. Grad, Beförderung zum Gesellen:
| |
− | Baut gemeinsam, nicht alleine,
| |
− | Stein auf Stein und Hand in Hand
| |
− | als Gesellen für das eine
| |
− | Ziel, das uns seit je verband.
| |
− | Lasst uns schaffen fest verbunden
| |
− | was dem Leben Wert verleiht,
| |
− | bis die Arbeit vieler Stunden
| |
− | sichtbar wird am Dom der Zeit.
| |
− | Menschen suchen, stets aufs Neue,
| |
− | lautet alter Pflicht Geheiß,
| |
− | dass als Freunde sie in Treue
| |
− | stärken unsern Wirkungskreis.
| |
− | Kettenspruch III. Grad, Erhebung zum Meister:
| |
− | Brüder, lebt das »Stirb und Werde«,
| |
− | fest verwurzelt in der Erde,
| |
− | doch durchdrungen hell von Licht.
| |
− | Botschaft kommt uns von den Sternen,
| |
− | dass wir neu zu leben lernen
| |
− | und die Kette niemals bricht.
| |
− | 317
| |
− | Bürgerlicher Bund in nachbürgerlicher
| |
− | Gesellschaft (2008)1
| |
− | »In der Wirklichkeit steht es nicht deswegen schlimm,
| |
− | weil es zu viel, sondern deswegen,
| |
− | weil es zu wenig bürgerliche Gesellschaft in ihr gibt.«
| |
− | Odo Marquard
| |
− | Die Bruderschaft der Großloge A.F.u.A.M. bricht auf und stellt sich neuen Aufgaben. Qualitätsaufgaben
| |
− | sollten es sein. Und wenn eine Formel wie »Ziel 10.000« zunächst auch sehr
| |
− | quantitativ klingt, so steckt – recht verstanden – doch ein sehr anspruchsvolles Qualitätsziel
| |
− | dahinter: Geht es doch um einen Aktivitätsimpuls, der sich vor allem auf überzeugende Konzepte
| |
− | der Freimaurerei und eine gute Gruppenqualität der Bruderschaft auszuwirken hat.
| |
− | Ob dieser Impuls Erfolg hat, ist nicht gewiss. Doch wir haben die Chance, erfolgreich
| |
− | zu sein, wenn wir unsere Ressourcen einsetzen, und das heißt vor allem, wenn wir im
| |
− | Inneren wissen und nach außen vermitteln können, warum Freimaurerei auch heutzutage
| |
− | eine sinnvolle Form der Geselligkeit, des Denkens und der Kommunikation sowie der
| |
− | symbolisch-rituellen Erfahrung ist.
| |
− | Voraussetzungen für Erfolge
| |
− | Wir können Erfolg haben, wenn wir daran arbeiten, die mannigfaltigen Substanz- und Vermittlungsprobleme
| |
− | zu überwinden oder wenigstens zu reduzieren, die uns bisher blockiert
| |
− | haben, und wenn wir flexibel genug sind, auf die gegenwärtigen Strukturen der Gesellschaft
| |
− | zu reagieren, Strukturen, die sich seit der klassischen Zeit der Freimaurerei ja tiefgreifend
| |
− | verändert haben.
| |
− | Freimaurerei ist ein Produkt der bürgerlichen Gesellschaft – so weit so gut.
| |
− | Wie aber kann ein bürgerlicher Bund auch in einer nachbürgerlichen Zeit seine Lebendigkeit
| |
− | und Wachstumskraft behalten. Das ist die Frage, die sich uns stellt.
| |
− | Denn neben manchen hausgemachten Schwierigkeiten sind es ja ohne Zweifel eben
| |
− | diese Strukturwandlungen der Gesellschaft, die heutzutage einer dynamischen Entwicklung
| |
− | der Freimaurerei im Wege stehen.
| |
− | Mit ein paar Beispielen möchte ich dies erläutern:
| |
− | • So setzt etwa die gegenwärtige Heterogenität der Gesellschaft die alten, sehr erfolgreichen
| |
− | Rekrutierungsmuster der Freimaurerei – Mitgliedergewinnung in vertrauten sozialen und
| |
− | familiären Milieus – außer Kraft. Welcher Ersatz steht dafür zur Verfügung? Haben wir
| |
− | ihn bereits gefunden?
| |
− | 1 Vortrag auf dem Berliner Großlogentag der GL AFuAM 2008. Dieser Beitrag wurde ursprünglich veröffentlicht
| |
− | in: Humanität. Das deutsche Freimaurermagazin, Nr. 4, Juli/August 2008, S. 22–25.
| |
− | 318
| |
− | • So vermittelt die zunehmende freiwillige oder erzwungene Mobilität der Berufs- und
| |
− | Arbeitswelt wenig Motivation zum Eintritt in den Lebensbund Loge. Die Vertreter einer
| |
− | »Generation Praktikum«, was mag sie zu langfristiger Logenmitgliedschaft motivieren?
| |
− | • So bringt die veränderte Struktur der Geschlechterbeziehungen die Freimaurerei als
| |
− | Männerbund unter Begründungs- und Anpassungszwang, denn sie beeinflusst nicht nur
| |
− | die Bindungsbereitschaft der Männer, sondern sie stellt auch die traditionellen Legitimierungen
| |
− | des Männerbundes in Frage. Haben wir den Mut, Freimaurerei als einen »offenen
| |
− | Männerbund« zu leben? Gibt es Konzepte dafür?
| |
− | • So bringen die zunehmenden Optionen, soziale Beziehungen einzugehen, sich unterhalten
| |
− | zu lassen und Geselligkeit zu erleben, die Freimaurerei unter einen erhöhten Konkurrenzdruck.
| |
− | Hält das Programm der Loge diesem Konkurrenzdruck stand?
| |
− | • So scheint Freimaurerei als ethisch begründete und kultisch gestaltete Assoziation
| |
− | manchmal gar in Gefahr, als altmodisch, dogmatisch oder lernunfähig zu gelten. Haben
| |
− | wir überzeugende Antworten darauf? Antworten nicht für das 18. und 19. Jahrhundert,
| |
− | sondern für die Gegenwart?
| |
− | • So ist die Suche nach immer neuen Erlebnissen und spektakulären »Events« mit den »Essentials
| |
− | « der Freimaurerei: Bereitschaft zu dauerhafter Bindung, Führung ethischer Diskurse
| |
− | und Praxis ritueller Einübung in ein wertorientiertes Verhalten kaum vereinbar.
| |
− | Wie finden wir die Menschen, für die diese Verknüpfung nicht gilt? Die trotzdem empfänglich
| |
− | sind für das Angebot der Freimaurerei?
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− | • So führt – schließlich – die Kultur der Postmoderne mit ihrem Event- und Erlebnishunger
| |
− | auch zu neuen Formen der Anti-Freimaurerei. Das Dan-Brown-Syndrom geht
| |
− | um und füllt die Regale der Buchläden mit ausschweifenden Romanen und mit Sachund
| |
− | Enthüllungsbüchern niedrigsten Niveaus. Haben wir Antworten in dieser neuen Situation?
| |
− | Diese Skala sorgfältig abzuarbeiten, scheint mir Voraussetzung für Erfolg bei der Umsetzung
| |
− | unserer Pläne, was allerdings nicht jetzt geschehen kann.
| |
− | Chancen der Freimaurerei
| |
− | Jetzt geht es mir um etwas anderes. Die Überzeugung nämlich, dass es verfehlt wäre, in den
| |
− | unbeständig-flüchtigen Verhältnissen der heutigen Moderne nicht auch günstige Voraussetzungen
| |
− | für die Arbeit der Logen auszumachen.
| |
− | Um sie zu nutzen, müssen Anpassungen an den postmodernen Zeitgeist vermieden
| |
− | und Chancen gleichsam »quer zum Zeitgeist« ergriffen werden.
| |
− | Moderne heute bedeutet ja auch Individualisierung:
| |
− | • Nicht alle Menschen sind gleich, und die Zahl derer, die sich den nivellierenden Trends
| |
− | und Tendenzen zumindest partiell entgegenstellen, ist groß genug, um die Mitgliederzahlen
| |
− | der Logen kräftig anwachsen zu lassen.
| |
− | • Menschen suchen Freundschaft, Einbindung und Orientierung;
| |
− | • Menschen interessieren sich für Werte, Aufklärung und intelligenten Diskurs;
| |
− | 319
| |
− | • Menschen wollen ihre persönlichen Verantwortungen überdenken;
| |
− | • Menschen sind aufgeschlossen für symbolische und rituelle Erfahrungen;
| |
− | • Menschen wollen teilhaben an Erfahrungsmöglichkeiten für gesellige Kultur und Lebenskunst.
| |
− | Insgesamt:
| |
− | Es gibt Sehnsucht nach Nachdenklichkeit, nach Kontemplation, nach Langsamkeit,
| |
− | nach einem anderen, weniger hektischen Begriff von Zeit, kurz nach Strukturelementen
| |
− | der Freimaurerei.
| |
− | Dazu kommt, dass Anzeichen für die Suche nach und die Etablierung von einer »neuen
| |
− | Bürgerlichkeit« erkennbar sind.
| |
− | Allerdings: Die Freimaurerei muss sich – will sie ihre Chancen nutzen – redlich bemühen.
| |
− | Sie muss sich u.a. darüber klar werden, dass sie schon beängstigend viel »Postmoderne«
| |
− | in sich selbst aufgesogen hat und dass bisher als Fehlentwicklungen der Gesellschaft »da
| |
− | draußen« beschriebene Symptome längst zu Störelementen der inneren Logenbefindlichkeit
| |
− | geworden sind, die zwar sicher nicht dominieren, aber doch eindeutig diagnostizierbar
| |
− | sind.
| |
− | In diesem Sinne möchte ich hinweisen auf:
| |
− | • Relativismus im Verhältnis zu den eigenen traditionellen Werten, insbesondere das Verfehlen
| |
− | notwendiger Standards im Umgang der Brüder miteinander.
| |
− | • Mangelnde Gründlichkeit in der Wahrnehmung der politischen, gesellschaftlichen und
| |
− | kulturellen Probleme der Zeit, ja, unverkennbare Anzeichen für jene Untugenden der
| |
− | Stammtische, die wir so gerne beklagen.
| |
− | • Eingeschränkte Bereitschaft, sich an den Diskursen der Gesellschaft wirklich gehaltvoll
| |
− | zu beteiligen.
| |
− | • Erlebnis/unterhaltungsorientierte Einstellung zur Freimaurerei: Logen-, Ritual-, Gradund
| |
− | System-»Hopping«, Freimaurerei »à la carte«.
| |
− | • Fehlendes Wissen über die Grundlagen des eigenen Bundes, unzureichende Klarheit, was
| |
− | Freimaurerei ist, Unsicherheit im Umgang mit der Öffentlichkeit und unzureichende
| |
− | Sorgfalt bei Auswahl von und im Umgang mit Kandidaten.
| |
− | • Unzureichendes Reagieren schließlich auf die Herausforderungen der neuen »Verschwörungs-,
| |
− | Geheimnis- und Phantastik-Welle«, das von mir schon benannte »Dan Brown-Syndrom
| |
− | «.
| |
− | Zu Letzterem möchte ich auf eine Warnung aus einer Dan Brown-Rezension in der Zeitschrift
| |
− | von »Quatuor Coronati« London verweisen, in der auf die Gefahr neuer, von außen
| |
− | auf uns zukommender maurerischer Fiktionen hingewiesen wird:
| |
− | Der Londoner Bruder schreibt: »Wenn wir nicht die Öffentlichkeit – aus der unsere potentiellen
| |
− | Mitglieder kommen – über die wirkliche Natur und Geschichte der Freimaurerei
| |
− | informieren, werden wir entweder zu einem Schatten unseres vergangenen Ruhmes degenerieren
| |
− | oder uns einem noch schlimmeren Szenario gegenübersehen: der Überschwemmung
| |
− | durch Kandidaten, die nachdrücklich wünschen, dass solche Fiktionen in der Freimaurerei
| |
− | wahr werden.«
| |
− | 320
| |
− | Was ist, was will, was kann die Freimaurerei?
| |
− | Grundvoraussetzung für das Überleben der Freimaurerei in der Post- oder Post-Post-Moderne
| |
− | ist die inhaltliche Klärung.
| |
− | Was ist, was will, was kann die Freimaurerei in ihrer komplexen, unauflösbaren dreifachen
| |
− | Erscheinungsweise
| |
− | • als Freundschaftsbund,
| |
− | • als Stätte ethischer Einübung und
| |
− | • als symbolisch-initiatischer Werkbund?
| |
− | Hier werden oft handliche Formeln verlangt.
| |
− | Ich meine freilich, dass Freimaurerei vor allem durch Praxis zu überzeugen hätte und dass
| |
− | sich Freimaurer eher Zeit lassen, ja den Mut zur Umständlichkeit haben sollten, wenn es mit
| |
− | (gesprochenen und geschriebenen) Texten um das Erklären dessen geht, was Freimaurerei
| |
− | ist. Freimaurerei lässt sich nicht im Schnellkurs vermitteln.
| |
− | Vorsicht scheint mir insbesondere geboten mit eindimensionalen Kurzdefinitionen
| |
− | wie »Freimaurerei ist eine Geisteshaltung«, »Freimaurerei ist angewandte Aufklärung« oder
| |
− | »Freimaurerei ist eine religiöse Vereinigung«. Dies ist oft falsch und immer missverständlich.
| |
− | Wenn Kurzdefinitionen erforderlich scheinen, dann sollten solche gewählt werden, die
| |
− | durch Erläuterungen ausbaufähig sind und in denen die durch die Geschichte der Freimaurerei
| |
− | hindurch identifizierbaren Grundelemente des Bundes thematisiert werden, die in
| |
− | ihrer Gesamtheit den Reichtum der Freimaurerei ausmachen: Freundschaft und Geselligkeit,
| |
− | ethische Orientierung und Wertediskurs sowie der rituelle Rahmen einer Initiationsgemeinschaft
| |
− | mit der Stiftung von menschlicher Verbundenheit und moralischer Verantwortung als
| |
− | dem Kern der kultischen Handlung. In diesem Sinne empfehle ich die folgende Definition:
| |
− | »Freimaurerei ist eine Lebenskunst, die menschliches Miteinander und ethische Lebensorientierung
| |
− | durch Symbole und rituelle Handlungen in der Gemeinschaft der Loge darstellbar,
| |
− | erlebbar und erlernbar macht.«
| |
− | Notwendige Klärungen
| |
− | Von hierher kann die Freimaurerei auch ihr Verhältnis zu Politik, Gesellschaft und Religion
| |
− | klären:
| |
− | Angesichts der Tatsache, dass die von der Freimaurerei und um die Freimaurerei herum
| |
− | entwickelten Werte – Menschlichkeit, Brüderlichkeit, Toleranz – längst politisch-gesellschaftliches
| |
− | Allgemeingut geworden sind, besteht der besondere Wert des Bundes in der Methode
| |
− | der fortgesetzten Einübung in eine wertorientierte und wertgebundene Praxis. Die Loge ist
| |
− | keine Aktionsgruppe, aber – und hierdurch erfüllt sie eine wichtige politisch-gesellschaftliche
| |
− | Funktion – eine »sichere Stätte« für Menschen, die in einem konzentrierten, wertorientierten
| |
− | und sensiblen Diskurs Klarheit über handlungsrelevante Fakten und Optionen in der Welt
| |
− | von heute und morgen suchen.
| |
− | 321
| |
− | Arkandisziplin heute hätte dann vor allem die Funktion, den Raum für einen solchen
| |
− | Prozess der Selbstwahrnehmung, der Klärung und Abklärung abzusichern. Arkandisziplin ist
| |
− | insofern weit mehr als eine Angelegenheit des Verhüllens, Arkandisziplin ist vor allem eine
| |
− | Angelegenheit des Vertrauens – damit ist sie freilich auch viel stärker von innen gefährdet, als
| |
− | wir meist einzuräumen bereit sind. Man kann auch Geheimnisse zerstören, lange bevor man
| |
− | sie der Öffentlichkeit preisgibt.
| |
− | Um diese Gefährdung gering zu halten, ist Selbstkritik und Arbeit am rauhen Stein bei
| |
− | uns Brüdern im Bund erforderlich, aber auch eine sorgfältige Auswahl der Aufnahmekandidaten:
| |
− | falsche Aufnahmen wirken unvermeidlich als ein Negativ-Multiplikator, der die Substanz
| |
− | des Bundes verschlechtert.
| |
− | Im Verhältnis zu Religion und Kirchen ist hervorzuheben, dass Freimaurerei keine Religion
| |
− | ist, dass ihre Rituale jedoch (zumindest teilweise) einen religiösen Charakter besitzen.
| |
− | Denn sie tragen dazu bei, den Freimaurer in ein das Einzeldasein transzendierendes Sinngefüge
| |
− | einzuordnen.
| |
− | Bei alldem müssen Strukturen und Prinzipien der Großloge A.F.u.A.M. klarer herausgearbeitet
| |
− | werden, als die bestimmenden Eigenschaften der deutschen Großloge, die ganz
| |
− | eindeutig in der Tradition der humanitären deutschen Freimaurerei steht und auch ohne
| |
− | Wenn und Aber den Traditionen der Weltfreimaurerei und dem Geist der »Alten Pflichten«
| |
− | verbunden ist.
| |
− | Im Verhältnis zu Medien und Öffentlichkeit ist Redlichkeit am Platz: Es gab Licht und
| |
− | Schatten, Leistung und Versagen im Entwicklungsprozess der Freimaurerei. Dies einzuräumen,
| |
− | wirkt auf Außenstehende viel sympathischer und interessanter als das unendlich
| |
− | langweilige Posieren als selbsternannte »Weltmeister in Sachen Humanität«.
| |
− | Hierfür sollte das freimaurerische Wissen in der Bruderschaft verbessert werden. Wer
| |
− | nach dem »Wohin« der Freimaurerei fragt, muss über das »Woher« der Freimaurerei Bescheid
| |
− | wissen.
| |
− | Wissen und Fortschritt könnte auch durch den Diskurs der europäischen Freimaurer
| |
− | gefördert werden. Bei internationalen Zusammenkünften sollten nicht Geselligkeit und Repräsentation
| |
− | im Vordergrund stehen, sondern die Verständigung darüber, was europäische
| |
− | Freimaurerei historisch bedeutet hat, vor allem aber, was sie heute und zukünftig bedeuten
| |
− | kann. Das Jahr 2017 steht vor der Tür, und wenn dann an 1717 erinnert wird, sollte es auf
| |
− | eine europäische Weise geschehen.
| |
− | Und ein Letztes: Freimaurer hätten sich – ohne Überforderung eigener Möglichkeiten
| |
− | – viel öfter als bisher an den wichtigen Diskursen der Gegenwart zu beteiligen. Viele davon
| |
− | haben Beziehungen zur freimaurerischen Tradition, mögen sie auf die Weiterentwicklung
| |
− | der Aufklärung im Sinne einer »reflexiven Aufklärung«, auf die »Ethosproblematik«
| |
− | (»Weltethos« war immer schon auch ein freimaurerisches Projekt), auf die Aneignung und
| |
− | Umsetzung von Werten (»Einübungsethik« ist eine alte freimaurerische Tugend) beziehen
| |
− | oder auf die Reflexionen über Lebenskunst, denn Freimaurerei verstand sich ja immer auch
| |
− | – gerade im Sinne von Lebenskunst – als eine »Königliche Kunst«.
| |
− | Um es zuzuspitzen: Besser, als die Stimmen anderer zu prämieren, wäre es, mit eigener
| |
− | Stimme vernehmbar zu sein.
| |
− | Insgesamt hat die deutsche Bruderschaft – davon bin ich vollkommen überzeugt –
| |
− | viele Möglichkeiten, den alten Zauber des »Gesamtkunstwerks Freimaurerei« trotz kräftigen
| |
− | Zeitgeist-Gegenwinds auch zukünftig nach innen und außen wirken zu lassen.
| |
− | 322
| |
− | Neue Bürgerlichkeit?
| |
− | Hierzu scheint mir allerdings erforderlich, dass der Bund in Konzeption und Praxis an Profil
| |
− | zulegt. Sich dabei als Teil einer »neuen Bürgerlichkeit« zu begreifen, ist für mich dabei ebenso
| |
− | aussichtsreich wie erforderlich.
| |
− | Freimaurerei war eine Institution der bürgerlichen Gesellschaft. Sie vermittelte und
| |
− | bestärkte einen bürgerlichen Habitus, den der ungarische Sozialphilosoph Georg Lukács
| |
− | einmal so beschrieben hat:
| |
− | »Bürgerlicher Beruf als Form des Lebens bedeutet in erster Linie einen Primat der
| |
− | Ethik im Leben; dass das Leben durch das beherrscht wird, was sich systematisch, regelmäßig
| |
− | wiederholt, durch das, was pflichtgemäß wiederkehrt, durch das, was getan
| |
− | werden muss ohne Rücksicht auf Lust oder Unlust. Mit anderen Worten: die Herrschaft
| |
− | der Ordnung über die Stimmung, des Dauernden über das Momentane, der ruhigen
| |
− | Arbeit über die Genialität, die von Sensationen gespeist wird.«
| |
− | Lukács beschrieb hier im Jahre 1909, wie sehr freimaurerische Lebenssicht mit der bürgerlichen
| |
− | Geselligkeit und der Selbstwahrnehmung des Bürgers identisch gewesen ist.
| |
− | Ich meine, dass eine Renaissance der Bürgerlichkeit in einem solchen Sinne der Freimaurerei
| |
− | gut bekäme.
| |
− | Und wenn der in Gießen lehrende Philosoph Odo Marquard in einem ebenso knappen
| |
− | wie lesenswerten Essay über eine »Philosophie der Bürgerlichkeit« feststellt, dass »die moderne
| |
− | bürgerliche Welt unter der Bedingung ihrer ›Entzweiung‹ erneut durchdacht werden«
| |
− | muss, so beschreibt er ein Projekt, innerhalb dessen ich mich als Freimaurer durchaus
| |
− | aufgehoben fühle. »Denn« – so schließt Marquard seinen Text – »die Kontraposition zur
| |
− | einen – der totalitär nationalsozialistischen – Verweigerung der Bürgerlichkeit ist nicht die
| |
− | andere – totalitär sozialistische – Verweigerung der Bürgerlichkeit, sondern die Verweigerung
| |
− | dieser Bürgerlichkeitsverweigerung: die insofern ›konservative‹ Option für die bürgerlichliberale
| |
− | Demokratie«.
| |
− | Zur totalitär nationalsozialistischen und zur totalitär sozialistischen ist inzwischen auch
| |
− | die postmoderne Verweigerung der Bürgerlichkeit getreten. Auch dieser hätte sich die Freimaurerei
| |
− | zu verweigern. Dazu gehört, dass sie ihre Rolle und ihre Wirkungsmöglichkeiten in
| |
− | einer Position neuer Bürgerlichkeit »quer zum Zeitgeist« begreift und ihre Chancen mit dem
| |
− | ganzen Charme einer alten europäischen Kulturform intelligent und offensiv wahrnimmt.
| |
− | 323
| |
− | Dan Browns »Verlorenes Symbol«:
| |
− | Freimaurerei zwischen Fiktion und
| |
− | Wirklichkeit (2010)1
| |
− | Vieles in einem
| |
− | Im September 2009 erschien nach »Illuminati« und »The Da Vinci Code« unter dem Titel
| |
− | »Das verlorene Symbol« Dan Browns lang erwarteter Folgeroman, der dritte mit dem Harvard-
| |
− | Professor Robert Langdon als Chefermittler und als Deuter vieler Symbole und Geheimnisse.
| |
− | Ob es ein gutes Buch ist, mag in diesem Zusammenhang dahingestellt bleiben. Doch
| |
− | sicher ist es ein komplexes, ja überladenes Buch, in dem verschiedene Handlungsstränge, Milieus
| |
− | und Projektionsflächen zueinander in Beziehung gesetzt und zuweilen arg gewaltsam
| |
− | ineinander verwoben werden.
| |
− | Das Buch ist vieles in einem:
| |
− | • ein Thriller, in dem die Protagonisten von der Abenddämmerung bis zum Sonnenaufgang
| |
− | durch Washington hetzen, um Verbrechen zu begehen oder zu verhindern;
| |
− | • eine Familiensaga mit einem kreativen Bruder-Schwester-Verhältnis (Peter und Katherine
| |
− | Solomon) und einer bis zum tödlichen Hass entgleisten Vater-Sohn-Beziehung (Peter Solomon
| |
− | und Mal’akh);
| |
− | • eine Ontologie des Bösen, die beschreibt, wie Mal’akh durch viele Transformationen hindurch
| |
− | auf dem Wege dunkler Magie seinem Credo folgt: »Wer in der Lage ist, Weisheit zu
| |
− | verbreiten, muss zerstört werden«;
| |
− | • ein reichhaltiges Kompendium abendländischer Esoterik in all ihren Facetten und Verzweigungen,
| |
− | mit Porträts vieler ihrer Exponenten und oft schillernden Vertreter;
| |
− | • eine reichlich scientology-nahe Einführung in die Wissenschaft der sogenannten »Noetik«,
| |
− | der noch unerschlossenen Kraft des menschlichen Bewusstseins;
| |
− | • eine Apotheose der Stadt Washington als eines Heilsplatzes der Weltgeschichte;
| |
− | • eine Hommage an die amerikanische Freimaurerei, insbesondere die Hochgradfreimaurerei
| |
− | des Schottischen Ritus; und
| |
− | • schließlich auch eine Verkündigung der persönlichen Heilsbotschaft Dan Browns, denn ist
| |
− | nicht zu bezweifeln, dass die Beschwörung von Licht und Hoffnung am Ende des Buches
| |
− | nicht nur für seinen Helden Robert Langdon gilt, sondern auch für den Autor selbst.
| |
− | Mit dem Augenblick des Erscheinens setzte ein nie da gewesener Run auf das Buch ein. Die
| |
− | englische Ausgabe wurde in der ersten Woche nach der Veröffentlichung am 15. September
| |
− | 2009 zwei Millionen Mal verkauft. Allein in Großbritannien ging der Thriller in den ersten 36
| |
− | Stunden mehr als 300.000 Mal über den Ladentisch, mehr als bei allen anderen Hardcover-Romanen
| |
− | für Erwachsene auf der Insel. Zahlreiche Blitzübersetzungen in andere Sprachen folgten,
| |
− | 1 Vortrag, gehalten am 25. Oktober 2010 in der Frankfurter Loge »Zur Einigkeit«. Dieser Beitrag wurde
| |
− | ursprünglich veröffentlicht in: TAU, Zeitschrift der Forschungsloge »Quatuor Coronati«, Nr. II, 2010,
| |
− | S. 90–100.
| |
− | 324
| |
− | u.a. ins Chinesische, Japanische und Koreanische. Auch in Deutschland schnellte das Buch
| |
− | umgehend auf die Bestsellerlisten, wobei es sich günstig auf den Verkauf auswirkte, dass das
| |
− | Erscheinen der eilig angefertigten Übersetzung mit der Frankfurter Buchmesse zusammenfiel.
| |
− | Bald gab es publizistische Sekundäreffekte, denn im Gefolge des Romans erschienen
| |
− | unverzüglich mehr als ein Dutzend Bücher, die sich anschicken, dass oft verworren dunkle
| |
− | Original zu erklären: »Secrets of the Lost Symbol«, »Unlocking the Masonic Code«,
| |
− | »Decoding the Lost Symbol«, »Deciphering the Lost Symbol« und wie sie alle heißen
| |
− | mögen, knapp 2000 Seiten erklärende Literatur. Auch der Lübbe Verlag, in dem die deutsche
| |
− | Fassung erschien, brachte Anfang 2010 zwei Sekundärbücher heraus: »Die Wahrheit
| |
− | über Das Verlorene Symbol« von Dan Burstein und Arne de Keijzer, eine Übersetzung aus
| |
− | dem amerikanischen Englisch und (als sogenanntes »offizielles Sachbuch«) »Das verlorene
| |
− | Symbol. Der Schlüssel zu Dan Browns Bestseller« von Henrik Eberle, der als Historiker am
| |
− | Lehrstuhl für Zeitgeschichte der Universität Halle/Wittenberg tätig ist. Insbesondere dieses
| |
− | Buch ist empfehlenswert für alle, die sich mit Dan Browns Puzzle und seinen Hintergründen
| |
− | eingehender beschäftigen wollen – wenn, so muss man allerdings mittlerweile ergänzen,
| |
− | überhaupt noch Interesse daran besteht.
| |
− | Dan Brown und seine Kritiker
| |
− | Bestseller haben nicht selten eine geringe Halbwertszeit. Bald war es mit dem Medienhype vorbei,
| |
− | das Buch verschwand wieder aus den Bestsellerlisten und gebrauchte Exemplare sind inzwischen
| |
− | in großer Zahl für wenig Geld beim Buchversender Amazon und anderswo zu haben.
| |
− | Dass sich die Attraktivität des »Verlorenen Symbols« verbraucht zu haben scheint, hängt sicher
| |
− | mit der komplizierten Materie des Buches selbst zusammen, die die Lektüre anspruchsvoll und
| |
− | sperrig macht, mit der schon erwähnten Mischung aus Thriller, Familiengeschichte, philosophischer
| |
− | Spekulation, amerikanischer Geschichte, abendländischer Esoterik und Freimaurerei.
| |
− | Hier drei enttäuschte Stimmen der deutschen Fangemeinde aus dem Internet:
| |
− | »Habe bis jetzt alle Dan Brown Bücher gelesen und mich dementsprechend mega mäßig
| |
− | auf das neue Buch gefreut – muss (aber) leider sagen, dass ich ziemlich enttäuscht war
| |
− | … Hoffentlich wird der nächste Dan Brown wieder so ein Burner wie seine Vorgänger!«
| |
− | »Ein neuer Brown. Ein neuer Langdon. Brown behält seine Stereotypen bei – großes Geheimnis
| |
− | …, noch größeres Geheimnis, Geheimbund, größtes Geheimnis, böse Geheimdienstler,
| |
− | Geheimnis der Menschheit – Ende. Spannend ist es, ja. Und unterhaltsam.
| |
− | Doch zum guten Roman fehlt eine ganze Menge.«
| |
− | »Dieses Buch ist eine Aneinanderreihung scheinbar bedeutungsschwerer, dabei doch
| |
− | völlig inhaltloser Plattitüden. Man müsste eine Strichliste machen, wie oft Brown Begriffe
| |
− | wie ›die Alten‹, ›das Wissen der Alten‹, ›die alten Mysterien‹ usw. wiederholt. Leider
| |
− | hat sich mir in keinster Weise erschlossen, was genau er damit meint. Ein bisschen
| |
− | Gruseln, ein bisschen Pseudowissenschaft, ein bisschen Pseudophilosophie hübsch
| |
− | durchgequirlt – fertig ist der Thriller. Mein Fazit: Daumen eindeutig nach unten!«
| |
− | 325
| |
− | Doch für die Wirkung des Buches ist nicht nur »Volkesstimme« von Bedeutung. Relevant
| |
− | ist vor allem, was von drei anderen Lesergruppen zum »Verlorenen Symbol« gesagt wird:
| |
− | • den professionellen Literaturkritikern, die das Buch als Buch nehmen, und – soweit sie
| |
− | überhaupt Notiz nehmen – im Allgemeinen herzlich schlecht finden,
| |
− | • den Kulturjournalisten, vor allem denen der Feuilletons wichtiger Zeitungen, die Dan
| |
− | Browns Roman nicht als literarisches Produkt, sondern als Symptom eines sich ausbreitenden
| |
− | postmodernen Obskurantismus werten, den es zu entlarven gelte, und
| |
− | • natürlich – von den Freimaurern, die darüber zu befinden haben, ob und wie sie sich in
| |
− | Dan Browns Freimaurerbild wiederentdecken können, ob das Buch die Freimaurerei verzerrt,
| |
− | die Öffentlichkeit irreführt und Interessenten abschreckt oder ob es als willkommenes
| |
− | Werbegeschenk für den Bund zu begrüßen ist.
| |
− | Anders als in den USA, wo sich die Literaturkritiker großer Zeitungen eingehend – teils positiv,
| |
− | teils negativ – mit dem Buch beschäftigt haben, gab es in Deutschland nur wenige
| |
− | Stimmen, und ich beschränke mich darauf, eine drastische zu zitieren. So befand Dennis
| |
− | Scheck in der ARD-Literatursendung »Druckfrisch« folgendermaßen:
| |
− | »Nach Vatikan und heiligem Gral knöpft sich Dan Brown nun die Mysterien der
| |
− | amerikanischen Freimaurer vor …, doch sein drittes Buch mit dem Symbologen Robert
| |
− | Langdon ist so fad und überraschungslos wie eine Mahlzeit in einer amerikanischen
| |
− | Imbisskette.«
| |
− | Und dann beförderte er das Buch mit Wut und Verachtung in seine symbolische Abfallkiste.
| |
− | Im Unterschied zum flapsigen Dennis Scheck hat das »Verlorene Symbol« die Kulturjournalisten
| |
− | der »Süddeutschen Zeitung«, der FAZ und der »Zeit« regelrecht aufgeregt, nicht wegen
| |
− | vorhandener oder nichtvorhandener literarischer Qualität, sondern wegen seiner unverkennbaren
| |
− | ideologischen Botschaft. Die Darlegungen der Autoren scheinen mir bezeichnend zu
| |
− | sein auch für die deutlich ins Negative tendierende Beurteilung der Freimaurerei in Teilen
| |
− | der gegenwärtigen intellektuellen Öffentlichkeit hierzulande, die – so meine ich – von der
| |
− | Freimaurerei ernst genommen und reflektiert werden müsste.
| |
− | Deshalb ein paar Passagen aus den erwähnten Artikeln:
| |
− | Thomas Steinfeld schreibt in der »Süddeutschen Zeitung« vom 17. September 2009
| |
− | unter der Überschrift »Das blasse Böse«:
| |
− | »Auch wenn es sich hier nur um einen ›Thriller‹ und also pure Erfindung handelt, so ist
| |
− | die paranoide Geschichtswissenschaft, aus dem diese Erfindung gemacht ist, doch alles
| |
− | andere als bedeutungslos. Wer das Buch bis zum Ende liest, gelangt zu einer Epiphanie.
| |
− | Die geheimste aller geheimen Botschaften der Freimaurerei wird entschlüsselt, die Lehre
| |
− | liegt offen da: Gott ist alle Menschen, alle Menschen sind göttlich, die Freimaurerei ist
| |
− | der Weg zu dieser Erleuchtung …
| |
− | Ein seichter, vulgärer Pantheismus bildet den Schluss auch dieses Thrillers, und danach
| |
− | geht über Washington die Sonne auf. Ihr erster Strahl lässt die Spitze des Washington
| |
− | Monument, des höchsten Obelisken der Welt, aufleuchten. Und Robert Langdon
| |
− | 326
| |
− | ›dachte an die Wissenschaft, an den Glauben, an den Menschen. Er dachte daran, wie
| |
− | jede Kultur, jedes Land zu jeder Zeit doch immer einer gemeinsamen Vorstellung gewärtig
| |
− | war. Wir haben alle einen Schöpfer‹ …
| |
− | Die Katholische Kirche hat sich immer wieder gegen die Romane Dan Browns gewehrt.
| |
− | Man beginnt sie zu verstehen. Denn so spricht kein Heide. So spricht die Konkurrenz.«
| |
− | Lorenz Jäger schreibt in der FAZ vom 18. September 2009 (Überschrift »Die geheime Pforte
| |
− | zu den letzten Geheimnissen«):
| |
− | »Langdon, und mit ihm Brown, sieht jede antikisierende politische Ikonographie als
| |
− | Hinweis auf alte Mysterien … Natürlich wird auch diesmal die überkonfessionelle freimaurerische
| |
− | Lehre als ›Toleranz‹ gerechtfertigt, überhaupt sind (die Freimaurer) bei Dan
| |
− | Brown ganz harmlose Gesellen, die sich hauptsächlich der Organisation praktischer
| |
− | Wohltätigkeit widmen. Und dafür die Geheimnisse, Einweihungsgrade, Verkleidungen,
| |
− | Riten, Schweigepflichten? Dafür die esoterischen Lehren der Hochgrade? Dafür ›Großmeister-
| |
− | Architekt‹ (der zwölfte Grad), ›Meister des Neunten Bogens‹, ›Großer Auserwählter
| |
− | und Vollkommener Maurer‹, ›Ritter des Degens‹, ›Prinz von Jerusalem‹ und ›Ritter
| |
− | vom Osten und Westen‹, am Ende ›Ritter Kadosch‹ (mit Racheschwur gegen Papst
| |
− | und König) und ›Souveräner General-Großinspekteur‹ wie Peter Solomon? Alles nur
| |
− | Philanthropie und Veredelung des eigenen inneren Menschen? Die guten Leute, die diese
| |
− | Ansicht ernsthaft vertreten, glauben sich kurioserweise den ›Verschwörungstheorien‹
| |
− | intellektuell haushoch überlegen.«
| |
− | Schließlich Dieter Hildebrandt in der Zeit vom 20. Oktober 2009 (Überschrift »Die Welträtsel
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− | tragen Frack. Dan Browns neuer Thriller ist große Unterhaltung und kesser Obskurantismus«):
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− | »Machen wir uns nichts vor: Dies wird keine Rezension. Dies wird die notgedrungene
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− | Beschreibung einer medialen und globalen Lawine …
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− | Die nervöse Spannung, die … von der Lektüre ausgeht, die geradezu peinigende Ungeduld,
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− | die man als Leser empfindet, gehen nicht von den Reißerqualitäten des Buches aus,
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− | sondern vom fortwährenden Tanz um den heißen Brei, um eine Melange aus raunenden
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− | Andeutungen und ›unfassbaren‹ Verheißungen. ›Es gibt eine verborgene Welt hinter der,
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− | die wir alle sehen. Für uns alle‹, heißt eine von Hunderten kursiver Beschwörungen …
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− | Das wahre Wissen, das Missing Link zwischen moderner Wissenschaft und antikem
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− | Mystizismus, die versunkene Erkenntnis – all das wird uns hier geheimnisvoll in Aussicht
| |
− | gestellt. Doch Browns Buch ist ein Investmentzertifikat völlig irrealer Werte.
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− | Die Marotte, unserer Welt und Wissenschaft, dem ständigen Prozess von Trial and
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− | Error, ein unentdecktes Allwissen aus frühester Zeit gegenüberzustellen, eine uns aus
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− | den Labyrinthen der modernen Wissensgesellschaft erlösende Dauerwahrheit, ist blendender
| |
− | Bluff, kessester Obskurantismus und genau die reaktionäre Verschwörung, die
| |
− | das Buch aufzudecken vorgibt.«
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− | Hier verbindet sich Buchkritik mit einer direkten oder indirekten Kritik an der Freimaurerei,
| |
− | Dan Brown wird mit masonischen Realitäten vermischt, und es entsteht eine Argumenta327
| |
− | tionslinie, die aufgrund ihrer Subtilität von Freimaurerseite viel ernster genommen werden
| |
− | muss als manche plumpe »Verschwörungstheorie«.
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− | Was die Freimaurer sagen
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− | Doch nun zu den Freimaurern. Vor dem Erscheinen gab es bei ihnen durchaus Befürchtungen,
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− | in welche Ecke der Autor die Freimaurer wohl stellen würde. Doch die Sorgen schienen umsonst
| |
− | gewesen zu sein: Man freute sich über das positive Freimaurer-Bild Dan Browns, vermutete
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− | ein zunehmendes gesellschaftliches Interesse an der Freimaurerei und äußerte die Hoffnung,
| |
− | dass der »Dan Brown-Effekt« letztlich auch zu steigenden Mitgliederzahlen in den Logen führt.
| |
− | Vor allem von Freimaurern in den USA wurde das Buch begrüßt. So schrieb etwa Christopher
| |
− | Hodapp, Freimaurer und Verfasser freimaurerischer Bücher, in einer Danksagung,
| |
− | die er seinem Buch »Deciphering the Lost Symbol« voranstellte: »Dank schließlich an Dan
| |
− | Brown, der die Welt an das erinnert hat, was die Freimaurer sind, woran sie glauben und
| |
− | warum sie wichtig für die Gesellschaft bleiben.«
| |
− | Auch Dan Brown selbst zeigte sich vom Nutzen seines Buches für die Freimaurerei
| |
− | überzeugt. Kurz vor dem Termin der Veröffentlichung meinte er in einem Interview mit
| |
− | Associated Press: »Ich denke, dass es eine enorme Anzahl von Menschen geben wird, die an
| |
− | der Freimaurerei interessiert sind, wenn das Buch erscheint.«
| |
− | Und kurz nach dem Erscheinen des Buches im September 2009 sagte er weiter: »Die
| |
− | Welt wird einsehen, dass mein neues Buch, Das Verlorene Symbol, eine ehrfürchtige Darlegung
| |
− | der freimaurerischen Philosophie ist.«
| |
− | Doch von welcher Freimaurerei ist im »Verlorenen Symbol« die Rede, und was sind für
| |
− | den Autor die Grundannahmen der von ihm erwähnten freimaurerischen Philosophie?
| |
− | Wenn man genau hinschaut, so stehen in Browns Buch zwei zwar miteinander verbundene,
| |
− | aber doch zu unterscheidende Spielarten von Freimaurerei nebeneinander:
| |
− | • die zu Beginn des 18. Jahrhunderts entstandene moralisch-symbolische Freimaurerei der
| |
− | drei englischen Zunftgrade Lehrling, Geselle und Meister sowie
| |
− | • die später entstandene, vor allem in den USA sehr populäre, gegenüber dem Ausgangsmodell
| |
− | rituell stark erweiterte und esoterisch ausgebaute, 33 Grade umfassende Hochgradfreimaurerei
| |
− | des sogenannten Schottischen Ritus.
| |
− | Alle freimaurerischen Protagonisten des Buches gehören diesem System an. Peter Solomon, der
| |
− | Direktor der Smithsonian Institution, Warren Bellamy, der Architekt des Kapitols, Colin Galloway,
| |
− | der Dompropst und auch der Bösewicht Mal’akh, der sich seine Mitgliedschaft freilich erkauft
| |
− | hat, sind Mitglieder des obersten, des 33. Grades, dem konsequenterweise auch das im Prolog
| |
− | geschilderte Einweihungsritual zugeordnet ist. Und gleichsam als Hommage an den Schottischen
| |
− | Ritus wies Dan Brown auf seiner Homepage darauf hin, dass die Ziffern des Erscheinungsdatums
| |
− | des Romans, des 15.9.09, zusammengerechnet (15 + 9 + 9) die Zahl 33 ergeben.
| |
− | Die Leitung des Schottischen Ritus akzeptierte die Anerkennung. Allerdings wies das »Scottish
| |
− | Rite Journal« in seiner Ausgabe von November/Dezember 2009 auf eine Reihe von Fehlern
| |
− | in Dan Browns Roman hin:
| |
− | 328
| |
− | • So sei das Rotwein-Trinken aus dem Totenschädel bei Mal’akhs Aufnahme kein authentischer
| |
− | Ritualbestandteil, es sei vielmehr einer nach ihrer Veröffentlichung oft antifreimaurerisch
| |
− | verwendeten Schrift aus den 1880er Jahren entnommen.
| |
− | • Der Schottische Ritus werde in den USA von zwei Obersten Räten geleitet, nicht von dem
| |
− | von Brown genannten einen in Washington. Das im Buch ausführlich beschriebene
| |
− | »House of the Temple« sei Hauptquartier des Schottischen Ritus der Südlichen Jurisdiktion,
| |
− | die ihren Sitz in Washington D.C. habe.
| |
− | • An der Spitze des Obersten Rates stehe der »Souveräne Großkommandeur« und nicht wie
| |
− | bei Brown der »Höchste ehrwürdige Meister«, den es unter dieser Bezeichnung nicht
| |
− | gäbe, und der 33. Grad werde nicht in einer örtlichen Loge zelebriert.
| |
− | • Der von Brown viel beschworene »Zirkumpunkt« sei ein Symbol unter anderen und habe
| |
− | nicht die ihm im Roman zugeschriebene zentrale Bedeutung.
| |
− | • Schließlich sei das Emblem des Schottischen Ritus ein doppelköpfiger Adler und kein
| |
− | Phoenix.
| |
− | Der generell positive Tenor Browns gegenüber der Freimaurerei des Schottischen Ritus wurde
| |
− | jedoch sehr beifällig aufgenommen. Kurz nach dem Erscheinen des Buches lud die Leitung
| |
− | des Ritus den Autor zu einer Vortragsveranstaltung ein. Dieser musste seine Teilnahme
| |
− | wegen der Präsentation des Romans anderswo absagen, schrieb aber einen Brief an den
| |
− | Vorstand des Ritus, der auf der Homepage Ritus veröffentlicht wurde und in dem es heißt:
| |
− | »In den vergangenen Wochen wurde ich wiederholt gefragt, was mich so an der Freimaurerei
| |
− | anzöge, dass ich sie zu einem zentralen Gegenstand meines Buches gemacht
| |
− | hätte. Meine Antwort ist immer dieselbe: In einer Welt, wo Menschen darum
| |
− | kämpfen, wessen Definition von Gott die richtige ist, kann ich kaum ausreichend
| |
− | meinen tiefen Respekt und meine Bewunderung zum Ausdruck bringen, die ich einer
| |
− | Organisation gegenüber empfinde, in der Menschen unterschiedlichen Glaubens
| |
− | das ›Brot miteinander brechen‹ in einer Verbindung von Brüderlichkeit, Freundschaft
| |
− | und Kameradschaft.«
| |
− | Doch gehen wir noch einmal zurück zu der für Dan Brown so anziehenden Hochgradstruktur.
| |
− | Grade und Hochgrade
| |
− | 33 Grade, das bedeutet in der Tat einen hohen Aufwand an Symbolik, der von der frühen
| |
− | Freimaurerei gar nicht zu leisten war, und so ist vieles von dem, was bei Dan Brown als genuin
| |
− | freimaurerisch erscheint: Hermetik, Kabbalistik, Zahlenmystik, Alchemie, Rosenkreuzertum
| |
− | und Tempelritterromantik in vollem Maße erst für die späteren Hochgradsysteme
| |
− | spezifisch und nicht von Beginn an freimaurerisch im ursprünglichen Sinne. Es handelt
| |
− | sich vielmehr um Bestandteile einer allgemeinen religiösen – präziser religiös-esoterischen
| |
− | – Tradition der abendländischen Kultur und kam zu einem großen Teil erst mit dem Entstehen
| |
− | der Hochgradsysteme
| |
− | gegen Ende des 18. Jahrhunderts in die Freimaurerei hinein,
| |
− | nachdem es von der vorromantischen Erinnerungskultur entdeckt bzw. wiederentdeckt
| |
− | wurde.
| |
− | 329
| |
− | Spuren dieser Entdeckung sind im Geistesleben des späten 18. Jahrhunderts reichlich
| |
− | aufzuspüren. So schreibt etwa der alte Goethe in seinem Erinnerungsbuch »Dichtung und
| |
− | Wahrheit« nicht ohne Spott und Distanzierung über die Weltanschauung seiner jungen
| |
− | Jahre: »Der neue Platonismus lag zum Grunde; das Hermetische, Mystische, Kabbalistische
| |
− | gab auch seinen Beitrag her, und so erbaute ich mir eine Welt, die seltsam genug aussah.«
| |
− | Etwas anderes kam hinzu: Durch den Verlust an gesellschaftlichem Einfluss auf Seiten
| |
− | des Adels, bedingt durch die Herrschaftsstrukturen des späten Absolutismus, und das
| |
− | gleichzeitige Entstehen einer an Einfluss gewinnenden bürgerlichen Oberschicht, konvergieren
| |
− | adlige und bürgerliche Interessen. Damit entstehen nun auch soziale Gründe für den
| |
− | Aufstieg der freimaurerischen Hochgrade, denn sie versprechen dem Adel gesellschaftliche
| |
− | Kompensation für erlittene Funktionsverluste, d.h. Wiederherstellung alter Reputation,
| |
− | und sie versprechen dem aufsteigenden Bürgertum eine neue adelsgleiche oder zumindest
| |
− | adelsähnliche Reputation, was dann auch in den Titeln der Grade zum Ausdruck kommt:
| |
− | »Ritter der Sonne«, »Prinz von Jerusalem«, »Erhabener Prinz des königlichen Geheimnisses
| |
− | « usw. usf.
| |
− | Wenn sich nun auch Dan Brown letztlich an der Hochgradfreimaurerei orientiert, so
| |
− | tritt das gleichsam klassische englische Verständnis der Freimaurerei bei ihm doch nicht
| |
− | gänzlich zurück, und Robert Langdon hält sich, bevor er unter der Leitung von Peter Solomon
| |
− | auf den letzten 100 Seiten des Romans seinen eigenen esoterischen Initiationsweg
| |
− | einschlägt, zunächst durchaus an das englische Modell.
| |
− | Blenden wir uns – der Erläuterung halber – kurz in ein Seminar des Harvard-Professors ein:
| |
− | »Mein Onkel ist Freimaurer«, meldete sich eine junge Frau zu Wort. »Meiner Tante
| |
− | ist das gar nicht recht, weil er nicht mit ihr darüber redet. Sie sagt, die Freimaurerei
| |
− | wäre irgendeine Art von seltsamer Religion.«
| |
− | »Ein weitverbreitetes Missverständnis.«
| |
− | »Wieso?«
| |
− | »Wenden wir den Lackmustest an«, erwiderte Langdon, »wer von Ihnen hat Professor
| |
− | Witherspoons Kurs in Vergleichender Religionswissenschaft belegt?«
| |
− | Mehrere Studenten hoben die Hände.
| |
− | »Gut. Können Sie mir die drei Voraussetzungen nennen, die es braucht, um aus einer
| |
− | Ideologie eine Religion zu formen?«
| |
− | »VGB«, meldete eine Frau sich zu Wort »Versprechen, glauben, bekehren.«
| |
− | »Richtig«, bestätigte Langdon. »Religionen versprechen Erlösung, glauben an eine
| |
− | ausgefeilte Lehre und bekehren Ungläubige.«
| |
− | Er hielt inne. »Nichts davon trifft auf die Freimaurerei zu. Freimaurer versprechen
| |
− | keine Erlösung; sie besitzen keine bestimmte Glaubenslehre und versuchen auch
| |
− | nicht, Menschen zu konvertieren. Um genau zu sein: Diskussionen über Religion
| |
− | sind innerhalb der Logen verboten.«
| |
− | »Die Freimaurerei wendet sich gegen die Religion?«
| |
− | »Im Gegenteil. Eine der Voraussetzungen, Freimaurer zu werden, ist der Glaube an
| |
− | eine höhere Macht. Freimaurerische Spiritualität unterscheidet sich von den institutionalisierten
| |
− | Religionen insofern, als Freimaurer diese höhere Macht nicht näher definieren
| |
− | und ihr keinen Namen geben. Statt ihr eine definitive theologische Identität
| |
− | 330
| |
− | wie Gott, Allah, Buddha oder Jesus zu verleihen, benutzen die Freimaurer eher allgemeine
| |
− | Begriffe wie ›Oberstes Wesen‹ oder ›Allmächtiger Baumeister aller Welten‹.
| |
− | Deshalb können Freimaurer unterschiedlichster Religionszugehörigkeit zusammenkommen.
| |
− | «
| |
− | »Hört sich ein bisschen weit hergeholt an«, sagte jemand.
| |
− | »Oder einfach nur erfrischend aufgeschlossen?«, bot Langdon an. »In einem Zeitalter,
| |
− | in dem sich die unterschiedlichsten Völker gegenseitig umbringen, weil sie darüber
| |
− | streiten, wessen Definition von Gott die bessere ist, könnte man sagen, dass die
| |
− | Tradition der Toleranz und Aufgeschlossenheit, wie sie von den Freimaurern propagiert
| |
− | wird, eher empfehlenswert ist.«
| |
− | Langdon ging auf dem Podium auf und ab.
| |
− | »Außerdem steht die Freimaurerei Menschen sämtlicher Rassen, Hautfarben und Glaubensrichtungen
| |
− | offen. Die Freimaurer sind eine spirituelle Bruderschaft, die keine Diskriminierung
| |
− | kennt.«
| |
− | »Professor Langdon«, meldete sich ein junger Mann mit lockigen Haaren, der in der
| |
− | letzten Reihe saß, »wenn die Freimaurerei keine Geheimgesellschaft ist, kein Unternehmen
| |
− | und keine Religion, was ist sie dann?«
| |
− | »Nun, würden Sie einen Freimaurer fragen, würde er Ihnen antworten: Die Freimaurerei
| |
− | ist ein System moralischer Werte, das von Allegorien verschleiert und durch Symbole
| |
− | erklärt wird«.
| |
− | Dies ist genau die traditionelle englische Definition: »Freemasonry is a peculiar system of morality
| |
− | veiled in allegory and illustrated by symbols.«
| |
− | Bevor nun Peter Solomon, bei Dan Brown der höchste Repräsentant des Schottischen
| |
− | Ritus in Washington, mit einem anders akzentuierten Verständnis von Freimaurerei zu Wort
| |
− | kommen soll, ist nachzutragen, dass es weniger die heutige Struktur und Sichtweisen des
| |
− | Schottischen Ritus sind, von der Dan Brown in seinem Buch ausgeht.
| |
− | Seine Hauptquellen sind vielmehr zwei Autoren des 19. und des 20. Jahrhunderts, die
| |
− | beide im Roman genannt werden: Albert Pike und Manly Palmer Hall.
| |
− | Albert Pike, 1809 bis 1891, war eine ebenso prominente wie schillernde und umstrittene
| |
− | Figur in der Geschichte der amerikanischen Hochgradfreimaurerei. Zu seiner Zeit
| |
− | wurde Pike als der bedeutendste freimaurerische Gelehrte und Autor gefeiert: Seit damals
| |
− | haben sich freilich viele seiner Thesen über die Ursprünge der Freimaurerei und ihrer
| |
− | Zeremonien als definitiv falsch erwiesen. Pike überarbeitete die Grade (4–33) des Alten
| |
− | Angenommenen Schottischen Ritus und veröffentliche 1871 ein knapp 900 Seiten starkes
| |
− | Buch »Morals and Dogma of the Ancient and Accepted Scottish Rite of Freemasonry«,
| |
− | das bis Mitte des 20. Jahrhunderts jedem Freimaurer des Schottischen Ritus auf einer
| |
− | bestimmten Stufe seines Weges durch die Grade überreicht wurde. Heute ist sich die freimaurerische
| |
− | Forschung weithin einig, dass »Morals and Dogma« ein zwar umfangreiches
| |
− | und eindrucksvolles, zugleich aber einigermaßen verworrenes Buch ist, das in vielen Fragen
| |
− | zu falschen Schlüssen kommt. Zudem übernahm Pike einen großen Teil seiner Darlegungen
| |
− | von einem in Bezug auf kulturgeschichtliche Fakten wenig vertrauenswürdigen
| |
− | französischen Autor namens Eliphas Levi, der von 1810 bis 1875 in Paris lebte, u.a. auch
| |
− | Hochgradfreimaurer war und als einer der Wegbereiter des modernen Okkultismus gilt.
| |
− | Levi führte die Freimaurerei auf die antiken heidnischen Mysterien, die Alchemie, die
| |
− | 331
| |
− | ägyptischen Mystiker, den Kabbalismus, den Gnostizismus, den Zoroastrismus und den
| |
− | Brahmanismus zurück, und Albert Pike folgte ihm, indem er ihn teils plagiierte, teils interpretierte.
| |
− | Mittlerweile wird Pike auch in den USA kritisch gesehen, und sein Buch wird
| |
− | nicht mehr unter den Mitgliedern des Schottischen Ritus verteilt.
| |
− | Auf Pike wiederum baut ein anderer mystisch-esoterisch orientierter Autor und Freimaurer
| |
− | auf, den Dan Brown an mehreren Stellen des »Verlorenen Symbols« zitiert: Manly Palmer
| |
− | Hall, der von 1901 bis 1990 gelebt hat und seit 1973 dem 33. Grad des Schottischen Ritus
| |
− | angehörte. Halls Hauptwerk »The Secret Teachings of All Ages: An Encyclopedic Outline
| |
− | of Masonic, Hermetic, Qabbalistic and Rosicrucian Symbolical Philosophy«, veröffentlicht
| |
− | 1928, ist ohne Zweifel die Hauptquelle Dan Browns gewesen, und Halls Buch ist auch das
| |
− | Motto entnommen, das Dan Brown an den Anfang seines Buchs gestellt hat:
| |
− | »In der Welt zu leben, ohne sich ihrer Bedeutung bewusst zu werden, ist wie in einer
| |
− | großen Bibliothek herumzuirren, ohne die Bücher anzurühren.«
| |
− | Auch der Titel »Das verlorene Symbol« erinnert an ein Buch Manly Halls, die Schrift »The
| |
− | Lost Keys of Freemasonry«. Hall fast die freimaurerische Sendung, wie er sie versteht, in diesem
| |
− | Buch folgendermaßen zusammen:
| |
− | »Es gibt tausende von Maurern, die nur dem Namen nach Brüder sind, denn ihre Unfähigkeit,
| |
− | die Ideen ihrer Kunst zu verstehen, macht sie sprachlos gegenüber den Lehren
| |
− | und Zwecken der Freimaurerei. Ein wahrhaft maurerisches Leben erst bildet den Schlüssel
| |
− | zum Tempel und ohne diesen Schlüssel kann keines seiner Tore geöffnet werden.
| |
− | Wenn diese Tatsache besser verstanden und gelebt wird, wird die Freimaurerei erwachen
| |
− | und das solange vorenthaltene Wort aussprechen. Die spekulative Zunft wird operativ
| |
− | werden und das alte, lange verborgene Wissen wird aus den Ruinen des Tempels auferstehen
| |
− | als die größte spirituelle Wahrheit, die je den Menschen enthüllt wurde.«
| |
− | Zukunft, Wahrheit, Verlorenes Wort. Dies sind nun die Stichworte für die Freimaurerei Peter
| |
− | Solomons, auf die sich die zitierten Kritiken in der »Süddeutschen Zeitung«, der FAZ und
| |
− | der »Zeit« beziehen und die auch im Mittelpunkt eines – zugegebenermaßen bisher nur unzureichend
| |
− | geführten – »Dan-Brown-Diskurses« innerhalb der deutschen Freimaurerei zu
| |
− | stehen hätte.
| |
− | Solomon’s Key
| |
− | Peter Solomon, masonischer Held Dan Browns und Direktor der hochrenommierten Smithsonian
| |
− | Institution in Washington, hat in der Aula der Philipps Exeter Academy einen Vortrag
| |
− | über James Smithson, den Gründer der von ihm geleiteten Einrichtung, und die Gründerväter
| |
− | der Vereinigten Staaten gehalten, und wir wollen in die sich anschließende Diskussion
| |
− | hineinhören:
| |
− | Eine blonde Studentin in den hinteren Reihen hob die Hand.
| |
− | »Ja, bitte?«
| |
− | 332
| |
− | »Sir«, sagte sie und hielt ihr Handy hoch, »ich habe im Internet über Sie nachgeforscht,
| |
− | und in der Wikipedia steht, dass Sie ein prominenter Freimaurer sind.«
| |
− | Solomon hielt seinen Freimaurerring hoch. »Die Onlinegebühr hätte ich Ihnen ersparen
| |
− | können.«
| |
− | Gelächter im Saal.
| |
− | »Ja, nun«, fuhr die junge Frau zögernd fort, »Sie sprachen ja gerade von überkommenem
| |
− | religiösem Aberglauben, aber mir scheint, dass es besonders die Freimaurer
| |
− | sind, die überkommenen Aberglauben verbreiten.«
| |
− | Solomon schien unbeeindruckt. »Tatsächlich? Wie kommen Sie darauf?«
| |
− | »Ich habe viel über Freimaurer gelesen und weiß, dass sie einer ganzen Reihe seltsamer
| |
− | alter Rituale anhängen und abwegige Glaubensvorstellungen haben. In einem Onlineartikel
| |
− | steht sogar, dass die Freimaurer an irgendein altes magisches Wissen glauben …
| |
− | das aus Menschen Götter machen kann.«
| |
− | Alle wandten sich der jungen Frau zu und starrten sie an, als hätte sie den Verstand verloren.
| |
− | »In der Tat«, sagte Solomon, »da hat die junge Dame recht.«
| |
− | Die Köpfe der Studenten fuhren herum. Sie musterten Solomon mit großen Augen
| |
− | und verwirrten Blicken.
| |
− | Solomon verkniff sich ein Lächeln und fragte die Studentin: »Stehen dort noch mehr
| |
− | Wiki-Weisheiten über dieses magische Wissen?«
| |
− | Die junge Frau wirkte verlegen, las dann aber von der Website vor. »Um sicherzustellen,
| |
− | dass dieses machtvolle Wissen nicht von den Unwürdigen benutzt werden kann,
| |
− | schrieben die frühen Adepten es verschlüsselt nieder … sie verbargen seine Macht hinter
| |
− | einer metaphorischen Sprache voller Symbole, Mythen und Allegorien. Bis heute
| |
− | umgibt uns dieses verborgene Wissen … es findet sich in unserer Mythologie, unserer
| |
− | Kunst und den okkulten Texten aller Zeitalter. Leider hat der moderne Mensch die Fähigkeit
| |
− | verloren, dieses komplexe Geflecht der Symbole zu entschlüsseln … und die
| |
− | große Wahrheit ist verloren gegangen.«
| |
− | Solomon wartete. »Ist das alles?«
| |
− | Die junge Frau ruckte unbehaglich auf ihrem Sitz. »Nein, da steht noch mehr.«
| |
− | »Das hoffe ich. Bitte, lesen Sie es uns vor.«
| |
− | Die Studentin blickte unschlüssig drein; dann räusperte sie sich und fuhr fort. »Der Legende
| |
− | zufolge haben die Weisen, die die Alten Mysterien vor langer Zeit chiffriert haben,
| |
− | eine Art Schlüssel hinterlassen … ein Passwort, das benutzt werden kann, um die
| |
− | kodierten Geheimnisse wieder zugänglich zu machen. Dieses magische Passwort – als
| |
− | das Verbum significatum bekannt – soll die Macht besitzen, die Finsternis zu vertreiben
| |
− | und die Alten Mysterien zu offenbaren, sodass sie für alle Menschen sichtbar sind.«
| |
− | Solomon lächelte wehmütig. »Ach ja … das Verbum significatum.« Einen Moment lang
| |
− | schaute er ins Leere; dann blickte er wieder auf die junge Frau. »Und wo ist dieses wunderbare
| |
− | Wort jetzt?«
| |
− | Die Studentin wirkte mit einem Mal verschämt. Sie wünschte sich offensichtlich, sie
| |
− | hätte den Gastredner nicht zu einer Diskussion verleitet. Mit unsicherer Stimme las
| |
− | sie zu Ende: »Der Legende nach ist das Verbum significatum tief unter der Erde verborgen,
| |
− | wo es geduldig auf einen Schlüsselmoment wartet, in dem die Menschheit
| |
− | ohne die Wahrheit, das Wissen und die Weisheit aller Zeitalter nicht mehr überleben
| |
− | kann. An diesem dunklen Scheideweg wird die Menschheit das Wort schließ333
| |
− | lich ausfindig machen und in ein wundervolles neues Zeitalter der Erleuchtung eintreten.
| |
− | «
| |
− | Das Mädchen klappte das Handy zu und sank in den Sitz.
| |
− | Nach langem Schweigen hob ein anderer Student die Hand. »Mr. Solomon, Sie glauben
| |
− | das doch nicht etwa?«
| |
− | Solomon lächelte. »Wieso nicht? Unsere Mythologien haben eine lange Tradition magischer
| |
− | Wörter, die Erkenntnis und gottähnliche Kräfte verheißen.«
| |
− | »Aber, Sir«, setzte der Student nach, »Sie glauben doch nicht etwa, dass ein einziges
| |
− | Wort, was immer es ist, die Macht besitzt, uraltes Wissen zu offenbaren und weltweite
| |
− | Erleuchtung zu bringen?«
| |
− | Peter Solomons Miene gab nichts preis.
| |
− | »Über meine Glaubensvorstellungen sollten Sie sich nicht den Kopf zerbrechen. Aber
| |
− | denken Sie einmal darüber nach, dass die Verheißung einer bevorstehenden Erleuchtung
| |
− | Teil nahezu jeder Glaubensrichtung oder philosophischen Tradition auf Erden ist …
| |
− | Von den zeitlichen Umständen einmal abgesehen halte ich es doch für bemerkenswert,
| |
− | dass im Lauf der Geschichte die Philosophien aller Zeiten und Kontinente, so grundverschieden
| |
− | ihre Standpunkte sein mögen, sich in einer Sache offenbar einig waren –
| |
− | dass eine große Erleuchtung kommen wird. In jeder Kultur, in jedem Zeitalter, in jedem
| |
− | Winkel der Welt hat sich der Traum des Menschen auf ein und dasselbe Konzept fokussiert:
| |
− | seine Apotheose, die nahe bevorstehende Transformation unseres menschlichen
| |
− | Geistes in sein wahres Potenzial.«
| |
− | Er lächelte. »Was könnte eine solche Synchronizität von Glaubensvorstellungen erklären?«
| |
− | »Wahrheit«, sagte eine leise Stimme in der Menge.
| |
− | Solomon ließ erstaunt den Blick schweifen.
| |
− | »Wer hat das gesagt?«
| |
− | Die Hand, die gehoben wurde, gehörte einem jungen Asiaten, dessen weiche Züge darauf
| |
− | hindeuteten, dass er Nepalese oder Tibeter sein konnte. »Vielleicht gibt es eine universelle
| |
− | Wahrheit, die jeder in seiner Seele mit sich trägt. Vielleicht verbirgt sich in uns allen die
| |
− | gleiche Geschichte, vielleicht als gemeinsame Gensequenz in unserem Erbgut. Vielleicht ist
| |
− | diese kollektive Wahrheit verantwortlich für die Ähnlichkeit in allen unseren Geschichten.«
| |
− | Mit strahlender Miene presste Solomon die Hände zusammen und verneigte sich ehrerbietig
| |
− | vor dem Jungen.
| |
− | »Danke«.
| |
− | Alles schwieg.«
| |
− | Soweit Peter Solomon, soweit das Verbum significatun, soweit Dan Brown und seine Auffassung
| |
− | vom zutiefst esoterischen Wesen der Freimaurerei.
| |
− | Doch was ist nun die im Titel meines Vortrags versprochene Freimaurerei, wie sie wirklich
| |
− | ist?
| |
− | Moral und Lebenskunst
| |
− | Meine Antwort muss zunächst enttäuschen, denn – ich habe es bereits angedeutet – die Freimaurerei
| |
− | im Singular gibt es nicht.
| |
− | 334
| |
− | Zwar gibt es bestimmte Grundzüge, die die Freimaurerei als Assoziationstyp insgesamt
| |
− | definieren und unterscheidbar machen, doch in vielerlei Hinsicht war Freimaurerei immer ein
| |
− | Raum, der inhaltlich unbestimmt war.
| |
− | Vor allem waren
| |
− | • die inhaltliche Ausgestaltung der Rituale,
| |
− | • die Organisationsformen der freimaurerischen Systeme, insbesondere im Hinblick auf die
| |
− | unterschiedlichen Dimensionen der Hierarchie und
| |
− | • die Akzentsetzungen innerhalb des freimaurerischen Wertekanons
| |
− | von Anfang weitgehend offen.
| |
− | So bildeten sich beim Weg der Freimaurerei durch die Geschichte drei Grundtypen von Freimaurerei
| |
− | heraus, die sich zwar mischen können (und sich de facto auch gemischt haben),
| |
− | aber doch deutlich unterscheidbar sind:
| |
− | • eine ethisch orientierte Freimaurerei, der es um die Einübung moralischer Standards und
| |
− | ihre Praktizierung sich selbst und der Gesellschaft gegenüber geht,
| |
− | • eine esoterisch orientierte Freimaurerei, bei der die Suche nach höheren Erkenntnissen
| |
− | zum Hauptinhalt geworden ist, und
| |
− | • eine christlich orientierte Freimaurerei, deren Richtschnur die in den Evangelien enthaltene
| |
− | Lehre Jesu Christi ist.
| |
− | In mir haben sie nun einen ausgesprochenen Vertreter einer ethisch orientierten Freimaurerei
| |
− | vor sich, wie sie in Deutschland in der Großloge der Alten, Freien und Angenommenen
| |
− | Maurer zu Hause ist, wie sie mir aber auch fest verankert scheint in der langen Tradition des
| |
− | Eklektischen Freimaurer-Bundes hier in Frankfurt, die ja im Wesentlichen identisch ist mit
| |
− | der Tradition der Loge »Zur Einigkeit«, bei der wir heute zu Gast sind.
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− | Für mich bedeutet Freimaurerei vor allem Praxis, und zwar Praxis einer Lebenskunst,
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− | die menschliches Miteinander und ethische Lebensorientierung durch Symbole und rituelle
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− | Handlungen in der Gemeinschaft der Loge darstellbar, erlebbar und erlernbar macht.
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− | Freimaurer wirken durch eine schlichte, aber wirksame Methode: Sie versuchen ganz einfach,
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− | den Menschen, so wie er ist, ernst zu nehmen in seiner dreifachen Eigenschaft als einer
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− | sozialen, einer moralischen und einer emotionalen Person, die in jeder dieser Eigenschaften
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− | ganz spezifische Bedürfnisse
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− | hat, und sie bemühen sich in ihren Logen darum, diesen Bedürfnissen
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− | gleichzeitig zu entsprechen, und zwar ganz einfach durch den besonderen,
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− | auf
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− | drei Säulen ruhenden Charakter des Freimaurerbundes: als Gemeinschaft brüderlich verbundener
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− | Menschen; als ethisch-moralisch ausgerichteter Bund, der sich an bleibend gültigen
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− | Werten und Überzeugungen
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− | orientiert, und schließlich, aber nicht zuletzt als symbolischritueller
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− | Werkbund, der sein überliefertes Brauchtum, seine Symbole und seine symbolhaften
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− | Handlungen zur gefühlsmäßigen, erlebnishaften Vertiefung seiner Überzeugungen nutzt.
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− | Dieses dreifache Angebot, von dem die Freimaurer meinen, dass es der Grundsituation
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− | des Menschen
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− | als dem fragenden, dem suchenden Wesen entspricht, scheint durchaus aktuell
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− | zu sein in der heutigen Zeit der gesellschaftlicher Umschichtung, des Wandels vieler
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− | sozialleitender Werte und des Aufkommens zahlreicher neuer Bedrohungen der Menschlichkeit
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− | sowohl in der individuellen
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− | Lebenswirklichkeit
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− | jedes einzelnen Menschen als auch
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− | in gesamtgesellschaftlicher, ja globaler
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− | Dimension.
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− | Dan Browns esoterische Freimaurerei mag ein vielversprechender Romanstoff sein, als
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− | Grundlage einer gegenwartstüchtigen und zukunftsfähigen Freimaurerei taugt sie nicht.
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− | Literatur
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− | Dan Brown: Das Verlorene Symbol, aus dem amerikanischen Englisch übersetzt und entschlüsselt
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− | vom Bonner Kreis, Gustav Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach 2009.
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− | Albert Pike: Morals and Dogma of the Ancient and Accepted Scottish Rite of Freemasonry,
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− | first published 1871, republished 2008 by Forgotten Books.
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− | Manly P. Hall: The Lost Keys of Freemasonry (ursprünglich 1923), New York 2006.
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− | Christopher L. Hodapp: Deciphering the Lost Symbol. Freemasons, Myths and the Mysteries
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− | of Washington, D.C., Berkeley CA 2010.
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− | Henrik Eberle: Das Verlorene Symbol. Der Schlüssel zu Dan Browns Bestseller, Köln 2010.
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− | Dan Burstein/Arne de Keijzer: Die Wahrheit über Das verlorene Symbol. Dan Browns neuer
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− | Roman entschlüsselt, München 2010.
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− | Kaum eine bürgerliche Vereinigung existiert so lange wie die Freimaurerei und kaum ein
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− | Zusammenschluss ist gleichzeitig derart geheimnisumwoben und mit Mythen unterschiedlichster
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− | Art verbunden. Dass es die Logen gab, war der Öffentlichkeit früh bekannt, bekannter
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− | jedenfalls, als es die weit verbreitete Vorstellung von einer im Verborgenen wirkenden
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− | Geheimgesellschaft vermuten lassen würde. Was aber ihre Mitglieder verband, was den Reiz
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− | der Freimaurerei ausmachte, was es mit ihren Ritualen auf sich hatte, das blieb zumeist im
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− | Dunkeln. Marcus Meyer untersucht in der vorliegenden Studie die gesamte Geschichte der
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− | Bremer Freimaurer von ihren Anfängen im 18. Jahrhundert bis in die Zeit der Reorganisation
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− | nach dem Zweiten Weltkrieg. Dabei fragt er vor allem nach der Bedeutung der freimaurerischen
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− | Bünde für die Genese und Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft. Er nimmt
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− | zugleich in den Blick, mit welchen oft absonderlichen Zuschreibungen die Freimaurer konfrontiert
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− | waren, und analysiert die ebenfalls mitunter unrealistische Selbstwahrnehmung des
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− | Männerbundes. Diese erste kritische Darstellung der Bremer Freimaurerei darf nach dem
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− | großen Erfolg der 2006 im Bremer Landesmuseum für Kunst und Kultur – Focke-Museum
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− | gezeigten Ausstellung »Licht ins Dunkel – die Freimaurer und Bremen« auf großes Interesse
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− | hoffen.
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− | Marcus Meyer
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− | Bruder und Bürger
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− | Freimaurerei und Bürgerlichkeit
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− | in Bremen
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− | 360 S., 45 Abb.
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− | ISBN 978-3-8378-1019-6
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− | 19,90 �
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− | <poem>
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