Traktat: Die Kette: Unterschied zwischen den Versionen

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Version vom 16. Juni 2015, 19:03 Uhr

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Die Kette

Publiziert 16. Juni 2015 | Von Nomen Nominandum

Quelle: Großloge der Alten Freien und Angenommenen Maurer von Deutschland

Prolog:

J.F. Kennedy war der 35. Präsident der Vereinigten Staaten; inzwischen halte ich ihn für einen, wohlgemerkt intelligenten, Filou. Doch in seiner Antrittsrede am 20. Januar 1961 fiel ein bemerkenswerter Satz:

„Also meine Mitbürger, fragt nicht, was euer Land für euch tun kann — fragt, was ihr für euer Land tun könnt.“

Prolog Ende.

Die Geschichte der Kette begann in der Bronzezeit als Schmuckstück und zur Fesselung (In Ketten legen) von Kriegsgefangenen, Sklaven oder Verbrechern. Weitere Verwendungen fanden Ketten z. B. zum Aufhängen von Kesseln, als Brunnenketten.

Kette ist der Überbegriff für viele verschiedene Anwendungen. Und stellt man die Frage, was verstehst du unter einer Kette, so bekommt man sehr unterschiedliche Antworten.

Hätte ich meine Eltern zu Ketten befragt, so wären von meiner Mutter und meinem Vater völlig unterschiedliche Antworten gekommen. Mein Vater, der als Ingenieur zur See gefahren ist, hätte die Rückfrage gestellt: „Sohn, was meinst du: Anker- oder Steuerkette?“. Während meine Mutter eher den Ansatz für Ketten gewählt hätte, die mit den Vorsilben Gold, Silber, Perlen oder Bernstein beginnen.

Als ich meine Frau fragte, was ihr denn zu Ketten einfallen würde, antwortete sie: Kettenbrief; und nach einem kurzen Augenblick des Nachdenkens: Telefonkette.

Schon hier sehen wir die Vielfalt der Assoziationen zu Ketten, wir finden sie in Technik, in der Kunst, aber auch die Anwendung des Begriffs im übertragenen Sinne.

Dass die Technik bei Weitem überwiegt, sehen wir in der Fülle der Anwendungsfälle wie im Fahrzeugbau, der Förder- und Steuerungstechnik, dem Bergbau, der Seefahrt, dem Uhrenbau und unzähligen anderen nützlichen aber auch unnützen, auch zerstörerischen Anwendungen. Praktische Helfer, die unermüdlich, dauerhaft und zuverlässig ihren Dienst versehen.

Ketten können aus vielen unterschiedlichen Materialien bestehen. Nicht nur Metallketten, auch Ketten aus Kunststoff und Keramik, ja: aus allem, was sich mit einander verbinden lässt, lassen sich auch Ketten herstellen. Und welch eine Vielfalt an Formen und auch Gewichten: Ketten, deren Glieder man mit dem bloßen Auge kaum sehen kann, die in der Hand verschwinden, bei denen man die Befürchtung hat, sie schon mit der kleinsten Berührung zu zerstören. Und dann die Ketten, deren Masse und schieres Gewicht nur so vor Kraft strotzen, wo ein Kettenglied so viel wiegt, wie ein ausgewachsener Mann.

Stellen wir uns diese Ketten vor unserem geistigen Auge vor, stellt sich die Frage: Was macht eigentlich eine Kette aus?

Als Erstes kommt mir in den Sinn, dass Ketten aus der Aneinanderreihung von Kettengliedern bestehen. Und diese sollten gleichmäßig beschaffen sein. Und schon kommt hier der erste Einspruch, denn ich kennen eine Menge Halsketten, bei denen diese Merkmale mit Sicherheit nicht zutreffen. Wo eher die Unterschiedlichkeit die Schönheit der Kette ausmacht, nämlich die Aneinanderreihung von Anhängern, Perlen, auch parallelen untereinander hängenden Ketten mit allerlei unterschiedlichen Steinen. Auch Bänder werden plötzlich, wenn auch nur im übertragenen Sinne, zu Ketten; zu Hals-, Arm- und Fußketten.

Die Kettenglieder greifen ineinander. Ich habe es also mit einer Verknüpfung von Einzelteilen zu tun, die trennbar oder auch untrennbar mit einander verbunden sind.

Diese Aneinanderreihung macht eine Kette. Aber wie viele Kettenglieder benötige ich, damit ich sagen kann, ich habe eine Kette? Zwei, drei, fünf oder mehr als zehn?

Nun könnte jemand auf die Idee kommen und sagen, dass eine Kette, wie in den Beispielen zu den Halsketten, ja geschlossen sein müssten und man damit eine Kette charakterisiert.

Weit gefehlt. Auch hier kann ich mit Gegenbeispielen argumentieren, denn niemand wird bestreiten, dass eine Ankerkette mit Sicherheit ihre Funktion verlieren würde, wenn man sie schließen würde. Nein, im Gegenteil, hier ist der Nutzen ja die offene Kette als Verbindungsstück zwischen dem Schiff und dem am Grund liegenden Anker, mit der Absicht, das Schiff an einer Position zu fixieren.

Auch die Standuhr meiner Eltern besitzt eine offene Kette. Viele werden sich aus ihrer Kindheit noch erinnern oder besitzen sogar noch eine dieser schönen, mächtigen Uhren mit dem eindrucksvollen Glockenschlag. Auch hier tun offene Ketten ihren Dienst, zum einen als Gangreserve und zum anderen, um zu den vollen und halben Stunden anklingen zu lassen, was Selbige geschlagen hat.

Wir haben also offene und geschlossene Ketten. Wobei die geschlossenen verschlossen werden können, z.B. mittels Schekel, einem Federring, einem magnetischer Verschluss oder einfach einem Haken.

Damit wissen wir aber immer noch nicht, wie viele Glieder ich zu einer Kette benötige. Schauen wir uns in der Chemie um, so sind die kleinsten Teile Atome, die sich zu Molekülen zusammensetzen lassen. Schon die Aneinanderreihung von zwei Molekülen wird als Molekülkette bezeichnet. Und auch in der Freimaurerei bezeichnen wir schon zwei Brüder, die einander eingehakt sind, als Kette. Zurückkommend auf die Uhrenkette: Hier hätte ich ein Problem, zwei miteinander verbundene Glieder als Kette zu bezeichnen. Vielleicht liegt die Definition einer Kette auch im Auge des Betrachters.

Die Erfindungen und die vielen mechanischen Umsetzungen geschlossener Ketten, und hier stehen vor allem die gleichförmigen Gliederketten im Vordergrund, haben die industrielle Revolution beschleunigt. Und auch heute versehen diese vielen kleinen Helferlein bei manchmal sehr hohen Geschwindigkeiten ihren versagungsfreien Dienst.

Wie vieles im Leben hat das Schöne auch etwas Unschönes. Genauso wie ich den Nutzen und die Schönheit beschreibe, soll auch die dunkle Seite, der Missbrauch von Ketten nicht verschwiegen werden. Jemanden in oder an die Ketten legen, ihn festzusetzen, indem man ihm Fesseln anlegt und das Ende der Kette an Mauern befestigt oder mit einer schweren Eisenkugel versieht; in diesem Sinne sind Ketten auch das Sinnbild von Unfreiheit und Tyrannei, verbunden mit Leid und Tränen, Hoffnungslosigkeit und Ängsten.

Moderne Kriege sind ohne Ketten-Panzer und Kettenfahrzeuge nicht mehr vorstellbar. Mit ihnen kommen die Hightech-Zerstörung, die tiefen Furchen in den Landschaften, das Rasseln der Ketten auf den Straßen, das sich als Mahnung für immer im Gedächtnis der Betroffenen einbrennt.

Aber allen Ketten, seien sie nun offen oder geschlossen, positiv oder negativ nützlich, ist eines gemein: Sie entwickeln ihre Schönheit und ihre Kraft, ihre Drohung und ihren Nutzen immer nur auf Zugbeanspruchung!

Druckbeanspruchung ist einfach nicht vorgesehen. Eine Kette, die völlig entspannt oder gar als funktionsloser Haufen herumliegt, versprüht den Charme von Langeweile und Lieblosigkeit. Nehme ich sie aber auf, lasse sie hängen oder beanspruche sie auf Spannung, entwickelt sie ihre ganze Pracht und Herrlichkeit. Von filigraner Anmut bis hin zu kraftstrotzender massiver Wucht reicht das Spektrum der Beschreibung.

Webartig ineinander verflochtene Ringe ließen sich zu Kettenhemden herstellen, die es schon im 4. Jahrhundert vor Chr. gab. Sie boten Schutz vor feindlichen Pfeilen und Schwertern. Und damit ist noch eine weitere Anwendung im Spiel, denn richtig genutzt bieten Ketten auch den Vorteil der Undurchdringbarkeit. Eine Undurchdringbarkeit, wie wir sie auch aus dem Sport kennen, wenn wir z.B wie im Fußball von einer Viererkette sprechen. Hier stehen vier Spieler fast auf einer Linie und versuchen, wie durch ein unsichtbares Band miteinander verbunden, die gegnerischen Reihen aufzuhalten. Ein flexibles Hin- und Herrochieren verlagert je nach Spielgeschehen das Zentrum der Verteidigung mal auf die rechte, mal auf die linke Seite, oder auch die Mitte, um dann, je nach Bedarf, in engem und auch wieder weiterem Abstand zu verteidigen.

Ketten werden in Abhängigkeit ihrer Verwendung dimensioniert und erhalten somit ihre Größe, Form, Breite und Materialzusammensetzung, immer mit dem Hinweis des Konstrukteurs zur Lastgrenze. Überschreite ich diese, so muss ich mich nicht wundern, wenn mir meine Kette versagt, sie reißt, und sie die Aufgaben, die ihr übertragen wurden, nicht mehr erfüllen kann.

Denkt man an Ketten, so hat man viele unterschiedliche Bilder im Kopf, man denkt an viele unterschiedliche Anwendungsfälle, wie zuvor aufgeführt. Doch selten kommt man auf den Gedanken, sich an den Klang einer Kette zu erinnern, wenn sie auf einem Haufen abgelegt oder auch von diesem Haufen aufgenommen wird. Oder das leise Surren eines gut geölten Gliederbandes. Wer einmal auf einem Vorschiff eines Hochseedampfers das Ablassen der Ankerkette miterlebt hat, das Ächzen der Ketten, wenn Metall auf Metall gleitet, man das Vibrieren des Schiffes durch die Dynamik des fallenden Ankers unter seinen Füßen spürt, das Geräusch der im Wasser verschwindenden Glieder in den Ohren dröhnt, der weiß, wie Ketten klingen können.

Wenn wir in freimaurerischem Brauch die Hand zum Bunde reichen und in die Kette der Brüderlichkeit eintreten, haben wir einiges von den Ketten, die ich soeben beschrieben habe.

Wir werden eine geschlossene, stille Kette bilden, eine Verbindung von Bruder zu Bruder, die in dem Augenblick des Zusammenstehens etwas Undurchdringbares hat. Mit den Gesichtern uns zugewandt, erleben wir einen kurzen Augenblick der Stärke, aufbauend auf dem Kontakt der Hände, einige eng zusammenstehend, andere an langem Arm, um die Verbindung zum Nächsten zu bekommen, den Bruder spürend, wie wir es im profanen Leben nicht erleben. Die Schönheit der Kette ergibt sich aus der Aneinanderreihung der Brüder, eine kurzzeitige körperliche Verbindung, bei der man den Eindruck gewinnt, dass sie für diesen kurzen Augenblick enorme Kräfte entwickelt und gleichzeitig äußeren Einflüssen widersteht.

Und der Wille jedes Einzelnen, ein bewusster Teil der Kette zu sein, lässt den Moment für mich nie zu lang werden; nie habe ich das Gefühl, dass ich ausbrechen möchte, nie beschleicht mich ein Unwohlsein, nie das Bedürfnis, mich aus der mir gebotenen Hand zu entwinden, um die Kette vorzeitig zu unterbrechen. Ein Individuum, das sich freut, Teil eines Ganzen und damit Glied und hier ganz deutlich, Mitglied, einer starken Bruderkette zu sein.

Lösen sich die Hände, so bleibt der Eindruck des festen Griffs, ich spüre die Wärme der Handflächen des Bruders durch den Handschuh; erst mit der Zeit verliert sich diese Wärme und der Händedruck, den ich noch zu spüren meine, ist mehr der Laune meines Gedächtnisses geschuldet.

Im Gegensatz zu der physischen geschlossenen Kettenbildung steht die Kette der Herzen, die die Brüder verbindet, eine offene – und doch geschlossene – Verbindung. Während wir in der Kette stehen, haben wir nur zu jeweils zwei Brüdern Kontakt, nämlich über unsere Hände. Eine typische 1:2-Verbindung. Die Verbindung der Herzen ist dagegen eine 1:n-Verbindung, wobei n mindestens die Anzahl der Logenmitglieder wiedergibt. Darüber hinaus gibt es die Verbindungen des einen oder anderen zu anderen Logen, die ich hier nicht betrachte.

Stellen wir uns wieder einen Kreis mit den Brüdern vor und stellen wir uns weiter vor, von jedem Herzen würde sich eine Ketten zu jedem Bruder ziehen lassen, so hätten wir ein dichtes Gebilde an Ketten, wir hätten ein Kettennetz, zwar unstrukturiert und wild, aber fest und widerstandsfähig. Und gleichsam wie beim schon beschriebenen Kettenhemd habe ich eine undurchdringliche verwobene Fläche. Die Ketten jedes einzelnen Bruders zu seinen Brüdern sind mal kürzer und mal länger, mal fester und mal lockerer, mal dünner und feiner und mal dicker und gröber. Aber nie sind sie gelöst, nie hängen lose Enden zum Boden und nie fällt einer der Brüder aus dem Netz. Und selbst wenn er in den ewigen Osten geht, bleibt die Verbindung. Sie wird mit fortschreitender Zeit lockerer, die Kettenglieder dünner und leichter, die Ketten länger und durchhängender; und doch bleibt der Bruder immer ein Teil des Netzwerkes.

Für den neu hinzukommenden Bruder ist diese Netzwelt noch unverständlich, wie auch mir sie zu Beginn meiner freimaurerischen Zeit nicht deutlich war. Hat er aber den Mut, sich in das Kettennetz fallen zu lassen, so kann er sicher sein, dass er aufgefangen wird, dass die Ketten der Herzen auch zu seinem Herz geknüpft werden und dass er, wenn eben noch im Netz liegend, selber bald ein fester Bestandteil des Netzwerkes wird. Ist er dazu bereit, so haben die bereits im Netzwerk etablierten Brüder den Mut, ihn aufzufangen und ihm einen Platz unter Ihresgleichen einnehmen zu lassen.

Dieser Prozess beginnt mit dem Eintritt in das freimaurerische Leben; ein Prozessende ist nicht in Sicht und genauso wie wir erst am rauen und später am kubischen Stein arbeiten, gehört auch das Knüpfen der Ketten zu den Brüdern zu dieser, unserer Arbeit. Da passiert nichts von allein, da wird uns nichts geschenkt.

Und so schließe ich meinen Beitrag und knüpfe an seinen Beginn mit den abgewandelten Worten: Frage nicht, was die Bruderkette für dich tun kann, sondern frage, was du für die Bruderkette tun kannst.