Traktat: Freimaurerei. Analysen, Überlegungen, Perspektiven: Unterschied zwischen den Versionen

Aus Freimaurer-Wiki
 
(Eine dazwischenliegende Version desselben Benutzers wird nicht angezeigt)
Zeile 1: Zeile 1:
'''Diese Seite ist viel zu groß und muss aufgegliedert werden. Wir bitten um Mitarbeit !'''
+
#REDIRECT[[Hans-Hermann Höhmann: Freimaurerei - Vorwort]]
  
== Freimaurerei. Analysen, Überlegungen, Perspektiven ==
+
[[Kategorie:Traktate|Freimaurerei]]
Prof. Dr. [[Hans-Hermann Höhmann]]
 
 
 
 
 
<poem>
 
Edition Temmen
 
Hans-Hermann Höhmann
 
Freimaurerei
 
Analysen, Überlegungen, Perspektiven
 
© Edition Temmen 2011
 
Hohenlohestr. 21 — 28209 Bremen
 
Tel. 0421-34843-0 — Fax 0421-348094
 
info@edition-temmen.de
 
www.edition-temmen.de
 
Alle Rechte vorbehalten
 
Gesamtherstellung: Edition Temmen
 
ISBN 978-3-8378-4028-5
 
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der
 
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
 
sind im Internet unter http://dnb.ddb.de abrufbar.
 
Umschlaggestaltung: LEAD COMMUNICATIONS GmbH & Co. KG, Köln
 
Zum Andenken an
 
Rudolf Friebe
 
Hermann Höhmann
 
Friedrich Heller
 
Inhalt
 
Vorwort 9
 
Zur Einführung
 
Freimaurerei in Deutschland: Ein Überblick im Kontext 12
 
von Geschichte, internationalen Entwicklungen und
 
freimaurerischen Konzeptionen
 
Zur neueren Geschichte der Freimaurerei in Deutschland
 
Europas verlorener Friede, die national-völkische 51
 
Orientierung innerhalb der deutschen Freimaurerei
 
und die »freimaurerische Erinnerungspolitik« nach
 
dem Zweiten Weltkrieg
 
Deutsche Freimaurerei nach 1945 – Wiederaufbau zwischen 88
 
Neuorientierung und alten Strukturen
 
Sozialwissenschaftliche Analysen zur Freimaurerei
 
Habitus, soziales Feld, Kapital – Freimaurerei im Lichte 115
 
der Soziologie Pierre Bourdieus
 
»The Means of Conciliating true Friendship« – 132
 
Freimaurerei als Sozialkapital
 
Diskurse und Betrachtungen zum Verhältnis zwischen Freimaurerei,
 
Politik, Kultur und Gesellschaft
 
Der deutsche Freimaurerdiskurs der Gegenwart: 152
 
Was ist, was will, was soll die Freimaurerei?
 
»Von Gott und der Religion« – Zum Religionsdiskurs 179
 
in der deutschen Freimaurerei
 
Vom Vorurteil zum Urteil: Der freimaurerische Bildungsweg 198
 
Bürgerliches Selbst- und Wertebewusstsein 209
 
als Zukunftsfaktor Europas
 
Analysen und Überlegungen zum Ritual der Freimaurer
 
Die Allgegenwart des Rituellen. Rituale, Ritualforschung, 224
 
Freimaurerei
 
»Des Maurers Wandeln, es gleicht dem Leben …« – 232
 
Überlegungen zur Symbol- und Ritualwelt der
 
Freimaurerei
 
Plädoyer für die Säule der Schönheit – 240
 
Zur ästhetischen Dimension der Freimaurerei
 
Begleiter der Zeit: 248
 
Engagement und Reflexion 1971–2010
 
Vier Thesen zur Erneuerung der Freimaurerei (1971) 249
 
Plädoyer für eine verantwortliche Freimaurerei – 254
 
Hat die Freimaurerei öffentliche Aufgaben und wie sollen
 
sie wahrgenommen werden? (1971)
 
Eine Großloge wird vorgestellt: Leitgedanken zu Standort 262
 
und Identität der Großloge der Alten Freien und
 
Angenommenen Maurer von Deutschland (1986)
 
1737–1987: Vergangene Hoffnungen einlösen! 266
 
250 Jahre Freimaurerei in Deutschland (1987)
 
Lessing und die Freimaurerei der Gegenwart (1991) 270
 
Herausforderung Deutschland. Überlegungen nach 276
 
der deutsch-deutschen Vereinigung (1991)
 
Enthusiasmus und Verantwortung – Zum 230. 281
 
Stiftungsfest der Loge »Anna Amalia zu den
 
drei Rosen« in Weimar (1994)
 
Regularität und Humanität: Freimaurerei vor 285
 
dem Jahr 2000 (1995)
 
Kulturpreis Deutscher Freimaurer: Kultur des 290
 
Erinnerns – Kultur der Kommunikation (1998)
 
Quatuor Coronati: neue Leitung – alte Aufgaben (1999) 296
 
Toleranz als politisches Prinzip und persönliche Tugend – 300
 
die Sicht eines Freimaurers (2000)
 
Lob eines Brückenbauers: 306
 
Dr. Alois Kehl zum 80. Geburtstag (2003)
 
»Ver Sacrum« – junge Loge in veränderter Zeit (2005) 311
 
Bürgerlicher Bund in nachbürgerlicher Gesellschaft (2008) 317
 
Dan Browns »Verlorenes Symbol«: 323
 
Freimaurerei zwischen Fiktion und Wirklichkeit (2010)
 
9
 
Vorwort
 
Seit 1958 gehöre ich dem Freimaurerbund an. Er hat mich durch mein erwachsenes Leben
 
begleitet, ich verdanke ihm menschliche Begegnung, moralische Orientierung, spirituelle
 
Bereicherung und immer wieder Anstöße für die Suche nach dem Weg zu mir selbst.
 
Ich bin immer ein aktiver Freimaurer gewesen und habe mich oft und gern einbinden
 
lassen in das brüderliche Mitgestalten meiner Loge »Ver Sacrum«, der »Großloge der Alten
 
Freien und Angenommenen Maurer von Deutschland«, der »Vereinigten Großlogen von
 
Deutschland« und der Freimaurerischen Forschungsgesellschaft (Forschungsloge) »Quatuor
 
Coronati«. Mit besonderer Freude habe ich nach der deutsch-deutschen Vereinigung im
 
Jahre 1990 am Wiederaufbau der Freimaurerei in den neuen Bundesländern mitgewirkt.
 
Für all diese Handlungsfelder habe ich immer wieder versucht, Überlegungen anzustellen,
 
Gedanken zu formulieren und Konzepte zu erarbeiten, einmal, um mir selbst über
 
mein Grundverständnis der Freimaurerei als eines ethisch orientierten Bundes mit einer
 
symbolischen Einübungs- und Erfahrungsmethode klar zu werden, zum anderen, um
 
brauchbare Grundlagen für das Gespräch mit meinen Mitbrüdern und den Repräsentanten
 
der Öffentlichkeit zur Verfügung zu haben. Denn Freimaurerei entfaltet sich im Diskurs,
 
und »nichts geht über das laut denken mit einem Freunde« (Lessing).
 
Zu diesen »Überlegungen« und »Kommentaren« sind im Laufe der Jahre immer mehr
 
»Analysen« hinzugekommen. Als »gelernter« Sozialwissenschaftler mit einer ausgeprägten
 
Affinität zu historischer Betrachtung habe ich insbesondere die Zeit nach dem Ausscheiden
 
aus Forschungsinstitut und Universität genutzt, um analytische Beiträge zum Verhältnis
 
von Freimaurerei und Gesellschaft in Deutschland zu erarbeiten.
 
Drei Problemkreise haben mich dabei besonders beschäftigt:
 
• die Voraussetzungen, die eine Freimaurerei zu erfüllen hätte, die auch in der heutigen Gesellschaft
 
attraktiv sein und verstanden werden will,
 
• das spezifische Verhältnis zwischen Freimaurerei und gesellschaftlichem Wandel, das diese
 
Attraktivität offenbar nicht so recht zustande kommen lässt, sowie
 
• die problematische Geschichte der deutschen Freimaurerei in der ersten Hälfte des 20.
 
Jahrhunderts und ihre unzureichende Aufarbeitung in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg.
 
Hier ließ mich das kollektive Wegschauen großer Sektoren der deutschen Freimaurerei gegenüber
 
mancherlei völkischen Verirrungen nicht ruhen, und ich empfand es zunehmend
 
schlicht als peinlich, unbequeme historische Wahrheiten immer nur von externen Wissenschaftlern,
 
also Nicht-Freimaurern, beschrieben und analytisch erörtert zu sehen.
 
So sind im Laufe der Jahre weit über 100 Texte zur Freimaurerei entstanden, die verstreut,
 
teilweise auch im Ausland, veröffentlicht wurden. Der vorliegende Band, um dessen
 
Zusammenstellung ich von vielen Freunden und auch von externen Kollegen immer
 
wieder gebeten wurde, enthält eine Auswahl dieser Veröffentlichungen. Die Beiträge sind
 
aus einer prinzipiell zustimmenden Haltung heraus geschrieben, sie sprechen aber auch
 
manchen blinden Fleck, ja manches Tabu an, denn wer es gut meint mit der Freimaurerei,
 
darf darüber nicht hinwegsehen. Alle analytischen Beiträge des Bandes wurden gründlich
 
10
 
überarbeitet und größtenteils wesentlich erweitert, sodass sie nicht mehr mit den ersten
 
Fassungen identisch sind.
 
Der Verweis auf »Perspektiven« im Untertitel des Buches ist gewählt worden, um zweierlei
 
zum Ausdruck zu bringen:
 
Zum Ersten geht es um die Perspektive des Autors selbst, der seine brüderliche Heimat
 
in einer ethisch-orientierten, der Aufklärung verpflichteten, in den Basisgraden der Freimaurerei
 
beschlossenen, zugleich symbolisch-rituell fundierten und auf spirituelles Erleben
 
ausgerichteten Freimaurerei gefunden und bewahrt hat. Viele Beiträge sind aus dieser eigenen
 
konzeptionellen Perspektive heraus verfasst, zumal es meine Überzeugung ist, dass nur
 
mit einem überzeugenden Konzept ethisch-orientierter Freimaurerei die Integration des
 
Bundes in die Gesellschaft und eine widerspruchsfreie Kommunikation mit der Öffentlichkeit
 
gelingt, bei der nicht Teile des Bundes als schwer vermittelbar verborgen werden
 
müssen.
 
Zum anderen geht es um die vielen Perspektiven der »anderen« bezüglich der Freimaurerei,
 
auf die jeder Beobachter stößt, der sich mit dem Freimaurerbund beschäftigt.
 
Seit ihrer Begründung zu Beginn des 18. Jahrhunderts existierte ja immer nicht allein
 
nur eine Freimaurerei (Singular). Es gab stets viele Freimaurereien (Plural), sowohl in der
 
gesellschaftlichen Realität als auch in den Vorstellungen und Perzeptionen der Mitglieder
 
im Inneren des Bundes und bei den vielen, die ihn teils freundlich, teils unfreundlich,
 
teils durch Verschwörungsparanoia verzerrt seit Beginn von außen betrachtet haben. Von
 
Anfang an war Freimaurerei immer auch ein Produkt unterschiedlicher gesellschaftlicher
 
Wahrnehmung, sie war ein »Raum, in dem vieles möglich war«, wenn dieser Raum auch
 
durch »wieder erkennbare Strukturen und Regeln« (Monika Neugebauer-Wölk) gekennzeichnet
 
wurde.
 
Zu den unterschiedlichen Perspektiven hinsichtlich der Frage, »was Freimaurerei eigentlich
 
ist«, kommen Phänomene von Bedeutungsvergrößerung in den Innen- und Außensichten
 
hinzu. Von innen erscheint Freimaurerei nicht selten als Inbegriff des Humanen,
 
als Bund, der – wie es dann gern heißt – umgehend begründet werden müsste, wenn es ihn
 
nicht schon lange gäbe. Von außen haben sich die Blow-up-Effekte der Verschwörungsvorstellungen
 
perpetuiert, die die Freimaurerei von Anfang an über ihre natürliche Größe
 
hinaus dämonisierten – notfalls unter Zuordnung mächtiger Kampfgenossen wie der Juden
 
und der Jesuiten – und die den Bund über die Ludendorffs und Rosenbergs bis in die
 
Feuilletons heutiger großer Tageszeitungen hinein begleitet haben.
 
Für einen freimaurerischen Autor, der sich der unterschiedlichen Formen der Freimaurerei
 
und der Ambivalenz der Perzeptionen bewusst ist, bleibt nur, sich zur eigenen
 
Perspektivität zu bekennen und zugleich zu versuchen, eigenen Vorurteilen nicht allzu
 
sehr zu erliegen und analytisch möglichst nahe an die »Freimaurereien der Wirklichkeit«
 
heranzukommen.
 
Herzlich danke ich Christian Meier, Marcus Meyer, Norbert Mülleneisen und Günter
 
Wolf, die das Manuskript oder Teile davon kritisch gelesen und mir bei der Materialbeschaffung
 
geholfen haben. Ihre Kritik und Vorschläge waren hilfreich für mich, doch es
 
versteht sich von selbst, dass die Verantwortung für den endgültigen Text voll beim Autor
 
verbleibt. Dem Verlag Edition Temmen danke ich für die Aufnahme des Buches in sein Verlagsprogramm
 
und der Forschungsloge »Quatuor Coronati«, die in einem ganz besonderen
 
11
 
Sinne meine brüderliche Heimat und maurerische Inspirationsquelle ist, für die nachhaltige
 
Förderung der Publikation.
 
Gewidmet ist dieser Band der Erinnerung an drei Brüder, die meinen Weg in die Freimaurerei
 
wesentlich geprägt haben: an meinen Großvater Rudolf Friebe, dessen zugewandte
 
Mitmenschlichkeit mich beeindruckt hat, lange bevor ich wusste, dass er ein engagierter,
 
gesinnungstreuer und mutiger Freimaurer war, an meinen Vater Hermann Höhmann, mit
 
dem ich viel über Freimaurerei gesprochen habe, der dennoch nie versucht hat, Einfluss
 
auf die Entwicklung meiner eigenen Vorstellungen auszuüben und dessen fast ausschließlich
 
freimaurerischer Freundeskreis mir viele prägende und anhaltende Eindrücke von der
 
spezifischen Lebenskultur des Bundes vermittelte, sowie an meinen Freund und Bürgen
 
Friedrich Heller, den späteren VGLvD-Großmeister, der mich in den Bund aufgenommen
 
hat und mit dem das »Laut denken mit dem Freunde« bereits vor meiner Aufnahme begann.
 
Köln, im Januar 2011
 
Hans-Hermann Höhmann
 
12
 
Freimaurerei in Deutschland:
 
Ein Überblick im Kontext von Geschichte,
 
internationalen Entwicklungen und
 
freimaurerischen Konzeptionen
 
»Sieh, Konstant, so steht es mit dem Orden, dessen Geheimnis Du ergründen willst; über
 
den Verfolgung und Spott, Unwissenheit und Verrat nichts vermögen. So wie man zuweilen
 
im Spaß gesagt hat: Das größte Geheimnis der Freimaurer ist, dass sie keins haben; so
 
kann man mit Recht sagen: das offenbarste und dennoch geheimste Geheimnis der Freimaurer
 
ist, dass sie sind und fortdauern. Denn – was ist es doch, was kann es doch sein,
 
das alle Menschen von der verschiedensten Denkart, Lebensweise und Bildung zusammen
 
verbindet und unter tausend Schwierigkeiten, in dieser Zeit der Erleuchtung und
 
Erkaltung, beieinander erhält?«
 
Johann Gottlieb Fichte: Philosophie der Maurerei. Briefe an Konstant
 
Vorbemerkung
 
Freimaurerei ist ein weltweiter Freundschaftsbund, und gilt – so die Internetseiten vieler USamerikanischer
 
Großlogen – als »the largest and oldest fraternity in the world«.1 Freimaurerei
 
stellt aber auch eine spezifische symbolisch-rituelle Lehr- und Erfahrungsmethode dar,
 
die von Anfang an auf Einübung einer ethisch fundierten Art und Weise der Lebensführung
 
angelegt war: »A Mason is oblig’d, by his Tenure, to obey the moral Law« hieß es bereits in
 
den »Andersons Konstitutionen« von 1723, und eine spätere, viel zitierte Definition, ebenfalls
 
aus der englischen Freimaurerei, nahm diesen Gedanken auf: »Freemasonry is a peculiar
 
system of morality, veiled in allegory, and illustrated by symbols«. Freimaurerei versucht
 
dabei, die gesellige, die intellektuelle und die emotionale Seite des Menschen gleichermaßen
 
anzusprechen. Verstand und Gefühl werden nicht getrennt, und insbesondere die in den Logen
 
geübte Ritualpraxis soll dazu beitragen, Einsichten in Lebenswirklichkeiten gleichzeitig
 
denkend und fühlend zu gewinnen.
 
Freimaurerei stellt allerdings keine Einheit dar. Von Beginn an gab es unterschiedliche
 
Erscheinungsformen des Freimaurerbundes, die sich – mit der Entwicklung von Hochgradsystemen
 
– vor allem in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts weiter ausdifferenziert
 
haben. Viele damit verbundene Forschungsfragen sind bisher unbeantwortet, doch
 
hat besonders seit den 1950er Jahren eine intensive multidisziplinäre wissenschaftliche
 
Beschäftigung mit der Freimaurerei eingesetzt, an der in zunehmendem Maße auch Wissenschaftler
 
an Universitäten und Forschungsinstituten teilnehmen, die selbst nicht dem
 
Freimaurerbund angehören. In Deutschland sind die wichtigsten dieser Forscherinnen und
 
1 So z.B. Grand Lodge of Michigan, www.gl-mi.org.
 
13
 
Forscher am »Netzwerk Freimaurerforschung« beteiligt, das im Jahre 2001 in Anlehnung
 
an die Universität Bielefeld begründet wurde.2
 
Der folgende einleitende Beitrag des Bandes soll die historisch-analytische Basis für die
 
folgenden Untersuchungen und Überlegungen schaffen. Er verbindet zentrale Gesichtspunkte
 
der freimaurerischen Geschichte und Ritualistik mit analytischen Gesichtspunkten
 
und Hypothesen zum Verständnis der sozialen Struktur des Freimaurerbundes und einem
 
Aufriss von Selbstverständnis, Problemen und Entwicklungstendenzen der deutschen Freimaurerei
 
am Beginn des 21. Jahrhunderts.
 
Zentrale Aspekte der Geschichte des Freimaurerbundes
 
Der folgende Abschnitt beansprucht nicht, die Geschichte des Freimaurerbundes zusammenfassend
 
oder gar detailliert zu beschreiben. Er ist vielmehr auf ein Aufzeigen und Erörtern
 
von Aspekten angelegt, die mir für die Beurteilung von Entstehung und Entwicklung
 
der Freimaurerei wichtig erscheinen. Der Freimaurerbund ist ein Produkt der Moderne. Entwicklungsanstöße
 
und Strukturmaterial aus der älteren Geschichte aufnehmend, entstand
 
er als soziale Gruppierung von Gewicht zu Beginn des 18. Jahrhunderts in England und
 
blickt inzwischen auf eine Entwicklung von fast 300 Jahren zurück. Die Vorgeschichte des
 
Bundes reicht weiter zurück und beginnt mit den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen
 
Steinmetzbruderschaften und deren Bauhütten, aus denen (und unter Bezug auf die) sich
 
nach 1717, dem Jahr der ersten Großlogengründung, fast explosionsartig die modernen Freimaurerlogen
 
entwickelten. Die Einzelheiten dieser »großen Transformation« von den Bauhütten
 
der Steinmetze zu den Logen der »Gentlemen Masons« liegen immer noch im Dunkel
 
der Geschichte und sind Gegenstand wissenschaftlicher Hypothesen sowie vielfältiger
 
Spekulationen. Insbesondere ist noch nicht hinreichend geklärt, ob und inwieweit es sich
 
bei dem, was später als »Esoterik der Freimaurerei« bezeichnet werden sollte, um das Ergebnis
 
eines allmählichen, durch die Bauhütten des Mittelalters und der frühen Neuzeit vermittelten
 
Einfließens alter Denkformen und Symbole in die Freimaurerei hinein handelt oder
 
ob das zunehmende Gewicht der Esoterik in der Maurerei der zweiten Hälfte des 18. und
 
der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Resultat eines großen Prozesses des Einsammelns hermetischer,
 
symbolischer und gedanklicher Elemente aus der Kultur- und Religionsgeschichte
 
des Abendlandes gewesen ist und insofern mehr mit Rückprojektionen als mit Kontinuitäten
 
zu tun hat.
 
Die wissenschaftliche Aufarbeitung der freimaurerischen Vergangenheit wird nicht nur
 
durch die oft spärliche Quellenlage erschwert, vor allem, was die Praxis der frühen Freimaurerei
 
betrifft. Hinzu kommt, dass quellengestützte Forschungsergebnisse nicht selten durch
 
Entstehungslegenden überlagert werden, die aus der Freimaurerei selbst stammen. John
 
2 Das Netzwerk Freimaurerforschung wurde im Rahmen des Forschungsprojekts »Deutsche Freimaurerei
 
der Gegenwart – Zur Wechselwirkung von (post)moderner Geselligkeit und bürgerlicher Gesellschaft«
 
an der Universität Bielefeld eingerichtet und von folgenden Forscherinnen und Forschern initiiert: Prof.
 
Dr. Jörg Bergmann (Bielefeld), Prof. Dr. Klaus Hammacher (Aachen), Prof. Dr. Hans-Hermann Höhmann
 
(Köln), Dr. Stefan-Ludwig Hoffmann (Bochum), Dr. Florian Maurice (München), Prof. Dr. Monika
 
Neugebauer-Wölk (Halle-Wittenberg), Prof. Dr. Linda Simonis (Köln) und Prof. Dr. Jan Snoek
 
(Heidelberg). Homepage: http://www.freimaurerforschung.de/.
 
14
 
Hamill unterscheidet in seiner Geschichte der englischen Freimaurerei3 »authentische«
 
(wissenschaftliche) Schulen, die sich auf die Analyse überprüfbarer Fakten stützen, von
 
»nicht-authentischen« Schulen. Letztere setzen die Freimaurerei unzulässigerweise durch
 
Rückschlüsse aus dem, was später – insbesondere in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts
 
– zur Freimaurerei, vor allem zur Freimaurerei von Hochgradsystemen, geworden ist,
 
in eine direkte Beziehung zu Religionen, Mysterien, Kulten und hermetisch-esoterischen
 
Traditionen vergangener Jahrhunderte. Generell sind die Freimaurer immer in der Versuchung
 
gewesen, die Wurzeln der von ihnen in der jeweiligen freimaurerischen Gegenwart
 
gewollten Form der Freimaurerei in der Vergangenheit zu entdecken, um sie hierdurch zu
 
legitimieren.
 
Fest steht jedoch, dass die Symbole und Rituale der Freimaurer, die bis auf den heutigen
 
Tag in den Logen zur Anwendung kommen, in erster Linie den Formen- und Ideenwelten
 
der europäischen Bautradition, ihren organisatorischen Zusammenschlüssen, ihren Legenden
 
(Salomonischer Tempelbau, Baumeister Hiram, Märtyrerlegende der »Quatuor Coronati
 
«) sowie den Verfahren der Mitglieder der Bauhütten, sich gegenseitig als Maurer zu
 
erkennen, entstammen und damit insgesamt der Vorgeschichte der Freimaurerei angehören.
 
Dabei sind neben den englischen vor allem die schottischen Traditionen von besonderer
 
Bedeutung gewesen. David Stevenson hat in seiner grundlegenden Studie zu den Ursprüngen
 
der Freimaurerei darauf hingewiesen, dass wesentliche Elemente des Bundes – die
 
vor der Öffentlichkeit verborgenen Rituale, die geheimen Modalitäten der gegenseitigen
 
Erkennung als Maurer, die feierlichen Initiationen neuer Mitglieder sowie die Aufnahme
 
von Nichtmaurern in die Logen – neben praktischen Regeln für die Ausübung des Gewerbes
 
und sozialen Einrichtungen – bereits Mitte des 17. Jahrhunderts für die schottischen
 
Logen nachweisbar sind.4 Stevenson hat weiter deutlich gemacht, dass innerhalb der Rituale
 
neben der Bausymbolik auch esoterische Vorstellungen an Bedeutung gewannen, die
 
auf hermetische Traditionen der Renaissance zurückzuführen sind. Nicht zuletzt deshalb
 
stieß die Freimaurerei schon in ihrer Formierungsphase auf Widerstand von Vertretern
 
und Institutionen der etablierten christlichen Kirchen. Es ist allerdings wohl anzunehmen,
 
dass die frühe Hermetik in den Logen der schottischen Freimaurer nicht direkt zu den
 
mit allerlei zusätzlicher Symbolik rituell aufgefüllten Hochgradsystemen führte, die in der
 
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts populär wurden.5 Einmal war die Hermetik in den
 
frühen schottischen Logen Bestandteil einer organisatorisch einfachen, noch nicht einmal
 
dreigradigen Freimaurerei gewesen, zum anderen hatte sie sich über längere historische
 
Perioden hinweg entwickelt und war insofern überlieferungsverbunden und nicht bewusst
 
angeeignet. Deshalb kann sie auch als wesentlich authentischer gelten als die nicht selten
 
gesuchte und willkürlich anmutende Esoterik in den Symbol- und Ritualkreationen der
 
Hochgradsysteme des späten 18. Jahrhunderts. Hermetik und Alchemie, Wahrheitssuche
 
3 Hamill, John: The Craft. A History of English Freemasonry, Great Britain Crucible 1986, S. 15–25. Great
 
Britain Crucible 1986.
 
4 Stevenson, David: The Origins of Freemasonry, Cambridge 1998.
 
5 »In der Freimaurergesellschaft scheint Hermes Trismegistos in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts
 
noch keine bedeutende Rolle zu spielen. Salomons Tempel oder die Tempelritter sind die wichtigsten
 
historischen Bezüge. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ändert sich das grundsätzlich.« Ebeling,
 
Florian: Das Geheimnis des Hermes Trismegistos. Geschichte des Hermetismus. Mit einem Vorwort
 
von Jan Assmann, München 2005, S. 161.
 
15
 
in religiösem Eklektizismus, Hoffnung auf einen »Consensus der Religionen«, all das hatte
 
ja für die Intellektuellen der Spätaufklärung eine beträchtliche Faszinationskraft, nicht als
 
feste dogmatische Lehre, sondern als »Sammelbecken unterschiedlicher nichtorthodoxer
 
Bild- und Gedankenfiguren«,6 die an die Stelle eines orthodoxen Christentums treten konnten.
 
In diesem Kontext schreibt etwa Goethe im achten Buch seiner Erinnerungsschrift
 
»Dichtung und Wahrheit«:
 
»Ich studierte fleißig die verschiedenen Meinungen, und da ich oft genug hatte sagen
 
hören, jeder Mensch habe am Ende doch seine eigene Religion, so kam mir nichts
 
natürlicher vor, als dass ich mir auch meine eigene bilden könne, und dieses that ich
 
mit vieler Behaglichkeit. Der neue Platonismus lag zum Grunde; das Hermetische,
 
Mystische, Kabbalistische gab auch seinen Beitrag her, und so erbaute ich mir eine
 
Welt, die seltsam genug aussah.«7
 
Es kann wohl auch davon ausgegangen werden, dass es den Übergang von der »operativen«
 
(bauhandwerklichen) zur »spekulativen« (symbolisch-philosophischen) Freimaurerei in der
 
bisher angenommenen Form als einer, vor allem auf das 17. Jahrhundert datierten zeitlichen
 
Abfolge nicht gegeben hat. Die Bauhütten waren bereits lange vor dem Entstehen der Freimaurerei
 
als moderner Sozialform »spekulativ«, und gerade dies hat die berufsfremden Außenstehenden,
 
die in zunehmender Zahl als »Angenommene Maurer« (»accepted masons«)
 
hinzukamen, stark angezogen. Ernst Bloch etwa hat auf die Bedeutung der über Rohstoffe,
 
Technik und Zwecke der Bauten, insbesondere auch der sakralen Bauten, hinausgehenden
 
Bauideen und Bausymbole, das in den Bauhütten lebendige »Kunstwollen«, im Architekturkapitel
 
(»Bauten, die eine bessere Welt abbilden, architektonische Utopien«) seines monumentalen
 
Werkes »Das Prinzip Hoffnung« hingewiesen:
 
»Damals war ein anderes Kunstwollen am Werk als das der sogenannten Zweckkunst,
 
und weil es ein Kunst-Wollen war, zeigte es außer Rohstoff, Technik, Zweck die wichtigste
 
Bestimmung: die der Phantasie. Es war hier diejenige der kanonischen Bauvollkommenheit,
 
im Hinblick auf ein geglaubtes symbolisches Vorbild. Dieses Vorbild
 
leitete gerade die Ausführung des Werks, nicht nur, wie der Archetyp, seinen Traum
 
und Plan ante rem, es gab den Meisterregeln selber die Regel. Daher war das jeweilige
 
große architektonische Kunstwollen das gleiche wie die jeweilige Symbolintention,
 
die in der Ideologie des alten Bauhandwerks traditionell wirksam war. Diese Intention
 
aber suchte mit Dreieck und Zirkel ›den Maßen eines als vorbildlich imaginierten
 
Daseins-Baus überhaupt abbildlich näherzukommen‹« (Hervorhebung von
 
E. Bloch).8
 
6 Hermetik, Eklektik, Consensus, www.jgoethe.uni-muenchen.de/…/hermetik.html, download 17.03.2011.
 
7 Goethe, Johann Wolfgang: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, Zweiter Teil, Achtes Buch, in:
 
Heinemann, Karl: Goethes Werke, Zwölfter Band, Leipzig und Wien o.J., S. 387.
 
8 Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung, Zweiter Band, Frankfurt am Main 1982, S. 837. Blochs Verhältnis
 
zur Freimaurerei ist ambivalent: »Wie bekannt, gebraucht die Maurerei sowohl die Abzeichen des Baugewerks
 
wie vor allem: sie phantasiert ihre Geschichte durch die gesamte Baugeschichte hindurch. Es
 
ist höchst unwahrscheinlich, daß diese bürgerlich-edelmännische Verbrüderung selber … aus der Werkmaurerei
 
hervorgegangen ist. Aber es ist noch unwahrscheinlicher, daß sie die grundlegende architektonische
 
Gleichnis-Spielerei, die sie gebraucht, rein aus sich heraus erfunden hat.« Ebenda, S. 838f.
 
16
 
Die Tatsache, dass bereits im 17. Jahrhundert Logen im späteren Sinne existierten, deutet
 
darauf hin, dass der Bund aus historischen Kontinuitäten hervorgegangen ist, und dass es
 
insofern nur bedingt zutreffend ist, den meist genannten Stichtag für den Übergang von
 
der Vorgeschichte zur Geschichte der Freimaurerei, den 24. Juni 1717, als sich vier Londoner
 
Logen zur ersten Großloge der Welt zusammenschlossen, als Gründungsdatum der modernen
 
Freimaurerei herauszustellen, ganz abgesehen davon, dass kaum belastbare Quellen für
 
Datum und Ereignis vorhanden sind.9 Dennoch war die Londoner Gründung von großer, ja
 
ausschlaggebender Bedeutung für die weitere Entwicklung der Freimaurerei. Denn mit der
 
Großloge von London und Westminster begann die logenübergreifende Institutionalisierung
 
und inhaltliche Ausrichtung der Freimaurerei, die die organisatorischen und konzeptionellen
 
Grundlagen für die nun einsetzende dynamische Entwicklung der Freimaurerei in
 
England und sehr bald auch über England hinaus geschaffen hat. Die Londoner Großloge
 
gab sich 1723 ihre erste Verfassung, die nach ihrem Verfasser, dem aus Schottland stammenden
 
presbyterianischen Geistlichen James Anderson, die »Andersonschen Konstitutionen
 
« genannt werden, konzeptionell aber sehr wesentlich auf den eigentlichen Vater der
 
modernen Freimaurerei, John Theophilius Desaguliers (1683–1744) zurückgehen.10 Desaguliers
 
wurde 1719 zum dritten Großmeister der Londoner Vereinigung gewählt. Er war französischer
 
Emigrant und protestantischer Geistlicher, gehörte zum Freundeskreis von Isaac
 
Newton, war als Naturphilosoph Mitglied der Londoner »Royal Society« und führte dem
 
Freimaurerbund mit dem Herzog John von Montague den ersten bedeutenden Vertreter des
 
englischen Hochadels zu, der dann selbst 1721 Großmeister wurde.
 
In Deutschland sind die »Andersonschen Konstitutionen« als die »Alten Pflichten«
 
bekannt und richtungweisend geworden.11 Programmatisch ist vor allem die erste dieser
 
Pflichten mit der Überschrift: »Von Gott und der Religion«:
 
»Der Maurer ist als Maurer verpflichtet, dem Sittengesetz zu gehorchen; und wenn
 
er die Kunst recht versteht, wird er weder ein engstirniger Gottesleugner, noch ein
 
bindungsloser Freigeist sein. In alten Zeiten waren die Maurer in jedem Land zwar
 
verpflichtet, der Religion anzugehören, die in ihrem Lande oder Volke galt, heute
 
jedoch hält man es für ratsamer, sie nur zu der Religion zu verpflichten, in der alle
 
Menschen übereinstimmen, und jedem seine besonderen Überzeugungen selbst zu
 
belassen. Sie sollen also gute und redliche Männer sein, Männer von Ehre und Anstand,
 
ohne Rücksicht auf ihr Bekenntnis oder darauf, welche Überzeugungen sie
 
sonst vertreten mögen. So wird die Freimaurerei zu einer Stätte der Einigung und
 
zu einem Mittel, wahre Freundschaft unter Menschen zu stiften, die einander sonst
 
ständig fremd geblieben wären.«
 
Die »Alten Pflichten« enthalten tatsächlich die bis in die Gegenwart gültigen Grundlagen
 
der Freimaurerei: Die moralische Verpflichtung des Maurers, den von ihm geforderten Ha-
 
9 Hinweise finden sich in der zweiten Ausgabe der »Konstitutionen« von 1738.
 
10 Vgl. hierzu und zum folgenden Voges, Michael: Aufklärung und Geheimnis. Untersuchungen zur Vermittlung
 
von Literatur- und Sozialgeschichte am Beispiel der Aneignung des Geheimbundmaterials im
 
Roman des späten 18. Jahrhunderts, Tübingen 1987, S. 24.
 
11 Eine Wiedergabe der »Alten Pflichten« findet sich in: Lennhoff, Eugen/Posner, Oskar/Binder, Dieter
 
A.: Internationales Freimaurer Lexikon, München 2000, S. 16–23.
 
17
 
bitus von Ehre und Anstand, den Verzicht auf trennende religiöse Festlegungen und die Praxis
 
der Toleranz als Grundlage von Einigkeit und Freundschaft.
 
Nach der Gründung der ersten Londoner Großloge im Jahre 1717, zu der 1751 eine
 
zweite, die »Grand Lodge of Ancients« hinzukam12, erfolgte eine stürmische Entwicklung
 
der Freimaurerei. In England, Schottland und Irland – als den Heimatländern der modernen
 
Freimaurerei – wuchs die Zahl der Logen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts auf über
 
1000 an.13 Schnell griff die Freimaurerei auf die überseeischen Gebiete Großbritanniens
 
über, insbesondere auf die amerikanischen Kolonien, die späteren Vereinigten Staaten. 1733
 
wurde von England aus die Provinzial-Großloge von Massachusetts in Boston eingesetzt.
 
Wenige Jahrzehnte später sollten Freimaurer in der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung
 
sowie der Verfassungsgeschichte der USA eine führende Rolle spielen.14
 
Auch auf dem europäischen Kontinent breitete sich die Freimaurerei rasch aus. Wie in
 
England fanden die Ideen, Organisationsformen und Symbole des Bundes eine große Resonanz.
 
Selbst der schon früh einsetzende Widerstand der katholischen Kirche konnte seine
 
Ausbreitung nicht verhindern, zumal die päpstlichen Verurteilungen nicht in allen Bistümern
 
veröffentlicht wurden und viele hochrangige katholische Geistliche dem Freimaurerbund
 
angehörten. Das erste Land außerhalb Großbritanniens, in dem die Freimaurerei
 
auf breiter Basis Fuß fasste, war Frankreich. Spuren von Logengründungen in Paris lassen
 
sich bis in das Jahr 1725 zurückverfolgen. Aufklärerische Diskursfreude, später aber auch
 
die Neigung zu phantasievollen Hochgradsystemen, waren kennzeichnend für die weitere
 
Entwicklung der französischen Freimaurerei. Bedeutsam war auch die Entwicklung der
 
Freimaurerei in den Niederlanden, wo nach 1731 zahlreiche Logen entstanden. In diesem
 
Jahr war im Haag Herzog Franz Stephan von Lothringen, später Ehegatte Maria Theresias
 
und als Franz I. römisch-deutscher Kaiser, von einer Deputation hochrangiger englischer
 
Freimaurer in den Freimaurerbund aufgenommen worden.
 
Die erste Loge in Deutschland entstand 1737 in Hamburg (Loge en Hambourg, seit
 
1743 »Absalom«, heute »Absalom zu den drei Nesseln«). Bald folgten Logengründungen in
 
Dresden, Berlin, Bayreuth und Leipzig. Der preußische Kronprinz Friedrich (der spätere
 
Friedrich der Große) wurde bereits 1738 in die Freimaurerei aufgenommen. Die quantitative
 
Dynamik der deutschen Freimaurerei war bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts
 
hinein beträchtlich. In Deutschland, im »alten Reich«, wurden in den ersten 50 Jahren der
 
Existenz
 
von Logen, d.h. von 1737 bis 1787, rd. 400 Logen gegründet, in denen ca. 25.000
 
Mitgliederaufnahmen stattfanden. Zu einer weiteren Gründungswelle kam es im (neuen)
 
Deutschen Reich nach 1871. So entstanden zwischen 1871 und 1925 weitere 300 Logen,
 
und die Zahl der Mitglieder aller deutschen Logen erreichte Mitte der 1920er Jahre ihren
 
Höchststand mit über 80.000. Dabei dominierten die »altpreußischen« Großlogen mit
 
annähernd 70 Prozent der deutschen Freimaurer. Zwar hatte der Zusammenbruch der
 
12 Die Großloge der »Ancients« beanspruchte die größere freimaurerische Legitimität für sich und nannte
 
die Gründung von 1717 abwertend Großloge der »Moderns«. Im Jahre 1813 schlossen sich beide Großlogen
 
zur »United Grandloge of England« zusammen, in der die Tradtion der »Ancients« dominierte.
 
13 Vgl. Clark, Peter: British Clubs and Societies 1580–1800. The Origins of an Associational World, New
 
York 2000, S. 309–349.
 
14 Vgl. Bullock, Steven C: Revolutionary Brotherhood – Freemasonry and the Transformation of the American
 
Social Order 1730–1840, Chapel 1996; Hodapp, Christopher: Solomon’s Builders: Freemasons,
 
Founding Fathers and the Secrets of Washington D.C., Berkeley CA 2007.
 
18
 
Hohenzollern-Monarchie kaum negativen Einfluss auf die Expansion der Großlogen – der
 
Zustrom zu den Logen war vielmehr nach 1918 besonders stark –, doch führte die Loyalität
 
mit den untergegangenen königlichen Protektoren bei einer generell vorwiegend nationalkonservativen
 
Einstellung der meisten deutschen Freimaurer zu einer oft feindlichen,
 
bestenfalls abwartend indifferenten Einstellung zur Weimarer Republik.15 Gleichzeitig war
 
das deutsche Großlogensystem stark zersplittert. 1933 – vor dem Untergang in der NS-Zeit
 
– bestanden in Deutschland elf Großlogen, von denen allerdings zwei – der Freimaurerbund
 
zur Aufgehenden Sonne und die Symbolische Großloge von Deutschland – von den
 
anderen nicht als regulär anerkannt wurden.16
 
Die soziale Zusammensetzung der deutschen Logen war durch den dominierenden
 
Anteil des »gehobenen Bürgertums« bestimmt (Beamte und – oft ehemalige – Offiziere;
 
Wissenschaftler, Lehrer, Künstler; Unternehmer, Banker, leitende Angestellte). Die religiöse
 
Struktur war vorwiegend protestantisch: Die Loge »Apollo« in Leipzig z.B. hatte im
 
Jahre 1906 89,2 Prozent evangelisch-lutherische, 3,2 Prozent katholische und 6,0 Prozent
 
jüdische Mitglieder.17 Die jüdischen Mitglieder in »humanitären« Großlogen beliefen sich
 
– so ermittelte und schrieb der »Verein deutscher Freimaurer« in einer Erwiderungsschrift18
 
auf Ludendorffs Antifreimaurerpamphlet »Vernichtung der Freimaurerei durch Enthüllung
 
ihrer Geheimnisse« – Ende der zwanziger Jahre auf ca. 3000. Bei 24.000 Mitgliedern der
 
»humanitären« Großlogen in Deutschland würde dies einen beträchtlichen jüdischen Anteil
 
bedeuten und unterstreichen, wie sehr sich deutsche Juden vor der Nazi-Katastrophe
 
als deutsche Bürger fühlten und an Assoziationen des deutschen Bürgertums Anteil hatten.
 
Freimaurerei als gesellschaftliches Erfolgsmodell – warum?
 
Die für die dynamische Entwicklung der modernen Freimaurerei in den ersten Jahrzehnten
 
nach ihrer Begründung bestimmenden Faktoren lassen sich mit den Stichworten »historische
 
Erinnerung« und »gesellschaftlicher Wandel« umschreiben. »Historische Erinnerung«
 
bedeutet vor allem Erinnerung an die europäischen Religionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts,
 
die zu einem hohen Toleranzbedarf und zur Sehnsucht nach gesellschaftlichen Brückenschlägen
 
zwischen den religiös zerstrittenen Parteien geführt hatten. »Gesellschaftlicher
 
Wandel« meint zunächst den vieldimensionalen Prozess der Säkularisierung, Individualisierung
 
und Autonomisierung, der im 18. Jahrhundert mit Macht einsetzte. Dieser Wandel von
 
Sinnstrukturen und Weltdeutungen ging mit tiefgreifenden Veränderungen der sozialen und
 
ökonomischen Verhältnisse einher. Die zunehmende standesmäßige und berufliche Differenzierung
 
der Gesellschaft, die sozio-politischen Funktionsverlagerungen auch beim Adel,
 
das allmähliche Entstehen von Bürgertum und modernen kapitalistischen Wirtschaftsformen,
 
das erhöhte Bildungsangebot, die Urbanisierung und die – unter dem Vorzeichen
 
15 Vgl. Höhmann, Hans-Hermann: Europas verlorener Friede, die national-völkische Orientierung innerhalb
 
der deutschen Freimaurerei und die »freimaurerische Erinnerungspolitik« nach dem Zweiten Weltkrieg,
 
in diesem Band, S. 51–87.
 
16 Vgl. Steffens, Manfred: Freimaurerei in Deutschland. Bilanz eines Vierteljahrtausends, Flensburg 1964.
 
17 Hoffmann, Stefan-Ludwig: Die Politik der Geselligkeit, a.a.O., S. 368.
 
18 Die Vernichtung der Unwahrheiten über die Freimaurerei durch 116 Antworten auf 116 Fragen, herausgegeben
 
vom Verein deutscher Freimaurer, Leipzig 1928, S. 33.
 
19
 
des europäischen Kolonialismus – sich auch international, ja interkontinental verstärkende
 
räumliche Mobilität: all das führte dazu, dass Menschen aus ihren traditionellen Bindungen
 
und sozialen Verankerungen gelöst wurden und auch in der Wahrnehmung ihres eigenen
 
Selbst über Generationen hinweg praktizierte Deutungsmuster ablegen mussten.19 Diese Veränderungen
 
führten nicht nur zu Verunsicherungen, ja Krisen. Sie ließen auch eine ausgeprägte
 
Neigung entstehen, neue Einstellungs-, Bindungs- und Verhaltensoptionen aufzuspüren
 
und zu nutzen. Es entwickelte sich eine Nachfrage nach neuen Formen von gesellschaftlichen
 
Vernetzungen – modern ausgedrückt nach neuen Formen von »sozialem Kapital«
 
– und so wurde das 18. Jahrhundert zur Epoche der Assoziationsbildung und Geselligkeit.
 
Die Freimaurerei erwies sich offensichtlich als eine besonders attraktive Form neuer gesellschaftlicher
 
Einbindung. Dies resultierte ebenso aus der breiten Nutzbarkeit des Bundes
 
für die Befriedigung vieler sozialer, weltanschaulicher, religiöser und politischer Bedürfnisse
 
wie aus der Möglichkeit, die Logen und Logensysteme durch Veränderungen weiterzuentwickeln
 
und an konkrete Bedürfnisse anzupassen. Es waren vor allem vier Funktionen, oder
 
besser: Funktionsgruppen, welche die Freimaurerei rasch zu einer gesamteuropäischen sozialen
 
und kulturellen Bewegung werden ließen:
 
• die soziale Funktion, Menschen über Standesgrenzen hinweg als »bloße Menschen« (Lessing),
 
als Mitmenschen, als Menschenbrüder zusammenzuführen und ihnen neue gesellschaftliche
 
Netzwerke, neue Geltungs- und Selbstverwirklichungsmöglichkeiten sowie
 
neue Formen von Geselligkeit und Unterhaltung anzubieten;
 
• die ideell-geistesgeschichtliche Funktion, Menschen dazu aufzufordern, sich der eigenen
 
Vernunft zu bedienen, sich am autonomen Gewissen zu orientieren und im Sinne eines
 
»nichts geht über das laut denken mit einem Freunde« (Lessing) nach dem jeweiligen freimaurerischen
 
Grundverständnis den Diskurs über die Ideen der Aufklärung und andere,
 
vor allem das Ritual und die als »Hieroglyphen« verstandenen Symbole20 betreffende
 
Themen zu führen;
 
• die religiöse Funktion, Menschen durch ein neues, aber auf alten Wurzeln beruhendes,
 
zunehmend esoterisch ausgerichtetes Symbolsystem eine optimistisch-positive Einstellung
 
zu sich selbst, zum Kosmos und zur Transzendenz zu vermitteln und die im 18.
 
Jahrhundert weit verbreitete Unzufriedenheit mit dem etablierten Kirchentum zu kompensieren,
 
und
 
• die politische Funktion, Menschen in den Logen der absolutistisch verfassten Gesellschaft
 
einen unabhängigen »Moralischen Innenraum« (Reinhart Koselleck) zu bieten, in dem
 
das »Geheimnis der Freiheit« als »Freiheit im Geheimen« erlebt werden konnte, in dem
 
es später aber auch – etwa im Falle der »Strikten Observanz« und der mit der Freimaurerei
 
verbundenen Illuminaten – zu politischen Instrumentalisierungen der Freimaurerei
 
kommen konnte.
 
Es kann nicht überraschen, dass dieses ja durchaus nicht homogene Bündel von Motiven
 
bald zu mannigfaltigen Veränderungen und Verzweigungen der Freimaurerei geführt hat.
 
Adolph Freiherr Knigge, Zeitzeuge und Mitgestalter als Freimaurer, Illuminat und kritischer
 
19 Vgl. van der Loo, Hans/van Reijen, Willem: Modernisierung. Projekt und Paradox, München 1992, S. 62f.
 
20 Vgl. Maurice, Florian: Freimaurerei um 1800. Ignaz Aurelius Feßler und die Reform der Großloge Royal
 
York in Berlin, Tübingen 1997, S. 31f.
 
20
 
Geist, beschrieb die masonische Landschaft im kontinentalen Europa der zweiten Hälfte des
 
18. Jahrhunderts folgendermaßen:
 
»Man weiß, dass es Freymaurer-Systeme gibt, deren ganze Verfassung auf politische
 
Pläne und Einwirkung in die Staaten beruht; man weiß, dass es andere gibt, die dergleichen
 
Operationen als schädlich und unerlaubt verbannen.
 
Man weiß, dass es Systeme gibt, welche die Einführung einer natürlichen allgemeinen
 
Religion zum Endzweck haben, und selbst die Lehre Jesu nach dieser Art erklären;
 
man weiß, dass es andere gibt, welche die Aufrechterhaltung der geoffenbarten
 
christlichen Religion zum Grundpfeiler machen.
 
Man weiß, dass es Systeme gibt, welche speculative Wissenschaften zum Gegenstand
 
des Ordens machen; man weiß, dass andere die Grenzen der Maurerey auf mögliche
 
Tätigkeit zum Guten einschränken.
 
Man weiß, dass jene besondere Überlieferungen in der Hieroglyphen-Sprache (zu
 
entdecken glauben), wo diese nur nach conventionellen Zeichen zu Beförderung
 
grösserer Vereinigung suchen, folglich jene in den Geheimnissen die Hauptsache,
 
diese
 
(in ihnen) nur (einen) Mittelzweck finden.
 
Man weiß, dass einige Systeme, alles was gut und edel ist, als einen Gegenstand des
 
Ordens ansehen; andere hingegen nur einen einzigen, bestimmten, speciellen Zwecke
 
nachzustreben (für) rathsam halten; dass einige die möglichste Ausbreitung suchen;
 
andere sich auf eine kleine bestimmte Zahl einschränken.
 
Jedes dieser Systeme muss natürlicherweise in der Art, ihre Zöglinge zu bilden, in ihren
 
Aufnahmen, in der Wahl der Mitglieder, in ihren Reden, Handlungen und in den
 
Mitteln, welche sie wählen, einen Weg einschlagen, der oft dem schnurgerade entgegen
 
ist, worauf andre wandeln.
 
Wie werden sie je in einem Punkt zusammentreffen?«21
 
Auf dem Hintergrund dieser Entwicklung muss auch die gern betonte Beziehung der Freimaurerei
 
zur Aufklärung problematisiert werden. Freimaurerlogen konnten durchaus im
 
Sinne der Aufklärung Modelle bürgerlicher Gesellschaft sein, in denen sich bürgerliche
 
Moral diskursiv erarbeiten und im Miteinander der Brüder praktisch verwirklichen ließ.
 
Geheimnis und Geheimhaltung dienten dabei als Schutz, weil die politischen Verhältnisse
 
ein öffentliches Verfolgen derartiger Absichten noch nicht zuließen.22 Dies bedeutet jedoch
 
nicht, dass die Mitglieder der Logen, die Logen selbst oder gar die sich im Verlauf des 18.
 
Jahrhunderts herausbildenden freimaurerischen Systeme durchweg und generell »Beförderer
 
der Aufklärung«23 waren. Aufklärung war eine Möglichkeit unter vielen. Aufklärer »konnten
 
die Freimaurerlogen als Möglichkeit des lokalen Zusammenkommens nutzen«, doch
 
21 Versuch über die Freymaurerey, oder Von dem wesentlichen Grundzwecke des Freymaurer-Ordens; von
 
der Möglichkeit einer Vereinigung seiner verschiedenen Systeme und Zweige; von derjenigen Verfassung,
 
welche diesen vereinigten Systemen die zuträglicheste seyn würde; und von den Maurerischen gesetzen.
 
Aus dem Französischen des Br. B. *** übersetzt durch den Br A.R. v. S. 1785 (5785), S. VI—VIII.
 
22 Vgl. hierzu und zum folgenden Vierhaus, Rudolf: Aufklärung und Freimaurerei in Deutschland, in:
 
ders.: Deutschland im 18. Jahrhundert. Politische Verfassung, soziales Gefüge, geistige Bewegungen, Göttingen
 
1987, S. 110–125, hier S. 118.
 
23 Vgl. die Beiträge in: Balász, Éva, H./Hammermayer, Ludwig/Wagner, Hans/Wojtowicz, Jerzy: Beförderer
 
der Aufklärung in Mittel- und Osteuropa. Freimaurer, Gesellschaften, Clubs, Berlin 1979.
 
21
 
umgekehrt waren »die Logen nicht auf die Aufklärung als Inhalt angewiesen«, und auch die
 
Betrachter, die gern einen durchgehend engen Zusammenhang zwischen Freimaurerei und
 
Aufklärung feststellen würden, müssen der Feststellung von Rudolf Vierhaus zustimmen,
 
dass auch ganz andere als Aufklärungsgedanken in die Freimaurerei eingeströmt sind, selbst
 
solche, die direkt anti-aufklärerischen Charakter hatten. Für Vierhaus wurde dieser Einstrom
 
durch diejenige Tendenz der Freimaurerei begünstigt, »die neben dem Versinken in bloße
 
Honoratiorengeselligkeit ihre größte Gefahr ausmacht: die Anfälligkeit für Esoterik, Pseudomystik
 
und Geheimnistuerei als Ausdruck einer selbst beigelegten, nach außen nicht rechtfertigungsbedürftigen
 
Bedeutsamkeit«.24
 
Freimaurerei und Freimaurereien: Gemeinsamkeiten und
 
Unterschiede
 
Die Geschichte der Freimaurerei ist immer auch die Geschichte ihrer Veränderungen und
 
Differenzierungen gewesen, die sich teilweise »von unten«, aus den Logen heraus, evolutionär
 
und allmählich, nach Orten und Systemen unterschiedlich vollzogen, teilweise aber
 
auch historisch gebündelt, im Kontext gesellschaftlich-politischer Veränderungen, in Schüben
 
größerer und kleinerer Reformen erfolgten. In Deutschland kam es vor allem in der
 
Mitte und im späten 18. sowie an der Wende zum 19. Jahrhundert zu bedeutenden Veränderungsprozessen,
 
als im Verlauf von Krise und Zusammenbruch der »Strikten Observanz«,
 
eines Freimaurerritterordens, der sich – wie sich zeigte, vergeblich – auf den Templerorden
 
zurückzuführen versuchte, mit Johann Wilhelm Zinnendorf, Ignaz Aurelius Feßler und
 
Friedrich Ludwig Schröder Reformer wirkten, die für die weitere Entwicklung (und Differenzierung)
 
der deutschen Freimaurerei prägend geblieben sind. Reformen erfolgten auch
 
in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, als Reformgroßlogen (Freimaurerbund zur
 
aufgehenden Sonne und Symbolische Großloge von Deutschland) entstanden, und schließlich
 
auch in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als durch (und während der Großmeisterschaft
 
von) Theodor Vogel und Hans Gemünd eine neue Struktur zumindest der »humanitären
 
« Freimaurerei in Deutschland geschaffen wurde.
 
Doch mit der erwähnten Flexibilität verbanden sich feste, unterscheidbare Merkmale,
 
die den besonderen Charakter der Freimaurerei und ihrer Logen durch die Geschichte
 
hindurch begründeten. Zwar blieb Freimaurerei immer ein »Raum, in dem Vieles möglich
 
war«, aber dieser Raum »war nicht undefiniert, er enthielt wiedererkennbare Strukturen
 
und Regeln«.25
 
Zu diesen Merkmalen der freimaurerischen Grundstruktur gehörten und gehören insbesondere
 
die folgenden vier:
 
• Die abgeschlossene, durch verschwiegene Rituale geschützte, in der Regel männerbündische
 
Gruppe, kurz das »maurerische Geheimnis«, das die Grenzen der Logengruppe
 
bestimmt, wobei die Ableistung eines Eides der Verschwiegenheit bzw. eines feierlichen
 
24 Vierhaus, Rudolf: a.a.O., S. 120.
 
25 Neugebauer-Wölk, Monika: »Einführung« zu Maurice, Florian: Freimaurerei um 1800, a.a.O., S. XVIII.
 
22
 
Gelöbnisses als Abschluss eines verbindlichen und bei Verletzung durch Ausschluss aus
 
dem Bund sanktionierten »Gruppenvertrages« fungiert.
 
• Der initiatische Charakter der Rituale: Die Einführung des neuen Mitglieds und seine
 
Wanderung durch die verschiedenen Grade erfolgt in rituellen Formen, die seit Arnold
 
van Gennep als »Übergangsriten« (rites de passage)26 beschrieben werden und Ausdruck
 
eines bestimmten, auf innere Weiterentwicklung des Menschen angelegten Menschenbildes
 
der Freimaurerei sind.
 
• Die Bausymbolik, in deren Mittelpunkt die einem »Großen Baumeister« symbolisch verpflichtete
 
Idee von Sein und Zeit als sinnvoll zu gestaltenden Bauwerken steht, die später
 
allerdings in Verbindung mit der Entstehung von Hochgradsystemen durch esoterischhermetische
 
Elemente, durch Alchemie und durch Ritterreminiszenzen beträchtlich erweitert
 
wurde.
 
• Ein Kanon von Werten, der um unterschiedliche, teils aufklärerisch-humanitär, teils religiös
 
geprägte Begrifflichkeiten wie Menschenliebe, Brüderlichkeit, Duldsamkeit (Toleranz)
 
und Gottesfürchtigkeit kreist, auf »Einübung« dieser Werte im verschwiegenen Milieu
 
der Loge setzt und die Logengruppe hierdurch als positive innere Gegenwelt zu den
 
verschiedenen »profanen« äußeren Welten konstituiert und abgrenzt.
 
Dieser freimaurerische Wertekanon war inhaltlich von Anfang an breit interpretierbar, vor
 
allem in seiner Bedeutung für politisch-gesellschaftliche und philosophisch-religiöse Kontexte,
 
innerhalb deren sich die Logen und Logensysteme definierten. Dies bedeutet, dass die
 
Freimaurerei in ihrer historischen Entwicklung mit sehr verschiedenen politischen Strukturen
 
vereinbar war, zunächst (und vor allem) mit den sich im 18. Jahrhundert etablierenden
 
Strukturen der Bürgergesellschaft, als die Freimaurerei zumindest phasenweise fortschrittsadäquat
 
war und zum Katalysator zukünftiger politischer Reformen, ja tiefgreifender Veränderungen
 
im Sinne von bürgerlicher Gleichheit, Demokratie und nationaler Unabhängigkeit
 
wurde. Doch wegen der für die Freimaurerei konstitutiven Trennung von Innenraum
 
und Außenraum, von inneren (privaten) Tugenden und äußeren (öffentlichen) Tugenden
 
erwies sich der freimaurerische Wertekanon als auch mit vordemokratisch-absolutistischen
 
und – dies zeigte sich insbesondere an der Wende zu den 1930er Jahren – mit nichtdemokratischen,
 
politisch-autoritären sowie nationalistischen Strukturen vereinbar.
 
Das »freimaurerische Geheimnis«
 
Das große Gemeinsame der verschiedenen »Freimaurereien« blieb durch die Zeiten hindurch
 
die brüderliche Gemeinschaft, die geübte Verschwiegenheit, das Setzen von Gruppengrenzen,
 
die Trennung von innen und außen – kurz das »maurerische Geheimnis«. Es hatte
 
und hat verschiedene Funktionen für die freimaurerische Gruppenbildung und ist damit
 
von großer Relevanz auch für die Frage nach Veränderungen und Reformen der Freimaurerei.
 
Unter diesen (auch heute noch) partiell bewusst gesetzten, partiell implizit praktizierten
 
26 Van Gennep, Arnold: Übergangsriten, übers. v. S. Schomburg-Scherff, Frankfurt a.M. 1986 (frz. Orig.
 
Les rites de passage, 1909).
 
23
 
Funktionen des maurerischen Geheimnisses können – teilweise anschließend an Michael
 
Voges – bis in die Gegenwart hinein vor allem die folgenden sieben unterschieden werden:27
 
• Die schützende Funktion: Ursprünglich war die Geheimhaltung der Logentreffen – wie
 
auch der Aktivitäten vieler anderer Aufklärungsgesellschaften – Bedingung für eine von
 
staatlichen und kirchlichen Eingriffen und Kontrollen freie Sphäre, die dazu diente, ein
 
neues soziales Gruppenmodell zu praktizieren und aufklärerische Diskurse zu führen.
 
Um die bereits angesprochene Feststellung des Bielefelder Historikers Reinhart Kosellecks
 
zu variieren: Das »Geheimnis der Freiheit« war nur als »Freiheit im Geheimen« zu
 
antizipieren.28 Später wurde das Geheimnis mehr und mehr zur Voraussetzung eines anderen
 
Schutzes: der Bewahrung der – im Falle der Veröffentlichung störanfälligen – Integrität
 
des rituellen Geschehens.
 
• Die soziale Funktion: Die Teilhabe am gemeinsamen Geheimnis dient der Stiftung von
 
Freundschaft und der Bildung von Netzwerken unter Menschen, die sich sonst nicht als
 
Freunde begegnen würden. Auf der im Ritual symbolisch konstituierten »Winkelwaage«
 
konnten Menschen unterschiedlicher sozialer Stände, Schichten und Milieus miteinander
 
kommunizieren. Die Begegnung als »bloße« Menschen im Rahmen des freimaurerischen
 
Rituals hob die gesellschaftlichen Unterschiede zwar nicht auf, überwand sie jedoch
 
im Innenraum der Loge und schwächte ihre Bedeutung auch außerhalb der Loge
 
zumindest ab: »Er ist Prinz«, gibt der Priester in Mozarts und Schikaneders Freimaureroper
 
»Zauberflöte« vor der Aufnahme Taminos zu bedenken, und Sarastro antwortet:
 
»Noch mehr, er ist Mensch«.
 
• Die integrative Funktion: Das Geheimnis und die Teilnahme daran binden die generell
 
eher unbestimmten Zwecksetzungen der Freimaurerei durch Stiftung von emotional erlebter,
 
wert- und symbolüberhöhter Gemeinsamkeit zusammen. Das freimaurerische Geheimnis
 
wirkt als emotionale Heimat, als Attribut, das zum gemeinsamen Heim gehört:
 
»Niemand wird es je erschauen, was einander wir vertraut, denn auf Schweigen und Vertrauen
 
ist der Tempel aufgebaut«, hat der Freimaurer Goethe dazu gedichtet.
 
• Die pädagogische Funktion: Die unter dem Schutz der Verschwiegenheit hergestellte Offenheit
 
und Bereitschaft für persönliche Veränderung (»Selbstvervollkommnung«, »Arbeit
 
am rauhen Stein« des eigenen Selbst) dient der Einübung von Tugenden,29 die sich auch
 
im »profanen« Umfeld des Freimaurers bewähren sollen. Die Absicht, im Sinne einer moralischen
 
Entwicklung des Menschen auf den Habitus des Logenmitglieds einzuwirken,
 
findet sich in vielen Texten und Ritualen seit Beginn der modernen Freimaurerei.30
 
27 Vgl. Voges, Michael: Aufklärung und Geheimnis, a.a.O., S. 79–82.
 
28 »Scheinbar ohne den Staat zu tangieren, schaffen die Bürger in den Logen, diesem geheimen Innenraum
 
im Staate, in eben diesem Staat einen Raum, in dem – unter dem Schutz des Geheimnisses – die bürgerliche
 
Freiheit bereits verwirklicht wird. Die Freiheit im geheimen wird zum Geheimnis der Freiheit.« Koselleck,
 
Reinhart: Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Freiburg/München
 
1979, S. 60.
 
29 Vgl. Hammacher, Klaus: Einübungsethik. Überlegungen zu einer freimaurerischen Verhaltenslehre,
 
Schriftenreihe der Forschungsloge Quatuor Coronati Bayreuth, Nr. 45/2005.
 
30 Vgl. Hasselmann, Kristiane: Die Rituale der Freimaurer. Performative Grundlegungen eines freimaurerischen
 
Habitus im 18. Jahrhundert, Bielefeld 2008.
 
24
 
Das freimaurerische Geheimnis besaß (und besitzt) jedoch auch Funktionen, die mehr oder
 
weniger in Widerspruch zu den erklärten Zielvorstellungen der Freimaurerei gerieten, dennoch
 
aber bis heute ihre Wirksamkeit behielten. Hierunter sind zu nennen:
 
• Die illusionsstiftende Funktion: Das maurerische Geheimnis dient (zumindest auch) der
 
Schaffung und Sicherung eines Raums zum Ausleben mannigfaltiger »Selbstverwirklichungs-
 
und Selbsterhöhungsambitionen«. Hierzu dienen die rituelle Konstruktion einer
 
besonderen, von der Welt des Profanen abgehobenen, wert- und empfindungssteigernden
 
Atmosphäre, die Vergabe von Ämtern, Würden und Orden, die gegenseitige Beimessung
 
einer besonderen persönlichen Bedeutsamkeit31 sowie die Durchführung aufwendiger Zeremonien,
 
insbesondere, wenn Großlogen internationale Veranstaltungen durchführen
 
und sich Repräsentanten der verschiedenen nationalen Freimaurereien begegnen.
 
• Die Lockfunktion: Das Geheimnis mit dem ihm eigenen Einhüllen des Bundes in einen
 
»Mantel des Geheimnisvollen« kann die Attraktivität der Freimaurerei erhöhen und wird
 
gelegentlich gar als eines der Hauptwerbemittel des Bundes gepriesen.
 
• Die Funktion der »inneren Hierarchisierung«: Eine Vermehrung der Grade der Freimaurerei
 
über die traditionellen Stufen »Lehrling«, »Geselle« und »Meister« hinaus im Sinne
 
einer »Hierarchie von Einweihungen« schafft nicht nur erweiterte Erlebnis-, Geltungsund
 
Selbstverwirklichungsmöglichkeiten, sondern auch Abschottungen und Binnendifferenzierungen,
 
die sich nicht selten als Element der Generierung von Konflikten innerhalb
 
und zwischen den Logen und Großlogen erwiesen haben und erweisen.
 
Schließlich muss auf eine Praxis hingewiesen werden, die in direktem Widerspruch zu allen
 
freimaurerischen Zielvorstellungen und Prinzipien steht: die Instrumentalisierung freimaurerischer
 
Formen für politisch agierende Eliten, die nichts (oder nichts mehr) mit der Freimaurerei
 
zu tun haben, woran dann aber Verschwörungsvorstellungen gern anknüpfen (Beispiel:
 
die Organisation Propaganda Due, P2, die an eine ehemalige italienische Freimaurerloge
 
anknüpfte und – ohne Beziehung zur regulären italienischen Freimaurerei – in den 1970er
 
Jahren zur politischen Geheimorganisation wurde).
 
Das freimaurerische »Geheimnis« verhinderte jedoch weder die Kommunikation mit
 
Öffentlichkeit und Gesellschaft noch den Aufbau regionaler und internationaler Netzwerke
 
sowie – vor allem durch sich überschneidende Mitgliedschaften – ein Zusammenwirken mit
 
anderen Assoziationen.32 Das für die Logen typische Verhältnis von Geschlossenheit und
 
Öffnung machte die Freimaurerei – wie zuerst von Georg Simmel aufgezeigt wurde – zu
 
einer »geheimen Gesellschaft« spezifischen und von Anbeginn stark eingeschränkten Typs.
 
In seiner »Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung« von 1908
 
schreibt Simmel:
 
»Das Freimaurertum betont, dass es die allgemeinste Gesellschaft sein will, der ›Bund
 
der Bünde‹, der einzige, der jeden Sonderzweck und mit ihm alles partikularistische
 
Wesen ablehnt und ausschließlich das allen guten Menschen Gemeinsame zu sei-
 
31 Hierzu ausführlich Höhmann, Hans-Hermann: Habitus, soziales Feld, Kapital – Freimaurerei im Lichte
 
der Soziologie Pierre Bourdieus, in diesem Band, S. 115–131.
 
32 Vgl. Zaunstöck, Holger: Die vernetzte Gesellschaft. Überlegungen zur Kommunikationsgeschichte des
 
18. Jahrhunderts, in: Berger, Joachim/Grün, Klaus-Jürgen: Geheime Gesellschaft. Weimar und die deutsche
 
Freimaurerei, München/Wien 2002, S. 147–153.
 
25
 
nem Material machen will. Und Hand in Hand mit dieser, immer entschiedener werdenden
 
Tendenz wächst die Vergleichgültigung des Geheimnischarakters für die Logen,
 
seine Zurückziehung auf die bloßen formalen Äußerlichkeiten … Der Freimaurerbund
 
konnte seine neuerdings stark betonte Behauptung, dass er kein eigentlicher
 
›Geheimbund‹ wäre, nicht besser stützen, als durch sein gleichzeitig geäußertes Ideal,
 
alle Menschen zu umfassen und die Menschheit als ganze darzustellen.«33
 
Freilich hat diese Ablehnung »jedes Sonderzwecks« die Folge, dass die Freimaurerei auf konkrete
 
politisch-gesellschaftliche Programme verzichten muss. »Die Menschheit als ganze
 
darzustellen« heißt, das freimaurerische Ideal dadurch exoterisch zu machen, dass es im Innenraum
 
der Loge überzeugend praktiziert wird. Oft ist der Freimaurerbund allerdings den
 
entgegengesetzten Weg gegangen: In der Auseinandersetzung um einen vermeintlich zu verfolgenden
 
äußeren Zweck wurden die Möglichkeiten einer Annäherung an die inneren Ideale
 
und eigentlichen Wirkungsmöglichkeiten der Loge (Charakterformung, Einübung ethischen
 
Verhaltens, praktische Mitmenschlichkeit) immer wieder beeinträchtigt.
 
Auch Michael Voges weist auf den ambivalenten Charakter des freimaurerischen Geheimnisses
 
hin.34 Einerseits sei es ein wichtiges Element der freimaurerischen Organisationsstruktur
 
gewesen, andererseits sei es stets durch Elemente kontrastiert worden, »die einen
 
betont öffentlichen Charakter hatten«. Dabei verweist Voges auf mannigfaltige Formen
 
freimaurerischer Repräsentation in der Öffentlichkeit und betont die öffentliche Wahrnehmung
 
der bald ausufernden freimaurerischen Publizistik. Es sei diese »Halböffentlichkeit«
 
gewesen, die die Freimaurerei von Anfang an von den Geheimbünden im strengeren Sinne
 
unterschied. Der »halböffentliche« Charakter der Freimaurerei zieht sich durch die gesamte
 
Geschichte des Bundes und spielt auch in der Gegenwart eine bestimmende Rolle für den
 
Charakter der Kommunikation zwischen der Freimaurerei und ihrem gesellschaftlichen
 
Umfeld.35
 
Reformen der Freimaurerei
 
Die voneinander abweichenden Interessen der Mitglieder der Freimaurerlogen, der unterschiedliche
 
Grad, in dem die Logenwirklichkeit den Wertvorstellungen und Ambitionen der
 
einzelnen Freimaurer entsprachen und die unterschiedliche Intensität, mit der »deutungsmächtige
 
« Brüder Übereinstimmungen oder Abweichungen von der »eigentlichen, echten,
 
ursprünglichen Freimaurerei« postulierten, hatten Auswirkungen auf Mitgliedschaft und
 
Entwicklung des Bundes.36 Einerseits veranlassten mannigfaltige Enttäuschungen immer
 
wieder prominente Brüder, die Freimaurerei zu verlassen, in der sie oft sehr aktiv tätig gewe-
 
33 Simmel, Georg: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Gesamtausgabe
 
Band 11, Frankfurt am Main 1992, S. 434, 447.
 
34 Voges, Michael: Aufklärung und Geheimnis, a.a.O., S. 82.
 
35 Ausführlich hierzu Höhmann, Hans-Hermann: Der deutsche Freimaurerdiskurs der Gegenwart: Was ist,
 
was will, was soll die Freimaurerei?, in diesem Band, S. 152–178.
 
36 Vgl. Höhmann, Hans-Hermann: Entwicklung, Reflexion, Wissenschaft. Anmerkungen zum Wechselspiel
 
zwischen freimaurerischer Geschichte und Geschichte der Freimaurerforschung, in: Quatuor Coronati
 
Jahrbuch für Freimaurerforschung, Nr. 41/2004, S. 229–239.
 
26
 
sen waren.37 Andererseits entwickelten sich unterschiedlich intensive und verschieden ausgerichtete
 
Reformen, die sich an verschiedenen »Modellen« orientierten.
 
In Zeiten von Krisen freimaurerischer Systeme und der Suche nach neuen Formen wurde
 
der Bedarf an Modellen und ihrer analytischen Begründung besonders dringlich. Für
 
die Krise der »Strikten Observanz« in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und die Versuche
 
des Wilhelmsbader Konvents von 1782, die Krise zu überwinden, hat Ernst Traugott
 
v. Kortum, Teilnehmer in Wilhelmsbad, den Zusammenhang zwischen Fehlentwicklungen
 
und Deutungserfordernissen anschaulich beschrieben: Die Freimaurerei als
 
»diejenige Gesellschaft, welche, so alt sie auch seyn mag, doch erst itzt seit etlichen
 
zwanzig Jahren in mancherley Bezug besonderes Aufsehen macht, die nicht nur von
 
Fremden, sondern auch von ihren Mitgliedern selbst so verschiedentlich beurtheilt
 
wird, die würklich seit langen Zeiten unter eben so verschiedenen Gestalten erschienen,
 
alle Augenblicke eine andere Seite gezeigt, und auch den aufmerksamsten Beobachter
 
hintergangen hat, wird nun, da sie anfängt, sich ihrer Entwicklung oder
 
Auflösung zu nähern, erst ein öffentlicher Gegenstand kritischer Untersuchungen,
 
Geschichts-Vergleichungen und historischer Nachspürungen, nachdem sie fast ein
 
ganzes Jahrhundert von einer Seite gepriesen, von der anderen verdammt, und ihr
 
Ursprung hier von Gott, dort von dem Teufel hergeschrieben worden ist, ohne sich
 
für beides auf historische Beweise einzulassen.«38
 
Auch an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert39 waren sich führende Freimaurer wie
 
Feßler, Fichte, Krause, Schröder und Herder sowie ihre mehr oder weniger bedeutenden Gefolgsleute
 
wohl bewusst, dass kein Versuch, die Freimaurerei »in ihrer ursprünglichen Form«
 
wiederherzustellen, ohne »kritische Untersuchungen, Geschichts-Vergleichungen und historische
 
Nachspürungen« auskommen konnte. Der Dreischritt Gestalten, Reflektieren, Forschen
 
war endgültig zum freimaurerischen Entwicklungsprinzip geworden und kennzeichnet
 
die Geschichte der Freimaurerei bis in die Gegenwart hinein.
 
Es dürfte lohnend sein, insbesondere den Erörterungen, die an der Wende vom 18.
 
zum 19. Jahrhundert mit, um und im Abschluss an Gotthold Ephraim Lessings »Ernst und
 
Falk. Gespräche für Freymäurer«40 (1778, 1780) geführt wurden, erneut nachzugehen. Vier
 
37 Prominentes Beispiel ist Adolph Freiherr Knigge, der nach prägendem Wirken als Freimaurer und insbesondere
 
Illuminat im Abschnitt Ȇber geheime Verbindungen und den Umgang mit den Mitgliedern
 
derselben« seines Buches »Über den Umgang mit Menschen« (1788/1790) skeptisch feststellte und riet:
 
»Ich habe mich lange genug mit diesen Dingen beschäftigt, um aus Erfahrung zu reden und jedem jungen
 
Mann, dem seine Zeit lieb ist, abraten zu können, sich in irgendeine geheime Gesellschaft, sie mögen
 
Namen haben, wie sie wolle, aufnehmen zu lassen. Sie sind alle, freilich nicht im gleichen Grade,
 
aber doch alle ohne Unterschied zugleich unnütz und gefährlich.« Knigge, A. v.: Über den Umgang mit
 
Menschen, Hannover 2001, S. 391.
 
38 Ernst Traugott v. Kortum: Beiträge zur philosophischen Geschichte der heutigen geheimen Gesellschaften,
 
Wien 1786, S. 8f., zitiert nach Hammermayer, Ludwig: Der Wilhelmsbader Freimaurer-Konvent
 
von 1782, Heidelberg, 1980, S. 5.
 
39 Zu Situation und Tendenzen der deutschen Freimaurerei zu Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts
 
vergl. die Beiträge in: Reinalter, Helmut (Hrsg.): Freimaurerische Wende vor 200 Jahren: 1798
 
– Rückbesinnung und Neuanfang, Bayreuth 1998.
 
40 Die interessanteste Edition ist: Gotthold Ephraim Lessing, Ernst und Falk mit den Fortsetzungen Johann
 
Gottfried Herders und Friedrich Schlegels, hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Ion Con27
 
Autoren vor allem sind von herausragendem Interesse: Lessing selbst, Johann Gottfried
 
Herder, Karl Christian Friedrich Krause und Johann Gottlieb Fichte, und das »laut Denken
 
« dieser vier sowie die Rezeptionsgeschichte um sie herum kennzeichnet beinahe schon
 
im Alleingang die gleichsam »goldene Epoche« der Freimaurerdiskurse in Deutschland,
 
deren Niveau kaum je wieder erreicht wurde. (Eine »silberne Epoche« der Freimaurerdiskurse
 
stellt dann die Zeit vor und nach der Wende zum 20. Jahrhundert dar, als in der
 
deutschen Freimaurerei ein gleichfalls beachtliches Erörterungsniveau anzutreffen war, das
 
sich forschend aufzuarbeiten lohnt.)
 
Der »klassische Freimaurerdiskurs« hat mindestens vier übereinstimmende Bezugspunkte:
 
• erstens die Faszination der Freimaurerei, die alle Autoren nicht loslässt,
 
• zweitens die Vielfalt, ja der desolate Zustand der Freimaurerei in der zweiten Hälfte des
 
18. Jahrhunderts, der den Bund vor die Alternative Untergang oder Neukonzeption und
 
Reform stellt,
 
• drittens das Gefühl der Formbarkeit der Freimaurerei (mit Fichtes Worten: der Wunsch
 
»auf die tabula rasa der Freimaurerei etwas zu schreiben, was ihrer würdig ist«41) und
 
• viertens das Bestreben, Freimaurerei in den Kontext des jeweils eigenen Denkens einzufügen.
 
Die Teilnehmer am Diskurs geben nun unterschiedliche Antworten in Bezug auf Institution
 
und Funktion der Freimaurerei: Fichte – mitten im Reformprozess formulierend – bleibt am
 
stärksten der institutionellen Freimaurerei verhaftet. Ihm geht es um die Frage, ob es einen
 
überzeugenden Zweck für die Loge gibt, und er antwortet mit dem Hinweis auf den Auftrag
 
der Loge, »durch Ausgehen von der Gesellschaft und Absonderung von ihr … die Nachteile
 
der Bildungsweise in der größeren Gesellschaft wieder aufzuheben und die einseitige
 
Bildung für den besonderen Stand in die gemein menschliche Bildung, in die allseitige des
 
ganzen Menschen, als Menschen zu verschmelzen«42. Herder geht (zunächst) am weitesten
 
über die institutionelle Freimaurerei hinaus: »Alle solche Symbole mögen einst gut und notwendig
 
gewesen sein, sie sind aber, wie mich dünkt, nicht mehr für unsere Zeiten. Für unsere
 
Zeiten ist das Gegenteil ihrer Methode nötig, reine helle offenbare Wahrheit«43, verändert
 
seine Position allerdings in der Zusammenarbeit mit Schröder bei dessen Ritualreform und
 
postuliert jetzt, dass »eine Gesellschaft tausendfach mehr (vermag), als zerstreute Einzelne
 
auch bei der edelsten Wirksamkeit zu thun vermögen«44. Krause vertritt mit der Auffassung,
 
»nach der Reinigung von einigen zunftmäßigen und kritikwürdigen Bestandteilen«45 könne
 
tiades, Frankfurt am Main 1968, S. 9–57. Vgl. auch Dziergwa, Roman: Lessing und die Freimaurerei. Untersuchungen
 
zur Rezeption von G. E. Lessings Spätwerk »Ernst und Falk. Gespräche für Freymäurer
 
in den freimaurerischen und antifrei-maurerischen Schriften des 19. und 20. Jahrhunderts (bis 1933),
 
Frankfurt am Main u.a. 1992.
 
41 Fichte, Johann Gottlieb: Philosophie der Maurerei. Briefe an Konstant, hrsg. von Thomas Held, Düsseldorf
 
und Bonn 1997, S. 21.
 
42 Ebenda, S. 41.
 
43 Herder, Johann Gottfried: Gespräch über eine unsichtbar-sichtbare Gesellschaft, in: Ion Contiades
 
(Hrsg.): a.a.O., S. 72.
 
44 Zitiert nach Maurice, Florian: Freimaurerei um 1800, a.a.O., S. 49.
 
45 Hörn, Reinhard: Der Einfluß freimaurerischer Ideen auf Krauses »Urbild der Menschheit«, in: Kodalle,
 
Klaus-M.: Karl Cristian Friedrich Krause (1781–1832). Studien zu seiner Philosophie und zum Krausis28
 
das ganze überlieferte Gebrauchtum in den von ihm entworfenen »Menschheitsbund« eingearbeitet
 
und damit zugleich aufbewahrt und überwunden werden46, wiederum eine andere
 
Variante des »Stufenmodells« der Freimaurerei. Für Lessing bleibt Freimaurerei auch als
 
Institution von Bedeutung, doch ihre Funktion geht über die Institution hinaus und ist bei
 
Weitem wichtiger, beruht Freimaurerei für Lessing doch »im Grunde nicht auf äußerlichen
 
Verbindungen, die so leicht in bürgerliche Anordnungen ausarten; sondern auf dem gemeinschaftlichen
 
Gefühl sympathisierender Geister«.47 Auch Lessing ist von der Faszination der
 
Freimaurerei gefesselt. Auch er kritisiert die konkrete Form des Bundes, dessen »heutiges
 
Schema ihm gar nicht zu Kopfe« will. Auch ihn fordert heraus, die Wesenheit der Freimaurerei
 
auf den bestimmten Begriff einer wahren Ontologie zu bringen und aufzuzeigen, »was
 
und warum die Freimaurerei ist, wenn und wo sie gewesen, wie und wodurch sie befördert
 
oder gehindert wird«. Er tut dies – vor allem, aber nicht nur in »Ernst und Falk« – als Anwalt
 
einer Kultur der Vermittlung, die Grenzen überschreitet, deren Medium und Ziel Freundschaft
 
und Menschenliebe sind und die sich in einem offenen Prozess der Wahrheitssuche
 
realisiert.
 
Die Veränderungsprozesse innerhalb der Freimaurerei und die daraus resultierenden
 
Unterschiede zwischen den verschiedenen Typen von Freimaurerei lassen sich vor allem
 
auf Faktoren zurückführen, die mehr außerhalb als innerhalb der Freimaurerei lokalisiert
 
waren, jedoch nachhaltig auf den Entwicklungsprozess des Bundes, seine Dynamik und
 
seine Differenzierungen zurückwirkten.
 
Zu diesen Faktoren gehören – um nur die wichtigsten zu nennen –:
 
• die Veränderungen der politischen Rahmenbedingungen, innerhalb deren sich die Entwicklung
 
der Freimaurerei vollzog und die den freimaurerischen Gruppierungen hier
 
eine stärker selbstbestimmt-demokratische Existenz erlaubten, während sie sie dort in
 
starkem Maße zu politischer Loyalität und Anpassung veranlassten;
 
• der sich wandelnde »Zeitgeist«, d.h. die jeweiligen kulturellen und religiösen Besonderheiten
 
nationaler oder regionaler Art, etwa die an Mystizismen, Hermetik, Alchemie,
 
Tempelrittern und ägyptischen Mysterientraditionen orientierte vorromantische Erinnerungskultur
 
der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die zum Entstehen der schier zahllosen
 
Hochgradsysteme beitrug, oder die sich im 19. Jahrhundert durchsetzende »Bürgerkultur
 
«, mit der viele Reformen der Freimaurerei einhergingen,
 
sowie
 
• die Veränderungen der gesellschaftlichen Struktur:
 
– im 18. Jahrhundert etwa der Abstieg des Adels durch Veränderungen innerhalb der absolutistischen
 
Herrschaftsordnung bei gleichzeitiger Formierung und allmählichem Aufstieg
 
des Bürgertums (hier liegt das besondere Momentum des Hochgradrittersystems
 
der »Strikten Observanz«48),
 
mo, Hamburg 1985, S. 132.
 
46 Krause, Karl C. F.: Die drei ältesten Kunsturkunden der Freimaurerbrüderschaft, Dresden 1820, S.
 
CLXXVI, zitiert nach: Hörn, Reinhard: Der Einfluß freimaurerischer Ideen auf Krauses »Urbild der
 
Menschheit«, a.a.O., S. 132.
 
47 Lessing, G. E.: a.a.O., S. 36ff., S. 11.
 
48 Vgl. Höhmann, Hans-Hermann: Der Konvent von Wilhelmsbad und die Neuorientierung der deutschen
 
Freimaurerei, in: TAU. Zeitschrift der Forschungsloge »Quatuor Coronati«, II/2008, S. 46–51, hier S. 48f.
 
29
 
– im 19. Jahrhundert die Entwicklung eines selbstbewussten, national eingestellten und
 
religiös – sprich protestantisch – eingebundenen Bürgertums als Basis sowohl der »altpreußischen
 
« als auch der »humanitären« Freimaurerei in Deutschland.
 
Inhaltlich können die zahlreichen Umgestaltungen des Freimaurerbundes insbesondere im
 
Hinblick auf das freimaurerische Geheimnis als Inbegriff der zuvor erörterten freimaurerischen
 
Grundstruktur interpretiert werden. Dann lassen sich vier typische Ansätze unterscheiden:
 
• Die »Relativierung des Geheimnisses«, die dem von Georg Simmel beschriebenen und
 
besonders in den Reformen Friedrich Ludwig Schröders und ähnlichen Umgestaltungen
 
verwandter Großlogen (»Große Mutterloge des Eklektischen Freimaurerbundes« in
 
Frankfurt, Großloge »Zur Sonne« in Bayreuth) Ausdruck findenden Weg einer »Vergleichgültigung
 
des Geheimnischarakters für die Logen« folgt. Hier ging und geht es
 
nicht mehr um ein in den Ritualinhalten verborgenes »wahres« Geheimnis, es geht um ein
 
»eigentliches Geheimnis« der Freimaurerei, das menschliche Begegnung zwischen Freunden,
 
das Erlebnis der Bruderliebe sowie eine spezifische »freimaurerische Geisteshaltung«
 
als Ausdruck bürgerlicher Moral in das Zentrum des Bundes rückte.
 
• Die schon genannte »Hierarchisierung des Geheimnisses«: Hier wurde und wird das freimaurerische
 
»Geheimnis« (oder zumindest ein wesentlicher Teil davon) in den Ritualen
 
neuer Systeme, Grade und Erkenntnisstufen gesucht, die über die »klassischen« Grade
 
Lehrling, Geselle und Meister hinausgehen und ein zunehmendes Maß an »Binnendifferenzierung
 
« innerhalb der freimaurerischen Gruppen bewirken. Die »weiterführenden
 
Grade« verstehen sich als »Vertiefung« der freimaurerischen Basisgrade, geraten aber in
 
Gefahr, mehr oder weniger von deren Grundaussagen und Organisationsprinzipien abzuweichen
 
und lediglich jene Freimaurerei zu vertiefen, die sie zuvor in ihren neuen Ritualen
 
selbst geschaffen haben.
 
• Die Verstärkung des religiösen Charakters der Freimaurerei (»Verchristlichung des Geheimnisses
 
«). Hauptbeispiel hierfür ist die – hierzulande von der Großen Landesloge
 
der Freimaurer von Deutschland vertretene – »Schwedische Lehrart«, als deren Fundament
 
die »reine Lehre Jesu« gilt, welche die Bibel nicht als bloßes religiöses Symbol,
 
sondern als das »größte aller Lichter« versteht, sich als christlicher Ritterorden »in der
 
Nachfolge Jesu Christi als Obermeister« konstituiert hat und ihre christliche Ideenwelt
 
in einem vielstufigen Ritualsystem von großer Geschlossenheit entfaltet, das in den höheren
 
Graden als dezidiert religiöser Kult den Charakter einer kirchennahen Christologie
 
annimmt.
 
• Die »Radikalisierung des Geheimnisses« durch den Übergang zum politisch orientierten
 
Geheimbund, wofür – zunächst und eingeschränkt die »Strikte Observanz« – dann aber
 
vor allem die Illuminaten49 mit ihrem Bestreben, durch die Erfassung einer kulturell-gesellschaftlichen
 
Elite grundlegende Reformen in der Wirtschaft, im Bildungswesen und
 
im religiös-kirchenpolitischen Bereich in Gang zu setzen, die wichtigsten historischen
 
Beispiele bieten.
 
49 Vgl. Hammermayer, Ludwig: Der Geheimbund der Illuminaten und Regensburg, in: Verhandlungen des
 
Historischen Vereins für Oberpfalz und Regensburg, 110, 1970.
 
30
 
Zweierlei ist allerdings hinzuzufügen: Einmal sind die einzelnen Reformansätze nicht klar
 
voneinander zu trennen und können sich, wie etwa im Falle der »Verchristlichung« und
 
 
 
»Hierarchisierung«, durchaus miteinander verbinden. Zum anderen verlaufen sie nicht gradlinig
 
und können auf den jeweiligen »Reformachsen« Gegenentwicklungen auslösen (gegen
 
Hierarchisierung etwa das Wirken des Eklektischen Bundes und des Schröder’schen Systems
 
(Große Loge von Hamburg), gegen Metaphysierung z.B. die Positionen des Grand Orient
 
de France und des Freimaurerbundes zur aufgehenden Sonne, gegen Relativierung schließlich
 
die verstärkte Rückkehr zur Esoterik als Material und Perzeptionsweise freimaurerischer
 
Rituale).
 
Jedenfalls entstanden durch den beschriebenen Differenzierungsprozess zumindest drei
 
große (in sich wiederum teilweise beträchtlich differenzierte) Typen von Freimaurerei:
 
• Die ethisch-symbolische Freimaurerei, die in der Welt dominiert und vor allem von der
 
englischen und amerikanischen Freimaurerei sowie von vielen kontinentaleuropäischen
 
Großlogen, darunter auch von der Großloge der Alten Freien und Angenommenen Maurer
 
von Deutschland (GL AFuAM vD) repräsentiert wird. Zu dieser Gruppe gehören von
 
den gegenwärtig insgesamt 2,5 bis drei Millionen Freimaurern weltweit (die immer noch
 
übliche Angabe von sechs Millionen ist deutlich überhöht, da die Zahl der Freimaurer
 
seit den 1970er Jahren vor allem in den USA sowie in England, Australien/Neuseeland
 
und Kanada um mehr als drei Millionen zurückgegangen ist) ungefähr 95 Prozent der Logenmitglieder.
 
Die Freimaurerei dieser Gruppe ist religiös offen, setzt als Bedingung für
 
die Mitgliedschaft allerdings die Anerkennung eines »Großen Baumeister aller Welten«
 
sowie die Präsenz eines »Heiligen Buches« (im christlichen Kulturkreis die Bibel) als Symbole
 
für den transzendenten Bezug des Menschen voraus. Innerhalb der ethisch-symbolischen
 
Freimaurerei gibt es freilich beträchtliche Differenzierungen, und es lassen sich
 
zumindest Gruppierungen mit einer stärker aufklärerisch-ethischen Orientierung von
 
solchen mit einer stärker hermetisch-esoterischen oder einer stärker traditionell-religiösen
 
Orientierung unterscheiden.
 
• Die christliche Freimaurerei, die das Bekenntnis zur Lehre Jesu Christi zur Voraussetzung
 
der Mitgliedschaft gemacht hat und die vor allem in den skandinavischen Ländern
 
(Schweden, Norwegen, Dänemark, Island) sowie hierzulande von der Großen Landesloge
 
der Freimaurer von Deutschland (GL FvD) vertreten wird.50 Insgesamt gehören zur Gruppe
 
der christlichen Freimaurerei weltweit gut zwei Prozent aller Freimaurer.
 
• Die säkular-liberale Freimaurerei, die vor allem durch den Grand Orient de France repräsentiert
 
wird. Der Grand Orient definiert sich in seiner Satzung als »philosophische, philanthropische
 
und fortschrittliche Institution«, hat das Symbol des »Großen Baumeisters
 
« in seinen Ritualen aufgegeben, nimmt auch Atheisten als Freimaurer auf, ergreift
 
Partei in gesellschaftlichen und politischen Fragen und erwartet auch ein gesellschaftspolitisches
 
Engagement von seinen Mitgliedern. Ihm gehören in Frankreich ca. 47.000
 
Freimaurer an. Die Freimaurerei des Grand Orient de France (und einiger gleich struktu-
 
50 Auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Letzterer und dem skandinavischen Original verweist
 
der Schwedische Freimaurerorden (Schwedisch: Svenska Frimurare Orden) auf seiner Homepage:
 
»The Swedish Rite is worked in Sweden/Finland, Norway, Denmark and Iceland. In Germany a Grand
 
Lodge, Große Landesloge der Freimaurer von Deutschland, is working rituals based on Carl Friedrich
 
Eckleff’s documents from 1760, but otherwise have few similarities to the Swedish Rite.«
 
31
 
rierter Großlogen in anderen Ländern) wird von den meisten Großlogen der Welt nicht
 
als regulär anerkannt.
 
Es ist darauf hinzuweisen, dass es neben diesen männerbündisch organisierten Gruppierungen
 
der Freimaurerei auch eine Freimaurerei der Frauen gibt, die sich gegenwärtig sehr
 
dynamisch entwickelt. In zahlreichen Ländern sind auch Systeme »gemischter« Logen (Logen,
 
die Männer und Frauen aufnehmen) vorhanden, von denen der Droit Humain die
 
wichtigste Gruppierung ist.
 
An der Schwelle zum 19. Jahrhundert
 
Bisher wurde vor allem aufgezeigt, wie sich die Brüche und oft gegenläufigen Tendenzen
 
des 18. Jahrhunderts – in mancherlei Hinsicht den labilen Strukturen der Postmoderne vergleichbar
 
– in einem bunten Gemisch verschiedenartiger Freimaurereien spiegelten. Eine
 
Konsolidierung der Freimaurerei trat erst in der Periode der eigentlichen Bürgergesellschaft
 
ein, als sich auf dem Markt sozialer Einbindung gleichermaßen Nachfrage und Angebot stabilisierten.
 
Unter den Tendenzen, die die Weiterentwicklung der Freimaurerei im langen 19. Jahrhundert
 
kennzeichneten, waren die folgenden von besonderer Bedeutung:
 
1. Im Hinblick auf die nationale Rahmensetzung entstanden oder festigten sich Großlogen
 
in den europäischen Nationalstaaten. Dies bedeutete, wenn nicht das Ende, so doch eine
 
erhebliche Abschwächung des kosmopolitischen Selbstverständnisses der Freimaurerei.51
 
2. Es kam zur Dominanz des bürgerlichen Elements in der Freimaurerei. Die führende Rolle
 
des Adels in der Freimaurerei nach dem Modell der »Strikten Observanz« fand ihr
 
Ende.
 
3. In Deutschland kam es sowohl zu einer langfristig wirksamen Konsolidierung der christlichen
 
»altpreußischen« Freimaurerei (Große National-Mutterloge »Zu den drei Weltkugeln
 
«, Große Landesloge und Große Loge Royal York zur Freundschaft) als auch zu einer
 
Renaissance der englisch geprägten und von England bestätigten »eigentlichen« Freimaurerei
 
der drei Grundgrade (»humanitäre« Großlogen, vor allem Eklektischer Bund,
 
Große Loge von Hamburg, Große Loge »Zur Sonne« sowie prominente Einzellogen, von
 
denen »Archimedes zu den drei Reißbretern« in Altenburg aufgrund ihrer hochbeachtlichen
 
publizistischen Produktion besonders hervorzuheben ist). Damit entstanden in
 
der deutschen Freimaurerei tiefverwurzelte, bis heute weiterwirkende konzeptionelle und
 
organisatorische Unterschiede zwischen »humanitärer« und »christlicher« Freimaurerei.52
 
4. Schließlich änderte sich die konfessionelle Struktur der deutschen Freimaurerei. Die Zahl
 
katholischer Mitglieder ging rasch und gründlich zurück, einerseits durch die sich verschärfende
 
antifreimaurerische Haltung der katholischen Kirche, andererseits durch die
 
Sympathie der zumeist protestantischen Brüder Freimaurer mit der später im »Kultur-
 
51 Vgl. Höhmann, Hans-Hermann: Europas verlorener Friede, die nationalvölkische Orientierung innerhalb
 
der deutschen Freimaurerei und die »freimaurerische Erinnerungspolitik« nach dem Zweiten Weltkrieg,
 
in diesem Band, S. 51–87.
 
52 Auf diese Unterschiede ist im zweiten Teil dieses Beitrags noch einmal ausführlicher zurückzukommen.
 
32
 
kampf« kulminierenden antikatholischen Einstellung großer Teile des deutschen, insbesondere
 
des norddeutsch-preußischen Bürgertums.
 
Insbesondere zwischen der Mitte des 19. und dem Beginn des 20. Jahrhunderts fungierten
 
die deutschen Logen – unabhängig davon, ob sie den altpreußischen oder den humanitären
 
Großlogen angehörten – als stabile Assoziationsformen der bürgerlichen Mittel- und
 
Oberschichten.53 Sie verstanden sich als Übungsstätten von Bürgertugenden wie Anstand,
 
Respekt, Hilfsbereitschaft und Vaterlandsliebe, spielten – nicht zuletzt aufgrund obrigkeitlicher
 
Protektion – eine anerkannte Rolle in der deutschen Gesellschaft und ordneten sich
 
ihrerseits loyal in die bestehende politische Ordnung ein. Thomas Manns Charakteristik
 
einer »machtgeschützten Innerlichkeit« deutscher Gesellschaft und Kultur kennzeichnete
 
weithin auch Selbstverständnis und logeninterne Praxis der freimaurerischen Vereinigungen.
 
54
 
In weiteren Beiträgen dieses Bandes werden die in meiner Sicht besonders wichtigen
 
Phasen der neueren freimaurerischen Geschichte in Deutschland ausführlich behandelt.55
 
Gegner der Freimaurerei
 
Seitdem es die moderne Freimaurerei gibt, ist sie zum Objekt mannigfaltiger Ablehnungen,
 
Gegnerschaften, Vorurteile, Verurteilungen und Verbote geworden. Offenbar forderte die
 
Freimaurerei durch ihre Ideenwelt und Sozialstruktur sowie den raschen Expansionsprozess
 
der Logen und das große Interesse der gesellschaftlichen Eliten an einer Mitgliedschaft in ihnen
 
in besonderem Maße zu Ängsten, Verurteilungen und Verboten heraus. In katholischen
 
Ländern war diese Ablehnung von Beginn an besonders ausgeprägt. Vor allem in Krisensituationen,
 
die der Erklärung bedurften und in denen die eigentlich Verantwortlichen nach
 
Entschuldigungen suchten (Französische Revolution, Verlust des Ersten Weltkriegs), wurde
 
immer wieder auf die Freimaurerei und die von ihr ausgehenden Gefahren für die bestehenden
 
politischen Ordnungen sowie die hergebrachten Formen von Religion und Glauben
 
verwiesen.
 
Bereits im Jahre 1698 – 20 Jahre vor Gründung der ersten Großloge – zirkulierte in
 
London ein Pamphlet, in dem »alle frommen Menschen vor den Freimaurern gewarnt werden.
 
Diese seien eine teuflische Sekte die durch einen Eid der Verschwiegenheit geschützte
 
geheime Zeremonien abhielten und der wahre Antichrist seien«.56
 
53 Vgl. Hoffmann, Stefan-Ludwig: Die Politik der Geselligkeit. Freimaurerlogen in der deutschen Bürgergesellschaft,
 
1840–1918, Göttingen 2000, insbes. S. 128–202.
 
54 Mann, Thomas: Leiden und Größe Richard Wagners, Gesammelte Werke, Bd. IX, Frankfurt/Main 1990,
 
S. 419.
 
55 S. insbesondere Europas verlorener Friede, die nationalvölkische Orientierung innerhalb der deutschen
 
Freimaurerei und die »freimaurerische Erinnerungspolitik« nach dem Zweiten Weltkrieg, in diesem
 
Band, S. 51–87, sowie Deutsche Freimaurerei nach 1945 – Wiederaufbau zwischen Neuorientierung und
 
alten Strukturen, in diesem Band S. 88–114.
 
56 Zitiert nach Neugebauer-Wölk, Monika: Geheimnis und Öffentlichkeit in masonischen Systemen des
 
18. Jahrhunderts, in: Quatuor Coronati Jahrbuch für Freimaurerforschung, Nr. 43/2006, S. 280.
 
33
 
Haltung der Kirchen
 
Die Kirchen – beginnend mit der ersten Verurteilung durch Papst Clemens XII. im Jahre
 
1738 (Bulle »In eminenti apostolatus specula«) – fürchteten das maurerische Geheimnis, die
 
vorrangige Betonung moralischer Werte, das »Gutsein ohne dezidierten Glauben« und die
 
esoterische Religiosität der Freimaurer. In den folgenden Jahrzehnten wurde die ablehnende
 
Haltung der katholischen Kirche immer wieder verschärft und neu akzentuiert, bis sie
 
im Jahre 1884 durch Papst Leo XIII. (Bulle »Humanum genus«), der die Freimaurer gar dem
 
»Reich des Satans« zuordnete, auf die Spitze getrieben wurde.57 Die Kernaussage der Bulle
 
lautet:
 
»Nachdem das Menschengeschlecht durch den Neid des Teufels von Gott, dem
 
Schöpfer und dem Spender der himmlischen Güter, so kläglich abgefallen war, hat
 
es sich in zwei geschiedene und einander entgegengesetzte Lager geteilt: das eine
 
kämpft unausgesetzt für Wahrheit und Tugend, das andere für alles, was der Wahrheit
 
und Tugend widerstreitet. Das eine ist das Reich Gottes auf Erden, das andere ist
 
das Reich des Satans … In der Gegenwart … scheinen sich die Anhänger des Bösen
 
zu verabreden und in ihrer Gesamtheit mit vollen Kräften anzustürmen: geleitet und
 
gestützt von der weitverbreiteten und fest gegliederten Gesellschaft der sogenannten
 
›Freimaurer‹. Diese Sekte ist … ihrem ganzen Wesen und ihrer innersten Natur nach
 
Laster und Schande: darum ist es rechtens nicht erlaubt, ihr beizutreten und ihr in
 
irgendeiner Weise Beihilfe zu leisten.«58
 
Wenn auch der Ton der Angriffe im 20. Jahrhundert maßvoller wurde, so ist die Einstellung
 
der katholischen Kirche zur Freimaurerei doch weitgehend ablehnend geblieben. Zwischen
 
Vertretern der katholischen Kirche und der Freimaurerei fanden zwar seit den 1960er Jahren
 
Gespräche und Annäherungen statt, doch machte die »Unvereinbarkeitserklärung« der deutschen
 
Bischofskonferenz von 1980 die Hoffnung der Freimaurer auf eine Überwindung alter
 
Feindseligkeiten zunichte. Das negative Urteil über die Freimaurer bleibt weiterhin bestehen,
 
da deren weltanschauliche Grundlagen mit der Lehre der katholischen Kirche für unvereinbar
 
gehalten werden. Genannt werden dabei der Relativismus, das (vermeintlich) deistische
 
Gottesbild und nicht zuletzt der (ebenfalls vermeintlich) sakramentsähnliche Charakter der
 
Rituale. Im Ergebnis stellte die Glaubenskongregation unter ihrem damaligen Präfekten Kardinal
 
Joseph Ratzinger in einer von Papst Johannes Paul II. bestätigten Erklärung vom 26.
 
November 1983 fest:
 
»Das negative Urteil der Kirche über die freimaurerischen Vereinigungen bleibt also
 
unverändert, weil ihre Prinzipien immer als unvereinbar mit der Lehre der Kirche
 
betrachtet wurden und deshalb der Beitritt zu ihnen verboten bleibt. Die Gläu-
 
57 Vgl. zu Leo XIII. die sehr kritische Stellungnahme des katholischen Theologen Herbert Vorgrimler in:
 
Appel, Rolf/Vorgrimler, Herbert: Kirche und Freimaurer im Dialog, Frankfurt/Main 1975, S. 44–47.
 
58 http://www.kathwahrheit.de/Downloads/Humanum_genus.pdf, download 2.3.2011.
 
34
 
bigen, die freimaurerischen Vereinigungen angehören, befinden sich also im Stand
 
der schweren Sünde und können nicht die heilige Kommunion empfangen.«59
 
Trotz dieser »offiziellen« Verhärtungen zeigen sich in der katholischen Kirche doch auch
 
immer wieder Tendenzen, die Einstellung zur Freimaurerei zu verändern. Besonders aufschlussreich
 
ist die Schrift »Die Freimaurer und die Katholische Kirche« von Klaus Kottmann,
 
die im Sommersemester 2008 von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-
 
Universität Bochum als Dissertation angenommen wurde und in deren Zusammenfassung
 
es heißt:
 
»Einzelne Katholiken, die Mitglied einer Freimaurerloge sind, wie zahlreiche Logen
 
selbst, verneinen eine entsprechende (glaubensfeindliche, H.-H. H.) Ausrichtung ihrer
 
Loge. Viele katholische Freimaurer halten das erlassene Verbot daher für nicht
 
rechtmäßig. Auch sehen sie sich in einer Situation, in der ihnen die Mündigkeit zur
 
eigenen Beurteilung nicht zugestanden wird.
 
Zu bedenken ist vor diesem Hintergrund, ob hinsichtlich der Bewertung der Freimaurerei
 
seitens der katholischen Kirche nicht die gleichen Argumente Platz greifen
 
könnten, die maßgeblich waren für die Aufhebung des Bücherverbots durch das Dekret
 
der Glaubenskongregation vom 15. November 1966.
 
Dabei wurde das Bemühen um eine Schärfung des Gewissens der Gläubigen für
 
wichtiger erachtet als der Erlass eines Verbotes. An die Stelle rechtlicher Vorschriften
 
trat das mündige Gewissen der Gläubigen, ohne die Pflicht und Aufgabe der kirchlichen
 
Autoritäten zu desavouieren, auf konkrete Abweichungen von der Glaubensund
 
Sittenlehre hinzuweisen.«60
 
Hier zeichnet sich zumindest eine Tendenz ab, die sich langfristig im Sinne einer Überwindung
 
bisheriger Barrieren auswirken könnte. Allerdings wäre hierfür wohl auch erforderlich,
 
dass sich die Freimaurerei ihrerseits um die Klärung ihrer Einstellung zu Glaube, Religion
 
und Kirche bemüht, wie dies ja auch von evangelischer Seite erwartet wird.
 
Auch in den evangelischen Kirchen gibt es eine Tradition mannigfaltiger Vorbehalte, ja
 
heftiger Ablehnung. Exemplarisch genannt seien nur die vehementen Angriffe, die durch
 
Ernst Wilhelm Hengstenberg, Professor der Theologie in Berlin und Begründer der »Evangelischen
 
Kirchenzeitung«, Mitte des 19. Jahrhundert auf die Freimaurerei geführt wurden. Seine
 
Schrift »Die Freimaurerei und das evangelische Pfarramt« enthält u.a. folgende Feststellung:
 
»Der Kampf gegen die Freimaurerei, in den wir ohne unsere Absicht und durch die
 
Gewalt der Umstände hineingeführt worden sind, verspricht erfreuliche Resultate.
 
Wir dürfen hoffen, daß diese Bewegung, die sich auch vielfach schon den Gemeinden
 
mitteilt, nicht ruhen wird, bis zuletzt die anstößige Tatsache der Beteiligung der
 
Geistlichen an dem Orden vollständig beseitigt ist. Schon dadurch wird die Freimaurerei
 
überhaupt einen bedeutenden Stoß erleiden. Die Geistlichen sind dem Orden
 
schon als Redner unentbehrlich. Gelingt es uns aber, den Hauptgrund, den wir ge-
 
59 http://www.vatican.va/roman_curia/congregations/cfaith/documents/rc_con_cfaith_doc_19831126_
 
declaration-masonic_ge.html, download 6.8.2010.
 
60 Kottmann, Klaus: Die Freimaurer und die katholische Kirche, Frankfurt am Main 2009, S. 306.
 
35
 
gen die Teilnahme der Geistlichen am Orden geltend gemacht haben, die Christo
 
und seiner Kirche abgewandte deistische und humanistische Tendenz des Ordens zur
 
allgemeinen Anerkennung zu bringen, so wird das geradezu seine Fundamente wankend
 
machen.«61
 
Die Angriffe Hengstenbergs stießen auf zahlreiche Erwiderungen, insbesondere seitens »altpreußischer
 
« Autoren aus den Reihen der Berliner Großlogen.62
 
Für die Gegenwart kommt den Gesprächen zwischen Vertretern der evangelischen Kirche
 
in Deutschland und der Vereinigten Großlogen von Deutschland besondere Bedeutung
 
zu, die Beginn der 1970er Jahre geführt wurden. In einer abschließenden Erklärung der
 
Kirche vom Oktober 1973 wurde festgestellt, dass »ein genereller Einwand gegen eine Mitgliedschaft
 
evangelischer Christen in der Freimaurerei … nach Meinung der evangelischen
 
Gesprächsteilnehmer nicht erhoben werden (könne)«63, doch blieb in kirchlicher Sicht
 
offen, wie die christliche Rechtfertigungslehre »allein aus dem Glauben« mit den Ritualen
 
der Freimaurer und der ihnen eigenen Betonung der Bedeutung einer »Arbeit am eigenen
 
Selbst« zu vereinbaren sind.64 Schließlich wurden die Freimaurer gebeten, »in geeigneter
 
Weise dazu beizutragen, dass ein höheres Maß von Information vermittelt wird, um Vorurteile
 
abzubauen«.65 Die Fragen, die die evangelische Kirche bis heute interessieren, wurden
 
von Mathias Pöhlmann, dem stellvertretenden Leiter der Evangelischen Zentralstelle für
 
Weltanschauungsfragen in Berlin, in der Jubiläumsschrift der »Vereinigten Großlogen von
 
Deutschland« im Jahre 2009 folgendermaßen formuliert:
 
»Aus kirchlicher Sicht ist besonders von Interesse, wie und in welcher Form der
 
Bruderbund seine Haltung zur Religion und zu den Kirchen jetzt und zukünftig
 
bestimmt. Ist die Freimaurerei ausschließlich der Aufklärung verpflichtet – oder erblickt
 
man im Logenwesen einen Mysterienbund mit esoterischen oder christlichmystischen
 
Konnotationen? Oder interpretiert man sie vom Kultus her als religiöse
 
Vereinigung? Besteht in manchen Richtungen nicht doch die Gefahr, dass man in
 
der jeweiligen Richtung und ihrer Ritualistik mehr erblickt als einen reinen Diesseitsbund?
 
Hier besteht innerhalb der Freimaurerei weiterhin Klärungsbedarf.
 
Zum anderen stellt sich auch die Frage nach dem Menschenbild der Freimaurerei:
 
Wie gelingt der Balanceakt zwischen den hohen Idealen und den tatsächlichen
 
menschlichen Schwächen? Welchen zukünftigen Weg wählt die Freimaurerei in der
 
Spannung zwischen Geheimnis und Öffentlichkeit? Gelingt es ihr, die freimaure-
 
61 Hengstenberg, Ernst Wilhelm: Die Freimaurerei und das evangelische Pfarramt, 1854, zitiert nach: Neumann,
 
Otto: Die Gegner der Freimaurerei, Berlin 1908, S. 14.
 
62 Vgl. z.B. Zur Beurtheilung der Hengstenbergschen Schrift: Die Freimaurerei und das evangelische Pfarramt,
 
von einem Freimaurer mit Zustimmung seiner Ordensbehörde, Berlin 1854.
 
63 Quenzer, Wilhelm: Königliche Kunst in der Massengesellschaft. Freimaurerei als Gruppenphänomen,
 
EZW-Information 58, Stuttgart XII/1974, S. 18f.
 
64 Pöhlmann, Mathias: Verschwiegene Männer. Freimaurer in Deutschland, EZW-Texte 182, Berlin 2007, S. 188.
 
65 Pöhlmann, Mathias: Jeder nach seiner Fasson? Freimaurerei aus evangelischer Sicht, in: Vereinigte Großlogen
 
von Deutschland (Hrsg.): 50 Jahre Vereinigte Großlogen von Deutschland. Bruderschaft der Freimaurer,
 
Berlin 2009, S. 61–70, hier S. 61.
 
36
 
rischen Werte über die Loge hinaus in die öffentliche Diskussion einzubringen? Wie
 
gelingt letztlich der Spagat zwischen Traditionsbewahrung und Reform?«66
 
Diese Fragen müssen nachdenklich stimmen. Denn sie bezeichnen ja nicht nur das Informationsinteresse
 
evangelischer Christen. Es handelt sich zugleich auch um die grundsätzlichen
 
Entwicklungsfragen der Freimaurer. Fragen werden immer dann erforderlich, wenn befriedigende
 
Antworten fehlen. Und dies weist auf erhebliche Klärungs-, ja mehr noch auf Gestaltungsdefizite
 
auf Seiten der Freimaurerei hin. Bei einem »Vorhang zu und alle Fragen offen«
 
wird es da kaum bleiben dürfen.
 
Volksaberglaube
 
Verbunden mit den Ablehnungen durch Religion und Kirche entwickelte sich seit der Wende
 
zum 19. Jahrhundert ein in der Volksreligiosität verankerter Aberglaube, welcher der Freimaurerei
 
(und insbesondere ihren Ritualen) Dimensionen des Unheimlichen und Dämonischen
 
zuschreibt, wie zum Beispiel: »Bevor ein Freimaurer aufgenommen wird, muss ein
 
anderer sterben« oder »Aufnahmegesuche sind mit eigenem Blut zu unterzeichnen«. Dieser
 
Aberglaube ist auch heute noch wirksam, wenn er sich auch oft von seiner religiösen Basis
 
entfernt hat, und trägt zumindest unterschwellig zu den diffusen Bildern bei, die sich Außenstehende
 
von der Freimaurerei machen.
 
Politische Verbote, Verschwörungstheorien
 
Kaum war der Freimaurerbund am Anfang des 18. Jahrhunderts gegründet, kam es zu politisch
 
motivierten Verboten sowohl in den mehrheitlich katholischen Staaten des alten deutschen
 
Reiches als auch in primär lutherischen Städten wie Hamburg. Absolutistische und
 
autoritäre politische Systeme fühlten sich durch die freimaurerischen Postulate der sozialen
 
Gleichheit und des Vorrangs der Moral gegenüber der Politik herausgefordert und fürchteten
 
auch die Gefahren, die ihrer Herrschaft von konkurrierenden Eliten drohten, wie sie vor
 
allem die Illuminaten darstellten. Diese Ängste wurden nicht zuletzt durch die Französische
 
Revolution verstärkt, die – nicht selten, wenn auch unbegründeterweise – dem Wirken der
 
Freimaurerei zugeschrieben wurde.
 
Die generellen Verbote der Freimaurerei in den faschistischen Systemen des 20. Jahrhunderts
 
erfolgten im Kontext einer weiteren Verschärfung der Anti-Freimaurerbewegung
 
unter der Einwirkung von Verschwörungsvorstellungen. Für deren meist im extrem rechten
 
Spektrum der Politik angesiedelten Vertreter war und ist der Freimaurerbund nicht nur
 
religionsfeindlich und politisch gefährlich, sondern langfristig und strategisch auf Vernichtung
 
des Glaubens, auf Aushöhlung der gesellschaftlichen Ordnung, ja auf Weltherrschaft
 
angelegt. Dabei wird die Freimaurerei oft in eine Verbindung mit anderen Gruppierungen
 
gerückt, wobei die Behauptung einer jüdisch-freimaurerischen Verschwörung vor allem im
 
Deutschland der Weimarer Republik eine besonders verhängnisvolle Rolle spielte. Aufsehen
 
erregte zunächst das 1919 veröffentlichte Buch des österreichischen Nationalratsabgeordneten
 
Friedrich Wichtl – »Weltmaurerei, Weltrevolution, Weltrepublik. Eine Untersu-
 
66 Ebenda, S. 69.
 
37
 
chung über Ursprung und Endziele des Weltkrieges«67–, das gleichsam das Modell weiterer
 
antifreimaurerischer Kampfschriften der folgenden Jahrzehnte darstellte. Bei Wichtl findet
 
sich auch die Auffassung von der »Verwobenheit« der Freimaurerei mit den Juden, was er
 
vor allem am Beispiel Englands exemplifiziert:
 
»Freimaurerei und Judentum sind dort derartig miteinander verwoben, daß ein englischer
 
Schriftsteller allen Ernstes erklärt: Der Freimaurer ist nichts als ein künstlicher
 
Jude … Die gegenwärtige Lage der Juden in England (werde) am sinnfälligsten dadurch
 
gekennzeichnet …, dass sie die Vorherrschaft in den geheimen Gesellschaften
 
errungen haben, namentlich in der Freimaurerei.«68
 
Mitte der 1920er Jahre erfolgten Erich Ludendorffs massive Angriffe auf die deutsche Freimaurerei,
 
die den Bund sehr erschütterten, weil sich die meist national eingestellten Freimaurer
 
völlig zu Unrecht angegriffen fühlten. »Das Geheimnis der Freimaurerei ist überall
 
der Jude« heißt es im populärsten Pamphlet des Generals – »Vernichtung der Freimaurerei
 
durch Enthüllung ihrer Geheimnisse«69 – von 1927. Die Freimaurer seien »künstliche Juden«
 
(so schon Wichtl), das Streben nach einem »Menschheitsbund« nach »Humanität« und
 
»menschlicher Glückseligkeit« sei gleichbedeutend mit der »Verjudung« der Völker und der
 
Errichtung einer jüdischen Weltherrschaft. Der NS-Ideologe und spätere NSDAP-Reichsleiter
 
Alfred Rosenberg war es dann, der nicht zuletzt durch die von ihm betriebene Popularisierung
 
der sogenannten »Protokolle der Weisen von Zion«70 dafür sorgte, dass die Gegnerschaft
 
zur Freimaurerei in zeitlich wechselndem Ausmaß zum festen Bestandteil der nationalsozialistischen
 
Ideologie geworden war, die der erzwungenen Auflösung der Logen in
 
Deutschland (endgültig 1935) zugrunde lag.
 
Heutiges Selbstverständnis der deutschen Freimaurerei – eine
 
»humanitäre« Sicht
 
Im folgenden Teil dieses Beitrags zur Freimaurerei in Deutschland geht es weniger um Analysen
 
als um die – im Titel dieses Buches ja auch angekündigten – Überlegungen und Perspektiven,
 
und so bringen die folgenden Abschnitte keine Sichtweise zum Ausdruck, die
 
für die gesamte deutsche Freimaurerei der Gegenwart kennzeichnend wäre. In den »Vereinigten
 
Großlogen von Deutschland. Bruderschaft der Freimaurer«, die die in Deutschland arbeitenden
 
Logen seit 1958 in einem Vertragswerk zusammenfasst, werden ja durchaus unter-
 
67 Wichtl, Friedrich: Weltfreimauererei, Weltrevolution, Weltrepublik. Eine Untersuchung über Ursprung
 
und Endziele des Weltkrieges, Wien/München 1919.
 
68 Ebenda, S. 61.
 
69 Ludendorff, Erich: Vernichtung der Freimaurerei durch Enthüllung ihrer Geheimnisse, München 1927.
 
70 Zutreffend heißt es in »Wikipedia. Die freie Enzyklopädie«: »Die Protokolle der Weisen von Zion sind
 
ein seit Anfang des 20. Jahrhunderts verbreitetes antisemitisches Pamphlet, das eine jüdische Weltverschwörung
 
belegen soll. Es wurde von unbekannten Redakteuren auf der Grundlage der satirischen
 
Schrift Gespräche in der Unterwelt zwischen Machiavelli und Montesquieu von Maurice Joly und weiteren
 
fiktionalen Texten zusammengestellt. Trotz mehrfach erbrachter Beweise, dass es sich bei den Protokollen
 
um Fälschungen handelt, findet sich der Glaube an ihre Authentizität oder Wahrheit noch
 
heute unter Antisemiten und Anhängern von Verschwörungstheorien in der ganzen Welt.«
 
38
 
schiedliche freimaurerische Traditionen fortgesetzt. Als Mitglied der weitaus größten der die
 
VGLvD bildenden Großlogen, der »Großloge der Alten, Freien und Angenommenen Maurer
 
von Deutschland« (GL A.F.u.A.M. v. D.), stehe ich bewusst und überzeugt in der »humanitären
 
« Tradition der deutschen Freimaurerei. Wenn dies nun auch keinesfalls bedeutet,
 
dass alle Freimaurer dieser Großloge meine, zunächst einmal ja sehr persönlichen Perspektiven
 
und »Annäherungen an Freimaurerei« teilen würden oder gar teilen sollten, so gehe ich
 
doch davon aus, einen nicht unbeträchtlichen Konsens dieser Freimaurer zum Ausdruck
 
zu bringen.
 
In der gesellschaftlichen Realität von heute sind sich die Brüder und Logen der Großloge
 
A.F.u.A.M. bewusst, dass die Freimaurerei ein neues, »offenes« Verhältnis zur Öffentlichkeit
 
herzustellen hat. Die Bruderschaft versteht sich als Bestandteil der demokratisch-pluralistischen
 
Gesellschaft. Dies bedeutet zugleich, sich ihres Platzes in eben dieser Gesellschaft
 
zu versichern und sich ihrer sozialen Umwelt verständlich zu machen. Denn je mehr sich
 
die deutsche Freimaurerei zur Gesellschaft öffnete, desto häufiger wurde und wird sie auf
 
ihr Selbstverständnis und ihre Wirklichkeit hin befragt. Legitimitätsbegründungen durch
 
Berufung auf die Geschichte der Freimaurerei reichen nicht mehr aus. Auch Hinweise
 
auf »bedeutende Freimaurer« können nicht genügen. Die Fragen, was Freimaurerei in der
 
modernen Gesellschaft ist und sein will und was das »freimaurerische Geheimnis« heute
 
bedeutet, müssen auf eine klarere Weise beantwortet werden.71
 
Eine präzise Antwort auf diese Fragen ist jedoch schwierig. Gewiss herrscht Übereinstimmung
 
unter den deutschen Freimaurern in Bezug auf historische Entwicklungslinien
 
und strukturelle Grundelemente, doch die Perspektiven, Formen und Farben dieses Freimaurerbildes
 
variieren ebenso wie seine Einordnung in gesellschaftlich-historische Bezüge
 
und die Begrifflichkeit seiner Vermittlung. Dies ist einmal darauf zurückzuführen, dass
 
Großgruppen wie die Freimaurerei generell nie nur ein Selbstverständnis aufweisen und
 
griffig-eindeutige Formulierungen für ihre Corporate Identity immer subjektive Konstruktionen
 
sind, die nicht selten den Verdacht ertragen müssen, primär als Führungsinstrumente
 
nach innen und als reglementierte Kommunikationscodes nach außen zu fungieren.
 
Dazu kommen der unterschiedliche historische Hintergrund der einzelnen deutschen Logen
 
– schließlich ist auch die GL A.F.u.A.M. aus dem Zusammenschluss von Logen aus
 
früheren, durchaus unterschiedlichen Großlogen hervorgegangen72 – sowie der Umstand,
 
dass auch die deutsche Freimaurerei der Gegenwart keine »Grundsatzkommissionen« kennt
 
und die einzelnen Freimaurer zudem in der Regel strikt auf einer ganz individuellen Deutungshoheit
 
bezüglich dessen beharren, was unter Freimaurerei zu verstehen ist.
 
Dennoch gibt es Übereinstimmungen, die in Satzungen, Stellungnahmen der Großlogenleitungen,
 
Positionspapieren, Logen- und Großlogendiskussionen und neuerdings den freimaurerischen
 
Internetseiten ihren Ausdruck finden.73 Diese Übereinstimmungen haben klä-
 
71 Vgl. Höhmann, Hans-Hermann: Freimaurerei und gesellschaftliche Gegenwart: Umfeld, Identität, Perspektiven,
 
in: Berger, J./Grün, K-J. (Hrsg.), Geheime Gesellschaft. Weimar und die deutsche Freimaurerei,
 
München/Wien 2002, S. 343–350.
 
72 Hierzu ausführlich Höhmann, Hans-Hermann: Deutsche Freimaurerei nach 1945 – Wiederaufbau zwischen
 
Neuorientierung und alten Strukturen, in diesem Band, S. 88–114.
 
73 Siehe z.B. die Seite der Großloge der Alten, Freien und Angenommenen Maurer von Deutschland,
 
www.freimaurerei.de.
 
39
 
rende Funktionen nach innen, sollen jedoch auch einer die eigene freimaurerische Identität
 
vermittelnden Öffentlichkeitsarbeit dienen. Einer solchen Öffentlichkeitsarbeit werden etwa
 
in den Leitgedanken zur Freimaurerei,74 die innerhalb der GL A.F.u.A.M. Mitte der achtziger
 
Jahre (u.a. vom Verfasser dieses Textes75) erarbeitet und inzwischen immer wieder veröffentlicht
 
wurden, drei Aufgaben zugesprochen:
 
• Abbau von Vorurteilen und Verbesserung des Informationsstandes der profanen Umwelt;
 
• Herstellen einer fruchtbaren, Logen und Großloge geistig und sozial belebenden Kommunikation
 
mit Außenstehenden sowie
 
• Anknüpfen von Beziehungen zu Männern, die für die Logen als »Suchende« in Frage
 
kommen.
 
Als Kernaufgabe des Freimaurerbundes in der Gegenwartsgesellschaft kann die Suche nach
 
einer unverwechselbaren, kraftvollen freimaurerischen Identität verstanden werden. Hinter
 
dieser Feststellung steht die – teils gefühlte, teils bewusst gemachte – Einsicht, dass Freimaurerei
 
ohne Wissen darum, was sie ist und sein kann, sowie ohne immer neue Versuche, den
 
Möglichkeiten der Freimaurerei durch Wirken innerhalb der Logen und nach außen, d.h.
 
in die Gesellschaft hinein, gerecht zu werden, auf Dauer nicht bestehen kann. Meistens beruft
 
sich die Freimaurerei auf ihre Geschichte, wobei das aus heutiger Sicht Positive der Vergangenheit,
 
insbesondere der um die Begriffe Menschlichkeit, Brüderlichkeit und Toleranz
 
kreisende Wertekanon des Bundes, in aller Regel in den Vordergrund gerückt wird, während
 
negative und diffuse Erscheinungsbilder verschwiegen oder verdrängt werden. Ein ethischer
 
Bund, der sich selbst ernst nimmt und der von der Gesellschaft ernst genommen werden
 
will, darf jedoch nicht so verfahren. Er muss sich Gedanken über sich selbst machen und
 
sich in seiner Selbstreflexion von den hohen Maßstäben leiten lassen, die er für sich selbst
 
beansprucht, kurz: Er muss sich auf die Tragfähigkeit seiner Identität in Konzeption und
 
Wirklichkeit befragen lassen.
 
Nach Identität als einem selbstbewussten Einssein mit sich selber kann sowohl für den
 
einzelnen Freimaurer als auch für die verschiedenen freimaurerischen Gruppen (Logen,
 
Großloge, Leitungsgremien etc.) gefragt werden. Was zunächst die individuelle freimaurerische
 
Identität betrifft, so hat ein Freimaurer als Maurer (»by his tenure«, wie die Alten
 
Pflichten sagen) unabhängig von seinen individuellen Wertvorstellungen und seinem spezifischen
 
Selbstverständnis als Mensch, Mann, Berufstätiger, gläubiger oder nichtgläubiger
 
Mensch etc. dann Identität, wenn er überzeugend, fundiert, redlich und erkennbar hinter
 
seinen freimaurerischen Vorstellungen steht und wenn sich seine freimaurerischen Auffassungen
 
auch im Alltag bewähren. Je größer die Zahl der Brüder mit überzeugender freimaurerischer
 
Identität ist, desto besser lassen sich die Gegenwarts- und Zukunftsaufgaben
 
des Bundes lösen. Die Freimaurer müssen sich folglich um diese individuelle maurerische
 
Identität bemühen, auch wenn sie immer wieder scheitern und der »Rauhe Stein« ein
 
treffliches Symbol für sie bleibt. Über die Werkzeuge zur Identitätsfindung verfügt die
 
Freimaurerei in reichem Maße, sei es die tolerante Mitmenschlichkeit in der Loge, sei es
 
74 Leitgedanken der Freimaurerei, http://www.freimaurerei.de/index.php?id=9.
 
75 Vgl. Höhmann, Hans-Hermann: Eine Großloge wird vorgestellt: Leitgedanken zu Standort und Identität
 
der Großloge der Alten Freien und Angenommenen Maurer von Deutschland, in diesem Band,
 
S. 262–265.
 
40
 
der kritisch-selbstkritische Diskurs der Brüder, sei es das Ritual, in dem es ja im Grunde
 
um nichts anderes geht als um Bestimmung, Einübung und Verinnerlichung von Identität.
 
Unter freimaurerischer Gruppenidentität sollen Selbstverständnis und Ausdruck, Konzeptionen
 
und Weisen ihrer Umsetzung verstanden werden, wie sie für eine Gruppe von
 
Freimaurern (Logen, Großloge) in einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort kennzeichnend
 
sind. Wie bei den einzelnen Freimaurern gibt es bei freimaurerischen Gruppen
 
solche mit einer starken und solche mit einer schwachen Identität. Die Identität freimaurerischer
 
Gruppen setzt sich jeweils aus zwei Komponenten zusammen: aus inhaltlichen Elementen
 
wie Zielvorstellungen und Formen (Organisation, Brauchtum und Rituale) sowie
 
aus der Art und Weise, wie diese inhaltlichen Elemente in der Gruppenpraxis umgesetzt
 
werden, d.h. aus der Qualität des Gruppenprozesses. Hier sind menschliche Atmosphäre,
 
intellektuelle und emotionale Lebendigkeit, Einsatzbereitschaft, Teamfähigkeit, Diskursqualität,
 
Ausstrahlung (Charisma) etc. wichtige Stichworte.
 
Beide Eigenschaften, Inhalte und Gruppenqualität, müssen zusammenkommen. Eine
 
schwache Gruppenidentität (und damit unzureichende Wirkung nach innen und außen)
 
liegt dann vor, wenn sich verschwommene Inhalte mit mäßiger oder keiner Ausstrahlung
 
verbinden; eine starke Gruppenidentität und intensive Wirkung nach innen und außen
 
kann dagegen da angenommen werden, wo klare Inhalte und überzeugende Umsetzung
 
vorhanden sind. In der freimaurerischen Diskussion wird im Allgemeinen die Notwendigkeit
 
betont, an der Profilierung der konzeptionellen Inhalte der Freimaurerei (Wertvorstellungen,
 
Ziele) zu arbeiten. Auch aus meiner Sicht ist es wichtig, ein konzeptionell klares
 
Bild des Bundes zu entwickeln. Auf der anderen Seite wäre es gefährlich, bei der Formulierung
 
programmatischer Plattformen zu weit zu gehen und der Gefahr einer Ideologisierung
 
zu erliegen. Dies würde intellektuell aufgeschlossene Männer nur abstoßen. Diese kommen
 
ja gerade deshalb und dann zur Freimaurerei, weil und wenn diese bei aller Wertgebundenheit
 
geistig offen ist. Wer als geistig offener Mann Kontakt zur Freimaurerei sucht, ist
 
wohl eher an toleranten Such- und Orientierungsprozessen als an verbindlich vorgegebenen
 
Positionen interessiert. Daher ist es so wichtig, jedem Fundamentalismus abzusagen, die
 
Gruppenqualität der Freimaurerei zu verbessern sowie dafür zu sorgen, dass inhaltliche
 
Abklärungen auf jedes dogmatische Ausformulieren verzichten und sich mit einem hohen
 
menschlichen Niveau sowie mit intellektueller Redlichkeit verbinden.
 
Zur inhaltlichen Bestimmung freimaurerischer Identität wurden von mir einige
 
Eckpunkte herausgearbeitet, die mittlerweile ihren Weg durch die Bruderschaft der GL
 
A.F.u.A.M. gemacht haben und gern verwendet werden. Auch die Großloge macht auf
 
ihrer Webseite von ihnen Gebrauch.76
 
Mir ging es dabei darum, Anhaltspunkte dafür zu bestimmen, was Freimaurerei ist und
 
was sie nicht ist bzw. nicht sein will. Die einzelnen Charakterisierungen reichen für eine
 
Beschreibung des freimaurerischen Selbstverständnisses selbstverständlich nicht aus. Sie
 
mögen aber dazu geeignet sein, nach innen und außen klarer zu machen, durch welche
 
unterschiedlichen Erscheinungsweisen und Strukturelemente der Freimaurerbund gekennzeichnet
 
und welchen Fehlbeurteilungen und Vorurteilen er ausgesetzt ist.
 
Zunächst die positiven Setzungen:
 
76 http://www.freimaurerei.de/index.php?id=5.
 
41
 
Freimaurerei als Freundschaftsbund
 
Als Gemeinschaften freundschaftlich verbundener Menschen wollen die Freimaurerlogen der
 
Gefahr einer Isolierung des Einzelmenschen in der modernen Konsum- und Industriegesellschaft
 
entgegenwirken. Sie folgen damit ihrer speziellen Tradition, Trennendes zu überwinden,
 
Gegensätze abzubauen, Verständigung und Verständnis zu fördern sowie Menschen zu
 
verbinden, die sich nach Herkunft und Interessenlage sonst nicht begegnen würden. Gerade
 
in der heutigen Zeit sind durch Spezialisierung und Funktionsteilung der modernen Berufsund
 
Arbeitswelt, durch die Aufspaltung der Gesellschaft in Menschen, die Arbeit haben, und
 
solche, die arbeitslos sind, durch die vielfältigen Migrationsprobleme sowie durch die Ausdifferenzierung
 
des Konsum- und Freizeitverhaltens neue Schranken zwischen den Menschen
 
entstanden. Demgegenüber sollen die auf Freundschaft gegründeten Logen Stätten menschlicher
 
Begegnung über alle sozialen und politischen Schranken hinweg sein.
 
Logen engagieren sich sozial und kulturell. Logen und die Menschen in ihnen wollen
 
sich miteinander und mit anderen Menschen vernetzen, denn nur durch eine solche Vernetzung
 
von Mensch zu Mensch können in modernen komplexen Gesellschaften mit ihrer
 
Tendenz zu diffuser Anonymität und Aggressivität übersichtliche und humane Lebenswelten
 
geschaffen und erhalten werden. Dass Freimaurerei bis heute meist als Männerbund
 
verstanden und praktiziert wird, ist auf die männerbündische Tradition der Freimaurerei
 
zurückzuführen, soll die Homogenität der Logengruppe festigen und ist mit keinerlei Diskriminierung
 
von Frauen verbunden. Deshalb ist Freimaurerei heute auch bewusst ein
 
»offener« Männerbund, der Partnerin und Familie weitgehend in das Gemeinschaftsleben
 
der Logen einbezieht.
 
Zudem hat die deutsche Freimaurerei in den letzten Jahrzehnten durch die Entstehung
 
und erfolgreiche Entwicklung von Frauenlogen eine wesentliche Bereicherung erfahren, und
 
die Tatsache, dass es heute immer mehr Logen freimaurerisch arbeitender Frauen gibt, stellt
 
die weitere Existenz der Loge als Männerbund keineswegs infrage. Im Gegenteil: Sozialform,
 
Ideenwelt und rituelle Praxis erfahren hierdurch eine größere gesellschaftliche Relevanz.
 
Durch eine zunehmende Kooperation zwischen den Logen der Männer und den Logen der
 
Frauen können die freimaurerischen Diskurse gehaltvoller und das Gewicht der Freimaurerei
 
in Kultur und Öffentlichkeit gestärkt werden, ohne dass die Logen der Männer und die
 
Logen der Frauen als Initiationsgemeinschaften ihren jeweils spezifischen Gendercharakter
 
verlieren. Freundschaft und spirituelles Erlebnis unter Männern wie Freundschaft und Spiritualität
 
unter Frauen sind in modernen pluralistischen Gesellschaften ohne jede Verletzung
 
von freiheitlich-demokratischen Prinzipien möglich und von jeweils großem menschlich-sozialen
 
Wert. Zusammenführen, ohne durch Niederreißen von Grenzen bewährte Strukturen
 
zu zerstören: Hierin liegt eine große Entwicklungschance der gegenwärtigen Freimaurerei.
 
Freimaurerei als ethisch orientierter Bund
 
»Im Geiste ihrer freiheitlich-humanitären Tradition« bekennen sich die Freimaurer der
 
»Großloge der Alten Freien und Angenommenen Maurer von Deutschland« in ihrer Verfassung
 
zu ethischen Werten und Überzeugungen, die u.a. in folgenden »freimaurerischen
 
Grundsätzen« Ausdruck finden:
 
42
 
»In den Mitgliedslogen der Großloge arbeiten Freimaurer, die in bruderschaftlichen
 
Formen und durch überkommene rituelle Handlungen menschliche Vervollkommnung
 
erstreben. In Achtung vor der Würde jedes Menschen treten sie
 
ein für die freie Entfaltung der Persönlichkeit und für Brüderlichkeit, Toleranz und
 
Hilfsbereitschaft und Erziehung hierzu … Glaubens-, Gewissens- und Denkfreiheit
 
sind den Freimaurern höchstes Gut … Die Freimaurer sind durch ihr gemeinsames
 
Streben nach humanitärer Geisteshaltung miteinander verbunden; sie bilden keine
 
Glaubensgemeinschaft.«77
 
Der Freimaurerbund entwickelt zwar kein eigenes ethisches System und versucht schon gar
 
nicht, ethische Überzeugungen in politische Programme zu übertragen. Dennoch gibt die
 
Freimaurerei mit ihren Wertpositionen Humanität, Brüderlichkeit, Freiheit, Gerechtigkeit,
 
Friedensliebe und Toleranz Orientierungen und Maßstäbe für das Denken und Handeln ihrer
 
Mitglieder vor. Im Vergleichen von Realität und Wertmaßstab, im gemeinsamen Nachdenken
 
und in kritischer Selbstaufklärung sollen Verhaltensweisen und Umgangsstile eingeübt
 
werden, die ein Umsetzen ethischer Überzeugungen in die moralische Lebenspraxis des
 
einzelnen Freimaurers bewirken. Die Allgemeinheit dieser Wertvorstellungen darf nicht irritieren,
 
auch nicht die Tatsache, dass die Freimaurerei diese Werte mit anderen Gruppen teilt.
 
Das Spezielle im Freimaurerbund ist die Methode der Umsetzung. Dabei kommt dem brüderlichen
 
Gespräch große Bedeutung zu, denn »Nichts geht über das laut denken mit einem
 
Freunde« (Lessing). Ein solcher Diskurs soll Möglichkeiten schaffen, sich zu informieren,
 
sich zu orientieren, eigene persönliche und freimaurerische Identitäten zu entwickeln und
 
sich gemeinsam aus Vorurteilen herauszudenken.
 
Vor allem kommt es darauf an, eine neue Sensibilität zu schaffen. Freimaurer gehen davon
 
aus, dass richtiges Fragen wichtiger ist als vorschnelles, zu kurz gegriffenes Antworten.
 
Damit dies gelingen kann, ist freilich eine Verpflichtung zu kritischer Haltung erforderlich.
 
Eine solche fällt nicht leicht. Doch auch hier kann an Traditionen der Aufklärung und an
 
älteres freimaurerisches Denken angeknüpft werden, an die Erkenntnis nämlich, dass auch
 
das Bekenntnis zu Menschlichkeit und Brüderlichkeit zum Dogma erstarren kann, wo die
 
Bereitschaft fehlt, auf kritische Argumente zu hören und von der Erfahrung zu lernen. Es
 
geht um die von K. R. Popper empfohlene Einsicht, dass zur Lösung vieler Probleme eine
 
Einstellung gehört, »die zugibt, dass ich mich irren kann, dass du recht haben kannst, und
 
dass wir zusammen vielleicht der Wahrheit auf die Spur kommen werden«; eine Einstellung,
 
welche die Hoffnung nicht aufgibt, »durch Argumente und sorgfältiges Beobachten zur
 
Übereinstimmung zu kommen, und daß es sogar dort, wo verschiedene Intereressen und
 
Forderungen aufeinanderprallen möglich ist, … einen Kompromiß zu erreichen, der wegen
 
seiner Billigkeit für die meisten, wenn nicht für alle annehmbar ist«.78 Hier ist auch abermals
 
an ein Wort und eine Warnung Lessings zu erinnern, dass nicht die Wahrheit, sondern
 
die Mühe der Wahrheitssuche den Wert des Menschen ausmacht, »denn nicht der Irrthum,
 
sondern der sektirische Irrthum, ja sogar die sektirische Wahrheit, machen das Unglück der
 
Menschen; oder würden es machen, wenn die Wahrheit eine Sekte stiften wollte«.79
 
77 Verfassung der Großloge der Alten Freien und Angenommenen Maurer von Deutschland, Bonn 1994.
 
78 Popper, K. R.: Die Offene Gesellschaft und ihre Feinde, Zweiter Band, Bern 1958, S. 276.
 
79 Gotthold Ephraim Lessings Sämtliche Schriften, Bd. 18, Leipzig/Stuttgart 1904, S. 109, zitiert nach:
 
Vierhaus, Rudolf: Deutschland im 18. Jahrhundert, a.a.O., S. 122.
 
43
 
Freimaurerei als Initiationsgemeinschaft und symbolischer Werkbund
 
Zur Festigung der zwischenmenschlichen Beziehungen, zur gefühlsmäßigen Vertiefung und
 
Verankerung ihrer ethischen Überzeugungen, zur Vermittlung spiritueller Erfahrungen und
 
als Anleitung zur Selbsterkenntnis bedienen sich die Logen alter, vor allem aus der Tradition
 
der europäischen Dombauhütten stammender Symbole und symbolhafter Handlungen (Rituale),
 
in deren Mittelpunkt die feierliche Aufnahme (Initiation) des neuen Mitglieds in die
 
brüderliche Gemeinschaft steht.
 
Die Zugänge des einzelnen Freimaurers zu Symbolen und Ritualen können durchaus
 
unterschiedlich sein: Diesen mag vor allem die kontemplative Seite des Brauchtums ansprechen,
 
das Ruhefinden, das Zu-sich-Kommen im geschlossenen Logenraum, der Bauhütte,
 
dem Tempel, in dem Freimaurer einen Teil ihrer Veranstaltungen abhalten. Jenen mag
 
die Bedeutung der rituellen »Arbeit« als Ordnung der Zeit ansprechen, als Atempause im
 
Strom der unruhigen Zeit, als »Moratorium des Alltags« (Odo Marquard80). Ein weiterer
 
mag in erster Linie vom spirituellen Gehalt des Brauchtums angezogen werden, vom behutsamen
 
Ansprechen der Beziehungen Mensch – Welt, Mensch – Kosmos, Immanenz –
 
Transzendenz. Ein anderer schließlich schätzt vor allem die ethisch-erzieherische Qualität
 
des Rituals: tauglicher zu werden als »moralischer Baustein« in seiner ganz konkreten Lebenswelt.
 
Daraus folgt, dass auch im Umgang mit Symbolen und Brauchtum »Offenheit«
 
eine zentrale Kategorie der Freimaurerei ist.
 
Auch die Frage, inwieweit die Symbole und Rituale der Freimaurerei als »esoterisch«
 
verstanden werden sollen, muss letztlich vom einzelnen Freimaurer und der freimaurerischen
 
Gruppe entschieden werden. Esoterisch im Sinne eines durch Absonderung schutzbedürftigen
 
Gruppenprozesses des Intimen und Internen sind die Rituale sicherlich.81
 
Doch können die in der Symbolik präsenten hermetischen Traditionen für die einzelnen
 
Freimaurer durchaus unterschiedlich wichtig sein, und dem Ritualverständnis des Bruders –
 
d.h. seinem ganz persönlichen »freimaurerischen Geheimnis« – ist respektvoll zu begegnen.
 
Dies gilt allerdings nur so lange, wie nicht für die freimaurerische Esoterik der Charakter
 
eines Geheimwissens beansprucht wird, das nur im Bund vermittelt wird und außerhalb
 
der Freimaurerei nicht zu erlangen ist. Von solchen Esoterikvorstellungen hätte sich die
 
Freimaurerei um ihrer selbst willen strikt abzugrenzen.
 
Die freimaurerische Ritualpraxis soll – insbesondere durch die drei großen Sinnbild-
 
Komplexe der Symbolik des Lichtes, der Symbolik des Wanderns und der Symbolik des
 
Bauens, die das der Freimaurerei eigene Menschenbild und ihr Selbstverständnis zusammenfassen
 
und die immer wieder in verschiedenen Formen ästhetisch-rituell gestaltet werden82
 
– Empfinden und Bewusstsein des Freimaurers für ein erweitertes Blickfeld öffnen.
 
»Schau in dich – schau um dich – schau über dich«, so lauten drei alte bezeichnende Aufforderungen.
 
Die »Öffnung« der Loge durch den leitenden Meister am Beginn des Rituals
 
80 Marquard, Odo: Moratorium des Alltags. Eine kleine Philosophie des Festes, in: ders.: Skepsis und Zustimmung.
 
Philosophische Studien, Stuttgart 1994, S. 59–69.
 
81 Vgl. hierzu und zum Folgenden Kehl, Alois: Meinen Schwestern und Brüdern im freien Geist. Aufsätze,
 
Vorträge, Zeichnungen zur Freimaurerei, herausgegeben von der Freimaurerloge »Ver Sacrum«, Köln
 
2003, S. 98f.
 
82 Ausführlich hierzu Höhmann, Hans-Hermann: »Des Maurers Wandeln, es gleicht dem Leben …« –
 
Überlegungen zur Symbol- und Ritualwelt der Freimaurerei, in diesem Band, S. 232–239.
 
44
 
bedeutet vor allem die Öffnung der Wahrnehmung der Ritualteilnehmer für die Vorgänge
 
des Rituals. Die formelhafte Öffnung der Loge ist nur einer von zahlreichen performativen
 
Sprechakten, die wichtige Einübungselemente des freimaurerischen Rituals sind. Auch die
 
sich in »Werklehren« wiederholenden Wechselgespräche zwischen dem leitenden Meister
 
und den Aufsehern der Loge stellen performatives Sprechen dar. Sie fordern in der Erwartung
 
zum Nachvollzug auf, dass der Sprechakt bewirkt, wovon er spricht. Wenn etwa der
 
Meister fragt: »Warum nennen wir uns Freimaurer?« und die Antwort des Ersten Aufsehers
 
lautet »Wir bauen den Tempel der Humanität«, so soll diese Beschreibung eines moralischen
 
Arbeitsvorhabens der Einübung in die Bereitschaft eines tatsächlichen, moralisch
 
orientierten und ethisch begründeten Handelns dienen. Deshalb wird die rituelle Feier von
 
den Freimaurern auch Arbeit genannt.
 
Ganz wesentlich ist, dass das freimaurerische Ritual bildhaftes Erleben menschlicher
 
Entwicklung vermittelt. »Rites de Passage«, Übergangsriten, symbolische Reisen verdeutlichen
 
menschliche Entwicklung, zeigen die Gefährdung des Menschen, seine Einsamkeit,
 
ja seinen Tod, seine Verwiesenheit auf Gemeinschaft und die Pflicht der Gemeinschaft zu
 
helfen. Auch die drei freimaurerischen Grade des Lehrlings, des Gesellen und des Meisters
 
symbolisieren menschliche Entwicklungspotentiale, um deren Nutzung und Erweiterung
 
sich der Freimaurerbund bemüht. Dabei versinnbildlichen die Wanderungen durch die
 
Grade mit den entsprechenden Initiationen die Veränderungen des Menschen, die erforderlich
 
sind, um Fortschritte auf dem Weg zu mehr Selbsterkenntnis, Mitmenschlichkeit und
 
ethischer Verpflichtung zu erreichen.
 
Die genannten drei konstitutiven Grundelemente der Freimaurerei – Freundschaftsbund,
 
ethische Orientierung und rituelle Praxis – erfassen gleichermaßen die soziale, intellektuelle,
 
moralische und emotionale Seite des Menschen. Sie können allerdings nur
 
dann nach innen wie nach außen wirksam werden, wenn zwischen ihnen ein ausreichendes
 
Maß an Gleichgewicht und Gleichklang herrscht, d.h. wenn kein Element überbetont oder
 
vernachlässigt wird. Wo das Gewicht zu sehr auf bloße soziale Kommunikation, auf »Gesellschaftsleben
 
« gelegt wird, droht Abgleiten in Vereinsmeierei und »Event-Geselligkeit«.
 
Wo die Diskussion um Prinzipien oder gar die Suche nach Programmen im Vordergrund
 
steht, wird aus der Loge ein menschlich steriler und bald zerstrittener Debattierklub. Wo
 
der Akzent überwiegend auf das Ritual gesetzt wird, besteht die Gefahr, sich in eine esoterische
 
Sekte zu verwandeln.
 
Die gleichzeitig vorgenommenen Abgrenzungen (»Freimaurerei ist nicht«) kreisen
 
schwerpunktmäßig um folgende Feststellungen:
 
Freimaurerei ist nicht Partei und Interessenverband
 
Die Logen und die Großloge formulieren keine politischen Programme, nehmen nicht teil
 
an parteipolitischen Auseinandersetzungen und vertreten nicht die Interessen bestimmter
 
gesellschaftlich organisierter Gruppen.83 Dennoch beabsichtigt die Freimaurerei eine politische
 
Wirkung: Als »Gemeinschaft toleranter Ungleichgesinnter« will sie einen Beitrag zur
 
Überwindung der schädlichen Auswirkungen politischer Konflikte zwischen Menschen,
 
83 Ausführlich dazu Höhmann, Hans-Hermann: Der deutsche Freimaurerdiskurs der Gegenwart: Was ist,
 
was will, was soll die Freimaurerei?, in diesem Band, S. 152–178, insbesondere S. 174–178.
 
45
 
politischen Gruppen und Nationen leisten; gemäß ihres Bekenntnisses zur Toleranz zielt
 
sie darauf ab, die politische Kultur zu verbessern, und durch das Erörtern wichtiger Zeitfragen
 
in den Logen will sie zur politischen Urteilsbildung ihrer Mitglieder beitragen. Auf der
 
Grundlage persönlicher Überzeugung verantwortlich zu handeln, ist dann Aufgabe des einzelnen
 
Freimaurers.
 
Freimaurerei ist nicht Geheimbund oder gar Verschwörung
 
Der Freimaurerbund und seine Mitglieder bekennen sich zu Demokratie und offener Gesellschaft,
 
zu deren Verwirklichung viele Freimaurer wesentlich beigetragen haben. Zweck,
 
Organisation und Vorstände von Logen und Großloge sind jedem Interessenten zugänglich.
 
Viele Veranstaltungen der Freimaurer sind heute öffentlich, und viele der im Auftrag der
 
Großloge herausgegebenen Publikationen können auch von Nichtmitgliedern des Bundes
 
bezogen werden.
 
Die von den Freimaurern geübte Verschwiegenheit bezieht sich nur auf einige Einzelheiten
 
des freimaurerischen Brauchtums und ist Symbol für den in jeder Gemeinschaft
 
notwendigen Schutz von Freundschaft und persönlichem Vertrauen. Das »freimaurerische
 
Geheimnis« kann heute nur noch im Sinne eines solchen Vertrauensschutzes verstanden
 
und praktiziert werden. Es dient heute nicht mehr dazu, Freimaurerei und Gesellschaft
 
zu trennen. Es soll aus der Sicht der Logen angesichts des weit verbreiteten, gleichermaßen
 
von den Medien wie ihren Konsumenten zu verantwortenden, oft schon suchthaften
 
Dranges zur Indiskretion vielmehr als konstruktives und stabilisierendes Wirkungselement
 
einer offenen und zugleich humanen Gesellschaft verstanden und vermittelt werden.
 
Freimaurerei ist weder Nebenkirche noch Ersatzreligion
 
Für die humanitäre Freimaurerei, die in Deutschland durch die GL A.F.u.A.M. vertreten wird,
 
ist Freimaurerei keine Religion und auch kein Ersatz für eine Religion.84 Die Freimaurerei versteht
 
sich als offen für Menschen aller Glaubensbekenntnisse und Weltanschauungen, wenn
 
diese mit den ethischen Überzeugungen und moralischen Prinzipien der Freimaurerei übereinstimmen.
 
Die Freimaurerei vermittelt kein Glaubenssystem. Sie kennt kein Dogma, keine
 
Theologie und keine Sakramente. Die Freimaurer haben auch keinen gemeinsamen Gottesbegriff.
 
Die symbolische Präsenz eines »Großen Baumeisters aller Welten« im Ritual der
 
Freimaurer darf folglich nicht mit den verschiedenen Gottesverständnissen der Religionen
 
verwechselt oder gar gleichgesetzt werden. Die freimaurerische Symbolik begründet – wie gelegentlich
 
missverstanden wird – auch keine religiösen Minimalanforderungen an den Freimaurer.
 
Das Symbol des »Großen Baumeisters« stellt vielmehr das umfassende Sinnsymbol
 
des Bundes dar und ist als solches vom Freimaurer zu respektieren, denn ethisch orientiertes
 
Handeln setzt in masonischer Sicht die Anerkennung eines übergeordneten sinngebenden
 
Prinzips voraus, das Verantwortung begründet und auf das die Ethik des Freimaurers letztlich
 
rückbezogen ist. Auf dieser Grundlage hat sich der Freimaurer moralisch, nicht religiös
 
zu verpflichten. Ein guter und redlicher Mann soll er sein, ein Mann von Ehre und Anstand,
 
84 Ausführlich hierzu: Höhmann, Hans-Hermann: »Von Gott und der Religion«. Zum Religionsdiskurs in
 
der deutschen Freimaurerei, in diesem Band, S. 179–197.
 
46
 
ohne Rücksicht auf Bekenntnis und Überzeugung: Diese Forderung der »Alten Pflichten«
 
von 1723 gilt nach wie vor und bedarf keiner Ergänzung durch religiöse Überzeugungen.
 
Logenpraxis
 
Die Aktivitäten einer Loge sind durch verschiedene Arbeitsfelder gekennzeichnet. Diese ergeben
 
sich aus den vielen Facetten der Loge und entsprechen auf unterschiedliche Weise
 
dem Interessenspektrum der Mitglieder. Zum Zwecke des Überblicks ist es sinnvoll, zumindest
 
folgende sechs Komponenten zu unterscheiden:85
 
• die rituelle Komponente, durch die die Freimaurerei von anderen ethisch orientierten
 
Bünden unterscheidbar wird und die insbesondere den »initiatischen Kern« des Freimaurerbundes
 
beinhaltet (»Tempelarbeit«);
 
• die diskursive Komponente, die sich auf die »geistige Arbeit« in der Loge bezieht (Gespräche
 
vor allem über ethische Orientierungen und ihre Umsetzung im Rahmen der
 
spezifisch freimaurerischen »Einübungsethik«86, Erörterungen der Beziehungen zur Gesellschaft);
 
• die gesellige Komponente: Geselliges Beisammensein, oft mit Lebenspartnerinnen
 
(»Schwestern«) und Gästen, Festtafeln, kulturelle Veranstaltungen;
 
• die karitative Komponente: Aufbringen und Einsetzen von Mitteln für Unterstützungen
 
und andere soziale Zwecke, oft organisiert in spezifischen Wohlfahrtseinrichtungen (Stiftungen)
 
der Logen und Großlogen;
 
• die administrative Komponente: Leitung von Logen und Großlogen in besonderen Gremien,
 
administrative Abstimmungen mit anderen Logen und Großlogen sowie schließlich
 
• die repräsentative Komponente: Repräsentation der Freimaurerei im Inneren und Vertretung
 
der Freimaurerei nach außen gegenüber der Weltfreimaurerei und der Öffentlichkeit.
 
Die verschiedenen Komponenten im Spektrum der Logenaktivitäten bieten vielfältige Ansatzpunkte
 
für unterschiedliche Interessen der Logenmitglieder. Sie entsprechen dem Bedürfnis
 
nach Geselligkeit, »guten Gesprächen« und rituellen Erfahrungen ebenso wie dem
 
Ausleben von Tätigkeitsdrang, der Festigung des Selbstgefühls und der Bedienung von Statusbedürfnissen.
 
Andererseits liegt hier auch die Ursache von Konflikten, mannigfaltigem
 
Reformbedarf und der Forderung, dass sich die Freimaurerei einem permanenten Prozess
 
kritischer Selbstaufklärung zu stellen habe. Eine systematische sozialwissenschaftliche Aufarbeitung
 
der Logenpraxis steht noch aus. Grund dafür ist sowohl eine begreifliche Scheu
 
Außenstehender, einer geschlossenen, werthaltigen Gruppe mit analytischen Werkzeugen
 
möglicherweise »zu nahe zu treten«, als auch eine Abwehrhaltung vieler Freimaurer. Andererseits
 
hat die allgemeine Sozialforschung die Freimaurerlogen noch nicht als interessanten
 
Forschungsgegenstand entdeckt, so dass die »Delegation von Selbstaufklärung« nach außen
 
(die im Falle der Aufarbeitung der »völkischen Freimaurerei« gelungen ist) vorläufig nur be-
 
85 Unter Weiterführung von Dosch, Reinhold: Deutsches Freimaurer Lexikon, Bonn 1999, S. 31ff.
 
86 Hammacher, Klaus: Einübungsethik, a.a.O.
 
47
 
dingt möglich ist, obwohl der Erkenntnisgewinn – insbesondere für mikrosoziologische Fragestellungen
 
in Bezug auf die Logen – beträchtlich sein könnte.
 
In Anbetracht der bisher geringen Aussagekraft partieller Einsichten in die Logenpraxis
 
kommt einer Repräsentativerhebung größere Bedeutung zu, die Ende der 1990er Jahre unter
 
dem Titel »Sinn-Dimensionen der Freimaurerei« im Rahmen der Freimaurer-Akademie
 
der Großloge von Österreich durchgeführt wurde.87 Dabei wurden in 42 Logen Befragungen
 
durchgeführt und 800 Fragebögen in die Analyse einbezogen. Es sollte u.a. ermittelt werden,
 
in welcher Abfolge »Freimaurerische Sinn-Dimensionen« festzustellen sind (verstanden
 
als der einer Mitgliedschaft in der Loge beigemessene subjektive »Sinn«). Die Befragungen
 
belegen, dass sich die zuvor genannten Arbeitsfelder der Logen bzw. die innerhalb von ihnen
 
unterschiedenen Komponenten nicht einfach aus der Funktionsstruktur der Logen ergeben,
 
sondern durch persönliche Wahl gemäß den unterschiedlichen Schwerpunkten individueller
 
Interessen und persönlicher Sinnsuche bestätigt werden. Nach der Häufigkeit ihrer
 
Nennung in den Befragungen geordnet, sah die Rangordnung möglicher Sinndimensionen
 
wie folgt aus: Soziale Nähe, Lebenssinn, Esoterik, Selbstentfaltung, Bildung.
 
• Die an erster Stelle genannte Sinndimension »Soziale Nähe« wird im Wesentlichen als
 
»Erlebnis von Freundschaft und menschlichen Beziehungen im Gespräch und anderen
 
sozialen Kontakten zu gleichgesinnten, interessanten Menschen« verstanden. Sie wurde
 
von einer »überwältigenden Mehrheit« aller Befragten als wesentlich genannt.
 
• Die Sinndimension »Lebenssinn« steht an zweiter Position: »Von über 80 Prozent wurden
 
eigene Charakterbildung und die Befassung mit allgemeinen Sinnfragen oder mit der
 
Lebensphilosophie als wichtig genannt«, gefolgt von »Optimismus und positiver Weltsicht
 
«.
 
• Der Bedeutung nach an dritter Stelle (in 70 Prozent der Nennungen) folgt die Sinndimension
 
»Esoterik«: Sie bezieht sich auf einen eher weit gefassten Esoterikbegriff, der auf eine
 
»generelle Identifikation mit rituellen und symbolischen Werten« abzielt, aber auch psychologische
 
Effekte wie »Entspannung und Beruhigung, die durch rituelle Arbeit empfunden
 
wird«, weniger dagegen »mystische Ergriffenheit« einschließt.
 
• Schwächer in der Verbreitung und nur für weniger als die Hälfte der Befragten von direkter
 
Bedeutung ist die Sinndimension »Selbstentfaltung«, verstanden als »Gewinnung
 
von Kreativität und Selbstausdruck sowie von Selbstwertgefühlen in der Bruderkette«.
 
• Die Sinndimension »Bildung« schließlich (ca. 50 Prozent der Nennungen) bezieht sich
 
nicht so sehr auf »neuere wissenschaftliche Erkenntnisse« als vielmehr auf »Einsicht in
 
gesellschaftliche Zusammenhänge und Verständnis für die Entwicklung unserer Gesellschaft
 
«.
 
• Schließlich ist interessant, dass die Wahrnehmung eines »direkten Einflusses gesellschaftlicher
 
Natur« nur von einem kleinen Anteil der Befragten, etwa einem Zehntel, als sinnvolles
 
Aktivitätsfeld der Freimaurerei verstanden wird.
 
Insgesamt belegt die Befragung auch für die Gegenwart ein eher breit als speziell angelegtes
 
Interesse an der »Sozial- und Kulturform Freimaurerei«. Sie scheint damit das Vorhanden-
 
87 Gehmacher, Ernst/Russ, Kurt: Sinn-Dimensionen der Freimaurerei. Eine Studie zur Katalysator-Wirkung
 
der Freimaurerei in Österreich, Schriftenreihe der Freimaurer-Akademie der Großloge von Österreich,
 
Wien 1999, vor allem S. 5ff.
 
48
 
sein historischer Kontinuitäten zu bestätigen. Aus der Häufigkeit der Optionen für die
 
einzelnen Sinndimensionen wurden Identitätstypen für Logenmitglieder abgeleitet, wobei
 
»Esoteriker«, »Grübler« (Sinnsucher, Gesinnungsethiker), »Aufklärer«, »Praktiker«, Vertreter
 
des »Club-Typs« und »Allrounder« unterschieden wurden, die dann wieder (unveröffentlicht)
 
zu unterschiedlichen Logenprofilen zusammengefasst wurden.
 
Probleme und Perspektiven
 
Logen unterscheiden sich nicht nur nach Sinn- und Aktivitätsmustern sowie nach Mitgliederprofilen,
 
sondern auch nach Dynamik und Erfolg ihrer »Arbeit«. Aktiven Logen mit deutlich
 
wahrnehmbarer sozialer und kultureller Ausstrahlung, wachsenden Mitgliederzahlen, Verjüngung
 
der Mitglieder und einem beträchtlichen Maß von sozialer Anerkennung im öffentlichen
 
Umfeld (insbesondere seitens der kommunalen Öffentlichkeiten) stehen Logen gegenüber,
 
deren Mitgliederbestand rückläufig und in besonderem Maße überaltert ist und in denen
 
die Partizipation an Logenveranstaltungen überdurchschnittlich gering ausfällt.
 
Neben Entwicklungsproblemen, die mit niedrigen Aktivitätsniveaus von Logen zusammenhängen,
 
sind allerdings auch solche auszumachen, die auf die vielfältigen gesellschaftlichen
 
und kulturellen Wandlungsprozesse der Moderne sowie die daraus inzwischen
 
entstandenen Strukturen der gegenwärtigen Gesellschaft zurückzuführen sind. Das freimaurerische
 
Selbstverständnis versteht die Loge als Lebensbund und strebt soziale Bindung zumindest
 
auf längere Dauer an. In den modernen westlichen Gesellschaften scheint jedoch
 
das Niveau des Engagements der Bürger in formellen Vereinigungen tendenziell abzunehmen.
 
Ob hieraus auf einen generellen Rückgang sozialer Bindungsfähigkeit geschlossen
 
werden kann oder ob sich lediglich die Formen und Zeitspannen sozialer Einbindung
 
verändern, ist beim gegenwärtigen Stand der sich mit solchen Fragen beschäftigenden Sozialkapitalforschung
 
noch nicht entscheidbar. Jedenfalls scheint evident, dass die formellen
 
Mitgliederzahlen nicht nur für Parteien, Gewerkschaften und Sportvereine rückläufig sind,
 
sondern auch für die Kirchen und andere (traditionelle) religiöse Vereinigungen sowie für
 
die ethisch orientierten Bünde. Auch in der deutschen Freimaurerei sind die Mitgliederzahlen
 
in den letzten Jahrzehnten zurückgegangen – wenn auch zuletzt (2010) bei der größten
 
deutschen Großloge, der GL AFuAM, eine leichte Zunahme der Mitgliederzahlen festzustellen
 
ist – und auch international sind (mit einigen Ausnahmen, darunter Frankreich)
 
Rückgangstendenzen festzustellen, teilweise in beträchtlichem Ausmaß. So sind die Zahlen
 
der Freimaurer zwischen 1970 und 2008 in den USA von 3,8 auf 1,4 Millionen, in England
 
von 600 Tausend auf 250 Tausend und in Kanada von 240 Tausend auf 93 Tausend regelrecht
 
abgestürzt, was Hauptgrund für den Rückgang der Weltfreimaurerei von ca. sechs auf
 
2,5 bis 3,0 Millionen Mitgliedern im gleichen Zeitraum ist.
 
Absolute Zahlen allein vermitteln allerdings ein verzerrtes Bild von der unterschiedlichen
 
Repräsentation des Freimaurerbundes in einzelnen Ländern, und es ist aussagekräftiger,
 
sogenannte »Mitgliederraten« zu ermitteln, bei denen die Zahl der Freimaurer auf 1000
 
49
 
Männer im Alter von über 20 Jahren bezogen werden.88 Die so ermittelte »Mitgliederrate«
 
beträgt für Deutschland 0,4, für Österreich 0,9, für die Niederlande 1,0, für Rumänien
 
(höchst erstaunlich89) 1,0, für die Schweiz 1,3 und für Frankreich 4,5. Trotz beträchtlicher
 
Rückgänge liegen die entsprechenden Werte für die USA mit 13,4 und England (als Teil des
 
Vereinigten Königreichs) mit 13,8 beträchtlich höher.
 
Die sehr niedrige »Mitgliederrate« in Deutschland – auch im Vergleich zu seinen unmittelbaren
 
europäischen Nachbarn – ist ebenso auf Strukturschwächen der deutschen
 
Logen und Großlogen zurückzuführen – von denen (mit erforderlichen Differenzierungen)
 
in diesem Buch noch ausführlicher die Rede ist – wie auf Folgen des langen Verbots der
 
Freimaurerei in den östlichen Bundesländern und eine hierzulande offenbar besonders
 
hartnäckige Vorurteils(un)kultur, in der sich religiöse und politische Vorbehalte (Verschwörungsvorstellungen)
 
gegenüber dem Freimaurerbund mischen.
 
Doch wie immer der generelle Trend beschaffen ist bzw. interpretiert wird: Er ist nicht
 
ohne Gegentendenzen. Es wird Bindung gesucht, Wertorientierungen haben Konjunktur,
 
Nachdenklichkeit gewinnt an Attraktivität, philosophische Praxen und Seminare erfreuen
 
sich steigender Nachfrage. Gleichzeitig wird angesichts des durch Tempo und Beschleunigung
 
von Ereignissen und Wahrnehmungen unverkennbar bedingten »Verschwindens
 
der Gegenwart« (so der Historiker Christian Meier90) nach Innehalten, Stille und »Langsamkeit
 
« und auch nach »Beheimatung in der Geschichte« gesucht. Die Formel »Zukunft
 
braucht Vergangenheit«91 ist fast schon zu einem Gemeinplatz historisch-kultureller Reflexion
 
geworden.
 
Die Freimaurerei, die sich seit jeher nicht nur als horizontales Netzwerk der Gesellschaft,
 
sondern auch als (symbolische) Brücke zwischen (weitester) Vergangenheit und
 
Zukunft verstanden hat (Lessing: »Freimaurerei war immer«), findet so Entwicklungsbedingungen,
 
die trotz aller Schwierigkeiten nicht generell als negativ einzuschätzen sind. Im
 
Gegenteil: Es zeigt sich ein zunehmendes Interesse bei der jüngeren Generation (meist über
 
Internetkontakte vermittelt), zahlreiche Logen können sich »verjüngen« und die Zahl der
 
Freimaurer ist – wie bereits zuvor erwähnt – 2009/2010 leicht angestiegen, jedenfalls bei
 
den Logen der GL A.F.u.A.M. vD. Diese hatte auf dem Großlogentag 2006 ein expansionsorientiertes
 
»Ziel 10.000« vorgegeben, dem die verbesserte Wachstumslage möglicherweise
 
zumindest teilweise zugeschrieben werden kann.
 
Entscheidend für seine Zukunft wird sein, ob es der Freimaurerbund versteht, seine vielfältigen
 
Ressourcen einzusetzen, bewährte Traditionen zu bewahren und zugleich für Innovationen
 
offen zu sein. Dazu gehören Offenheit für den Kontakt mit Menschen und der
 
Mut zu menschlicher Begegnung im Freundschaftsbund Loge. Dazu gehört eine Ritualpraxis,
 
die den Reichtum alter Formen bewahrt und die »archaischen Ritualkerne« der gültig
 
bleibenden Thematisierung des Verhältnisses Mensch – Mitmensch, Mensch – Kosmos und
 
88 Hier folge ich Putnam, Robert: Bowling Alone. The Collapse and Revival of American Community,
 
New York 2000, S. 438f.
 
89 Die »Nationale Großloge von Rumänien« wurde nach langer Verbotszeit am 24. Januar 1993 wieder gegründet,
 
besteht aus ca. 300 aktiven Logen und hat gegenwärtig (2010) 7800 Mitglieder, um ein Vielfaches
 
mehr als jede andere Großloge in einem vormals kommunistisch regierten Land (Angabe nach:
 
List of Lodges 2010, hrsg. von der American Canadian Grandlodge A.F.& A. M., United Grand Lodges
 
of Germany, S. 327).
 
90 Meier, Christian: Das Verschwinden der Gegenwart. Über Geschichte und Politik, München 2001.
 
91 Marquard, Odo: Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Essays, Stuttgart 2003.
 
50
 
Immanenz – Transzendenz im Mittelpunkt hält. Und dazu gehört schließlich auch, sich –
 
ohne Überforderung eigener Möglichkeiten – an den wichtigen Diskursen der Gegenwart
 
zu beteiligen. Viele davon haben Beziehungen zur freimaurerischen Tradition, mögen sie
 
auf die Weiterentwicklung der Aufklärung im Sinne einer »reflexiven Aufklärung«92, auf die
 
»Ethosproblematik« (»Weltethos« war auch immer schon ein freimaurerisches Projekt), auf
 
die Aneignung und Umsetzung von Werten (»Einübungsethik« ist eine alte freimaurerische
 
Tugend)93 beziehen oder auf die Reflexionen über Lebenskunst94 – denn Freimaurerei verstand
 
sich ja immer auch – gerade im Sinne von Lebenskunst – als eine »Königliche Kunst«.
 
Apropos Langsamkeit: Freimaurer müssen sich Zeit lassen – ja den Mut zur Umständlichkeit
 
haben –, wenn es um das Erklären dessen geht, was Freimaurerei ist. Freimaurerei
 
lässt sich nicht im Schnellkurs vermitteln. Vorsicht scheint mir insbesondere geboten mit
 
den – im Bunde sehr beliebten – eindimensionalen Kurzdefinitionen wie »Freimaurerei
 
ist eine Geisteshaltung«, »Freimaurerei ist angewandte Aufklärung« oder »Freimaurerei ist
 
eine religiöse Vereinigung«. Dies ist oft falsch und immer missverständlich. Wenn Kurzdefinitionen
 
erforderlich scheinen, dann sollten solche gewählt werden, die bei aller Kürze
 
hinreichend komplex und durch Erläuterungen ausbaufähig sind. Ich arbeite in meinen
 
Vorträgen gern mit folgender vorläufigen Beschreibung:
 
»Freimaurerei versteht sich als eine Lebenskunst, die menschliches Miteinander und
 
ethische Lebensorientierung durch Symbole und rituelle Handlungen in der Gemeinschaft
 
der Loge darstellbar, erlebbar und erlernbar macht.«
 
Die durch die Geschichte der Freimaurerei hindurch identifizierbaren Grundelemente des
 
Bundes, die in ihrer Gesamtheit den Reichtum der Freimaurerei ausmachen: Freundschaft
 
und Geselligkeit, ethische Orientierung und Wertediskurs sowie der rituelle Rahmen einer
 
Initiationsgemeinschaft mit der Stiftung von Freundschaft als dem Kern der kultischen
 
Handlung sind hierdurch ebenso thematisiert wie der Charakter der Freimaurerei als einer
 
Lebenskunst, die sich um die Einübung von Umgangsstilen bemüht: Stilen des Umgangs
 
mit sich selbst, mit anderen Menschen, mit den Dingen der Welt und mit Transzendenz,
 
d.h. mit der Frage der Rückbindung des Menschen an einen tragenden und Sinn gebenden
 
Grund.
 
Zum Schluss:
 
Freimaurerische Geschichte ist bis in die Gegenwart hinein nicht zuletzt die Geschichte des
 
Widerspruchs zwischen den Gestaltern und den Verwaltern der Freimaurerei gewesen. Die
 
Freimaurer leben bis heute vom kreativen Erbe der Gestalter. Dass dieses Erbe nicht von den
 
Verwaltern aufgezehrt wird und lebendiger Bestandteil der Gegenwartsfreimaurerei bleibt, ist
 
eine lohnende Aufgabe für jeden Freimaurer, der es gut meint mit seinem alten, oft arg gebeutelten
 
und doch so erstaunlich vitalen Bund.
 
92 Reinalter, Helmut: Die Freimaurer, a.a.O., S. 128ff.
 
93 Hammacher, Klaus: Einübungsethik, a.a.O.
 
94 Schmid, Wilhelm: Philosophie der Lebenskunst. Eine Grundlegung, Frankfurt am Main 2000.
 
51
 
Europas verlorener Friede, die nationalvölkische
 
Orientierung innerhalb der
 
deutschen Freimaurerei und die
 
»freimaurerische Erinnerungspolitik«
 
nach dem Zweiten Weltkrieg
 
1. Weltbürger und Patrioten
 
Dass der Friede in Europa und der Welt insgesamt zwischen 1870 und 1945 in drei sich an
 
Brutalität und Zerstörungswirkung steigernden Kriegen so gründlich verloren gegangen war,
 
hat die Freimaurer in Handeln, Argumentieren und Reflektieren immer wieder intensiv beschäftigt.
 
Denn die Friedensproblematik war von Anfang an Bestandteil ihrer eigenen Entwicklung.
 
Freimaurer – so lehrten es die Alten Pflichten – als Männer »von allen Nationen,
 
Zungen, Geschlechtern und Sprachen« sollten sich zwar aus politischen Streitigkeiten, insbesondere
 
aus internationalen Konflikten heraushalten. Aber sowohl ihre Utopien als auch die
 
Arten und Formen ihrer Einbettung in konkrete gesellschaftliche Verhältnisse und Entwicklungsprozesse
 
von Nationen ließen sie bald (erst auf indirekte, dann immer mehr auf direkte
 
Weise) politisch aktiv werden.
 
Ihrer Utopie nach waren die Freimaurer kosmopolitisch eingestellt. Sie verstanden
 
sich als Weltbund der Brüderlichkeit, als »moralische Internationale« (Reinhart Koselleck).
 
Dies gilt mit unterschiedlicher Akzentuierung für alle frühen Ausprägungen der
 
Freimaurerei. Die ersten deutschen Freimaurer waren anglophil und frankophon, und
 
auch im »klassischen Freimaurerdiskurs«1 der deutschen Spätaufklärung stehen kosmopolitische
 
Anschauungen im Vordergrund: »Der Freimaurer als solcher ist als Bürger ein
 
Weltbürger« rief Christoph Martin Wieland in seinem Vortrag »Über das Fortleben im
 
Andenken der Nachwelt« seinen Brüdern in Weimar zu.2 Lessing wünschte sich in seiner
 
Schrift »Ernst und Falk. Gespräche für Freimäurer«, dass es in jedem Land Männer
 
gäbe, »die über die Vorurteile der Völkerschaft hinweg wären und genau wüssten, wo
 
Patriotismus Tugend zu sein aufhöret«.3 »Ehrwürdig in der größten aller Gesellschaften,
 
der Welt« leitet den wahren Maurer »der Wunsch, der Welt tugendhafte Bürger zu erziehen
 
«, hieß es in einer Logenrede des Berliner Freimaurers Christian Karl Süßmilch.4
 
Karl Christian Friedrich Krause veröffentlichte 1814 nach dem Sieg über Napoleon eine
 
Reihe von Aufsätzen, die danach auch zusammengefasst unter dem programmatischen
 
Titel »Entwurf eines europäischen Staatenbundes als Basis des allgemeinen Friedens« veröffentlicht
 
wurden. Die diesbezüglichen Wirkungsmöglichkeiten der Freimaurerei hatte
 
1 Vgl. Höhmann, Hans-Hermann: Entwicklung, Reflexion, Wissenschaft. Anmerkungen zum Wechselspiel
 
zwischen freimaurerischer Geschichte und Geschichte der Freimaurerforschung, in: Quatuor Coronati
 
Jahrbuch für Freimaurerforschung, Nr. 41/2004, S. 229–239, hier S. 233f.
 
2 Zitiert nach Lennhoff, Eugen/Posner, Oskar: Internationales Freimaurerlexikon, Wien 1932, Spalte 865.
 
3 Lessing: Ernst und Falk. Gespräche für Freimäurer, sammlung insel, Frankfurt am Main 1968, S. 27.
 
4 Christian Karl Süßmilch: Der wahre Freimaurer, in: Gerlach, Karlheinz (Hrsg.), Berliner Freimaurerreden
 
1743–1804, Frankfurt am Main 1996, S. 226–235.
 
52
 
Krause schon einige Jahre zuvor umrissen: »Sofern die Freimaurerbrüderschaft ihrem
 
in ihrer eigenen Geschichte deutlich ausgesprochenen wesentlichen Begriffe gemäß ist,
 
erkenne ich sie in ihrer Grundlage und ihrem reinen Geiste nach für einen nach Zeiten
 
und Orten beschränkten und bis jetzt bewußtlosen, dennoch aber für den bis jetzt einzig
 
bestehenden geselligen Versuch an, die Ideen der Menschheit, des Menschheitslebens und
 
des Menschheitsbundes zur Anschauung zu bringen, in rein menschlichem Geiste zu
 
leben und den offenen Menschheitsbund in abgesonderten Hallen von Vernunftinstinkt
 
geleitet vorzubereiten.«5
 
Die Rhetorik dieser kosmopolitischen Ausrichtung der deutschen Freimaurerei hielt –
 
wenn auch nicht ohne Unterbrechungen und Einschränkungen – bis in die Jahre vor dem
 
deutsch-französischen Krieg von 1870/71, ja teilweise noch darüber hinaus, an.
 
»Nicht enge Grenzen sind’s. O, nein! / Die ganze Erde soll es sein«,
 
so hieß es 1866 in einer freimaurerischen, den Nationalismus des Originals überwindenden
 
Umdichtung des Vaterlandlieds von Ernst Moritz Arndt »Was ist des deutschen Vaterland?«.6
 
Unter »Entwicklung zur Humanität« verstand noch 1889 ein Autor des »Bundesblattes« der
 
Großen National-Mutterloge »Zu den drei Weltkugeln« »die Entwickelung des einzelnen
 
Menschen, des Volkes und der Menschheit zur möglichsten Vollkommenheit«, und er folgerte
 
daraus: »Auf diese Weise sind wir Brüder der Sauerteig, der die Menschenseelen aller
 
Völker und aller Religionen durchdringt, nicht um diese zu zerstören, sondern zu veredeln;
 
nicht um etwas ihnen Fremdes hineinzutragen und so sie äusserlich zu einförmiger Gestaltung
 
zu zwingen, sondern um sie geistig und sittlich
 
zu befreien, indem wir das Wesen derselben
 
zu vertiefen suchen.«7
 
In der Realität freilich identifizierten sich die deutschen – wie generell die europäischen
 
– Freimaurer mehr und mehr mit den Strukturen und Interessen des sich im 19. Jahrhundert
 
entwickelnden und etablierenden bürgerlichen Nationalstaats. Auch dieser Nationalstaat
 
hatte etwas mit der freimaurerischen Utopie zu tun. Denn er bot die organisatorische
 
Klammer und das motivierende Pathos für die Umsetzung von Demokratie, Freiheit und
 
Gerechtigkeit, woraus sich ja auch die Beteiligung vieler Freimaurer an der europäischen
 
Demokratie- und Parlamentsgeschichte erklärt.8
 
Doch als sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Spannungen zwischen den
 
europäischen Nationalstaaten verschärften, als es 1864, 1866 und 1870/71 gar zu Kriegen
 
kam, an denen Freimaurer – ihrer sozialen Stellung nach – oft in Offiziersrängen beteiligt
 
waren, nahm der Grad der Identifizierung mit dem Nationalstaat auch im Sinne einer
 
sich von anderen Nationen abgrenzenden, ja diesen gegenüber aggressiven Einstellung
 
beträchtlich zu.
 
5 Zitiert nach Lennhoff, Eugen/Posner, Oskar: a.a.O., Spalte 873f.
 
6 Zitiert nach Hoffmann, Stefan-Ludwig: Politik der Geselligkeit. Freimaurerlogen in der deutschen Bürgergesellschaft
 
1840–1918, Göttingen 2000, S. 289.
 
7 Steimmig, Paul: Gedanken über die Darstellung des Humanitätsprinzips der Freimaurerei im äusseren
 
Leben, in: Bundesblatt, Dritter Jahrgang 1889, H. 14, S. 357–363, hier S. 357, 361.
 
8 Hoede, Roland: Die Paulskirche als Symbol. Freimaurer in ihrem Wirken um Einheit und Freiheit 1833–
 
1999, Bayreuth 1999.
 
53
 
Wiederum ins Poetische gewendet, hieß es jetzt:
 
»Als letztes Ziel der Weltenbund / der Brüder auf dem Erdenrund,
 
doch jetzt schon als des Maurers Band / die Liebe zu dem Vaterland.«9
 
Die deutschen Freimaurer verstanden sich dabei als Bewahrer einer ihnen wohl vertrauten
 
konzeptionellen Tradition. Hatte doch bereits Fichte für den deutschen Freimaurer am Beginn
 
des 19. Jahrhunderts auf prägnante, über die folgenden Jahrzehnte hinweg in vielen
 
Logenreden zitierte Weise festgestellt: »Vaterlandsliebe ist seine Tat, Weltbürgersinn sein Gedanke.
 
« Dass bei diesen Zitierungen der ursprüngliche Sinn gelegentlich verkürzt wurde – so
 
zum Beispiel, wenn es hieß »Weltbürgersinn ist zwar sein Gedanke, doch Vaterlandsliebe seine
 
Tat« –, zeigt der volle Text Fichtes, in dem es vom Freimaurer heißt: »In seinem Gemüte
 
sind Vaterlandsliebe und Weltbürgersinn innigst vereinigt; und zwar stehen beide in einem
 
bestimmten Verhältnis. Vaterlandsliebe ist seine Tat, Weltbürgersinn ist sein Gedanke; die
 
erstere die Erscheinung, die zweite der innere Geist dieser Erscheinung, das Unsichtbare in
 
dem Sichtbaren (kursiv im Original).«10
 
Bekenntnisse zu Nation und Welt, patriotische und kosmopolische Einstellungen
 
blieben – wie Stefan Ludwig Hoffmann in seinem schönen Buch über die Freimaurerlogen
 
in der deutschen Bürgergesellschaft hervorgehoben hat – auch im weiteren Verlauf
 
des 19. und im frühen 20. Jahrhundert bestehen. Die Gewichte auf dem Spannungsbogen
 
zwischen »Vaterland« und »Weltenbund« verschoben sich jedoch immer mehr ins Nationale,
 
wobei zunehmend die Auffassung vertreten wurde, gerade das als für das eigene
 
Vaterland typisch Erachtete sei Inbegriff einer übernational anzustrebenden zukünftigen
 
Humanität.
 
So sahen deutsche und französische Freimaurer auch nach 1871 ihre jeweils eigene Nation
 
als »Vaterland der Menschheit«. Hoffmann hat hierzu eindrucksvolle Belege aufbereitet.11 So
 
zitiert er eine französische Logenrede aus dem Jahr 1889, in der es hieß, dass es Frankreichs
 
Aufgabe gewesen sei, für die Welt die Idee des Menschheitsfortschritts zu entwickeln und
 
»dass Frankreich zu lieben, ihm zu dienen, und, falls nötig, dafür zu sterben bedeute, die
 
Menschheit zu lieben, ihr zu dienen und für sie zu sterben«. Denselben Inbegriff des Menschheitsfortschritts
 
beanspruchten deutsche Freimaurer ihrerseits für die deutsche Nation:
 
»Der Menschheit wird durch dich zu Theil / dereinst der wahren Freiheit Heil!«
 
Mit solchen Versen ließ sich im Jahre 1880 der Leipziger Freimaurer Oswald Marbach auf einer
 
Festveranstaltung der Loge »Balduin zur Linde« vernehmen, womit er den Grundgedanken
 
aufnahm, den Emmanuel Geibel zwei Jahrzehnte zuvor in seinem Gedicht »Deutschlands
 
Beruf« in die fatalen Verse gefasst hatte:
 
9 Zitiert nach Hoffmann: a.a.O., S. 320.
 
10 Fichte, Johann Gottlieb: Philosophie der Maurerei. Briefe an Konstant (1802/03), Düsseldorf und Bonn
 
1997, S. 82.
 
11 Hoffmann: a.a.O., S. 303.
 
54
 
»Und es mag am deutschen Wesen / einmal noch die Welt genesen.«12
 
Hoffmann gibt auch beredte Beispiele dafür, wie jede Seite der anderen einen überspannten
 
Nationalismus
 
vorwarf, wie er für Freimaurer, die doch Weltbürger sein wollten, zutiefst
 
unwürdig sei. Diejenige Nation sei hingegen die gebildetste – so zitiert er einen deutschen
 
Freimaurer –, »welche neben der entschiedensten Ausprägung
 
ihres eigenen Charakters
 
und der höchsten Entwickelung ihrer eigenen
 
Kräfte am meisten Elemente fremder
 
Nationen in sich aufgenommen und derart in sich verarbeitet habe, dass diese fremden
 
Elemente selbsteigenes und eigenthümliches Element dieser Nation werden«.13 In dieser
 
Lage sei aber allein die deutsche Nation. Ein anderer Freimaurer meinte analog: »Im Großen
 
und Ganzen hat die deutsche Nation, wie es die vergleichende Geschichte nachweist,
 
sich stets human vor allen anderen gezeigt. Frei von jener systematischen Grausamkeit,
 
welcher sich z.B. die Spanier in Amerika gegen die Eingeborenen, zu Haus vorher gegen
 
die Mauren und ›Ketzer‹, die Engländer in Irland, die Franzosen gegen die Hugenotten
 
schuldig gemacht, ist im Charakter der Deutschen ein starker Zug von Gerechtigkeitsgefühl
 
vorhanden, das sie drängt, den Standpunkt der Gleichberechtigung zu bewahren und
 
gerecht, wie gegen sich, so gegen andere zu sein. In dieser Eigenschaft des Volkscharakters
 
ist die civilisatorische Aufgabe der Deutschen vorzugsweise begründet, welche sie, ausser
 
unter sich, auch als Individuen in fremden Ländern, so wie als Volk im Völkerleben
 
erfüllen.«14 Ein »engherziger, fanatischer Nationalhaß« sei hingegen – so das »Bundesblatt«
 
der GNM 3WK in einem anderen Beitrag – dem französischen Volk, insbesondere den
 
dortigen Freimaurern eigen.15
 
Das Fatale an der in Europa vor dem Ersten Weltkrieg weit verbreiteten Sichtweise, die
 
eigene Nation als Inbegriff einer weltweit zu verwirklichenden Humanität aufzufassen, liegt
 
nun insbesondere darin, dass der Begriff einer übergeordneten Humanität als kritischer
 
Maßstab für das eigene nationale Handeln außer Kraft gesetzt worden war. War das Nationale
 
identisch mit dem Humanen, so war vom Humanen her das Nationale nicht mehr
 
kritisierbar und korrigierbar. Im Gegenteil: Im faktischen Wahrnehmen und ideologischen
 
Rechtfertigen nationaler Interessen erfüllte sich geradezu die weltbürgerliche Mission der
 
Freimaurerei.
 
12 Im Ersten Weltkrieg nimmt August Horneffer diese Sendungsidee im Hinblick auf die zukünftige internationale
 
Rolle der deutschen Freimaurerei in der Nachkriegszeit wieder auf: »Wie die deutschen Kaufleute
 
und Gelehrten, müssen auch sie (die deutschen Freimaurer, H.-H. H.) nach dem Kriege wieder
 
hinaus, müssen zerrissene Fäden neu knüpfen, müssen Aufräumungsarbeiten leisten und alles, was in
 
ihren Kräften steht, tun, um den Fluch der Verirrung, der die feindlichen Völker gebannt hält, wieder
 
aufzuheben … Dann werden sie kommen und schauen und an ihren eigenen Tempeln mit verdoppeltem
 
Eifer arbeiten, um nicht zurückzubleiben. Das ist der rechte Weg zur ›Verständigung‹«. Horneffer, August:
 
Deutsche und ausländische Freimaurerei, München 1915, S. 57, 58; S. 45, 46.
 
13 Hoffmann: a.a.O., S. 303 mit Angabe der Originalquelle.
 
14 Ebenda mit Angabe der Originalquelle.
 
15 Unsere nächsten Ziele, in: Bundesblatt, Jg. 1, 1887, S. 12–29, hier S. 14, zitiert nach Hoffmann: a.a.O., S. 303.
 
55
 
2. Den Frieden retten: Pazifistische Aktionen europäischer
 
Freimaurer
 
Bei dieser Ausgangslage hinsichtlich der politischen Einstellungen und ideologischen
 
Grundmuster der Freimaurer als Teil der bürgerlichen Eliten in Europa – und insbesondere
 
in Deutschland und Frankreich – könnte nun gleich geschlossen werden, dass die Freimaurer
 
Europas seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer und insgesamt kräftig daran
 
mitwirkten, dass der europäische Friede verloren ging.
 
So einseitig darf freilich nicht gewertet werden, und es müssen auch die pazifistischen
 
Tendenzen und Aktivitäten, die von der Freimaurerei bzw. von Freimaurergruppen und
 
einzelnen Freimaurern ausgingen, in die Betrachtung einbezogen werden, gab es doch innerhalb
 
der Geschichte der europäischen Freimaurerei im 19. und 20. Jahrhundert Phasen
 
mit stärkerer Friedensorientierung, die durchaus auch in Deutschland Resonanz fanden.
 
Die Leipziger Freimaurer um Clemens Thieme etwa, anstoßgebend und umsetzend
 
beteiligt an Bau und Ausführung des Völkerschlachtdenkmals, wollten – auch dies wird
 
von Hoffmann überzeugend dargelegt16 – für das Jubiläumsjahr 1913 eher einen Ort der
 
Erinnerung und ernster Anmahnung von Frieden schaffen als ein Fanal nationalen Überschwangs,
 
weshalb sich der fast schon depressive Charakter des Denkmals ja auch deutlich
 
von der in Stein gehauenen aggressiven Euphorie anderer deutscher Denkmale abhebt wie
 
dem Hermannsdenkmal, dem Kyffhäuserdenkmal oder der über den Rhein hinüber nach
 
Frankreich drohenden Germania im Niederwald.
 
Es gab – insbesondere bei den »humanitären« und reformistischen deutschen Großlogen
 
(Letztere repräsentiert durch den »Freimaurerbund zur aufgehenden Sonne« und,
 
ab 1930, die »Symbolische Großloge von Deutschland«) – Friedensinitiativen, und es gab
 
das friedens- und freiheitsorientierte Wirken einzelner Freimaurer, deren Zahl weit größer
 
ist als die Zahl der von mir jetzt genannten Beispiele: Gustav Stresemann (der es freilich
 
infolgedessen in seiner altpreußischen Großloge, der Großen National-Mutterloge »Zu den
 
drei Weltkugeln«, nicht leicht hatte17), Wilhelm Leuschner und Carl von Ossietzky. Manchmal
 
standen sich Repräsentanten nationalistischer und pazifistischer Positionen im selben
 
Beruf und am gleichen Ort oppositionell gegenüber, wie der Bremer Historiker Marcus
 
Meyer am Beispiel der beiden Bremer Pastoren Otto Hartwich (»Große Landesloge der
 
Freimaurer von Deutschland«) und Emil Felden (»Freimaurerbund zur aufgehenden Sonne
 
«) anschaulich beschreibt.18
 
Im Gegensatz zur pazifistischen Einstellung der »Großloge von Wien« war nach dem
 
Ersten Weltkrieg in Deutschland allerdings ein Trend vorherrschend, der die Freimaurerei
 
immer stärker mit den Hauptlinien nationalistischer Politik und teilweise auch mit Elementen
 
völkischer Ideologie identifizierte, ja, der Freimaurerei eine tonangebende und
 
führende Rolle dabei zuschrieb. Helmut Neuberger hat diese Entwicklung in seinem Buch
 
»Freimaurerei und Nationalsozialismus« zutreffend beschrieben:
 
16 Vgl. Hoffmann: a.a.O., S. 317–322.
 
17 Vgl. Markner, Reinhard: Der Freimaurer Stresemann im Visier der Nationalsozialisten, in: Quatuor Coronati
 
Jahrbuch für Freimaurerforschung, Nr. 42/2005, S. 67–75, hier insbesondere S. 68.
 
18 Meier, Marcus: Zwischen Volksgemeinschaft und Weltbruderkette: Die Bremer Pastoren Otto Hartwich
 
und Emil Felden im politischen Kampf um die Grundlagen der Freimaurerei in den 20er Jahren, in:
 
Quatuor Coronati Jahrbuch für Freimaurerforschung, Nr. 44/2007, S. 91–108.
 
56
 
»Je mehr die Vertreter des extremen Nationalismus an politischem Einfluss gewannen,
 
desto krampfhafter versuchten die deutschen Großlogen aller Lehrarten,
 
ihre nationale Gesinnung unter Beweis zu stellen.«19
 
Eine pazifistische, auf Versöhnung und internationale Kooperation angelegte Haltung
 
vertraten als Großlogen nur die als »irregulär« erachteten Reformgroßlogen »Freimaurerbund
 
zur aufgehenden Sonne« (FzaS) und »Symbolische Großloge von Deutschland«.
 
Auch letztere – 1930 gegründet – ließ von Anfang an keinen Zweifel an ihrer prinzipiell
 
pazifistischen Einstellung: So betonte ihr Großmeister, Dr. Leo Müffelmann, in der
 
ersten Nummer der Großlogenzeitschrift, die programmatisch den Namen »Die alten
 
Pflichten« trug, »Internationale Zusammenarbeit in der allgemeinen Weltenkette, Bruderliebe
 
aller Freimaurer der ganzen Welt« als »Wesensinhalt moderner Freimaurerei«.20
 
Doch hob sich die Einstellung des FzaS nicht nur aufgrund der längeren Tradition der
 
Großloge, sondern auch wegen der besonders konsequenten pazifistischen Orientierung,
 
des hohen Niveaus freimaurerischer Veröffentlichungen sowie der Einbettung ihrer
 
Einstellung zu internationalen Fragen in ein politisch-gesellschaftliches Gesamtkonzept,
 
das an einem linken, sozialen Liberalismus orientiert war, in besonderem Maße
 
klar und fortschrittlich hervor. Charakteristisch für die weltanschaulich-politische Orientierung
 
innerhalb des FzaS dürfte Dr. Rudolph Penzig gewesen sein, der von 1919 bis 1926
 
Großmeister war und seit 1903 zum linken Flügel der Fortschrittspartei, ab 1917 zur SPD
 
gehörte. Penzig war in Berlin-Charlottenburg Stadtrat und von Beruf Moralpädagoge. Er
 
wirkte u.a. leitend im Bruno-Bund, in der Deutschen Gesellschaft für Ethische Kultur, im
 
Deutschen Bund für weltliche Schule und Moralunterricht und im Vorstand des Bundes
 
freireligiöser Gemeinden.21
 
Inhalt und Stimmung friedensorientierter Kundgebungen des FzaS lassen sich an einer
 
öffentlichen Veranstaltung exemplifizieren, die im Rahmen des Großlogentages 1928 in
 
Stuttgart stattfand. Beteiligt waren Vertreter beider mit dem FzaS befreundeten französischen
 
Obedienzen, des Grand Orient de France und der Grande Loge de France. In
 
der Stadt waren Anschläge folgenden Inhalts angebracht: Öffentliche Kundgebung für die
 
Verständigung der deutschen und französischen Völker: Sind sie Erbfeinde oder Brüder?
 
– Französische Redner: Major Gaston Moch, Charles Bernardin, Jean Dohm. Deutsche
 
Redner: General Günther von Bresler, Major Franz Carl Endres, Fr. W. Wagner. Das Mitteilungsblatt
 
der Grande Loge de France berichtete über die Veranstaltung. Ein Auszug daraus
 
vermittelt einen lebendigen Eindruck von Tendenz und zeitgeschichtlichem Kolorit:
 
»Die Veranstaltung wurde durch ein Gedicht von Br. Endres, das von Herrn Elwenspoek
 
vorgetragen wurde, eröffnet. Die Ansprachen
 
waren durch verschiedene Gesänge,
 
die von dem Chor wundervoll vorgetragen wurden, umrahmt. Die Ansprachen
 
der Brr. Bernardin und Dohm wurden durch Br. Schoettke, Saarbrücken,
 
über-
 
19 Neuberger, Helmut: Freimaurerei und Nationalsozialismus. Das Ende der deutschen Freimaurerei,
 
Hamburg 1980, S. 258.
 
20 Zitiert nach Steffens, Manfred: Freimaurer in Deutschland. Bilanz eines Vierteljahrtausends, Frankfurt
 
1966, S. 419.
 
21 Vgl. zu Penzigs freimaurerischen Anschauungen: Penzig, Rudolph: Logengespräche über Politik und Religion,
 
Leipzig o.J. (1923), ders.: Freimaurer-Lehrbuch, Oldenburg o.J.
 
57
 
setzt, während Br. Moch deutsch sprach. Der Empfang der französischen Redner
 
durch das Publikum war absolut begeistert. Eine einzige Unterbrechung ereignete
 
sich, sie war aber nicht an die französischen Redner gerichtet, sondern galt dem deutschen
 
General von Bresler. Sie war hervorgerufen durch zwei junge Mitglieder der nationalistischen
 
Hitler-Organisation,
 
die sehr ruhig aufgefordert wurden, sich zurückzuziehen.
 
Nach Schluß stimmten ca. 2 Dutzend Mitglieder dieser Organisation,
 
die
 
sich auf dem Platz vor dem Gebäude eingestellt hatten, chauvinistische Gesänge an,
 
die Polizei hat sie sehr schnell zerstreut.«22
 
Insgesamt ist wohl festzustellen, dass Friedensbemühungen, insbesondere Bemühungen um
 
Annäherungen im deutsch-französischen Verhältnis, trotz der Ausnahmestellung des FzaS
 
und (später) der Symbolischen Großloge mehr von französischer als von deutscher Seite ausgingen.
 
Sie fanden nur beim humanitären und Reformflügel der deutschen Freimaurerei Resonanz
 
und stießen beim innerhalb des Bundes dominierenden Sektor der altpreußischen
 
Großlogen23 weitgehend auf Ablehnung.
 
Als Beispiele für pazifistische Bemühungen sind insbesondere die »Freimaurerischen
 
Manifestationen«24, die auf Initiative prominenter kontinentaleuropäischer Freimaurer
 
zwischen 1907 und 1913 jährlich in einer anderen europäischen Stadt stattfanden, um
 
für Weltfrieden und Weltbrüderlichkeit, insbesondere aber für die Verständigung zwischen
 
Deutschland und Frankreich zu »manifestieren«. Für den Sommer 1914 war eine Manifestation
 
in Frankfurt/Main vorgesehen, die wegen des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs nicht
 
stattfinden konnte. Die erste Nachkriegsmanifestation auf alter Grundlage fand im August
 
1925 in Basel statt. In der Folgezeit wurden übernationale freimaurerische Kongresse mit
 
pazifistischem Programm von der Allgemeinen (Universellen) Freimaurerliga veranstaltet,
 
einer auf die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg (1909/1913) zurückgehenden, aus der Esperanto-
 
Bewegung hervorgegangenen Vereinigung von pazifistisch eingestellten, an Völkerverbindung
 
interessierten Einzelmitgliedern regulärer Großlogen vieler Länder – parallel zu
 
den »Manifestationen«, die von einem neuen, vom Grand Orient und der Grande Loge
 
de France gemeinsam mit dem FzaS gebildeten Komitee mit Veranstaltungen in Verdun
 
(1928), Mannheim (1929), Besançon (1939) und Freiburg (1932) durchgeführt wurden.25
 
Hervorzuheben sind weiter die Aktivitäten der Association Maçonique Internationale
 
(A.M.I.)26, einer internationalen masonischen Vereinigung von Großlogen mit dem Sitz
 
22 Der Convent der aufgehenden Sonne, in: Das neue Freimaurertum. Zeitschrift des Freimaurerbundes
 
zur aufgehenden Sonne, 22. Jg., H. 10, 1928, S. 290.
 
23 Das Internationale Freimaurerlexikon von Lennhoff/Posner (Ausgabe 1932, Spalte 340) gibt die Gesamtzahl
 
der Mitglieder »regulärer« deutscher Großlogen für 1930 mit ca. 76.000 an. Davon entfielen
 
ca. 54.000 (ca. 70 %) auf die drei »altpreußischen« Großlogen: Große National-Mutterloge »Zu den drei
 
Weltkugeln« (22.000), Große Landesloge der Freimaurer von Deutschland (20.000) und Große Loge von
 
Preußen, genannt »Zur Freundschaft« (12.000). Zur Gruppe der Reformfreimaurer (FzaS und Symbolische
 
Großloge, zu Letzterer traten 1930 etwa 600 ehemalige FzaS-Mitglieder über) dürften zur gleichen
 
Zeit etwa 2500 Freimaurer gehört haben.
 
24 Lennhoff, Eugen/Posner, Oskar/Binder, Dieter A.: Internationales Freimaurerlexikon, München 2000,
 
S. 542.
 
25 Vgl. Berger, Joachim/Grün, Klaus-Jürgen: Weimarer Republik und Nationalsozialismus, in: Geheime Gesellschaft.
 
Weimar und die deutsche Freimaurerei, München/Wien 2002, S. 310 (HDM).
 
26 Lennhoff/Posner/Binder: a.a.O., S. 70–72.
 
58
 
in Genf, die 1921 auf Initiative der Schweizerischen Großloge »Alpina« gegründet wurde
 
und bis 1932 eine Reihe von Konventen durchführte, auf denen neben allgemeinen Fragen
 
zu Struktur und Aufgaben der Freimaurerei auch Menschenrechts- und Friedensfragen
 
erörtert wurden. Die A.M.I. war in ihrer Wirkung von Anfang an dadurch begrenzt, dass
 
die englische und nordamerikanische Freimaurerei (mit Ausnahme der Großloge von New
 
York) nicht daran teilnahmen. Insbesondere die Vereinigte Großloge von England (UGLoE)
 
befürchtete, dass sich die Einigungsbemühungen der kontinentalen Großlogen gegen
 
die Aufrechterhaltung der traditionellen Regularitätslandmarken (»belief in a supreme
 
being, renouncement of the political, and exclusion of women«) auswirken könnten, und
 
bemühte sich, vor allem auf Initiative des langjährigen Präsidenten des Board of General
 
Purposes der UGLoE, Sir Alfred Robbins, um die Etablierung einer »Masonic League of
 
Nations«, deren Ziel es war, die »English-speaking Masonry« gegenüber der kontinentaleuropäischen
 
Freimaurerei (im damaligen englischen Sprachgebrauch »Latin Masonry«)
 
abzugrenzen, die im Verdacht stand, Prinzipien der Regularität in Frage zu stellen.27 Doch
 
auch gegenüber der »altpreußischen« Freimaurerei gab es seitens der »English-speaking Masonry
 
« Mitte der 1920er Jahre prinzipielle Abgrenzungen. So heißt es etwa als Erläuterung
 
zur ersten der Alten Pflichten (Concerning God and Religion) im Masonic Text Book der
 
Grandlodge of Maine im Anschluss an eine Zurückweisung der rituellen Eliminierung des
 
Großen Baumeisters aller Welten durch den Grand Orient de France:
 
»Attempts have also been made in the opposite direction. In Prussia, Isrealites have
 
bee excluded. This is equally a violation of the landmark: while a belief in the Fatherhood
 
of God and the Brotherhood of Man is absolutely essential, any additional reqirements
 
are innovations.«28
 
Im Kontext des englischen Abgrenzungsverhaltens gegenüber der A.M.I. ist auch darauf hinzuweisen,
 
dass die Bekanntgabe der Basic Principles of Grandlodge Recognition seitens der
 
UGLoE durch das Board of General Purposes unter der Leitung von Alfred Robbins am 4.
 
September 1929 erfolgte.
 
Die erste offizielle Zusammenkunft zwischen »regulären« deutschen und französischen
 
Freimaurern fand am 27. Februar 1927 in Frankfurt/Main statt.29 Angeregt wurde die »Frankfurter
 
Begegnung« von zwei führenden französischen Freimaurern, Senator Brenier, dem
 
Präsidenten des Ordensrats des Grand Orient de France, und Maurice Monier, dem Großmeister
 
der Grande Loge de France, die sich im Januar 1927 mit gleichlautenden Schreiben
 
an den Großmeister der Großen Mutterloge des Ekklektischen Freimaurerbundes, Ludwig
 
Ries, wandten und diesem eine Zusammenkunft zwecks Erörterung der Möglichkeiten
 
einer Aussöhnung zwischen den deutschen und französischen Freimaurern vorschlugen.
 
Ries akzeptierte, informierte die übrigen deutschen Großmeister über das vorgesehene
 
Treffen und stellte ihnen bzw. von ihnen benannten Vertretern eine Teilnahme anheim.
 
Eine solche Mitwirkung kam jedoch nicht zustande. Der altpreußische Großmeisterverein
 
lehnte eine Beteiligung ab, u.a. mit der Begründung, Verhandlungen mit französischen
 
27 Vgl. Harland-Jacobs, Jessica L.: Builders of Empire. Freemasons and British Imperialism, 1717–1927,
 
Chapel Hill 2007, S. 289f.
 
28 The Maine Masonic Text Book for the Use of Lodges, 1923, S. 164.
 
29 Lennhoff/Posner/Binder: a.a.O., S. 292.
 
59
 
Freimaurern seien nicht möglich, »solange Deutschland nicht frei ist von der ihm zu Unrecht
 
aufgebürdeten Last, die Schuld am Weltkrieg zu tragen, und solange noch Teile des
 
deutschen Reiches unter dem Druck fremder Besatzung stehen«. So führten die Vertreter
 
des Eklektischen Bundes das Gespräch allein und sprachen die zwischen Deutschland
 
und Frankreich bestehenden Spannungen offen an. Die französischen Vertreter zeigten ein
 
begrenztes Entgegenkommen. Wirkliche Ergebnisse konnten aufgrund des Schwergewichts
 
der Probleme und der auf beiden Seiten unzureichenden Autorisierung der Gesprächspartner
 
jedoch nicht erreicht werden. Immerhin bestätigte auch die Frankfurter Begegnung
 
von 1927, dass das »Rapprochement franco-allemand« aus freimaurerischer Sicht mehr ein
 
Anliegen der französischen als der deutschen Freimaurer gewesen ist.
 
3. Deutsch-nationale Radikalisierung mit »völkischen«
 
Elementen
 
Die nachfolgenden Feststellungen bedürfen einer Vorbemerkung. Sie implizieren für einen
 
großen Teil der deutschen Freimaurerei, insbesondere die »altpreußische«, erhebliche Abweichungen
 
von dem, was durch die Geschichte der Freimaurerei hindurch das freimaurische
 
Ideal der Weltoffenheit und Toleranz genannt worden ist. Diese Abweichungen müssen
 
im Rahmen einer Geschichte – einer »ganzen« Geschichte – der deutschen Freimaurerei
 
im 20. Jahrhundert sichtbar gemacht werden. Dabei sind Fakten quellenmäßig zu belegen,
 
Aussagen haben sich um Objektivität zu bemühen, Differenzierungen sind vorzunehmen.
 
Die Objektivität des Betrachters und sein Bemühen um ein »Verständnis aus der Zeit heraus
 
« verlangt allerdings keineswegs den Verzicht auf moralisch begründete Urteile über das
 
Gewesene.30 Gewiss gilt für den Betrachter immer ein »Ich weiß nicht, wie ich mich in der
 
damaligen Situation verhalten hätte«. Doch derartige Überlegungen sollten verhaltenskritischen
 
historischen Reflexionen nicht im Wege stehen. Einmal bedeutet, nicht zu wissen,
 
wie man sich selbst verhalten hätte, keineswegs, dass man nicht wüsste, wie man sich hätte
 
verhalten sollen. Zum anderen haben sich andere Teile der deutschen Gesellschaft und auch
 
der deutschen Freimaurerei anders, nämlich ablehnend gegenüber aggressiven, judenfeindlichen
 
und zuletzt völkischen sowie nazistischen Strömungen verhalten. Und schließlich zeigen
 
auch die Beispiele einer Reihe anderer, ebenfalls von Kriegsfolgen und Weltwirtschaftkrise
 
betroffenen europäischen Länder, dass Krisenüberwindung ohne Verzicht auf Demokratie,
 
gesellschaftlichen Pluralismus und Friedensorientierung möglich war und wohl auch
 
in Deutschland möglich gewesen wäre, wenn das deutsche Bürgertum über Kraft und Konzeptionen
 
verfügt hätte, dies wirklich zu wollen.
 
Die Gründe für die verbreitete Abwehrhaltung gegenüber friedens- und versöhnungspolitischen
 
Aktivitäten innerhalb der deutschen Freimaurerei sind leicht zu identifizieren.
 
Sie hängen zunächst und vor allem mit dem Ausgang des Ersten Weltkriegs zusammen,
 
der von der Mehrheit der deutschen Freimaurer – wie von der Mehrheit des deutschen
 
Bürgertums insgesamt – als nationale Schande empfunden wurde, wobei für das Gefühl von
 
Verletzung und Schmerz freimaurerseits zuweilen auch sehr übersteigerte Formulierungen
 
30 Vgl. hierzu und zum Folgenden Busche, Jürgen: Rezension zu Frei, Norbert: 1945 und Wir – Das Dritte
 
Reich im Bewusstsein der Deutschen, München 2005, in: Deutschland Radio, 4.3.2005.
 
60
 
gewählt wurden. So beschloss Ernst Horneffer seine nach Kriegsende publizierte Schrift
 
»Erkenntnis. Die Tragödie des deutschen Volkes« mit folgendem Aufschrei:
 
»Wir haben das Recht und die Pflicht, diesen Ausgang des Weltkrieges als Unsinn,
 
Wahnsinn, als gänzliche Umkehrung aller natürlichen, gerechten, heilbringenden
 
Ordnung Europas aufzufassen, als Fälschung der Weltgeschichte.
 
Auf ein derartiges ungeheures Geschehen aber, das uns um unsere Berufung und
 
Bestimmung, um unser idealstes Recht, das Recht unseres Seins und Lebens betrogen
 
hat, können wir nicht nur mit der Erkenntnis und mit dem Urteil antworten.
 
Das muß auch ein Gefühl in uns auslösen. Letzte, schwerste furchtbarste Gefühle
 
aber können keine Worte finden. Sie brechen schließlich nur in einem Schrei empor.
 
Der Schrei des Schmerzes ist es, wenn Mensch es nicht mehr trägt. Und so
 
rufe ich denn als Einziges, Letztes der gequälten Seele hinaus den Schrei – o möchte
 
er alle Deutschen erreichen! – den einen Schrei: Mord, Mord an einem großen
 
Volke! Und solange ich lebe, bis auf mein Totenbett, oder wo mich die Sichel des
 
Todes ereilen wird, bis zum letzten Blick und Atemzug werde ich rufen: Mord,
 
Mord!«31
 
Als unmittelbar nach Ende des Krieges in zunehmendem Maße Kriegsschuldbehauptungen
 
den politischen Diskurs bestimmten, in denen die vermeintliche »jüdisch-freimaurerische
 
Verschwörung« eine dominante Rolle spielte, sahen sich die meisten deutschen Freimaurer
 
in noch stärkerem Maße veranlasst, patriotische Treue zu bekunden und nationale Standpunkte
 
zu vertreten. Als es Mitte der 1920er Jahre zu einem heftigen Angriff des »Nationalverbandes
 
deutscher Offiziere« auf die Freimaurerei kam, wurde aus dem Kreis der Freimaurer
 
u.a. folgendermaßen poetisch repliziert:32
 
»Auch für den deutschen Freimaurer gilt, was der junge Dichter B. v. Selchow sagt:
 
Ich bin geboren, deutsch zu fühlen, / Bin ganz auf deutsches Denken eingestellt, / Erst
 
kommt mein Volk, dann all die andern, vielen, / Erst meine Heimat, dann die Welt.«
 
Der Autor des Beitrags in der Zeitschrift »Am rauhen Stein« (von der Redaktion vorgestellt
 
als Professor, Oberstleutnant a.D. und Direktor der deutschen Heeresbücherei) schloss seinen
 
Beitrag mit folgenden Worten:
 
»Freimaurer und Offiziere, werdet zu rechten Führern unseres Volks … und wenn der
 
Tag kommt, der das letzte von Euch fordert, dann soll er Männer finden, begeistert
 
und einig, kraftvoll und opferwillig und würdig der großen Ahnen, der herrlichen
 
deutschen Männer der Freiheitskriege.«33
 
31 Horneffer, Ernst: Erkenntnis. Die Trägödie des deutschen Volkes, Kassel o.J. (1919?), S. 207.
 
32 Klefeker, Siegfried: Freimaurerei und Offizierskorps. Eine Entgegnung auf die Angriffe des Nationalverbandes
 
deutscher Offiziere, in: Am rauhen Stein, Maurerische Zeitschrift der Großen Loge von Preußen
 
genannt »Zur Freundschaft«, Jg. 21, 1924, H. 4, S. 49–57, hier S. 52.
 
33 Ebenda, S. 57.
 
61
 
Die Redaktion setzte hinzu:
 
»Der vorliegende Aufsatz eignet sich vortrefflich zur Verbreitung in weiteren Kreisen.
 
Insbesondere den früheren und jetzigen Angehörigen des Offizierskorps sollte er in
 
die Hände gegeben werden.«34
 
Sehr wesentlich hingen die Positionen der deutschen Freimaurer aber auch mit ihrem Platz
 
in der deutschen Gesellschaft und mit der politischen Kultur dieser Gesellschaft selbst zusammen.
 
Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts fungierten die deutschen Logen – unabhängig
 
davon, ob sie den altpreußischen oder den humanitären Großlogen angehörten – als stabile
 
Assoziationsformen der bürgerlichen Mittel- und Oberschichten.35 Sie verstanden sich
 
als Übungsstätten von Bürgertugenden wie Anstand, Respekt, Hilfsbereitschaft und Vaterlandsliebe,
 
spielten – nicht zuletzt aufgrund obrigkeitlicher Protektion – eine anerkannte
 
Rolle in der deutschen Gesellschaft und ordneten sich ihrerseits loyal in die bestehende
 
politische Ordnung ein. Die Logen waren fest im gehobenen Bürgertum verankert, wobei
 
die Anteile der Funktionselite (Beamte, Militärs), der kulturellen Elite (Professoren, Lehrer,
 
Wissenschaftler, schaffende und ausführende Künstler) und der ökonomischen Elite (Unternehmer,
 
Bankiers, leitende Angestellte) von Loge zu Loge unterschiedlich ausfielen. Ausschlaggebend
 
hierfür waren sowohl die spezifischen Milieus der einzelnen Logen als auch
 
der Charakter der Logenstandorte.
 
Wenn auch festgestellt werden kann, dass »Bürgerlichkeit« weltweit ein Grundzug der
 
Freimaurer gewesen ist, so unterschieden sich doch die bürgerlichen Gesellschaften Europas
 
und Nordamerikas, in denen die Freimaurerei als Assoziationsform der Geselligkeit
 
weithin vertreten war, in ihrem gesellschaftlichen Selbstverständnis nicht unwesentlich voneinander.
 
Maßgebend war dabei vor allem der Grad, in welchem in ihnen die »westlichen«
 
Werte von Demokratie und gesellschaftlichem Pluralismus vertreten waren, und hieran
 
gemessen war die deutsche Gesellschaft weniger »westlich« geprägt als die Gesellschaften
 
Frankreichs, Englands oder der Vereinigten Staaten.36 Gewiss, die deutsche Tradition der
 
Aufklärung und des Liberalismus vermittelte bis zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts viele
 
Impulse in andere Länder, und Deutschland war gewiss kein Land, das dem Westen kulturell
 
nicht verbunden gewesen wäre und nicht an seiner Entwicklung teilgenommen hätte.
 
Gleichwohl: Der politischen Wertegemeinschaft westlicher Länder gehörte Deutschland
 
in politisch entscheidenden Phasen der jüngeren Geschichte nicht an – nach 1918 noch
 
weniger als vor 1914, und schon gar nicht nach 1933.
 
Insbesondere seit dem Ersten Weltkrieg wurden den »Ideen von 1789« in Theorie und
 
Praxis die »Ideen von 1914« entgegengesetzt. Eigene Beiträge zur Tradition von Aufklärung
 
und Toleranz traten in den Hintergrund oder wurden gar verleugnet, lange bevor die Nazis
 
Lessings Nathan von den deutschen Bühnen verbannten. »Machtgeschützte Innerlichkeit«
 
(Thomas Mann37) trat an die Stelle demokratischer Offenheit, westliche Zivilisation wurde
 
34 Ebenda, S. 49.
 
35 Vgl. Hoffmann, Stefan-Ludwig: Die Politik der Geselligkeit, a.a.O., insbes. S. 128–202.
 
36 Vgl. Winkler, August Heinrich: Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte 1806–1933, Bonn
 
2002; ders.: Der lange Weg nach Westen II. Deutsche Geschichte 1933–1990, Bonn 2005.
 
37 Mann, Thomas: Leiden und Größe Richard Wagners, Gesammelte Werke, Bd. IX, Frankfurt/Main 1990,
 
S. 419.
 
62
 
gegenüber deutscher Kultur abgewertet, Gemeinschaft wurde verklärt, Gesellschaft verdammt.
 
Der Historiker Heinrich August Winkler hat das Verhältnis Deutschlands zum
 
Westen in seiner Berliner Abschiedsvorlesung im Februar 2007 folgendermaßen zusammengefasst:
 
»In keinem Land des Okzidents stießen die demokratischen Ideen des Westens, und
 
das heißt auch: der europäischen Aufklärung, auf so hartnäckigen Widerstand wie
 
in Deutschland. Es bedurfte der Erfahrung der nationalsozialistischen Diktatur, des
 
Zweiten Weltkriegs, des Holocaust und des ›Zusammenbruchs‹ von 1945, der zweiten
 
Niederlage Deutschlands im 20. Jahrhundert, um den antiwestlichen Vorurteilen
 
von Eliten und breiten Schichten der Bevölkerung allmählich den Boden zu
 
entziehen.«38
 
Die später folgenden Beispiele (Erster Weltkrieg, Antisemitismus, Nationalsozialismus) sollen
 
jeweils spezifische Facetten freimaurerischer Identifizierung mit den Hauptlinien der
 
Orientierung nach Rechts innerhalb des deutschen Bürgertums verdeutlichen und aufzeigen,
 
dass in einige Gruppen der Freimaurerei zunehmend auch völkisches Gedankengut Eingang
 
fand, wenn diese Gruppierungen auch kein Bestandteil der völkischen Bewegung gewesen
 
sind.39 Die Beispiele sind begrenzt, reichen aber aus, um verhängnisvolle Tendenzen zu
 
veranschaulichen. Die Positionen, die dabei innerhalb der deutschen Freimaurerei vertreten
 
wurden, waren nicht einheitlich. Jedoch wurde im Verlauf der 1920er Jahre deutlich, dass die
 
nationalistischen Tendenzen bei den »altpreußischen« Großlogen besonders ausgeprägt waren,
 
insbesondere seitdem diese mit dem 1922 erfolgten Austritt aus dem Deutschen Großlogenbund40
 
eindeutige Signale in Richtung nationale Orientierung, Ablehnung der Weimarer
 
Republik, Absage an alle pazifistischen Tendenzen und Trennung vom internationalen
 
Freimaurerkonsens der »Alten Pflichten« gesetzt hatten. Lennhoff/Posner kommentierten
 
im Jahre 1932:
 
»Der Austritt war also sichtlich vom Bestreben geleitet, der völkischen Zeitströmung
 
Rechnung zu tragen und die Scheidung in ein christliches und ein humanitäres Lager
 
deutlich zu markieren«.41
 
In mancherlei Hinsicht beachtenswert war die Festansprache, die Obr. Rudolf Rosbach anlässlich
 
der Festarbeit zum Johannisfest der GNML »3WK« am 24. Juni 1924 in Berlin gehalten
 
hat und in der es u.a. hieß:
 
38 Winkler, Heinrich August: Der Westen braucht den Streit. Was heißt westliche Wertegemeinschaft?,
 
Abschiedsvorlesung an der Berliner Humboldt-Universität, zitiert nach Kölner Stadtanzeiger, ksta.de/
 
html/artikel/1171445238540.shtml, Download 26.2.2007.
 
39 Vgl. Puschner, Uwe: Völkisch. Plädoyer für einen »engen« Begriff, in: Ciupke, Paul/Heuer, Klaus/Jelich,
 
Franz-Josef/Ulbricht, Justus H. (Hrsg.): »Erziehung zum deutschen Menschen«. Völkische und nationalkonservative
 
Erwachsenenbildung in der Weimarer Republik. Geschichte und Erwachsenenbildung, Bd.
 
23, Essen 2007.
 
40 Lennhoff, Eugen/Posner, Oskar: Internationales Freimaurerlexikon, Wien 1932, Spalten 346, 347.
 
41 Ebenda.
 
63
 
»Es geht eine gewaltige geistige Bewegung durch unser Volk, die auch die christliche
 
deutsche Freimaurerei … nicht unberührt gelassen hat, eine Bewegung, die man kurz
 
als die völkische zu bezeichnen pflegt.
 
Auch die völkische Bewegung geht davon aus, dass der Abfall vom deutschen Geist
 
unser Unglück verschuldet habe und daher nur die Rückkehr zu ihm uns wieder aus
 
unserem Unglück befreien könne. Die völkische Bewegung ist nicht, wie viele glauben,
 
in unseren Tagen künstlich entfacht worden, sondern sie ist sie natürliche Reaktion
 
des deutschen Geistes gegen die Überfremdung unseres staatlichen und geistigen
 
Lebens.«
 
Über den Inhalt der Rede hinaus bemerkenswert ist einmal, dass der am Johannisfest teilnehmende
 
Reichsaußenminister Gustav Stresemann, Mitglied einer 3WK-Loge, einen Tag später,
 
am 25. Juni 1924, in einem Brief an den National-Großmeister Karl Habicht über Inhalt
 
und Tenor der Festrede engagiert Beschwerde führte:
 
»Ich verwahre mich … dagegen, dass in der Weise, in der es geschehen ist, völkisches
 
Denken nach außen und innen so gepredigt wird, dass der Eindruck entstand, als befände
 
man sich in einer Wahlversammlung der Deutschvölkischen Freiheitspartei.«42
 
Bemerkenswert ist weiter, dass das nunmehr von der GNML »3WK« und der »Großen Loge
 
von Preußen« gemeinsam herausgegebene »Ordensblatt« in der Novemberausgabe 1934 –
 
also kurz vor der erzwungenen Einstellung – die Rede Rosbachs mit folgender Einleitung
 
abdruckte:
 
»Die Festrede, die Obr. Rudolf Rosbach hielt, hat diese Feier … zum Erlebnis gemacht
 
… Damals schien die von Adolf Hitler getragene Bewegung fast erledigt zu
 
sein, denn der Führer und seine Mitkämpfer waren … in Haft, und niemand konnte
 
im Juni 1924 voraussehen, dass eine Amnestie dem Führer und seinen Mitkämpfern
 
im Dezember die Freiheit geben und den Aufschwung der Bewegung einleiten werde.
 
Um so höher ist diese Rede zu werten als Zeugnis für den deutschen Geist, wie er in
 
den altpreußischen Logen gepflegt wird. Sie widerlegt schlagend die Leute, die seit
 
Jahren und heute mehr denn je nicht müde werden, die christlichen altpreußischen
 
Logen als undeutsch und international zu verlästern. Wäre dieser Geist damals in allen
 
deutschen Kreisen des Volkes lebendig und gleich stark gewesen – Deutschland
 
hätte nicht neun weitere Jahre auf den Aufbruch warten müssen.«43
 
Bei der nun immer mehr zunehmenden nationalen und zugleich völkischen Orientierung
 
der altpreußischen Freimaurerei spielten der »Bielefelder Ring« und der »Wetzlarer Ring«, die
 
beide 1925 von Logen der Großen National-Mutterloge »Zu den drei Weltkugeln« gegründet
 
wurden, eine besondere Rolle. So beschloss der »Wetzlarer Ring« bereits auf seiner Grün-
 
42 Wiedergabe des Briefes in: Große National-Mutterloge »Zu den drei Weltkugeln« im Verband der Vereinigten
 
Großlogen von Deutschland, Bruderschaft der Freimaurer: 1933–2000. Versuch einer Standortbestimmung,
 
3 Bände, Berlin 2002, hier Band III, S. 895–898.
 
43 Editorial »Vom rechten deutschen Geist«, Wiedergabe ebenda, S. 900.
 
64
 
dungsversammlung am 4. Juli 1925, den 3WK-Logen für ihre Satzungen folgende Formulierung
 
zur Regelung der Mitgliedschaft vorzuschlagen:
 
»Mitglied unserer Loge kann nur werden, wer deutscher Abstammung ist und sich
 
zur christlichen Weltanschauung bekennt. Suchende, deren Eltern oder Großeltern
 
jüdischer Abstammung sind oder deren Frauen jüdischer Abstammung sind, können
 
nicht aufgenommen werden. Für Annahme ständig Besuchender gilt dasselbe.«44
 
Dass die nationalistische Haltung einschließlich mancher völkischer Elemente insbesondere
 
der »altpreußischen« Freimaurerei keineswegs eine taktische Orientierung zur Überlebenssicherung
 
im »Dritten Reich« gewesen ist – wie später gern behauptet wurde –, sondern
 
eine langfristige konzeptionelle Grundhaltung, bringt auch der »Johannisfestgruß 1930« der
 
»Großen Landesloge« zum Ausdruck, in dem es u.a. heißt:
 
»Wir jedenfalls weisen jeden Humanitätsdusel in jeglicher Form und unter jeglichem
 
Namen, wie Internationalismus, Pazifismus oder wie sonst immer, weit von
 
uns, nicht etwa, weil es unerreichbare Ideale, sondern weil es überhaupt keine erstrebenswerten
 
Ideale sind. Ihre tatsächliche Erreichung würde nicht zum Aufstieg der
 
Menschheit führen, sondern zu ihrem Verderben ausschlagen, weil diese ›Ideale‹ naturwidrig
 
und gegen jede menschliche und göttliche Ordnung sind.«45
 
Diametral entgegengesetzte, sich gegenseitig bekämpfende Interessen stünden sich gegenüber.
 
Dies gelte auch für die Freimaurerei:
 
»In ihr bekämpfen sich die Gegensätze der Volkscharaktere: ›germanisch‹ oder ›romanisch‹,
 
der Zwecke: ›politikfrei oder politisch‹, der Grundsätze: ›vaterländisch oder
 
vaterlandslos‹, der Mittel: ›Vertiefung des Innenlebens oder Betonung der Geselligkeit‹,
 
und darum wäre eine internationale oder ›Weltfreimaurerei‹ ein Unding, ein
 
Widerspruch in sich, eine den Gedanken und die Ziele der Freimaurerei aufhebende
 
Missgeburt, nicht aber ein erstrebenswertes Ideal.«46
 
Auch hier wird deutlich, wie sehr der Denk- und Wahrnehmungsrahmen großer Teile des
 
deutschen Bürgertums – und als Sektor davon der Freimaurerei – die Ausbreitung des Nationalsozialismus
 
begünstigte und wie sehr er verhinderte, diese »Bewegung« rechtzeitig als
 
das zu erkennen, was sie war: ein tödlicher Anschlag auf Frieden, Freiheit und Demokratie –
 
soweit dies überhaupt erkannt werden sollte. Denn Demokratie war, was in diesem Kontext
 
nur gestreift werden kann, für große Teile der deutschen Freimaurer kein politisches Leitbild.
 
Die »nationale« Freimaurerei stand der Weimarer Republik weitgehend ablehnend gegenüber,
 
verunglimpfte ihre Farben als »schwarz, rot, gelb«47, verspottete den »Parteienstreit«
 
44 Gründungsprotokoll des Wetzlarer Ringes, GNML »3WK« vom 4. Juli 1925, Wiedergabe ebenda, S. 911–916.
 
45 Zirkelkorrespondenz, 1930, S. 267f., zitiert nach: Große Landesloge: Im Ordenshause der Großen Landesloge
 
der Freimaurer von Deutschland, Deutsch-Christlicher Orden, Berlin 1935, S. 7.
 
46 Ebenda.
 
47 Zur Aufklärung, Informationsblatt der Ordensgruppe (früher Loge) »Zu den drei Balken« in Münster,
 
Archiv der Großloge AFuAM, Altenburg, A – 0006.
 
65
 
und sehnte sich nach Volksgesamtheit und Führerprinzip. Fenner und Schmidt-Sasse fassen
 
die im freimaurerischen Schrifttum vertretenen Positionen zusammen und bilanzieren:48
 
»Die Einheit des Volkes im Deutschtum soll den Grundstein der Erneuerung
 
bilden:49 Gegen die Parteienvielfalt setzen die nationalen Freimaurer die Vorstellung
 
vom Volk als einem homogenen Block, gefasst in das Bild vom Dom aus winkelgerechten
 
Steinen. Die berufenen Führer sollen die Massen zu einem Vaterland neuer
 
deutscher Größe führen.50 Als Errungenschaften eines solchen neuen Vaterlands werden
 
als erstrebenswert genannt: wirtschaftliche Sanierung und Wiedergewinnung der
 
früheren Wehrhaftigkeit und Stärke51 sowie Abkehr von der sozialen Gesellschaft und
 
Schaffung eines Gemeinschaftsstaates. Voraussetzung dieser deutschen Wiedergeburt
 
ist die ›Abwehr alles Undeutschen‹52. Der ›verniggerten Unkultur‹53 soll der Geist
 
deutscher Sittlichkeit entgegen gehalten werden.«
 
3.1 Stichwort Erster Weltkrieg
 
Als patriotische Bürger identifizierten sich die meisten deutschen Freimaurer unmittelbar
 
nach Kriegsausbruch sowohl mit der vorherrschenden Charakterisierung des Kriege
 
(»Ein furchtbarer, auf die Vernichtung unseres teuren Vaterlandes gerichteter Kampf ist
 
uns aufgedrängt worden«54), als auch mit der begeisterten Stimmung weiter Kreise der Bevölkerung
 
(»In den Reihen der begeistert für die Ehre und Freiheit der heimischen Lande
 
eintretenden deutschen Männer befinden sich zahlreiche Brüder unseres Bundes«55) und
 
nahmen an den Maßnahmen zur materiellen Unterstützung des Krieges teil. Die »Große
 
National-Mutterloge ›Zu den drei Weltkugeln‹« rief für den 15. August 1914 eine außerordentliche
 
Versammlung der Großloge ein mit dem einzigen Tagesordnungspunkt »Bewilligung
 
von Mitteln zur Unterstützung von Kriegsteilnehmern und deren Familien«.56
 
Am 22. August fand eine »gemeinsame patriotische Arbeit« der Berliner 3WK-Logen statt.
 
Großmeister Wegner und Großredner Kleiber hielten die Ansprachen, die die Frontstellungen
 
des Krieges klären sollten:57 Auf der einen Seite standen die Deutschen, deren »kai-
 
48 Fenner, Wolfgang/Schmidt-Sasse, Joachim: Die Freimaurer als »nationale Kraft« vor 1933, in: Koebner,
 
Thomas (Hrsg.): Weimars Ende. Prognosen und Diagnosen in der deutschen Literatur und politischen
 
Publizistik 1930–1933, Frankfurt 1982, S. 223–244, hier S. 228.
 
49 »Wahre deutsche Volksgemeinschaft« schreibt August Horneffer in: Was erwarten wir von Nationalsozialismus,
 
in: Am rauhen Stein, Monatsschrift der großen Loge von Preußen genannt zur Freundschaft,
 
Jg. 29, 1932, H. 8/9, S. 226–236, hier S. 230.
 
50 A. Horneffer: Wer soll uns führen? In: Am rauhen Stein, Jg. 28, 1931, S. 315ff.
 
51 »Verbreitet den Geist der Wehrhaftigkeit in unserem Volke«, in: Kundgebung der Großloge an die gesamte
 
Bruderschaft, in: Am rauhen Stein, Jg. 29, 1931, S. 3.
 
52 Vgl. Fußnote 38 bei Fenner und Schmidt-Sasse: a.a.O., S. 240.
 
53 Die Säulen deutscher Weisheit, Stärke und Schönheit, in: Am rauhen Stein, Jg. 26, 1929, S. 171.
 
54 Bundesblatt, herausgegeben von der Großen National-Mutterloge »Zu den drei Weltkugeln«, Sonderausgabe,
 
10. August 1914, S. 465.
 
55 Ebenda, S. 465–466. Dieselbe Sonderausgabe berichtet von der bevorstehenden »Einberufung zum Feldheer
 
« des National-Großmeisters Br. Wegner.
 
56 Ebenda, S. 465.
 
57 Niederschrift der 1143. Sitzung der Großen National-Mutterloge »Zu den drei Weltkugeln«, in: Bundesblatt,
 
1914, H. 15, S. 486, 489, 490.
 
66
 
serlicher Herr alles versucht hat, unserem Volk einen ehrenhaften Frieden zu erhalten«,
 
auf der anderen Seite standen Russland (»Ansturm halbasiatischer Barbarenhorden«),
 
Frankreich (»Zorn und Haß und Rachedurst wegen seiner Niederlage in einem Krieg, den
 
einst gallischer Übermut in frevelhafter Leichtfertigkeit gegen uns vom Zaune brach«) sowie
 
das Deutschland vordem doch so nahe stehende England als der eigentliche Drahtzieher
 
des Krieges: »Daß wir so viele Feinde haben in der Welt, das ist zum weitaus größten
 
Teil die Folge ihrer systematischen Verhetzung durch unsere lieben Vettern in England.«
 
Derartige Positionen nationalen Aufbegehrens, die auch seitens »humanitärer« Großlogen
 
vertreten wurden und die keinen Unterschied zu den gemeinhin im deutschen Bürgertum
 
vertretenen Auffassungen erkennen ließen, zogen sich durch den Ersten Weltkrieg
 
hindurch bis in die Nachkriegszeit, in der sie dann – verstärkt durch den in der Tat
 
verhängnisvollen Frieden von Versailles (»Wir werden jahrhuntertelang den Schand- und
 
Schmachvertrag von Versailles nicht vergessen«, hieß es z.B. in der Zeitschrift »Am rauhen
 
Stein«58 ) – an Intensität und bald auch an antisemitischer Einfärbung gewannen.
 
Als der Verein Deutscher Freimaurer 1920 seine erste Nachkriegshauptversammlung abhielt,
 
bilanzierte sein Vorsitzender, Diedrich Bischoff, die Entwicklung seit der letzten
 
Vorkriegstagung u.a. mit folgenden Worten: »Dann kam die Erhebung von 1914, und es
 
rang sich dieses maurerische Wollen empor in unserem deutschen Volk.«59 Die gewählte
 
Formulierung vom »maurerischen Wollen« zeigt, dass für Bischoff und viele andere maurerische
 
Autoren die »Ideen von 1914« durch und durch freimaurerisches Gedankengut
 
waren. Betrachtet man die in acht (reguläre) Großlogen aufgefächerte deutsche Freimaurerei
 
als Gesamtheit, so zeigen sich argumentative und emotionale Grundlinien, die weitgehend
 
übereinstimmen.
 
Es werden jedoch auch bezeichnende Unterschiede sichtbar, die oft, aber keineswegs
 
immer, mit der Trennlinie »altpreußisch« – »humanitär« zu erfassen sind. Diesen Unterschieden
 
detailliert nachzugehen, ist im Rahmen dieses Beitrags nicht möglich. Es soll
 
nur an einem Beispiel auf die Art und Weise eingegangen werden, wie Freimaurer des
 
FzaS mit der Weltkriegsproblematik umgegangen sind. Zwar findet sich auch hier das
 
Bekenntnis zum Zusammenschluss der Deutschen: »Denn wenn je, so ist der Grundsatz
 
›Right or wrong, – my country!‹ hier ein Prinzip von höchster Sittlichkeit, und das
 
Gegenteil wäre verwerf lich, weil es dem Verrat am eigenen Volke und an der Sache der
 
Kultur gleich käme.« Doch zuvor hatte es im gleichen Beitrag fernab jeder Euphorie
 
geheißen: »Freimaurerei und Weltkrieg! Man kann sich wohl keine zwei Begriffe vorstellen,
 
die zueinander in schärferem Gegensatz stünden! Die größte, den ganzen Erdball
 
umspannende geistige Bewegung zur Verbreitung und Vertiefung des Humanitätsgedankens
 
und der grausame, völkermordende und entmenschende Weltkrieg mit allen seinen
 
Greueln!«60
 
58 Jänisch, Oskar: Marxismus und Freimaurerei, in: Am rauhen Stein, Maurerische Zeitschrift der Großen
 
Loge von Preußen genannt Zur Freundschaft, Jg. 22, 1925, H. 2, S. 36–41, hier S. 36.
 
59 Bischoff, Diedrich, 1920: Eröffnungsrede zur Jahresversammlung in Nürnberg, in. Jahrbuch. Mitteilungen
 
aus dem Verein Deutscher Freimaurer 1929/21, S. 5–22, hier S. 5.
 
60 Wegner, Julius: Der Weltkrieg und die Freimaurerei, in: Sonnenstrahlen, Bundes–Organ des »F. Z. A. S.«,
 
8. Jg., Oktober 1914, Nr. 3/4, S. 87–94, hier S. 88, 87.
 
67
 
3.2 Stichwort Antisemitismus
 
Als Mitte der 20er Jahre rassistische Ideen im deutschen Bürgertum an Boden gewannen,
 
schrieb der Radeberger Freimaurer Paul Wagler: »Wer den ewigen inneren Kern der Seele
 
des deutschen Volkes als die Freimaurernatur des Geistes erlebt und die deutsche Entstehung
 
der Freimaurerei erkannt hat, der muss auch Freimaurerei als germanischen Rassegeist
 
empfinden.«61 Es ist interessant, zum Stichwort Antisemitismus die Diskussionsbeiträge
 
durchzugehen, die 1924 in der »Großen Loge von Preußen genannt zur Freundschaft«62
 
vorgetragen wurden. Auf Antrag einer Münchener Loge, der vor allem von August Horneffer,
 
dem Großsekretär63 der Großloge, propagiert und unterstützt worden war und dann
 
Zustimmung und Umsetzung in der Großloge fand, sollte für die Mitgliedschaft zum
 
»christlichen Prinzip« zurückgekehrt, d.h. jüdischen Bürgern die Mitgliedschaft zukünftig
 
verwehrt werden.64
 
Gewiss gab es Gegenstimmen und Warnungen, so etwa seitens des Berliner Freimaurers Julius
 
Jaeckle:
 
»Rückt man in der deutschen Freimaurerei den Humanitätsgedanken zu Gunsten des
 
nationalen an die zweite Stelle, so ist die deutsche Kultur um eine ihrer schönsten
 
Blüten ärmer. Dann lasset uns den Menschheitsgedanken begraben gehen – und die
 
Königliche Kunst mit.«65
 
Ein anderer Diskussionsteilnehmer war um die Klärung des in seiner Sicht eigentlich Gemeinten,
 
nämlich einer rassischen Ausgrenzung, bemüht:
 
»Die Münchner Forderung einer national-christlichen Einstellung, die ganz unzweideutig
 
auf die Juden hinzielt, gibt nichts anderes als eine Verwischung des Problems.
 
Wenn man in einer Änderung des Grundgesetzes dieses zum Ausdruck bringen will,
 
so kann einzig die Forderung des Rassenproblems zur Grundlage gemacht werden.«66
 
Der antisemitische Hintergrund der im Juni 1924 in Kraft gesetzten Satzungsänderung wird
 
von August Horneffer neun Jahre später bestätigt: Der Beschluss habe darauf abgezielt,
 
»daß unsere Großloge ein ganz enger, vertrauter Kreis von unbedingt heimattreuen
 
und
 
61 Wagler, Paul: Freimaurerei als germanischer Rassegeist, in: Jahrbücher des Vereins deutscher Freimaurer,
 
1929–30, S. 57.
 
62 Die Großloge hatte ihren alten Namensbestandteil »Royal York« zu Beginn des Ersten Weltkriegs abgelegt.
 
63 Diese Funktion nahm Horneffer de facto wahr. Seine offizielle Amtsbezeichnung war »Großschriftführer
 
und Archivar«.
 
64 Vgl. aus der Perspektive einer einzelnen Loge: Niemeier, Dirk in Zusammenarbeit mit Papenheim, Martin:
 
Die Freimaurerloge »Friedrich zum weißen Pferde« in Hannover in Weimarer Republik und Nationalsozialismus,
 
in: Quatuor Coronati Jahrbuch für Freimaurerforschung, Nr. 42/2005, S. 77–98.
 
65 Jaeckle, Julius: Die Freimaurerei am Scheidewege, in: Am rauhen Stein, Maurerische Zeitschrift der
 
Großen Loge von Preußen genannt Zur Freundschaft, Jg. 21, 1924, H. 1, S. 5–6, hier S. 5.
 
66 Trommsdorf, H.: Die Forderung der Zeit, ebenda, S. 8.
 
68
 
gottestreuen Männern sein soll, daher wir volks- und artfremde Elemente nicht brauchen
 
können«.67
 
Doch auch hier gab es Gegenentwicklungen, für die das folgende Beispiel stehen mag:
 
Als die Große Loge von Preußen zum christlichen Prinzip zurückkehrt war, mussten auch
 
die jüdischen Brüder der Kasseler Royal-York-Loge »Zur Eintracht und Standhaftigkeit
 
« den
 
Freimaurerbund verlassen. Eine Reihe tolerant orientierter nicht-jüdischer Brüder verließ
 
darauf hin unter Leitung des Bauunternehmers und Kasseler Stadtrats Rudolf Friebe mit
 
den jüdischen Brüdern die Loge. Sie schlossen sich der Leipziger Loge »Apollo« an, die
 
– unter der Obhut der (humanitären) Großen Loge von Sachsen – die Deputationsloge
 
»Herder zu den alten Pflichten« in Kassel gründete, die dann bald als Mitgliedsloge der
 
sächsischen Großloge selbstständig wurde.
 
Antisemitismus (auch rassisch gefärbter) war nun sicher eine Haltung, die sich in großen
 
Teilen des national-konservativen deutschen Bürgertums Ende der 20er Jahre verstärkte.
 
Dass er in der Freimaurerei an Raum gewann, vergrößerte die Distanz des Bundes
 
zu seinem kosmopolitischen Ursprung. Es verwundert dann auch nicht, dass seitens der
 
Leitungen altpreußischer Großlogen schon bald nach der nationalsozialistischen Machtübernahme
 
Zustimmung zur Rassenlehre der NSDAP bekundet wurde. So schrieb der als
 
Autor und Redner im altpreußischen Sektor der deutschen Freimaurerei weithin bekannte
 
Stephan Kekulé von Stradonitz (er war 1932 Kandidat für die Nachfolge von Karl Habicht
 
als Großmeister der GNML 3WK gewesen) im Mai 1933 im »Ordensblatt«:
 
»Der ›nationale Christliche Orden Friedrich der Große‹, in den unsere bisherige
 
›Große National-Mutterloge Zu den drei Weltkugeln‹ sich in der Osterwoche 1933
 
umwandelte, wird die Mitgliedschaft in Zukunft an die Bedingung der Deutschstämmigkeit
 
der ›Nationalsozialistischen deutschen Arbeiterpartei‹ (Rundschreiben
 
des Großordensrates vom 12. April 1933) knüpfen, womit das Erfordernis des alten,
 
bisherigen Aufnahme-Paragraphen, nämlich dasjenige des Bekenntnis-Christentums,
 
eine wesentliche und grundlegende Veränderung im Sinne einer Verschärfung erfahren
 
hat.«68
 
Kekulé von Stradonitz schloss seinen Beitrag »Deutschstämmigkeit« mit der die Konsequenz
 
der Großlogenführung würdigenden Bemerkung:
 
»Ich kann es deshalb, als genealogischer Fachmann, nur als durchaus sachgemäß
 
erachten, daß das neueste Rundschreiben unseres Ordens-Großmeister (vom 19.
 
April) unter Ziffer 6 ›für die Prüfung der Deutschstämmigkeit‹ empfiehlt, ›nach den
 
Ausführungsbestimmungen über die Wiederherstellung des Berufsbeamtentums zu
 
verfahren.‹«69
 
67 Horneffer, August: Frühling, ebenda, in: Der rauhe Stein, Monatszeitschrift des Deutsch-Christlichen
 
Ordens Zur Freundschaft, Jg. 30, 1933, H. 4, S. 99–102, hier S. 99.
 
68 Kekulé von Stradonitz, Stephan: »Deutschstämmigkeit«, in: Ordensblatt, hrsg. vom »Nationalen Christlichen
 
Orden Friedrich der Große« in Berlin, Nr. 5, Mai 1933, S. 136–141, hier S. 136.
 
69 Ebenda, S. 141. Im »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« vom 7. April 1933 hatte es in
 
§ 3 geheißen: »(1) Beamte, die nicht arischer Abstammung sind, sind in den Ruhestand (§§ 8ff.) zu versetzen;
 
soweit es sich um Ehrenbeamte handelt, sind sie aus dem Amtsverhältnis zu entlassen. (2) Abs.
 
69
 
Die Akzeptanz der neuen Rasseverordnungen fand schließlich auch Eingang in das Ritual
 
und die Statuten. Die 1933 eingeführte neue Form des Brauchtums der Großen Landesloge
 
(jetzt »Deutsch-Christlicher Orden«) sah – ein Kommentar im »Ordensblatt« sprach von
 
einer »durch die Geschehnisse des Jahres 1933 ohne weiteres verständlichen Sprache« – u.a.
 
folgende »neu eingefügte« Frage an den Kandidaten vor: »Sind Sie arischer Abkunft?«70 § 4
 
der neuen Ordensregel erhielt die Fassung: »Aus der deutschen und christlichen Wesensart
 
des Ordens folgt, daß nur Deutsche arischer Abstammung, die christlich getauft sind, Mitglieder
 
werden können.«71
 
Auch diese Regelung entsprang nicht der Absicht einer unter aktuellem politischen
 
Druck zustande gekommenen opportunistischen Anpassung. Bereits 1926 hatte es im »Johannisfestgruß
 
« der Großen Landesloge geheißen:
 
»Die Gemeinsamkeit des Schöpfers beseitigt … nicht die Unterschiede zwischen Rassen,
 
Völkern und Individuen, Unterschiede, die in der Geschichte eine viel zu große
 
und entscheidende Rolle gespielt haben, als dass sie unbeachtet bleiben könnten. Die
 
Verkennung und Unterschätzung dieser Unterschiede, die verhängnisvolle, zwar aus
 
reinsten Beweggründen, aber aus physiologischer und psychologischer Unwissenheit
 
geborene Humanitätsschwärmerei hat zu einer Vermischung und Entartung aller
 
Kulturen, Kunstrichtungen, Rassen und Völker, zu einer Sintflut geführt, die alles
 
in früherer Reinkultur Veredelte und Hochwertige ersticken zu wollen droht. Diesen
 
trüben, schlammigen Fluten sucht der Orden, der von jeher bemüht war, höchste
 
Veredelung durch sorgsamste Auslese und Reinerhaltung seines Bestandes zu erreichen,
 
einen Damm entgegenzusetzen.«72
 
»Entartung«, »Auslese«, »Reinerhaltung« – hier scheint ein Vokabular auf, das später im
 
»Wörterbuch des Unmenschen« (Dolf Sternberger) eine verhängnisvolle Rolle spielen sollte.
 
Im Übrigen war es dann auch nur folgerichtig, wenn in einer Schrift der Großen Landesloge
 
von 1935 festgestellt wurde: »Als drittes Ziel im Kampfes für deutsches Christentum
 
trat die Aufforderung zur Reinhaltung der Rasse.«73
 
Es sei jedoch noch einmal betont, dass sich in der deutschen Freimaurerei auch Stimmen
 
vernehmen ließen, die sich deutlich vom Mainstream der Meinungen abhoben. So
 
hieß es in einem Artikel der unabhängigen Freimaurerzeitung »Auf der Warte« im Jahre
 
1931: »Der deutsche Tempel, wie ich ihn auffasse, schließt den deutschen Juden nicht aus.«74
 
1 gilt nicht für Beamte, die bereits seit dem 1. August 1914 Beamte gewesen sind oder die im Weltkrieg
 
an der Front für das Deutsche Reich oder für seine Verbündeten gekämpft haben oder deren Vater oder
 
Söhne im Weltkrieg gefallen sind. Weitere Ausnahmen können der Reichsminister des Innern im Einvernehmen
 
mit dem zuständigen Fachminister oder die obersten Landesbehörden für Beamte im Ausland
 
zulassen.«
 
70 Bluhm, Johannes: Die neue Form des Brauchtums der I. Stufe im Orden, in: Ordensblatt, 62. Jahrgang
 
Nr. 10, 1933, Oktober-Heft, S. 294–299, hier S. 297.
 
71 Zitiert nach: 250 Jahre Freimaurer in Oldenburg. 1752–2002, Oldenburg 2002, S. 71.
 
72 Zirkelkorrespondenz, 1926, S. 245f., zitiert nach: Große Landesloge: Im Ordenshause der Großen Landesloge
 
der Freimaurer von Deutschland, Deutsch-Christlicher Orden, Berlin 1935; S. 8f.
 
73 Ebenda, S. 8.
 
74 Neumann, Otto Philipp: Deutsche Freimaurerei und Hochgrade, in: Freimaurerzeitung Auf der Warte,
 
Nr. 2, 15. Jg. 1931, S. 9–10, hier S. 10.
 
70
 
Trauer und Bestürzung zeigten sich vor allem in einer Reihe humanitärer Logen, die
 
noch 1933 zahlreiche jüdische Mitglieder hatten. So vermerkte etwa der Fürther Stuhlmeister
 
Daniel Lotter (Loge »Zur Wahrheit und Freundschaft« der Großloge »Zur Sonne«, Bayreuth)
 
im Mai 1933, als jüdischen Brüdern der Besuch des Logenhauses untersagt werden
 
sollte, in seinem maurerischen Tagebuch, das nach 1945 auf dem Boden des Logenhauses
 
wiedergefunden wurde, »die Erbitterung der jüdischen Brüder sei zu verstehen und berechtigt.
 
Gerade in der jetzigen für sie so schweren Zeit der Demütigungen hätten sie
 
ein Anrecht darauf gehabt, im Logenhaus ein Asyl und eine Zufluchtstätte zu finden«.75
 
Gleichzeitig verdeutlichen die Aufzeichnungen Lotters die Spannungen und Spaltungen,
 
von denen auch die humanitäre Freimaurerei vor und nach 1933 betroffen und geprägt
 
war.
 
3.3 Stichwort Nationalsozialismus
 
Schon 1931 hatte das Höchste Ordenskapitel der Großen Landesloge (freilich ohne Erfolg)
 
»um eine Unterredung mit Hitler zwecks Verständigung nachgesucht«76. 1932 – mithin
 
gleichfalls vor allem durch politischen Druck manifest gewordenen Anpassungszwängen
 
– hatte ein so prominenter deutscher Freimaurer wie August Horneffer unter Berufung
 
auf das »wundervoll anschauliche Lebensbuch Hitlers«77 vier Aspekte der NS-Bewegung aus
 
freimaurerischer Sicht ausdrücklich begrüßt – den Willen zur Erneuerung und Wiedergeburt,
 
den Willen zum Bauen, den Willen zur Überwindung des Parteiwesens und den Willen
 
zur Gefolgschaft – und von der NSDAP unter Bezug auf Guido von Lists Armanenlehre
 
gefordert, sich durch Aufbau eines leitenden inneren Ordens eine bessere Organisation zu
 
verschaffen. Auch zu den Grundlagen der Freimaurerei würden »Ein- und Unterordnung«
 
gehören, und nur eine »verwirrte Freimaurerei wie z.B. die italienische hat den Liberalismus
 
zum Prinzip erhoben und sich aus diesem Prinzip heraus Mussolini widersetzt«78. Gewiss,
 
so merkt Horneffer zu Hitler an, seien »alle seine Gedanken schon früher gedacht und ausgesprochen
 
worden, und viele seiner Anhänger und Gegner gebildeter, vielleicht auch klüger
 
als er«, um dann festzustellen: »Aber er ist der gewaltige Motor, der Vulkan, der aus der Tiefe
 
seines urdeutschen und urkräftigen Wesens die Gedanken oder richtiger die Forderungen
 
herausschleudert, die er nicht aus Büchern, sondern aus dem Leben geschöpft hat.«79 Für
 
sich und viele andere altpreußische Freimaurer identifiziert sich Horneffer ein Jahr später
 
mit den von Hitler begeisterten deutschen Jugendlichen (er nennt als Beispiel Horst Wessel
 
und weist stolz darauf hin, »dass der Vater dieses jungen Helden ein altpreußischer Freimaurer
 
war«) und bekennt:
 
75 Hanke, Roland Martin: Daniel Lotter – Ein Zeugnis über die Freimaurerei nach der nationalsozialistischen
 
Machtübernahme, in: Quatour Coronati Jahrbuch für Freimaurerforschung Nr. 43/2006, S.
 
219–253, hier S. 238.
 
76 Zur Geschichte der Großen Landesloge der Freimaurer von Deutschland zu Berlin. 1920–1970, Berlin
 
1970, S. 39.
 
77 Horneffer, August: Was erwarten wir von Nationalsozialismus, in: Am rauhen Stein, Monatsschrift der
 
großen Loge von Preußen genannt zur Freundschaft, Jg. 29, 1932, H. 8/9, S. 226–236, hier S. 229.
 
78 Ebenda, S. 235.
 
79 Ebenda, S. 231.
 
71
 
»Unser Herz ist ihnen viel näher als sie ahnen, unser Herz hat die letzten Monate
 
mit vollen Schlägen miterlebt und hat dem genialen Wecker und Erwecker unseres
 
Volkes zugejubelt, – trotz des Schmerzes und der Enttäuschung über die Versuche,
 
uns gleichsam abzuschütteln, die Mitglieder der Deutsch-christlichen Orden gleichsam
 
auszuschließen aus dem Erlebnis unseres Volkes. Ach man kann uns nicht abschütteln,
 
weil wir mit ihnen eins sind, weil unser Blut durch ihre Adern rinnt, weil
 
unser Same in ihnen aufgegangen ist.«80
 
Nationalsozialismus als »Same« altpreußischer Freimaurerei – wozu hätten sich große Teile
 
der deutschen Freimaurerei wohl noch hinreißen lassen, wenn das beklagte »Abschütteln«
 
und »Ausschließen« seitens der NSDAP und der von ihr kontrollierten staatlichen Behörden
 
im Jahre 1935 nicht stattgefunden hätten?
 
Die zuvor dokumentierte Sichtweise Horneffers und anderer führender Freimaurer
 
der späten 20er und frühen 30er Jahre des 20. Jahrhunderts war nicht das Resultat jäh
 
erzwungener Anpassung und »Tarnung«. Sie hat als konzeptionelle Grundlage auch die
 
fortschreitende Orientierung an der zunehmend beschworenen »stolzen, hohen Zeit arischer
 
Kultur«, an völkische Autoren wie John Gorsleben, Herman Wirth und – wie bereits
 
zitert – Guido von List, zeitweiligen Ideengebern von Hitler und anderen Nationalsozialisten,
 
die bereits vor 1933 zunehmend in der Zeitschrift der »Großen Loge von Preußen«
 
mit großer Zustimmung referiert werden.81 Neben Horneffer meldete sich dabei auch der
 
Vorsitzende des »Wetzlarer Kreises« innerhalb der Großen National-Mutterloge »Zu den
 
drei Weltkugeln«, Kurt Schmidt, mit einem Beitrag über Hermann Wirth zu Wort, den er
 
mit folgenden Worten beschloss:
 
»Wer in unsren Tempeln – ›vom Licht geboren, zu Licht erkoren‹ um mit Herman
 
Wirth zu reden – die ganze Tiefe des arischen Lichtmysteriums in seiner deutschen
 
Seele erlebt hat, der weiß sich mit ihm eins auch in den Worten: ›Wir tragen im Herzen
 
in treuer Hut den letzten Funken heilger Glut, den fernen lichten Glauben unserer
 
Ahnen. Nun wollen wir den Weg uns bahnen zur Heimatscholle, zur Gotteserde,
 
dass sie dem Volk Erlösung werde.‹«82
 
Zur »Johannesfeier im Ordensstammhaus«, das von der Großen Landesloge – zusammentreffend
 
mit dem »Fest der Sommersonnenwende« – nach einem neuen Ritual am 24. Juni
 
1933 gefeiert wurde, wies der Weiseste Ordensmeister auf Notwendigkeit und Folgerichtig-
 
80 Gemeinsame Feier des Sonnenwendfestes der beiden christlichen Orden »Friedrich der Große« und
 
»Zur Freundschaft« am 24. Juni 1933, in: Ordensblatt. Monatsschrift des Nationalen Christlichen Orden
 
Friedrich der Große, 1. Jg. Juli/August 1933, Nr. 3, S. 41.
 
81 S. Horneffer, August: Völkische Rechtfertigung des Freimaurertums, in: Am rauhen Stein, Monatsschrift
 
der großen Loge von Preußen genannt zur Freundschaft, Jg. 28, 1931, H. 5, S. 98–105; derselbe:
 
Guido von List, der völkische Philosoph und Prophet, in: Am rauhen Stein, Monatsschrift der großen
 
Loge von Preußen genannt zur Freundschaft, Jg. 29, 1932, H. 2, S. 35–45.
 
82 Schmidt, Kurt: Herman Wirth und die nordische Kultsymbolik des Stirb und Werde, in: Am rauhen
 
Stein, Monatsschrift der großen Loge von Preußen genannt zur Freundschaft, Jg. 29, 1932, H. 11, S.
 
303–311, hier S. 311.
 
72
 
keit auch ritueller Umgestaltungen hin,83 deren Inhalt der Ordenskanzler mit folgenden
 
Worten erläuterte:
 
»Die nordische Weltanschauung, die das Licht als Symbol des lebenschaffenden Wirkens
 
der Gottheit empfindet, ist im Brauchtum des Ordens in ungebrochener Kraft
 
und Reinheit erhalten worden«.84
 
Völkisch-arisierende Tendenzen zeigten sich auch beim gemeinsamen »Sonnwendfest« der
 
beiden christlichen Orden »Friedrich der Große« und »Zur Freundschaft«, das, so hieß es,
 
»an Stelle des früheren Johannisfestes« begangen wurde. Ordensgroßmeister Bordes erklärte,
 
im neuen gemeinsamen Ordensbrauchtum der beiden ehemaligen Großlogen, das etwa
 
auch die Hiramlegende durch die Baldursage ersetzte, seien alte germanische Kultformen
 
»in die Gegenwart herüber gerettet«, und Ordensgroßmeister Feistkorn leitete die gemeinsame
 
Tafel mit folgenden bemerkenswerten Versen ein:
 
»Sonnenwende – Schicksalswende! Ständig nesteln Nornenhände …«85
 
Schließlich fand die im völkischen Milieu populär gewordene Deutung der Externsteine
 
im Teutoburger Wald als altgermanische Kultstätte auch bei altpreußischen Freimaurern
 
Anerkennung. Der Bad Pyrmonter Freimaurer Oskar Zetzsche glaubte Spuren eines alten
 
arischen Lichtkultes erkennen zu können,86 der seiner Auffassung nach »in vieler Beziehung
 
den symbolischen Handlungen des Freimaurertums ähnlich gewesen sein muss«. Zahlreiche
 
altpreußische Freimaurer besuchten die Externsteine im April87 und dann wieder im
 
Juni 1933, diesmal im Rahmen der Jahrestagung der »Freunde germanischer Vorgeschichte
 
« in Bad Pyrmont, und freuten sich über »die richtige Erkenntnis, dass das hohe Licht der
 
Menschheitsgesittung aus dem Norden gekommen ist«.88
 
Zunehmende politische Sympathie für den Nationalsozialismus verband sich so mit ideologischen
 
Konvergenzen auf der Basis einer ariosophen Esoterik, und kein sorgfältiger Leser
 
wird widersprechen, wenn Horneffer rückschauend auf die 20er Jahre feststellen konnte:
 
»Den Lesern unserer Monatsschrift brauche ich nicht in Erinnerung zu rufen, wie
 
hier für das Verständnis der großen nationalsozialistischen Volksbewegung Schritt
 
für Schritt der Boden geebnet worden ist.«89
 
83 Deutsch-Christlicher Orden. Ordensblatt, 62. Jahrgang, Nr. 7, 1. Juli 1933, S. 217f.
 
84 Ebenda, S. 220.
 
85 Ordensblatt, hrsg. vom Nationalen Christlichen Orden Friedrich der Große in Berlin, 1. Jg., Juli/August
 
1933, Nr. 3, S. 45.
 
86 Zetzsche, Oskar: Eine germanische Kultstätte. Die Externsteine – und die Freimaurerei, in: Am rauhen
 
Stein, Monatsschrift der großen Loge von Preußen genannt zur Freundschaft, Jg. 29, 1932, H. 5, S. 155–
 
159.
 
87 Tagung in Bad Pyrmont mit Pilgerung zu dem altgermanischen Kultheiligtum der Externsteine, in: Der rauhe
 
Stein. Monatsschrift des Deutsch-christlichen Ordens zur Freundschaft, 30. Jg., Mai 1933, S. 141–150.
 
88 Braune, Heinrich: Die diesjährige Tagung der Freunde germanischer Vorgeschichte in Bad Pyrmont, in:
 
Deutsch-Christlicher Orden. Ordensblatt, 62. Jg. 1933, Juli-Heft, S. 191–203, hier S. 195, 193.
 
89 Horneffer, August: Frühling, in: Der rauhe Stein, 30. Jg. 1933, S. 99–102, hier S. 102.
 
73
 
In der Tat, August Horneffer, der Schriftleiter vom »Am rauhen Stein« und de facto Großsekretär
 
der »Großen Loge von Preußen, gen. Zur Freundschaft«, war immer mehr in die Rolle
 
eines »Chefideologen« nationalistischer, dabei durchaus auch völkischer und später nationalsozialistischer
 
Anpassung hineingewachsen – eine Rolle, von der er in seinen späteren
 
Veröffentlichungen nach dem Zweiten Weltkrieg freilich nichts mehr wissen wollte.
 
In ähnlichem Sinne wie Horneffer befand Ferdinand Runkel (Große Landesloge der
 
Freimaurer von Deutschland) zum Abschluss seines dreibändigen Werkes »Geschichte der
 
Freimaurerei in Deutschland«:
 
»Die Bewegung, die unter dem Zeichen des Hakenkreuzes steht, ist von einer Kraft
 
und Schichtentiefe, wie Deutschland sie ähnlich nur in der Erhebung von 1813 erlebt
 
hat … Diese Kräfte zu einer geschlossenen vaterländischen Front zusammenzuschließen,
 
wäre eine erhabene Aufgabe der Freimaurerei Deutschlands.«90
 
Nach der »Machtergreifung« Hitlers im Januar 1933 steigerte sich die Zustimmung zum
 
Nationalsozialismus, wobei immer wieder betont wurde, mit »Tarnung« habe dieser »neue
 
Beginn« nichts zu tun, im Gegenteil, es handele sich vielmehr um eine Aufgabe bisheriger,
 
historisch notwendig gewesener Tarnung: »Denn in der Tat war es nur durch eine Tarnung
 
möglich, das alte Germanenerbe vor dem Unverstand und der Unduldsamkeit römischen
 
Kirchentums zu schützen.«
 
August Horneffer befand nun:
 
»Sollte der Orden für die völlige Hingabe unserer Persönlichkeit nur das kleinste
 
Hindernis bilden, sollte die Zugehörigkeit zu ihm uns nur im geringsten abziehen,
 
ablenken, uns untüchtiger oder unwilliger machen, unser Sein für die von unserem
 
Volkskanzler aufgerichteten Ziele einzusetzen, dann muß er verschwinden.«91
 
Im Oktober 1933 sandten GNML 3WK und Royal York (jetzt Nationaler Christlicher Orden
 
»Friedrich der Große« und Deutsch-christlicher Orden »Zur Freundschaft«) aus Anlass
 
des Austritts Deutschlands aus dem Völkerbund folgendes (von ihnen selbst so genannte)
 
»Treuegelöbnis« an »Reichskanzler Hitler, Obersalzberg«:
 
»Wir begrüßen mit Stolz und Freude den Entschluß der Reichsregierung, der allein
 
der Ehre und Würde des deutschen Volkes entspricht, und stellen uns in treuer Gefolgschaft
 
hinter unseren Reichskanzler.«92
 
Auch in der Großen Landesloge wurde die Absicht der Tarnung als Unterstellung zurückgewiesen
 
und die Kontinuität nationaler Orientierung seit 1918 über die 20er Jahre hinweg
 
betont:
 
90 Runkel, Ferdinand: Geschichte der Freimaurerei in Deutschland, Berlin 1932, S. 456.
 
91 Zum neuen Beginn. Festkonvent (Leitung »Ordensgruppe Urania zur Unsterblichkeit«), in: Der rauhe
 
Stein, 30. Jg. 1933, S. 233–241, hier S. 234.
 
92 Ordensblatt, herausgegeben von dem »Nationalen Christlichen Orden Friedrich der Große« in Berlin,
 
September/Oktober 1933, S. 65.
 
74
 
»Es ist das, was sich in unserem Orden ereignet hat, ein Vorgang, der sich aus einer
 
inneren Notwendigkeit schon seit 15 Jahren entwickelt hat und sich nun spontan,
 
gleichgesinnt mit den Geschehnissen der nationalsozialistischen Revolution, vollzogen
 
hat … In derselben Form, wie die nationalsozialistischen Führer, hatten schon
 
längst die Führer unseres Ordens auch das Übel erkannt, das in der süßlichen Form
 
des pazifistischen Gedankens auf unserer Seele lastete, unter der diese Seele bis zur
 
vollständigen Entkräftung und Entmannung litt.«93
 
Und kurz vor Schließung der Logen hieß es im Ordensblatt der Großen Landesloge:
 
»Es muss daher als ein Irrtum bezeichnet werden, wenn behauptet wird, unser Orden
 
könne sich in die neue Weltanschauung nicht eingliedern. Das Gegenteil ist der Fall:
 
Wir haben die neue Weltanschauung immer gehabt und werden sie haben, solange
 
unser Orden besteht.«94
 
Anders die Haltung des »Freimaurerbundes zur Aufgehenden Sonne«. In der Artikelserie
 
»Kulturpolitisches Tagebuch von Ernst Falk« heißt es im Herbst 1928 klarsichtig zum Nationalsozialismus:
 
»Der deutsche Fascismus wird heute durch zwei große, von einander unabhängige
 
Organisationen repräsentiert: Von den Nationalsozialisten und vom Stahlhelmbund.
 
Die Nationalsozialistische Partei ist keine Partei im gewöhnlichen Sinne, sondern,
 
eine fascistische Organisation, deren letzter Zweck die Bildung von Sturmabteilungen
 
für den Bürgerkrieg ist. In dieser Partei herrscht heute schon die Diktatur: es
 
gibt keine Mitgliederversammlungen, die Beschlüsse fassen, es gibt nur die willenlose
 
Annahme der von dem Führer Hitler vorgeschriebenen Kundgebungen. So bietet
 
die Organisation der N. S. D. A. P., die alles andere als eine Partei ist, schon das
 
Urbild des fascistischen Staates, in dem lediglich der Wille von Hitler-Mussolini regieren
 
würde. Die Richtlinien der Partei sind dunkel und zweideutig. Neben gestohlenen
 
Sätzen aus dem sozialistischen Programm finden sich plumpe nationalistischmilitaristische
 
Phrasen. Die eigentliche Grundlage der Partei ist der unverhüllte, rohe
 
Rassenhaß, der sich im Inneren gegen die Juden, nach außen gegen Frankreich richtet
 
… Der Nationalsozialismus ist nationalrevolutionär und fascistisch: das heißt: er
 
rechnet nicht darauf, die Volksmehrheit für seine Ziele zu gewinnen, er will vielmehr
 
in einem günstigen Moment die Staatsgewalt durch Terror und Gewalt an sich reißen
 
und die Diktatur seines Führers Hitler aufrichten … Der deutsche Fascismus ist für
 
uns kein Popanz und kein Trugbild, er ist eine vorhandene reale Gefahr.«95
 
93 Meyer, H. E. August: Zur Aufklärung!, in: Zirkelkorrespondenz-Ordensblatt, 62. Jg., 1933, S. 374–382,
 
hier S. 380f.
 
94 Klingelhöffer, Wilhelm: Individualismus und Volksgemeinschaft, in Große Landesloge der Freimaurer von
 
Deutschland. Deutsch-Christlicher Orden, Ordensblatt, 64. Jahrgang, Nr. 2, 1935, Februar-Heft, S. 46.
 
95 Kulturpolitisches Tagebuch von Ernst Falk: Der deutsche Fascismus, in: Das neue Freimaurertum. Zeitschrift
 
des Freimaurerbundes zur aufgehenden Sonne, 22. Jg., H. 10, 1928, S. 298–299.
 
75
 
Am Ende seiner Publikationstätigkeit veröffentlichte die Zeitschrift des FzaS »Das neue Freimaurertum
 
« Thomas Manns »Bekenntnis zur sozialen Republik«, und der Bremer Pfarrer
 
und ehemalige sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Emil Felden forderte am Schluss
 
seines letzten Artikels – Hitler war bereits Reichskanzler – »Humanität, d.h. Achtung des
 
Nebenmenschen
 
als Menschen, welcher Rasse oder Klasse er auch angehören mag«96. Schon
 
vorher, zur Jahreswende 1932/33, hatte sich Max Seber, der letzte Großmeister des FzaS,
 
mit einem Rundschreiben an seine Brüder gewandt, das er mit folgenden Worten beschloss:
 
»Meine Brr. schwer ist unser Leben heute. Aber mit Bänglichkeit bezwingen wir es
 
nicht. In unseren Händen liegt jetzt die Verantwortung für die kommenden Zeiten.
 
Lassen wir es zu, dass der Barbarismus des Mittelalters von neuem triumphiert, so
 
senkt sich die Nacht des Aberglaubens auf unser Volk hernieder. Es gilt die Güter,
 
die wir von unseren Vätern ererbt, zu erwerben, um sie zu besitzen. Da werden wir
 
erst ihres Wertes gewahr und merken erst, was wir besaßen, im Augenblick, da wir es
 
zu verlieren drohen. Freiheit und Humanität, meine Brr. sind heute in höchster Gefahr!
 
Ich als Euer derzeitiger Großmeister, gebe vor Euch allen das große Notzeichen!
 
Helft und arbeitet, steht Euren Mann! Geht hinein in die Verbände zum Schutz der
 
Verfassung, zum Schutze der Freiheit. Die eiserne Front aller Entschlossenen wartet
 
auf Euch, meine Brr. Noch ist es Zeit, noch ist Raum für entschlossene Kämpferscharen!
 
Tut Eure Pflicht, gedenkt Eures Eides, gebt mir das Meisterzeichen!«97
 
All dieses belegt, dass es vor 1933 durchaus Alternativen zur nationalistischen Anpassung
 
und völkischen Ideologisierung gab. Es ist ein Dilemma der deutschen Freimaurerei, dass sie
 
diese Alternativen größtenteils bei Freimaurern findet, deren Logen und Großlogen in den
 
1920er und frühen
 
1930er Jahren als irregulär angesehen und behandelt wurden. Dass man
 
sich heute auch in den ehemals »altpreußischen« Großlogen der widerständigen Brüder des
 
FzaS, insbesondere Tucholskys und Ossietzkys, gern erinnert und sie gleichsam posthum regularisiert,
 
ist eine der Ungereimtheiten freimaurerischer Nachkriegserinnerungskulur, über
 
die im folgenden Abschnitt ausführlicher zu sprechen ist.
 
4. Erinnerungskultur: Umgang mit der »national-völkischen«
 
Orientierung nach dem Zweiten Weltkrieg
 
Von rühmlichen Ausnahmen wirklichen Widerstands abgesehen, hatte sich die deutsche Gesellschaft
 
in ihrer Gesamtheit vor und nach 1933 auf einer ansteigenden Zustimmungsskala
 
mehr oder weniger ausgeprägt mit dem NS-System identifiziert. Dies gilt auch für beträchtliche
 
Teile der deutschen Freimaurer, und so mussten ihre führenden Repräsentanten nach
 
1945 für den Umgang mit der Vergangenheit Sprach- und Verhaltensregeln finden. Vor allem
 
ging es um das, was im Kontext der Politik heute gern »Erinnerungspolitik« genannt wird,
 
d.h. es ging um die Art und Weise, wie mit der Vergangenheit der Freimaurerei vor und zu
 
96 Mann, Thomas: Bekenntnis zur sozialen Republik; Felden, Emil: Zur Judenfrage, in: Das neue Freimaurertum.
 
Zeitschrift des Freimaurerbundes zur aufgehenden Sonne, 27. Jg., H. 3, 1933, S. 74–77, hier S. 77.
 
97 Zitiert nach http://www.abacus-freimaurer.eu/pageID_10169295.html, Download 27.8.2010.
 
76
 
Beginn der NS-Zeit umzugehen sei und welche großlogenoffiziellen »Sprachregelungen«
 
sich hierfür anböten.
 
Die analytischen Befunde hierzu sind problematisch: Zwar forderten einzelne Freimaurer
 
bald nach dem Zusammenbruch des NS-Systems am Ende des Zweiten Weltkriegs
 
eine offene Auseinandersetzung mit der völkischen Vergangenheit. Insbesondere von Dr.
 
Bernhard Beyer, Großmeister der Großloge »Zur Sonne« in Bayreuth, wurde gefordert, »es
 
solle jeder Kontakt mit den früheren altpreußischen Großlogen abgelehnt werden, bis sie
 
von sich aus das von ihnen an der Freimaurerei begangene Unrecht eingesehen hätten«.98
 
Zu einer solchen Einsicht ist es weithin nicht gekommen, weder auf Seiten altpreußischer
 
Freimaurer noch bei Brüdern humanitärer Großlogen, die sich dem NS-Regime gegenüber
 
gleichermaßen anpasserisch verhalten hatten. Zwar wurden Irrtümer und Fehlentwicklungen
 
der deutschen Freimaurerei in der Weimarer Republik und den Jahren von 1933 bis
 
1935 nicht generell geleugnet. Zu wirklichem Mut und ganzer Wahrheit im Umgang mit
 
der völkischen Vergangenheit konnten sich die deutschen Freimaurer freilich nicht entschließen.
 
99 Forderungen wie die folgende waren nicht selten: »Man sollte endlich einmal
 
die Akten über jene in jeder Hinsicht traurige und verfolgungsreiche Zeit schließen …«100,
 
und so standen statt Aufarbeitung der Fakten vielfältige Apologien im Vordergrund.
 
Die dabei angewandten Strategien, die unterschiedlich akzentuiert waren und sich mischen
 
konnten, waren vor allem die folgenden vier:
 
1. Verfolgung wurde in Widerstand umgedeutet und als Beleg dafür auf exemplarische Ausnahmeerscheinungen
 
wie Wilhelm Leuschner, Carl von Ossietzky und Kurt Tucholsky
 
verwiesen.
 
2. Anpassung und geistige Selbstgleichschaltung wurde als Tarnung gekennzeichnet und
 
die generelle Unvereinbarkeit von Freimaurerei und Gewaltherrschaft betont.
 
3. Bedeutende freimaurerische Persönlichkeiten der Geschichte des 18. und 19. Jahrhunderts
 
wurden gleichsam als Garanten dafür herausgestellt, dass der Bund über jeden Zweifel
 
an seiner politisch-kulturellen Integrität erhaben sei.
 
4. Schließlich diente das Herausheben toleranter und pazifistischer Tendenzen in der Geschichte
 
der deutschen Freimaurerei zur Zurückweisung oder zumindest Abschwächung
 
des Antisemitismus-Vorwurfs.
 
So lud etwa der spätere VGL-Großmeister, Dr. Theodor Vogel, noch in seiner Zeit als Großmeister
 
der Großloge »Zur Sonne« den Bayerischen Staatskommissar für die politisch und
 
religiös Verfolgten zur Zweihundertjahrfeier der Gründung der Großloge im September
 
1947 nach Bayreuth ein, teilte mit, dass diese Feier auch als »Hundertjahrfeier des Tages
 
98 Zitiert nach Steffens, Manfred: Freimaurer in Deutschland, a.a.O., S. 530.
 
99 Insofern kann auch Reinalter kaum zugestimmt werden, wenn er zur freimaurerischen Toleranz und ihrer
 
Rolle bei der Aufarbeitung der Vergangenheit nach dem Zweiten Weltkrieg schreibt: »Diese Toleranz
 
der Respektierung der Weltanschauung und Religion des Anderen ist auch heute noch Grundlage der
 
Freimaurerei, die allerdings im Verlaufe des 19. und 20. Jahrhunderts sich manchmal von der Idealvorstellung
 
entfernt hat. Hier sei z.B. an den Streit um die Zulassung von Juden bis hin zur Anbiederung
 
einiger Deutscher Großlogen an den Nationalsozialismus erinnert. Sicher war es auch Ausdruck der Toleranzidee,
 
daß es nach dem Zweiten Weltkrieg gelungen ist, diese problematischen Entwicklungen der
 
Vergangenheit kritisch aufzuarbeiten.« Reinalter, Helmut: Die Freimaurer, München 2000, S. 45.
 
100 Bericht von der Hauptversammlung der GLL in Hamburg, in: Zirkelkorrespondenz, Nr. 4, 1950.
 
77
 
(31.8.1847)« begangen werden sollte, »an dem unsere Großloge als eine der ersten deutschen
 
Großlogen den jüdischen Brüdern ihr volles Recht bestätigt hat« und bat den Staatskommissar
 
darum, die Einladung auch an Vertreter der Militärregierung weiterzuleiten, »damit wir
 
ihnen zeigen, dass die Kräfte des Guten in Deutschland, die Kräfte, die sich schon vor dem
 
Terror des Dritten Reiches zur Humanität, zur schönen reinen Menschenliebe, zur Brüderlichkeit
 
aller, bekannt haben, dennoch leben und mit Nachdruck und Überzeugung dafür
 
kämpfen wollen«.101
 
Insbesondere den geschickten und beharrlichen Bemühungen Theodor Vogels war es
 
zu verdanken, dass das Misstrauen sowohl der Besatzungsbehörden als auch der amerikanischen,
 
britischen und französischen Großlogen, die über die deutsche Freimaurerei der
 
1920er und 1930er Jahre zumindest in Grundzügen informiert waren, allmählich abzubauen.
 
Wie sehr dieses Misstrauen die unmittelbare Nachkriegszeit geprägt hatte, lässt sich an
 
zahlreichen Beispielen aufzeigen. So wurde in einer Anordnung der amerikanischen Militärregierung
 
für Groß-Hessen die Zustimmung zur Gründung von Freimaurerlogen davon
 
abhängig gemacht, dass »ein Komitee von drei, als ›Anti-Nazi‹ bekannten Persönlichkeiten
 
die Verantwortung für die Durchkämmung der Mitglieder und für unpolitische Versammlungsziele
 
übernimmt«.102 Gleiches Misstrauen und gleiche Vorkehrungen gehen auch aus
 
dem Schreiben hervor, mit dem die Landesgroßloge Württemberg-Baden durch die amerikanische
 
Militärregierung des Landes am 23. September 1947 offiziell genehmigt wurde:
 
»Die Freimaurer-Großloge Württemberg-Baden wird unter folgenden Voraussetzungen
 
genehmigt: In jeder Wahlperiode muss ein Ausschuss von drei Mitgliedern,
 
die als Anti-Nazi bekannt sind, die Verantwortung übernehmen für (1) eine Überprüfung
 
der Mitglieder, (2) unpolitische Ziele der Zusammenkünfte und (3) die Führung
 
einer Mitgliederliste, die der Militärregierung auf Wunsch zur Verfügung steht.«103
 
Zu einer solchen Überprüfung der Mitglieder ist es allerdings nicht immer gekommen und
 
der Umgang mit ehemaligen Nationalsozialisten bzw. NS-Sympathisanten war kaum konsequent.
 
Die Brüder, die nach 1945 die Freimaurerei neu begründeten, waren ja weitgehend
 
identisch mit den Brüdern aus der Zeit vor 1935, und so schien es nahezuliegen, dass ein Teil
 
der Anwälte einer rechtsautoritären Anpassung der deutschen Freimaurerei in der Schlussphase
 
der Weimarer Republik und im beginnenden NS-Regime nach 1945 eine führende
 
Rolle beim Wiederaufbau der Freimaurerei in Deutschland spielte. Es ist kein Ruhmesblatt
 
der deutschen Nachkriegsfreimaurerei, dies nicht verhindert zu haben. Einer der Unterzeichner
 
nationalsozialistischer Aufrufe zur Bücherverbrennung im Jahre 1933 hätte wohl
 
kaum für das Amt des Großredners der Großloge A.F.u.A.M. kandidieren dürfen (Redner
 
der Distriktsloge Niedersachsen war er bereits gewesen), und auch ehemaligen Mitgliedern
 
der NSDAP sowie der SS und ihrer Untergliederungen hätte bei die Übernahme freimaurerischer
 
Ämter bis in die Großlogenleitungen hinein eher Zurückhaltung angestanden.
 
Dabei hatten viele Brüder das Problem durchaus erkannt. Beispielsweise war es Gegenstand
 
längerer Erörterungen auf der 8. Sitzung der Frankfurter Arbeitsgemeinschaft
 
101 Archiv der Großloge AFuAM, Altenburg, A – 0005.
 
102 Ebenda.
 
103 Ebenda.
 
78
 
vom 29. März 1947 gewesen. Dem Protokoll der Sitzung nach erklärte der Vorsitzende der
 
Arbeitsgemeinschaft, Br. Pauls, »er halte die damaligen Vorgänge für so bedenklich, dass
 
er für die deutsche Freimaurerei schwere Nachteile befürchte, wenn sie zur Kenntnis der
 
Militärbehörden kämen« und Mitglieder der Sitzung stimmten darin überein, »dass von
 
allen Brüdern, die sich früher in heute als falsch erkannter Richtung exponiert hätten, äußerste
 
Zurückhaltung geübt werden müsse«. Brüder mit ehemals nationalistisch-völkischer
 
Orientierung, insbesondere solche, »die heute noch ihre frühere Tätigkeit als Leiter der
 
berüchtigten Ringe Altpreußischer Logen ihren Namen offenbar als Ehrentitel zufügen,
 
seien als Brüder tragbar, aber nicht an führender Stelle«.104
 
Auf örtlicher Ebene der Logen wurden gleichfalls gelegentlich Auseinandersetzungen
 
geführt, bei denen es um die Frage der Legitimität einer Wiederzulassung von Logen angesichts
 
völkischer Belastungen ging, und es gab Schreiben aus Logenkreisen an die örtlichen
 
Polizeibehörden, andere, ehemals altpreußische Logen wegen massiver Vergangenheitshypotheken
 
nicht wieder zuzulassen.105
 
Auch aus heutiger Sicht muss leider nach wie vor gelten, dass die Beschäftigung mit
 
dem Thema »Freimaurerei und Nationalsozialismus« äußerst zögerlich erfolgt und dass die
 
freimaurerische Selbstdarstellung für diese Zeit immer noch von Mythen und Legenden
 
durchzogen ist.
 
Wie für die deutsche Politik, so war auch für die Freimaurerei in Deutschland der alliierte
 
Nachkriegsrahmen entscheidend. Die Logen konnten sich nur wiedergründen, wenn sie
 
von den Militäradministrationen zugelassen und von ausländischen Großlogen unterstützt
 
wurden. Voraussetzung dafür war, dass sich wie die deutsche Politik im Allgemeinen so
 
auch die deutsche Freimaurerei im Speziellen in ihrer Haltung zu Demokratie und internationaler
 
Verständigung neu definierte – d.h. als für im demokratischen Sinne politisch
 
integer erklärte – und dass zugleich ein Modus Vivendi mit der Vergangenheit zwischen
 
1918 und 1945, d.h. mit der Zeit rechtskonservativer, nationalpatriotischer und nationalsozialistischer
 
Orientierung gefunden wurde.
 
Die Wege, welche die deutsche Freimaurerei in ihrer »Vergangenheitspolitik« dabei ging,
 
entsprachen dem Mainstream der politischen Selbstverständigung in der deutschen Nachkriegsgesellschaft.
 
Knapp gehaltenen Hinweisen auf »die Verirrungen eines nicht geringen
 
Teiles der deutschen Freimaurerei vor 1933«106 folgten nur allzu oft apologetische Formeln,
 
die mit der Zeit den Charakter dominierender Sprachregelungen annahmen.
 
Die Leitformeln dafür können in ihrem Kern wie folgt umschrieben werden:
 
• Wir deutschen Freimaurer waren und sind geborene Demokraten.
 
• Wir deutschen Freimaurer waren im Hinblick auf das NS-Regime Gegner, Opfer und Verfolgte.
 
• Wir deutschen Freimaurer haben mit unserer Anpassung an den Nationalsozialismus lediglich
 
versucht, den Bund und sein historisches Erbe durch »Tarnung« zu retten.
 
104 Archiv der Großloge AFuAM, Altenburg, A – 0009.
 
105 Archiv der Großloge AFuAM, Altenburg, A – 0002.
 
106 Bernhard, Henry: Die deutsche Freimaurerei und Europa, in: Die Vereinigte Großloge, Juli/August 1951,
 
H. 1–2, S. 38–43, hier S. 39.
 
79
 
Zwar beschloss der Großmeistertag im zeitlichen Vorfeld der feierlichen Einsetzung der Vereinigten
 
Großloge der Freimaurer von Deutschland am 22. Januar 1949 eine Erklärung, in
 
der es hieß:
 
»Der Nationalsozialismus, der im Jahre 1933 die deutschen Freimaurerlogen hinwegfegte,
 
hat der Kultur der Menschheit furchtbare Wunden geschlagen. Auch wenn
 
sich in unseren Reihen keiner befindet, der an diesem Verbrechen teilhatte, keiner,
 
der sich der tödlichen Gewalt des Dritten Reiches innerlich oder äußerlich verbunden
 
fühlte, auch wenn viele von uns Gegner und Opfer dieses Reiches gewesen sind,
 
so bleiben wir als Deutsche uns doch der Verpflichtung bewusst, an der Heilung der
 
Wunden nach besten Kräften mitzuhelfen.«107
 
Zu einer wirklichen Klarstellung und konsequenten Aufarbeitung im Hinblick auf die völkische
 
Vergangenheit konnten sich die deutschen Freimaurer freilich nicht entschließen.
 
Dies gilt nicht zuletzt für die »altpreußischen« Großlogen, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg
 
neu formierten, und hier insbesondere für die Große Landesloge der Freimaurer von
 
Deutschland. In einer »Generellen Erklärung«, die Ordensmeister Fritz Pauk im Januar 1955
 
abgab, hieß es lediglich: »Wir bitten um Verständnis dafür, dass manches gegen den auch für
 
uns verbindlichen Primat der Freimaurerei geschah, um durch Tarnung dem der deutschen
 
Freimaurerei zugedachten Schicksal zu entgehen.«108
 
Und noch Anfang der 70er Jahre – längst hätte eine kritisch-selbstkritische Aufarbeitung der
 
Quellen beginnen können – hieß es entschuldigend:
 
»Die verantwortlichen BBr. versuchten, trotz aller Gefahren, trotz Diffamierung und
 
persönlicher Abwertung, das gefährdete Schiff durch die Klippen der Zeit zu bringen.
 
Wenn aller unbeirrbarer Glaube letzten Ende doch Schiffbruch erlitt – wer
 
möchte den ersten Stein werfen. Es sind nach 1945 viele Steine geworfen worden.
 
Nach genauer Prüfung aller Berichte ist aber zu sagen: Alle verantwortlichen BBr. haben
 
die härteste Bewährungsprobe über sich ergehen lassen müssen, der je BBr. an
 
verantwortlichen Stellen ausgesetzt waren, und sie haben diese Probe bestanden, vor
 
sich selbst, vor der Bruderschaft und vor der Welt!«109
 
Um das proklamierte »Bestehen der Probe« zu überprüfen, müsste an dieser Stelle eine analytische
 
Aufarbeitung der zahlreichen vorliegenden Dokumente – insbesondere der Beiträge
 
in den vielen neu oder wieder erschienenen freimaurerischen Zeitschriften sowie der Archivalien
 
– vorgenommen werden. Weitere Untersuchungen sind erforderlich und werden – bei
 
wachsendem Zeitabstand und zugänglicher werden Archivmaterialien auch sicher zukünftig
 
vorgenommen. Beim derzeitigen Stand von Forschung und Erschließung der Quellen kann
 
das aus meiner Sicht Bezeichnende nur beispielhaft illustriert werden.
 
107 Rundschreiben der Vereinigten Großloge der Freimaurer von Deutschland, 1948/49, Archiv der Großloge
 
AFuAM, Altenburg.
 
108 Text der Erklärung im Archiv der Großloge AFuAM, Altenburg, A – 0009.
 
109 Zur Geschichte der Großen Landesloge der Freimaurer von Deutschland zu Berlin. 1920–1970, Berlin/
 
Uetersen 1970, S. 39.
 
80
 
So führten etwa bayerische Logen als Schritt auf dem Wege zur Wiedergründung der
 
Großloge »Zur Sonne« am 4. Oktober 1947 eine »Erste öffentliche Kundgebung der bayerischen
 
Freimaurer« in Bayreuth durch, in deren Mittelpunkt ein Vortrag mit dem Thema
 
»Die wieder erstehenden Freimaurerlogen als Bausteine für Humanität und Demokratie«
 
stand.110 Der Referent bezeichnete »die Verfolgung der Freimaurerei durch die Nazi als das
 
Unerhörteste, was ihr in ihrer 200-jährigen Geschichte begegnet ist«, hob hervor, dass seit
 
dem 18. Jahrhundert »in den Bauhütten des Abendlands und später der ganzen Welt ein
 
sozialer Humanismus als Sinnbild vollkommener Brüderlichkeit, Gleichheit und Freiheit
 
gelebt habe«, und folgerte für die Gegenwart, dass »die Wiedererstarkung der Freimaurerei
 
… für die demokratische Fortentwicklung des deutschen Volkes, innen- und außenpolitisch
 
gesehen, von größter Wichtigkeit« werden könne.
 
Im Mitteilungsblatt der 1949 gegründeten Vereinigten Großloge der Freimaurer von
 
Deutschland hieß es im Leitartikel zum Januar-Heft 1950: »Ein jeder wahre Freimaurer
 
muss sich fühlen und bekennen als ein Glied einer Weltorganisation, deren heiligste Aufgabe
 
es ist, in der ganzen Welt die elementaren Ideale der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit
 
hochzuhalten, für Menschenrechte und Menschenwürde einzustehen, für den
 
Weltfrieden zu kämpfen und alles zu tun, um die menschliche Kultur zu retten, zu erhalten
 
und zu fördern.«111
 
Zum Umgang mit der Vergangenheit sind die Ausführungen beispielhaft, die von Theodor
 
Vogel, dem späteren VGL- und VGLvD-Großmeister, bei der Wiedereinsetzung der
 
Großloge »Zur Sonne« Anfang Mai 1948 vorgetragen wurden:
 
»Wir bekennen uns zu dem Schicksal unseres Volkes, von dem wir uns im Leid
 
so wenig wie im Glück zu trennen begehren. Wir wollen ihm helfen, die Schuld
 
seiner Machthaber, die unsere Feinde waren, zu überwinden durch Dienst an der
 
Gerechtigkeit«.112
 
Theodor Vogel fuhr fort:
 
»Es war nicht Aufgabe der Freimaurerei, den Staat Adolf Hitlers auf politischem Feld
 
zu bekämpfen, so wenig dies Aufgabe der Kirchen oder der Künstler an sich gewesen
 
ist. Dass trotzdem ihre Logen geschlossen, ihre Häuser beschlagnahmt, ihr Vermögen
 
geraubt wurde, dass ihre Angehörigen diffamiert, amtsunwürdig erklärt, von den
 
Lehrstühlen entfernt, entlassen, vertrieben oder in den KZ’s zu Märtyrern gemacht
 
wurden, hat dennoch ein Gutes bewirkt: Die reinliche Scheidung. Wer in den 13 Jahren
 
der Menschheitsferne der Idee der Loge treu blieb und ausharrte, hatte 1945 dennoch
 
gesiegt.«113
 
Der Versuch einer solchen »reinlichen Scheidung« spielte für »Erinnerungskultur« und »Gedächtnispolitik
 
« der deutschen Nachkriegsgesellschaft und auch der deutschen Freimaurerei
 
110 Rundbrief der hammerführenden Meister der bayer. Freimaurerlogen, Oktober 1947, S. 5.
 
111 Die heutigen Aufgaben der Freimaurerei, in: Mitteilungsblatt der Vereinigten Großloge der Freimaurer
 
von Deutschland, Januar 1950, S. 79.
 
112 Bundesblatt der Großloge »Zur Sonne« Bayreuth, Mai 1948, S. 129.
 
113 Ebenda, S. 130.
 
81
 
als Teil dieser Gesellschaft eine große Rolle: Nazis, das waren deutlich abgrenzbar jene, d.h.
 
die anderen – Nicht-Nazis, Verfolgte und Opfer, das waren ebenso deutlich abgrenzbar wir.
 
De facto hat es eine solche »reinliche Scheidung« allerdings nicht gegeben: Von der Ausnahme
 
wirklichen Widerstands abgesehen, hatte sich die deutsche Gesellschaft in ihrer Gesamtheit
 
mehr oder weniger mit dem NS-System identifiziert und damit dessen Funktionieren
 
ebenso ermöglicht wie sein Überleben bis zum bitteren Ende der militärischen Niederlage.
 
Da dies nun auch für beträchtliche Teile der deutschen Freimaurer zu gelten hat, mussten
 
ihre führenden Repräsentanten nach 1945 für den Umgang mit der Vergangenheit in
 
einem doppelten Sinne Sprach- und Verhaltensregeln finden: Einmal ging es um die Frage,
 
wie mit der Vergangenheit der Freimaurerei vor und zu Beginn der NS-Zeit umzugehen
 
sei, zum anderen mussten Wege des Umgangs mit ehemaligen Nationalsozialisten bzw. NSSympathisanten
 
gefunden werden.
 
Paradigmatisch für die Haltung vieler Freimaurer, aber auch für weite Teile des deutschen
 
Nachkriegsbürgertums insgesamt kann wiederum auf August Horneffer hingewiesen
 
werden, der 1946 zum Großmeister der »Großen Loge Royal York zur Freundschaft«114
 
gewählt wurde. Er schob in seinem 1955 veröffentlichten Erinnerungsbuch »Aus meinem
 
Freimaurerleben« die Hauptverantwortung für die Wende seiner Großloge zum Nationalsozialismus
 
dem damaligen, mittlerweile verstorbenen Großmeister Oscar Feistkorn zu, der
 
»voll rührenden Eifers (war), mit den neuen Herren zu paktieren …«115, während er selbst
 
die freimaurerische Arbeit hätte einstellen wollen. Zur Kennzeichnung des Hintergrunds
 
und zur Erklärung der Einstellung vieler Freimaurer zum Nationalismus wird von Horneffer
 
– in erstaunlicher Übereinstimmung mit vor 1935 von ihm und anderen »völkischen«
 
Freimaurern vertretenen Auffassungen – angemerkt,
 
»dass im Parteiprogramm und in vielen schönen Reden, die wir hörten oder lasen,
 
Grundsätze und Wendungen vorkamen, die uns Freimaurer angenehm berührten.
 
Besonders die Einheit des Volkes, die Lobpreisung der Arbeit –, das war
 
doch gleichsam eine Verallgemeinerung unserer maurerischen Botschaft! Es war
 
kein Wunder, dass sich nicht wenige Brüder für den ›nationalen Sozialismus‹ zu
 
begeistern anfingen und den dringenden Wunsch hatten, mitzuarbeiten. Übrigens
 
fanden sich solche ›Kollaborateure‹ keineswegs bloß unter den altpreußischen Freimaurern;
 
ebenso heftig strebten viele nicht preußische Brüder nach dem Mitgliedsbuch
 
der Partei …«116.
 
Zum völkischen und nazistischen Antisemitismus – auch in der Freimaurerei – bemerkt
 
Horneffer:
 
»Daß aber die Juden die Kerntruppe aller Zersetzungsarbeit, alles verneinenden, auflösenden
 
verhöhnenden Satanismus seien, stand nicht bloß in Hitlers und Rosenbergs
 
Büchern; es war in einem geradezu unheimlichen Grade zum Volksglauben geworden
 
und wirkte in alle sozialen Verhältnisse und Verbindungen hinein. Ich hätte
 
blind sein müssen, wenn ich auf meinen Logenreisen diesen Zug der Zeit nicht hätte
 
114 Die Großloge hatte nach 1945 das alte »Royal York« wieder in ihren Namen aufgenommen.
 
115 Horneffer, August: Aus meinem Freimaurerleben. Erfahrungen und Winke, Hamburg 1957, S. 190.
 
116 Ebenda, S. 188.
 
82
 
bemerken sollen … Ich ahnte damals noch nicht, daß unser Volk noch im 20. Jahrhundert
 
fähig sein würde, gesetzliche Ausnahmebestimmungen, Bedrückungen, Austreibungen
 
und schließlich Ausrottungsmaßregeln gegen die Juden gutheißen oder
 
wenigstens geschehen zu lassen. Wenn ich aber auch solche Ausartungen eines übertriebenen
 
Minderwertigkeitsgefühls vorausgesehen hätte, würde ich mich doch niemals
 
haben entschließen können, mich dem übermächtigen Willen meines Volkes
 
entgegenzuwerfen oder in die Emigration zu gehen.«117
 
Und als »bedauernswertes Armutszeugnis« wird es von Horneffer an anderer Stelle bezeichnet,
 
»daß unser Volk mit den Juden nur durch brutale Gewalt fertig werden zu können
 
glaubte«.118 Das in vielerlei Hinsicht lesenwerte, historisch interessante und persönlich
 
anrührende
 
Buch Horneffers, dessen Rang als freimaurerischer Autor nicht in Zweifel gezogen
 
werden soll, macht deutlich, in welch begrenztem Maße deutsche Freimaurer – wie
 
viele andere
 
deutsche Bürger auch – aus der deutschen Katastrophe als »Bürger des Westens«
 
hervorgegangen
 
waren, wie wenig sie in der Lage waren, ihre eigene Rolle selbstkritisch zu
 
reflektieren und wie sehr es den von den siegreichen westlichen Alliierten nach 1945 gesetzten
 
politischen Rahmenbedingungen zu verdanken ist, dass Deutschland im Verlauf der
 
zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer funktionsfähigen »westlichen Demokratie« geworden
 
ist.119
 
Tatsache ist jedenfalls, dass die von Theodor Vogel angemahnte »reinliche Scheidung«
 
in vielen Fällen unterblieb und dass nur allzu oft Opportunismus, Nachsicht und Milde
 
herrschten, die bis zur Gefährdung freimaurerischer Prinzipien reichten.120
 
Bei dieser Feststellung geht es nicht um Schuldzuweisungen, wohl aber bleibt nachdrücklich
 
anzumerken, dass mehr kritische Selbstwahrnehmung, Erinnerungsscham und Mut
 
zu historischer Wahrheit zu wünschen gewesen wären. Wie flott und eindringlich waren
 
die Texte vor und nach 1933 geschrieben worden und wie wenig mochte man sich nach
 
1945 an sie erinnern, was nicht nur für die Autoren, sondern auch für die Großlogen gilt,
 
zu deren ideologischer Profilierung sie verfasst worden waren. Insgesamt kann jedenfalls
 
konstatiert werden, dass sich die freimaurerische Erinnerungskultur und das Verhalten
 
ehemaligen NS-Sympathisanten gegenüber in der Nachkriegszeit und den Gründerjahren
 
der Bundesrepublik aufs Ganze nicht von den entsprechenden Einstellungen der deutschen
 
Gesellschaft insgesamt unterschieden haben.121
 
Für eine fundierte Aufarbeitung besteht weiterer Forschungsbedarf. Doch bei der in der
 
deutschen Freimaurerei der Gegenwart noch immer verbreiteten Scheu, sich unbequemen
 
historischen Fakten zu stellen, bleibt vielleicht auch hier nur die Möglichkeit, dass sich
 
»externe
 
« Freimaurerforscher der Thematik annehmen.
 
117 Ebenda, S. 127, 129.
 
118 Ebenda, S. 124.
 
119 Ich folge hier wieder der Begrifflichkeit Winklers.
 
120 Zu Beispielen aus Bremen s. Meyer, Marcus/Hofschen, Heinz-Gerd: Licht ins Dunkel. Die Freimaurer
 
und Bremen, Bremen 2006, S. 115f.
 
121 Vgl. Frei, Norbert: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit,
 
München 1996; ders.: 1945 und Wir. Das Dritte Reich im Bewußtsein der Deutschen, München
 
2005; Cornelißen, Christoph/Klinkhammer, Lutz/Schwentker, Wolfgang (Hrsg.): Erinnerungskulturen.
 
Deutschland, Italien und Japan seit 1945, Frankfurt/Main 2003.
 
83
 
Gewiss: In den vergangenen zwei Jahrzehnten haben sich mehr Freimaurer als in
 
der Nachkriegszeit davor um ein kritisches Aufarbeiten der massiven Annäherung beträchtlicher
 
Teile der deutschen Freimaurerei an Nationalsozialismus und NS-Regime
 
bemüht. So ist etwa hinzuweisen auf die »offenen«, d.h. unter Beteiligung externer Experten
 
durchgeführten Arbeitstagungen
 
der Forschungsloge »Quatuor Coronati« zu
 
den Themen »Von der Reichsgründung
 
bis zum Ende der Weimarer Republik: Interne
 
und internationale Aspekte der deutschen Freimaurerei« (Frankfurt 2005) sowie »Freimaurerei
 
und Friedensfrage in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts« (Salzburg/Anif
 
2006), die im Quatuor Coronati Jahrbuch dokumentiert wurden, auf einige schon zuvor
 
im QC-Jahrbuch erschienene Artikel (Werner Freudenschuß und Jürgen Luckas),
 
auf einige nachdenkliche Ref lexionen in Bruno Peters Buch über die »Freimaurerei im
 
Deutschen Reich«, auf einige Beiträge in der Zeitschrift »Humanität« (darunter
 
von
 
Rolf Appel122, Gerhard Grossmann123 und vom Autor dieses Beitrags124) sowie auf einige
 
kritisch-differenzierend
 
erinnernde Berichte aus der Perspektive einzelner Brüder
 
(z.B. – wie zitiert – Br. Daniel Lotter) und Logen (z.B. die vorzüglich aufbereitete Erinnerungsschrift
 
»250 Jahre Freimaurerei
 
in Oldenburg, 1752–2002«). Vor allem aber ist
 
das dreibändige Werk über die Große National-
 
Mutterloge »Zu den drei Weltkugeln«
 
zwischen 1933 und 2000 hervorzuheben, das unter der Redaktion von Hans-Werner
 
Schwarz als »Versuch einer Standortbestimmung« in Herausgeberschaft der GNML 3WK
 
im Jahre 2002 erschien.125 Dieses Buch ist deshalb so wichtig,
 
weil es sich hier um den
 
ersten umfassenden, von einer deutschen Großloge unternommenen
 
Versuch handelt,
 
abwägend und zeitkritisch sowie unter Rückgriff auf viele Quellen aufzuarbeiten,
 
was
 
sich innerhalb eines breiten Segments der deutschen Freimaurerei in den 20er und 30er
 
Jahren des 20. Jahrhunderts an Entfernungen vom Ursprungsideal
 
vollzog. Das Werk
 
begründet ein neues Anspruchsniveau, von dem bei weiteren derartigen Bemühungen
 
ausgegangen werden sollte.
 
Insgesamt ist jedoch einzuräumen, dass die analytisch überzeugendsten, materialreichsten
 
und wissenschaftlich unbefangensten Arbeiten zur hier erörterten Thematik von
 
Wissenschaftlern
 
außerhalb der Freimaurerei vorgelegt wurden, wobei vor allem auf drei
 
Arbeiten hinzuweisen ist, deren Lektüre in diesem Zusammenhang unverzichtbar ist: Helmut
 
Neubergers
 
»Freimaurerei und Nationalsozialismus«, Hamburg 1980 (2001 unter dem
 
Titel »Winkelmass und Hakenkreuz. Die Freimaurer und das Dritte Reich« neu ediert),
 
Wolfgang Fenners
 
und Joachim Schmidt-Sasses Studie »Die Freimaurerei als ›nationale
 
Kraft‹ vor 1933« (im Sammelband »Weimars Ende«, herausgegeben von Thomas Koebner,
 
Frankfurt/Main 1982) und Ralf Melzers »Konflikt und Anpassung. Freimaurerei in der Weimarer
 
Republik und im ›Dritten Reich‹«, Wien 1999. Zusätzlich zu verweisen ist auch in
 
diesem Zusammenhang
 
auf Stefan-Ludwig Hoffmanns Buch »Politik der Geselligkeit. Freimaurerlogen
 
in der deutschen Bürgergesellschaft 1840–1918«, Göttingen 2000. Viele Kapitel
 
122 Appel, Rolf: Zwischen Ungeist und Widerstand: Freimaurerei und Nationalsozialismus, in: Humanität.
 
Das deutsche Freimaurermagazin, Nr. 5, Juli/Aug. 1985, S. 19–22.
 
123 Grossmann, Gerhard: 1935–1945–1985, ebenda S. 17–18.
 
124 Höhmann, Hans-Hermann: Erinnern – weil wir Zukunft wollen, ebenda S. 23–24.
 
125 Große National-Mutterloge »Zu den drei Weltkugeln« im Verband der Vereinigten Großlogen von
 
Deutschland, Bruderschaft der Freimaurer: 1933–2000. Versuch einer Standortbestimmung, 3 Bände,
 
Berlin 2002.
 
84
 
dieses – von der Forschungsloge für ihre Mitglieder unmittelbar nach seinem Erscheinen
 
als »Jahresgabe« erworbenen
 
Werkes – behandeln die Vorgeschichte und die Grundlagen
 
späterer Entwicklungen,
 
wobei auf das Kapitel »Fremde Brüder: Juden und Freimaurer«
 
besonders zu verweisen ist.126
 
Trotz der zuvor erwähnten Veröffentlichungen von Freimaurern und freimaurerischen
 
Institutionen
 
muss aufs Ganze allerdings nach wie vor gelten, dass die Beschäftigung mit
 
dem Thema »Freimaurerei und Nationalsozialismus« unverändert zögerlich erfolgt und
 
dass die freimaurerische Selbstdarstellung für diese Zeit immer noch von Mythen und
 
Legenden durchzogen ist, vor allem und besonders bedauerlicherweise gegenüber der Öffentlichkeit,
 
der ein besseres Wissen offenbar häufig nicht zugetraut wird.
 
Dies hat nun wiederum mit dem Legitimitätsproblem, vor allem mit der Angst vor
 
Legitimationsdefiziten
 
zu tun. Zwischen dem heutigen Selbstverständnis des Bundes als
 
einem weltoffenen, humanitären Freundschaftsbund und der freimaurerischen Realität und
 
Selbstdarstellung
 
der 20er und frühen 30er Jahre besteht nun einmal eine tiefe Kluft. Humanitäre
 
Grundhaltung und Annäherung an den Nationalsozialismus bis zur Verleugnung
 
der alten Ideale und ihres rituellen Ausdrucks passen nun einmal nicht zusammen. Also
 
lag die Versuchung nahe, im Nachhinein, das heißt im Zuge der Wiedergründung der Freimaurerei
 
nach dem Zweiten Weltkrieg, die zuvor skizzierten Strategien zur Überwindung
 
dieser Kluft anzuwenden, die einem Bemühen um historische Wahrheit in ihrer Gesamtheit
 
kaum entsprachen.
 
Doch es ist nun einmal historische Tatsache, dass sich große Teile der deutschen
 
Freimaurer
 
als Bestandteil eines politisch weitgehend rechtskonservativ orientierten Bürgertums
 
an den Nationalsozialismus anpassten, ja in vielen Fällen mit teils innerer, teils
 
offen artikulierter Zustimmung auf die Nazis zugingen. Was diese Freimaurer störte – dies
 
belegen die Quellen aus den frühen 30er Jahren nur allzu deutlich –, war weit weniger der
 
Nationalsozialismus
 
selbst als der von den Nazis verfügte Umstand, dass sie als Freimaurer
 
– oder gewesene Freimaurer – am Aufbau des neuen Deutschlands nicht teilhaben sollten.
 
Und so mag man schließlich gar die Frage stellen, ob nicht das endgültige »Nein« des NSRegimes
 
nicht nur zur »humanitären«, sondern auch zur völkisch orientierten Freimaurerei
 
im Jahre 1935 nicht vor allem auch das Ende einer weiteren Selbstaufgabe
 
der Freimaurerei
 
bedeutete. Die Frage, wie eine Freimaurerei ausgesehen hätte, die auf Dauer geglaubt hätte,
 
mit dem NS-System koexistieren zu können und die von den Machthabern auch die ersehnte
 
Zustimmung dazu erhalten hätte, ist offenbar so bedrückend, dass sie kaum gestellt
 
wurde.
 
Selbstverständlich verbieten sich Verallgemeinerungen:
 
Es gab in allen Großlogen engagierte Demokraten – oder zumindest doch »Vernunftrepublikaner
 
« –, von denen viele allerdings die Freimaurerei mit fortschreitender Identifizierung
 
mit dem sich breitmachenden NS-Zeitgeist verließen. Auch gab es Kritik am Nationalsozialismus
 
im Großlogenschrifttum, bei den humanitären Großlogen mehr als bei den altpreußischen,
 
und am deutlichsten in den Zeitschriften des »Freimaurerbundes zur aufgehenden
 
Sonne« und der »Symbolischen Großloge von Deutschland«. Als Großlogen standen
 
126 Hoffmann, Stefan-Ludwig: Die Politik der Geselligkeit. Freimaurerlogen in der deutschen Bürgergesellschaft
 
1840–1918, Göttingen 2000, S. 176–202.
 
85
 
die beiden Letztgenannten ohnehin zuletzt weitgehend allein für jene freimaurerischen Tugenden,
 
zu denen sich – dank 1945 – deutsche Freimaurer heute wieder in ihrer Gesamtheit
 
bekennen können: allgemeine Menschenliebe, umfassende Toleranz, Weltbruderkette und
 
Friedensliebe.
 
Ebenso muss zwischen Anpassung von Logen und Großlogen auf der einen und der
 
unveränderten
 
freimaurerischen sowie menschlichen Integrität vieler ihrer Mitglieder auf
 
der anderen
 
Seite unterschieden werden, und es gab bei aller Anpassung auch eine ganz
 
»normale« Freimaurerei, in der sich Freunde trafen, Rituale erlebten und gesellig waren.
 
Gleichfalls gab es persönlichen Widerstand von Freimaurern, und auch Treue zur Menschlichkeit
 
bis in den Tod hat es in der Tat gegeben. Es ist dabei nicht wichtig, ob diese Männer
 
starben, weil sie Freimaurer, Demokraten, Sozialisten oder Pazifisten
 
waren: Namen
 
wie Wilhelm Leuschner, Leo Müffelmann und Carl von Ossietzky stehen für ein anderes
 
Deutschland – und eine andere, nicht angepasste Freimaurerei.
 
Gelegentlich hat die Annäherung an den Nationalsozialismus in der Nachkriegspolemik
 
zwischen Mitgliedern der Partnergroßlogen innerhalb der VGLvD eine Rolle gespielt,
 
in dem allzu rasch allein den altpreußischen Großlogen der Schwarze Peter völkischer
 
Orientierung und die Pflicht der selbstkritischen Aufarbeitung zugeschoben wurde. Dies
 
ist so nicht angängig.
 
Erstens gehören zahlreiche 3WK- und Royal-York-Logen seit 1949
 
der Großloge AFuAM bzw. ihrer Vorgängergroßloge an, und diese Logen (nicht zuletzt
 
die Logen des Bielefelder
 
und des Wetzlarer Ringes) waren in den frühen 30er Jahren
 
vielfach stärker völkisch
 
orientiert und an das NS-System angepasst als die Großlogen
 
in Berlin. Zweitens gab es seit Mitte der 20er Jahre – heutzutage nicht gern erinnerte –
 
Absetzbewegungen namhafter
 
humanitärer Logen von ihren bisherigen Großlogen zu
 
altpreußischen (oder zumindest zu stärker völkisch orientierten) Großlogen.127 Und in
 
der Anpassung zwischen 1933 und 1935 gab es dann drittens kaum noch wirkliche Unterschiede
 
zwischen den noch verbliebenen Logen
 
und Großlogen. Wenn von heute aus
 
an das Ende der Freimaurerei im Jahre 1935 zurückgedacht
 
wird, so sollte daher auch
 
bewusst werden, dass das endgültige Verbot der Freimaurerei
 
durch die Nazis in jenem
 
Jahr wenigstens den weiteren, vermutlich endgültigen Wesens- und Substanzverlust des
 
Bundes verhindert hat.
 
Noch einmal: Es geht nicht um Schuldzuweisungen, es geht darum, zu wissen, wie es war, es
 
geht um Abschied von Legenden, es geht um eine sorgfältig differenzierte Aufarbeitung
 
der
 
Fakten. Es geht für den Freimaurer-Bürger von heute aber auch um die historisch begründete
 
Einsicht, wie nötig es für die Lebensfähigkeit einer Demokratie ist, die breite Mitte der
 
Gesellschaft vor dem Vordringen extremer Vorstellungen zu bewahren.
 
Schließlich geht es auch um die Erinnerung an die Hauptopfer der NS-Gewaltherrschaft
 
unter den deutschen Freimaurern, die Opfer etwa unter den knapp 3000 jüdischen
 
Brüdern, die – nach »sorgfältigen Ermittlungen« des Vereins deutscher Freimaurer128
 
– in
 
127 Vgl. Schulz-Robinson, Kim: Richtungsstreit und Logenübertritte: Die Große Loge von Hamburg am
 
Rande der Spaltung (1924–1926), in: Quatuor Coronati Jahrbuch für Freimaurerforschung, Nr. 42/2005,
 
S. 99–105.
 
128 Die Vernichtung der Unwahrheiten über die Freimaurerei durch 116 Antworten auf 116 Fragen, herausgegeben
 
vom Verein deutscher Freimaurer, Leipzig 1928, S. 33. Dieselbe Quelle gibt die Zahl der Mitglieder
 
der »humanitären« deutschen Großlogen mit 24.000 an. Daraus ergibt sich ein Anteil jüdischer
 
86
 
den 20er Jahren in den Bruderketten der »humanitären« deutschen Großlogen
 
(die »altpreußischen
 
« Großlogen hatten die Mitgliedschaft von Juden ausgeschlossen) gestanden
 
haben: Wer kennt sie, wer weiß, was aus ihnen geworden ist, wer hat ihre Namen aufbewahrt,
 
wer hat nach dem Krieg an sie gedacht oder sich um sie gekümmert? Werden sie
 
nicht abermals aufgegeben, wenn sie namenlos bleiben?
 
Gewiss: Sich an geschichtliche Wahrheiten zu erinnern, kann unbequem sein. Es erfordert
 
Mut und die Bereitschaft,
 
auf bequeme »Neuerfindungen der Vergangenheit« zu
 
verzichten. Es ist dem Politikwissenschaftler Stefan Wolle darin zuzustimmen, dass alles,
 
was gemeinhin unter dem Signum von »Aufarbeitung« und »Vergangenheitsbewältigung«
 
rubriziert wird, der natürlichen
 
Gravitationskraft des Alltagsdenkens widerstrebt und dass
 
die »Schlussstrichzieher
 
aller Zeiten« stets den gesunden Menschverstand auf ihrer Seite zu
 
haben scheinen.
 
Wir Heutigen haben als Bürger und Freimaurer nicht die Vergangenheit der 1920er und
 
-30er Jahre zu verantworten. Wohl aber sind wir verantwortlich für das, was wir aus dieser
 
Vergangenheit in der Gesellschaft von heute weiterwirken bzw. wieder aufleben lassen, und
 
wir haben die Art und Weise zu verantworten, wie wir mit Vergangenheit
 
handelnd und
 
erinnernd umgehen. Eine entlastende und beschönigende »Erinnerungspolitik
 
« wie die der
 
unmittelbaren Nachkriegszeit mag vielleicht dem Wiederaufbau der Freimaurerei nach dem
 
Zusammenbruch des Nazi-Systems förderlich gewesen sein, ja sie war bis einem gewissen
 
Grade wohl unvermeidlich.
 
Doch inzwischen besteht die Gefahr, dass aus Notkonstruktionen Mythen werden, die
 
sich im Bewusstsein heutiger Freimaurer zu Realitäten
 
verdichten, die es so nicht gab. Ein
 
Unterstreichen dieser Gefahr ist durchaus angebracht. Denn jetzt – beinahe zwei Generationen
 
nach der zuvor erörterten »klassischen« Periode der freimaurerischen Erinnerungspolitik
 
in den späten 1940er und frühen 1950er Jahren – muss in Bezug auf den Problemkomplex
 
Freimaurerei und Nationalsozialismus ein neuer Verdrängungsprozess konstatiert
 
werden, der sich über den alten schiebt: ein Prozess der Verdrängung der Verdrängung.
 
Denn während inzwischen zahlreiche Studien vorliegen, die sich mit der Erinnerungspolitik
 
der frühen Bundesrepublik beschäftigen, sind Fragestellungen dieser Art im Diskurs der
 
deutschen Freimaurer kaum präsent.
 
Zum Schluss:
 
Schadet eine offene Reflexion auch belastender Vergangenheiten dem Ansehen der Freimaurerei
 
und ihrer zukünftigen Entwicklung?
 
Wohl kaum.
 
Im Gegenteil:
 
Wenn Freimaurerei heute »reflexive Aufklärung« (Helmut Reinalter) sein will, so muss sie
 
um ihrer Glaubwürdigkeit willen sich selbst und ihre Vergangenheit in diesen
 
Aufklärungsprozess
 
einbeziehen. Freimaurerei hat viel zu viel Substanz, als dass sie historische
 
Wahrheiten
 
nicht vertragen könnte. Und wenn Freimaurerei vor allem als Ausdruck von Lebens-
 
Brüder von 12,5 %. In den einzelnen Großlogen, Städten und Logen war dieser Anteil allerdings sehr unterschiedlich.
 
Der Verein deutscher Freimaurer hatte in Anbetracht der zunehmenden antisemitischen
 
Strömungen in der deutschen Gesellschaft und seiner Absicht, den Angriffen Ludendorffs auf die deutsche
 
Freimaurerei entgegenzutreten, sicher keinen Anlass, seine »Ermittlungen« übertrieben hoch ausfallen
 
zu lassen.
 
87
 
kultur verstanden wird, so muss Erinnerungskultur einen festen Platz in ihr haben. Das
 
schulden sich die Freimaurer selbst. Aber auch der von ihnen angestrebte Respekt seitens
 
der Öffentlichkeit hängt von der Fähigkeit ab, im Umgang mit der eigenen Vergangenheit
 
redlich und wahrhaftig zu sein.
 
88
 
Deutsche Freimaurerei nach 1945 –
 
Wiederaufbau zwischen Neuorientierung
 
und alten Strukturen
 
Nach dem Zusammenbruch der Herrschaft des Nationalsozialismus als Hauptergebnis des
 
Zweiten Weltkrieges und dem daraus folgenden Ende des Verbotes von Existenz und Tätigkeit
 
der Logen stand die deutsche Freimaurerei vor fünf großen Aufgaben:
 
• Erstens mussten die ehemaligen Freimaurer gesammelt, die Logen wieder gegründet, die
 
dafür erforderlichen alliierten Genehmigungen eingeholt und die materiellen, insbesondere
 
die räumlichen Voraussetzungen für die Wiederaufnahme der freimaurerischen Arbeit
 
geschaffen werden.
 
• Zweitens war eine neue und leistungsfähige Großlogenarchitektur zu errichten, die an die
 
Stelle der Aufsplitterung des deutschen Großlogensystems in neun bzw. elf Großlogen
 
treten konnte, wie sie vor 1933/35 bestanden hatte.
 
• Drittens war aufgrund der vor der Verbotszeit fehlenden Übereinstimmung großer Teile
 
der deutschen Freimaurerei mit zentralen Grundlagen der Weltfreimaurerei für Logen
 
und Großlogen eine konzeptionelle Neuorientierung erforderlich geworden.
 
• Viertens musste das Verhältnis zu Öffentlichkeit, Politik, gesellschaftlichen Gruppierungen,
 
Kirchen, Presse und anderen Medien der öffentlichen Information und Meinungsbildung
 
neu geregelt werden.
 
• Fünftens schließlich war eine kritische Auseinandersetzung mit völkischer Orientierung
 
und opportunistischer Haltung zum NS-System erforderlich geworden, zu denen es bei
 
beträchtlichen Teilen der deutschen Freimaurerei vor 1933/35 gekommen war.
 
Aufgabe des folgenden Beitrags ist es, einige von mir für wesentlich gehaltene Aspekte dieser
 
fünf Aufgaben aufzuzeigen und darüber zu berichten, welche Ergebnisse auf den einzelnen
 
Handlungsebenen erreicht wurden. Dabei geht es um eine Gesamtschau. Viele regionale und
 
örtliche Besonderheiten müssen unberücksichtigt bleiben, und es zu hoffen, dass sich bald ein
 
Doktorand der Geschichte findet, der sich des äußerst spannenden und von der Quellenbasis
 
her gut zu bearbeitenden Themas annimmt. Zeitraum der Untersuchung ist im Wesentlichen
 
die für die deutsche Freimaurerei nach dem Zweiten Weltkrieg formative Phase, die Zeit von
 
1945 bis 1949, dem Gründungsjahr der Vereinigten Großloge der Freimaurer von Deutschland
 
(VGL). Es werden jedoch auch einige Perspektiven aufgezeigt, die die Gründung der Vereinigten
 
Großlogen von Deutschland, Bruderschaft der Freimaurer (VGLvD) im Jahre 1958 betreffen.1
 
1 Ich verdanke einer Reihe von Veröffentlichungen wichtige Hinweise zur vorliegenden Studie. Insbesondere
 
konnte ich wiederholt auf das von mir immer noch als Standardwerk geschätzte Buch von Manfred
 
Steffens: Freimaurerei in Deutschland. Bilanz eines Vierteljahrtausends, Flensburg 1964, auf die Erinnerungsschrift
 
In memorial Theodor Vogel. Materialien zur Geschichte einer Großen Loge 1945–1975,
 
Bayreuth 1978, und auf den Band Woher, Wohin. Tatsachen und Erkenntnisse im Rückblick auf die
 
Geschichte der Großloge der Alten Freien und Angenommenen Maurer von Deutschland, Berlin 2002,
 
(Text Rolf Appel) zurückgreifen. Hilfreich war auch die Lektüre des Aufsatzes von Thomas Richert: Der
 
Wiederaufstieg der deutschen Großlogen nach 1945, veröffentlicht im QC Jahrbuch 37/2000, S. 135–
 
151. Vor allem aber stand mir das Altenburger Archiv der Großloge AFuAM von Deutschland zur Verfügung,
 
das zu nutzen bei jeder zukünftigen Forschung zur Zeitgeschichte der Freimaurerei ebenso ergiebig
 
wie erforderlich ist.
 
89
 
Der Beitrag konzentriert sich auf die Sammlung der Humanitären Freimaurerei im
 
Deutschland der Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, insbesondere auf den Weg zur Gründung
 
der Vereinigten Großloge der Freimaurer von Deutschland im Jahre 1949. Denn es
 
war vor allem dieser Einigungsprozess, in dem neue freimaurerische Strukturen geschaffen
 
wurden und die deutsche Freimaurerei in die Weltfreimaurerei zurückkehren konnte.
 
1. Wiederaufbau der Logen
 
1.1 Sammlung der Brüder und Wiedergründung der Logen in
 
Westdeutschland und West-Berlin
 
Zunächst und vor allem mussten die ehemaligen Mitglieder des Freimaurerbundes wieder
 
gesammelt, die spätestens 1935 aufgelösten Logen neu gegründet und ihre vereinsrechtliche
 
Zulassung erreicht werden, erst durch alliierte, später durch deutsche Behörden. Vor
 
allem bei der Sammlung der Freimaurer wurden rasche Erfolge erzielt, denn der Elan der
 
Brüder war beträchtlich. Die Freude darüber, zur alten Gemeinschaft zurückkehren zu können,
 
führte zu einer engagierten Beteiligung einstiger Mitglieder, und der Schwung des Aufbruchs
 
bewirkte – auch über zunehmende Neuaufnahmen – ein beträchtliches Wachstum
 
der Logen, wenn auch die Gesamtzahl der deutschen Freimaurer in der Nachkriegszeit von
 
dem in den 1920er und 1930er Jahre erreichten Mitgliederzahl (Höchststand ca. 83.000 in
 
der Mitte der 1920er Jahre, von denen ca. 65 Prozent den »altpreußischen« Großlogen angehörten)
 
weit entfernt blieb. In den Westzonen spielten die Behörden der alliierten Siegermächte,
 
die nach einigem Zögern den Wiederaufbau zuließen, eine fördernde Rolle, und die
 
Großlogen der Vereinigten Staaten, Englands und Frankreichs halfen beim Aufbau, nicht
 
zuletzt auch der Grand Orient de France. Dass zu ihm als einer international für »irregulär«
 
erklärten Großloge die Beziehungen später abgebrochen werden mussten, führte zu anhaltenden
 
Enttäuschungen und Loyalitätskonflikten bei einer Anzahl südwestdeutscher Logen.
 
Die Bereitschaft der Westalliierten, die Wiedergründung deutscher Logen nach einer vorübergehenden
 
Phase des Misstrauens und des Zögerns zu genehmigen und teilweise auch tatkräftig
 
zu unterstützen, hatte vor allem drei Gründe:
 
• Zunächst beruhte sie auf der festen und prinzipiell unangefochtenen Verwurzelung
 
der Freimaurerei in den Gesellschaften der betreffenden Länder und einer damit verbundenen,
 
gleichsam strukturellen »Grundsympathie« auch für die deutsche Freimaurerei.
 
• Sodann erhielt sie viele Impulse aus der Tatsache, dass von den Repräsentanten der alliierten
 
Militärbehörden in Deutschland nicht wenige der Freimaurerei angehörten, die sich
 
nicht zuletzt um die Logen »vor Ort« bemühten und diesen auch materiell halfen.2
 
2 Ein Beispiel dafür gibt folgender Bericht aus Duisburg aus dem Jahre 1945: »Der Offizier der maßgeblichen
 
Abteilung war ein äußerst liebenswürdiger Herr, dessen Wesen mich sofort für ihn einnahm. Nach
 
10 Minuten der Unterhaltung erkannten wir uns als Freimaurer und standen von Stund an in herzlichem
 
Einvernehmen«, Archiv der Großloge A.F.u.A.M., Altenburg, A – 0001.
 
90
 
• Schließlich kam ein »Widerstandsbonus« dazu: Die Schließung von Logen durch die nationalsozialistischen
 
Behörden wurde auch seitens der Westalliierten als Ausdruck der nationalsozialistischen
 
Freimaurerfeindschaft gewertet, die spätestens 1935 zum Ende der
 
Logen geführt hatte, wenn sie nicht gar als Folge freimaurerischen Widerstands gegen das
 
NS-System gedeutet wurde, den es – von Ausnahmen abgesehen – allerdings nicht gegeben
 
hatte.3
 
Die Aufteilung des deutschen Reichsgebietes in vier Besatzungszonen (und die ehemaligen
 
Ostgebiete unter polnischer Verwaltung) sowie das zunächst unter gemeinsamer alliierter
 
Verwaltung stehende Berlin erlaubte zunächst nur einen örtlichen oder regionalen Wiederaufbau
 
der Logen unabhängig von den früheren Großlogenstrukturen.
 
Dies galt zunächst als Erschwernis, wirkte sich dann aber günstig aus: Wie für Politik
 
und Gesellschaft generell, so konnte auch für die deutsche Freimaurerei der Neuaufbau nur
 
auf der Tabula rasa der Zerstörung alter Strukturen gelingen und zu neuen, den Prinzipien
 
der Weltfreimaurerei entsprechenden konzeptionellen Inhalten und Formen führen.
 
Was die Mitgliederzahlen der deutschen Nachkriegsfreimaurerei betrifft, so war die
 
Zäsur von Verbot und Zweitem Weltkrieg verheerend: Von den rd. 73.300 deutschen Freimaurern,
 
die im Maurerjahr 1932/33 den deutschen Logen (noch) angehört hatten,4 denn
 
es war seit der Wende zu den 1930er Jahren (teils aus Protest gegen völkische Anpassung,
 
teils aus Angst vor beruflichen Nachteilen) zu zahlreichen Austritten gekommen, waren
 
– nach Angaben im Archiv der Großloge A.F.u.A.M. – beim Wiederaufbau nach Verbotszeit
 
und Zweitem Weltkrieg nur noch 9000 freimaurerisch aktiv. 45.000 Brüder galten als
 
verstorben oder durch Luftangriffe umgekommen. Die Verluste durch Emigration, Flucht
 
und Vertreibung wurden auf 8000 Brüder geschätzt. 3000 im Westen Deutschlands lebende
 
ehemalige Mitglieder hatten sich dem Bund nicht wieder angeschlossen und ca. 6000 Freimaurer
 
in der sowjetisch besetzten Zone waren aufgrund des Logenverbots zur Inaktivität
 
verurteilt.5 1949 betrug die Zahl der in der Vereinigten Großloge der Freimaurer (VGL)
 
von Deutschland zusammengefassten Brüder ca. 6800.6 1974 – nach 25 Jahren Großlogenentwicklung
 
– lag die Mitgliederzahl der Großloge (nun Großloge der Alten Freien und
 
Angenommenen Maurer von Deutschland genannt) bei rund 9300. Gegenwärtig (2010)
 
beträgt sie ca. 9200 Brüder.
 
Ebenso verheerend wie der Verlust an Mitgliedern war der materielle Schaden, der die
 
deutsche Freimaurerei betroffen hatte. In einer Schätzung der VGL von 1950 wurden die
 
der deutschen Freimaurerei durch nationalsozialistische Enteignungen entstandenen Verluste
 
auf über 200 Millionen DM beziffert.7 Einer Umfrage der Großloge im Jahre 1949 zufolge
 
verfügten 89 von 120 Auskunft gebenden Logen vor dem Verbot über eigenen Haus-
 
3 Vgl. vor allem Neuberger, Helmut: Freimaurerei und Nationalsozialismus, Hamburg 1980 (2001 unter
 
dem Titel Winkelmass und Hakenkreuz. Die Freimaurer und das Dritte Reich neu ediert); Melzer, Ralf:
 
Konflikt und Anpassung. Freimaurer in der Weimarer Republik und im »Dritten Reich, Wien 1999;
 
Höhmann, Hans-Hermann: Europas verlorener Friede, die nationalvölkische Orientierung innerhalb
 
der deutschen Freimaurerei und die »freimaurerische Erinnerungspolitik« nach dem Zweiten Weltkrieg,
 
in diesem Band, S. 51–87.
 
4 C. van Dahlens Kalender für Freimaurer. Statistisches Jahrbuch für 1933/34, Leipzig 1933, S. 184.
 
5 Archiv der Großloge A.F.u.A.M., Altenburg, A – 000.
 
6 Rundbrief des VGL-Großmeisters vom Frühjahr 1949, Archiv der Großloge A.F.u.A.M., Altenburg, A – 0001.
 
7 Archiv der Großloge A.F.u.A.M., Altenburg, A – 0001.
 
91
 
und Grundbesitz. Nach dem Krieg waren 46 Logenhäuser völlig und 17 teilweise zerstört.
 
Zudem waren 75 der 89 Logenhäuser noch nicht an die Logen zurückgegeben worden.8
 
Dies bedeutete ein Ausweichen in Notquartiere, vor allem Hotels und Restaurants, bevor
 
durch Restitution, Wiederaufbau oder Neuerwerb adäquate räumliche Voraussetzungen für
 
die Arbeit der Logen geschaffen werden konnten.
 
Zu verweisen ist in diesem Zusammenhang auch auf den immensen Wertverlust, den die
 
Logen aufgrund der Beschlagnahmung des größten Teils ihrer Bibliotheken und Archivalien
 
erlitten. Die von den NS-Behörden 1933/35 beschlagnahmten, nach Berlin verbrachten und
 
später im vermeintlich sicheren Osten des Reiches eingelagerten Archivmaterialien fanden
 
meistens auf dem Umweg über Moskau und Merseburg ihren Weg in das Geheime Staatsarchiv
 
preußischer Kulturbesitz in Berlin-Dahlem, wo sie für Forschungszwecke zugänglich
 
sind. Die Buchbestände wurden von polnischen Behörden beschlagnahmt. Sie befinden
 
sich heute größtenteils im Besitz der Universität Posen und werden – gleichfalls nach Voranmeldung
 
für Forscher zugänglich – im Barockschloss von Ciazen an der Warthe, nicht
 
weit entfernt von der Stadt, aufbewahrt.9 Die Vereinigte Großloge von Deutschland wies
 
aber bereits 1949 darauf hin, dass ein Teil der Buchbestände aus früherem Logenbesitz in
 
westdeutschen öffentlichen Bibliotheken aufgetaucht sei und dass sie sich im Interesse einer
 
zu errichtenden »freimaurerischen Zentralbibliothek« um ihre Rückgabe bemühen wolle.10
 
Auch die persönliche wirtschaftliche Lage der Brüder war – so wie die der gesamten
 
deutschen Bevölkerung – in der Regel äußerst unbefriedigend. So freute man sich über
 
wiederholte Übersendung von Care-Paketen aus den USA11 und bemühte sich durch die
 
Einrichtung eigener freimaurerischer »Arbeitsämter« darum, stellungslos gewordenen Brüdern
 
bei der beruflichen Wiedereingliederung zu helfen.12 Auch die Einrichtung eines
 
»Fonds für die Altersversorgung« wurde erörtert.13 Des Weiteren wurde überlegt, eine »Auswanderungsstelle
 
« zu begründen, die im Zusammenwirken mit »befreundeten Obödienzen
 
in Übersee« deutsche Freimaurer beraten sollte, die daran dachten auszuwandern.14 In
 
den Kontext »materielle Not« auf eher amüsante Weise gliedern sich die Versuche des
 
Großmeisters
 
der Großloge »Zur Sonne« (Bayreuth) und späteren VGL-Großmeisters Theodor
 
Vogel ein, beim bayerischen Landwirtschaftsministerium die Lieferung von Wein für
 
Tafellogen der bayerischen Logen zu erreichen.15
 
8 Archiv der Großloge A.F.u.A.M., Altenburg, A – 0009.
 
9 Die Biblioteka Uniwersytecka (Universitätsbibliothek) in Posen beschreibt auf ihrer Internetseite die
 
Bestände in Schloß Ciazen wie folgt: »Aus dem Schloß in Sawa Slaska [Schlesiersee], das während
 
des Krieges Residenz von Heinrich Himmler war, kam eine bedeutende Bibliothek, die u.a. eine einzigartige,
 
vorwiegend deutschsprachige Masonica-Sammlung von ca. 80.000 Bdn. enthielt, bei der es
 
sich um beschlagnahmte Bestände der Freimaurerlogen in Deutschland handelt.« (http://www.b2i.de/
 
fabian?Universitaetsbibliothek(Posen), Download 26.7.2008).
 
10 Archiv der Großloge AFuAM, Altenburg, Rundschreiben der Vereinigten Großloge der Freimaurer von
 
Deutschland, 1948/49.
 
11 Archiv der Großloge A.F.u.A.M., Altenburg, A – 0001; A – 0005.
 
12 Pionierfunktion übernahm die Großloge zur Sonne, deren »Freimaurerisches Arbeitsamt« ein Druckblatt
 
»Organisation und Arbeitsweiseder frm. Arbeitsämter« herausgab, das auch an andere Landesgroßlogen
 
weitergegeben werden sollte. Archiv der Großloge AFuAM, Altenburg, A – 0001.
 
13 Archiv der Großloge A.F.u.A.M., Altenburg, A – 0005.
 
14 Archivmaterialien des Deutschen Freimaurermuseums Bayreuth, 4756.
 
15 Archiv der Großloge A.F.u.A.M., A – 0005. Vogel verwies darauf, dass »die Freimaurerlogen in der französisch
 
besetzten Zone und ebenso eine Anzahl lizensierter, regulärer Freimaurerlogen der britischen
 
92
 
Meistens wurden die bereits vor 1933/35 bestehenden Logen wiedergegründet. In einer
 
Reihe von Städten kam es aber auch zu »Vereinigungslogen«, d.h., dass sich die Brüder in
 
Anbetracht der geschrumpften Zahl der Freimaurer am Logenort entschlossen, anstelle
 
mehrerer ehemaliger Logen gemeinsam nur eine neue Loge ins Leben zu rufen. Zu diesen
 
Logen gehörten beispielsweise die Logen »Furchtlos und Treu« in Stuttgart, »Goethe zur
 
Bruderliebe« in Kassel und »Zum ewigen Dom« in Köln. Seit 1948 kam es dann auch zu
 
echten Neugründungen von Logen, in der Regel als sogenannte »Deputationslogen« bestehender
 
Logen.
 
Die Logen waren stark überaltert. Das Durchschnittsalter der Mitglieder lag bei ca.
 
65 Jahren, was bedeutete, dass bei einem weiteren Ansteigen längerfristig die Existenz
 
der Logen gefährdet gewesen wäre. So wurde es zu einem besonderen Anliegen des späteren
 
Großmeisters der Vereinigten Großloge von Deutschland, Dr. Theodor Vogel, jüngere
 
Menschen an die Freimaurerei heranzuführen. Dies sollte nicht zuletzt durch die von Vogel
 
propagierte Einsetzung von »Studentenlogen« in einer Anzahl von Universitätsstädten
 
(Würzburg, Erlangen, Köln) erreicht werden.16 Diese Logen sollten dem Vorbild englischer
 
und amerikanischer Universitätslogen folgen, hinsichtlich der Zusammensetzung ihrer Mitglieder
 
aber nicht auf junge Akademiker beschränkt bleiben.
 
Einer größeren geistigen Lebendigkeit der Freimaurerei sollte das sogenannte »Collegium
 
Masonicum« dienen, das Brüder aus verschiedenen Logen und Logenorten zu Klausurtagungen
 
über freimaurerische Themen zusammenführte17 und das sich als feste Einrichtung
 
der Distriktslogen der Großloge A.F.u.A.M. bis in die Gegenwart hinein bewährt hat.
 
1.2 Freimaurerei in der sowjetischen Besatzungszone
 
Auch viele der in der damaligen sowjetischen Besatzungszone lebenden ehemaligen Freimaurer,
 
die, wie ihre Brüder im Westen, oft auf privater Basis Kontakt gehalten hatten, unternahmen
 
unmittelbar nach Kriegsende große und vielfältige Anstrengungen, ihre Logen
 
wieder zu eröffnen.18 In Leipzig, wo die Freimaurerei bis zum Ende unter der NS-Herrschaft
 
zahlenmäßig stark und gesellschaftlich bedeutend gewesen war, bemühten sich insbesondere
 
die Logen »Minerva zu den drei Palmen«, »Balduin zur Linde« und »Apollo« um die Wiederbelebung
 
der Logenarbeit.19
 
In Dresden setzte der Wiederaufbau der Freimaurerei gleichfalls bald nach der deutschen
 
Kapitulation im Mai 1945 ein. Ein erster – und leider zugleich auch letzter – Höhepunkt
 
war, dass am 26. Juni 1946 mit einer gemeinsamen Feier der traditionsreichen
 
Logen »Zu den drei Schwertern«, »Zum goldenen Apfel« und »Zu den ehernen Säulen«
 
das Johannisfest begangen werden konnte. Der Anwesenheitsliste zufolge haben an dieser
 
Festarbeit 134 Freimaurer aus 14 verschiedenen Logen teilgenommen.20
 
Besatzungszonen Zuwendungen an Wein erhalten« haben und dass der Wein »rituellen Zwecken« diene,
 
so wie etwa bei der gewährten Lieferung von »Abendmahlsweinen«. Das Ministerium lehnte ab, u.a. mit
 
dem Hinweis, dass es »bei Zuteilung von Mess- oder Abendsmahlwein etwas anders« sei.
 
16 Archiv der Großloge A.F.u.A.M., Altenburg, A – 0009.
 
17 Archiv der Großloge A.F.u.A.M., Altenburg, A – 0009.
 
18 Vgl. zum Folgenden: Steffens, Manfred: Freimaurer in Deutschland. Bilanz eines Vierteljahrtausends,
 
Frankfurt 1966, S. 449–450.
 
19 Ebenda, S. 449.
 
20 Ebenda.
 
93
 
Ein weiterer Ort in der sowjetischen Besatzungszone, in dem sich unmittelbar nach
 
Kriegsende wieder freimaurerisches Leben regte, war Cottbus. Seit Herbst 1945 trafen sich
 
mehrere Mitglieder der Loge »Zum Brunnen in der Wüste«, einer Tochterloge der Großen
 
Landesloge der Freimaurer von Deutschland, allwöchentlich, um die Wiederaufnahme der
 
Logentätigkeit vorzubereiten. Auch bemühten sie sich, die zu vielen einstigen Mitgliedern
 
abgerissene Verbindung wiederherzustellen.21
 
Als sich jedoch die Loge in Aue im Frühsommer 1946 an die Behörden in Sachsen
 
wandte, um eine offizielle Erlaubnis zur Wiederaufnahme der freimaurerischen Tätigkeit zu
 
erhalten, teilte die sächsische Landesverwaltung der Loge mit, dass »eine Wiederzulassung
 
von Freimaurerlogen nicht genehmigt und derartige Anträge daher auch nicht an die Sowjetische
 
Militäradministration des Landes Sachsen weitergeleitet« würden.22
 
Insgesamt scheiterte der Wiederaufbau der Freimaurerei in der sowjetisch besetzten
 
Zone sowohl am Einspruch der sowjetischen Besatzungsmacht als auch am Widerstand
 
deutscher Behörden, die seit 1946 zunehmend unter kommunistischen Einfluss geraten
 
waren. Wie in den übrigen kommunistisch beherrschten Ländern untersagten die Kommunisten
 
schließlich auch in der deutschen Sowjetzone jede freimaurerische Tätigkeit. Sie
 
folgten damit einem Beschluss, der bereits im November 1922 auf dem 4. Kongress der
 
Kommunistischen Internationale gefasst worden war:23
 
»Es ist eine unbedingte Notwendigkeit, dass die führenden Organe der Partei alle
 
Brücken abbrechen, die zum Bürgertum führen, und deshalb auch einen radikalen
 
Bruch mit der Freimaurerei vollziehen … Die Freimaurerei ist die unredlichste und
 
infamste Prellerei des Proletariats seitens eines nach der radikalen Seite neigenden
 
Bürgertums. Wir sehen uns gezwungen, sie bis aufs äußerste zu bekämpfen.«
 
2. Neue Großlogenordnung
 
2.1 Ausgangssituation und Vorgeschichte der VGL
 
Die zweite Aufgabe der deutschen Nachkriegsfreimaurerei bestand in der Schaffung einer
 
leistungsfähigen Großlogenordnung. Es bestand weitgehend Konsens unter den deutschen
 
Freimaurern, dass die alte Großlogenordnung der Vorverbotszeit weder wiederhergestellt
 
werden konnte noch nach dem Willen der Brüder wiederbelebt werden sollte. Vier Gründe
 
dafür sind erkennbar, die zum Teil auch in den Debatten artikuliert wurden:
 
• Erstens wäre die Zahl der deutschen Freimaurer nach dem Krieg einfach zu gering dafür
 
gewesen. Von den 73.300 Brüdern des Jahres 1932 waren ja nicht einmal 10.000 übrig geblieben;
 
• zweitens bestanden große Hoffnungen, dass das Streben nach Einheit der deutschen Freimaurerei
 
endlich von Erfolg gekrönt sei, war doch die alte Struktur mit der Dominanz
 
21 Ebenda.
 
22 Ebenda.
 
23 Zitiert nach Steffens, Manfred: Freimaurerei in Deutschland, a.a.O., S. 454.
 
94
 
der »altpreußischen« Großlogen obsolet geworden und durch deren Annäherung an den
 
Nationalsozialismus in starkem Maße national und international kompromittiert;
 
• drittens ließ die von den Alliierten verfügte administrative Neuregelung Deutschlands
 
keine Großlogenorganisationen zu, die über die Grenzen der Besatzungszonen und später
 
der neugeschaffenen Länder hinausgingen, was hätte der Fall sein müssen, wenn versucht
 
worden wäre, die ehemals »reichsweit« operierenden Großlogen wiederherzustellen
 
und
 
• viertens schließlich brachten die räumlichen Strukturen der Besatzungszonen und die
 
Sonderrolle Berlins eine Verlagerung der freimaurerischen Entscheidungskompetenzen
 
von Berlin in die Westzonen Deutschlands mit sich, die sich als folgenreich und im
 
Ganzen positiv erweisen sollte.
 
Dies gab Raum für den Weg der Vereinigung, der über Landesgroßlogen in den Ländern der
 
drei westalliierten Besatzungszonen zur Vereinigten Großloge der Freimaurer von Deutschland
 
führte, die 1949 gegründet wurde. Die konservativ und christlich orientierte Große
 
Landesloge der Freimaurer von Deutschland hat sich an dieser Einigungsbewegung allerdings
 
nicht beteiligt. Dem standen sowohl das unverändert beibehaltene christliche Prinzip
 
der Mitgliedschaft als auch die hierarchische Struktur der Großloge mit ihrer spezifischen,
 
christologisch ausgerichteten Hochgradstruktur im Wege.
 
Auch noch nach Gründung der Vereinigten Großloge im Jahre 1949 war das Verhältnis
 
zur Großen Landesloge nicht ohne Spannungen. Der Großmeister der VGL, Dr. Theodor
 
Vogel, der auf eine Anerkennung seiner Großloge durch die Vereinigte Großloge von England
 
hinarbeitete, befürchtete aufgrund von Schreiben aus London, seine Bemühungen
 
durch ein Übereinkommen mit der Großen Landesloge zu gefährden, und verwies auf
 
deren »immer einseitiger werdende Betonung des christlichen Ordens mit den nur ›angeflickten‹
 
freimaurerischen Formen«.24
 
Die wichtigsten Stationen des Zusammenschlusses der deutschen Freimaurerei von
 
1945 bis 1949 lassen sich wie folgt beschreiben:25
 
Nachdem zahlreiche der während der Nazizeit verbotenen Freimaurerlogen ihre Arbeit
 
– vielfach noch »inoffiziell« – ab Herbst 1945 wieder aufnehmen konnten, kam es
 
bereits im November 1945 zu einem ersten Versuch, unter dem Namen Bundesgroßloge
 
von Deutschland »Zu den Alten Pflichten« eine Vereinigungsgroßloge zu begründen.26 Der
 
Stuttgarter Freimaurer Dr. Fritz Lichtenberg hatte zu einer Konferenz nach Bensheim an
 
der Bergstraße eingeladen, an der Vertreter von vier ehemaligen und sich im Prozess der
 
Wiederbegründung befindenden Großlogen – der »Großen Loge von Hamburg«, der Großloge
 
»Zur Sonne« (Bayreuth), der »Großen Mutterloge des Eklektischen Freimaurerbundes«
 
(Frankfurt) sowie der »Großen Freimaurerloge Zur Eintracht« (Darmstadt) – teilnahmen.
 
24 Rundbrief des VGL-Großmeisters vom Frühjahr 1949, Archiv der Großloge A.F.u.A.M., Altenburg, A – 0001.
 
25 Vgl. In memorial Theodor Vogel. Materialien zur Geschichte einer Großen Loge 1945–1975, Quellenkundliche
 
Arbeit Nr. 13 der Forschungsloge Quatuor Coronati Bayreuth, 1979, S. 7–11; Richert, Thomas:
 
Der Wiederaufstieg der deutschen Großlogen nach 1945, in: Quatuor Coronati Jahrbuch Nr.
 
37/2000, S. 135–151; Woher - Wohin. Tatsachen und Erkenntnisse im Rückblick auf die Geschichte der
 
Großloge der Alten Freien und Angenommenen Maurer von Deutschland, Berlin 2002.
 
26 Vgl. In memorial Theodor Vogel. Materialien zur Geschichte einer Großen Loge 1945–1975, a.a.O. Quellenkundliche
 
Arbeit Nr. 13 der Forschungsloge Quatuor Coronati Bayreuth, 1979, S. 7f.
 
95
 
Die Großloge wurde konstituiert, konnte aber keine Wirksamkeit entfalten und stellte ihre
 
Arbeit im Sommer 1946 praktisch wieder ein. Die formelle Auflösung erfolgte im Juli 1947,
 
als der Nachfolger Lichtenbergs als Großmeister, Br. August Hirscher, erklärte, dass die
 
Bundesgroßloge nicht mehr bestünde.27 Grund für das Scheitern dieses ersten Vereinigungsprojekts
 
war neben dem Tod Fritz Lichtenbergs im März 1946 vor allem der Umstand, dass
 
die Alliierten ihre zunächst erteilte Genehmigung zurückzogen, weil es zwischen ihnen
 
mittlerweile zum Konsens geworden war, keine Zusammenschlüsse von Logen zu genehmigen,
 
deren Zuständigkeitsbereich über die Grenzen ihrer Besatzungszonen bzw. der neu
 
gebildeten deutschen Teilstaaten hinausging.
 
Der Weg zur Vereinigung musste folglich auf eine andere, indirektere und mehr Zeit
 
beanspruchende Weise erfolgen. Dabei waren zwei miteinander verbundene Prozesse von
 
Bedeutung:
 
Einerseits ging die Initiative von den Logen aus. Es bildete sich die Frankfurter Arbeitsgemeinschaft
 
von Freimaurerlogen. Nachdem diese zuerst eine vorwiegend hessische Institution
 
gewesen war, gewann sie eine vorwärtstreibende, überregionale Dynamik nach einem
 
Treffen, zu dem sich am 14. und 15. Juni 1947 in Frankfurt/Main 21 Mitglieder früherer »humanitärer
 
« und »christlicher« Großlogen, jedoch ohne Vertreter der Großen Landesloge, zusammengefunden
 
hatten. Der Frankfurter Arbeitsgemeinschaft sollte die Aufgabe zufallen,
 
• die Verbindung zu allen bereits wieder bestehenden Logen und Großlogen herzustellen
 
bzw. zu halten,
 
• als eine allgemeine Auskunftsstelle zu dienen und
 
• in Ausschüssen die Grundlagen für einen späteren organisatorischen Zusammenschluss
 
der deutschen Freimaurerlogen zu erarbeiten.
 
An die Spitze der Arbeitsgemeinschaft trat der Wiesbadener Rechtsanwalt Dr. August
 
Pauls,28 der auch der erste Großkommandeur des »Alten Angenommenen Schottischen Ritus
 
« (AASR) in der Nachkriegszeit gewesen ist. Zur dominierenden Gestalt der Arbeitsgemeinschaft
 
wurde allerdings bald der Schweinfurter Industrielle Dr. Theodor Vogel, der zukünftige
 
Großmeister der Vereinigten Großloge der Freimaurer von Deutschland. Vogel war
 
die überragende Persönlichkeit der deutschen Nachkriegsfreimaurerei. Es lässt sich wohl sagen,
 
dass ohne Vogel die masonische Nachkriegsgeschichte in Deutschland anders verlaufen
 
wäre und dass er mit Tatkraft, Charisma, Fortune sowie für das Nötige und Mögliche
 
bis zur Gründung der Vereinigten Großloge der Freimaurer von Deutschland alles – oder
 
zumindest doch fast alles – richtig gemacht hat, was dann allerdings für die nächste Etappe
 
der deutschen Großlogenentwicklung, die Entwicklung hin zu den Vereinigten Großlogen
 
von Deutschland, VGLvD (gegründet 1958), bedauerlicherweise nur noch sehr bedingt gesagt
 
werden kann. Zu Beginn der überregionalen Anstrengungen Vogels gab es freilich auch
 
kritische Stimmen zu seinen Aktivitäten, bei denen gar der Terminus »Wühlarbeit« Verwendung
 
fand.29
 
Wie sehr auch die Tätigkeit der Frankfurter Arbeitsgemeinschaft von wirtschaftlichen
 
Schwierigkeiten beeinträchtigt war, zeigt ein Hilferuf ihres Geschäftsführers Georg Geier an
 
27 Richert, Thomas: Der Wiederaufstieg der deutschen Großlogen nach 1945, a.a.O. S. 137.
 
28 Ebenda, S. 8.
 
29 Archiv der Großloge A.F.u.A.M., Altenburg, A – 0009.
 
96
 
die Mitgliedslogen vom 15. Juli 1948, in dem es heißt: »Die Währungsreform hat unseren
 
Kassenbestand von über 6000,– Mark auf einen vorläufigen Verfügungsbestand von etwas
 
über 300,– Mark reduziert.« Dieser Feststellung schließt sich die Bitte an die Brr. Schatzmeister
 
an, ausstehende Beiträge umgehend zu überweisen.30
 
Der neben den Aktivitäten der Frankfurter Arbeitsgemeinschaft zweite Ansatz zur freimaurerischen
 
Einheit bestand darin, dass die Logen seit 1947 damit begannen, sich zu
 
Landesgroßlogen zusammenzuschließen. Dabei konnten für Hamburg und Bayern die Traditionen
 
früherer Großlogen fortgesetzt werden (Große Loge von Hamburg und Großloge
 
»Zur Sonne« in Bayreuth). Die Neugliederung des ehemaligen Reichsgebietes durch die
 
Besatzungsmächte brachte es aber konsequenterweise mit sich, dass auch dort neue freimaurerische
 
Regionalorganisationen entstanden, wo es früher derartige Zusammenschlüsse
 
nicht gegeben hatte. So beschlossen die Bremer Logen, die sich nach dem Krieg neu konstituiert
 
hatten, im Dezember 1948 eine Landesgroßloge von Bremen zu gründen. Die Bremer
 
Logen, die damit zum Einigungswerk der deutschen Freimaurerei beitragen wollten, gingen
 
offenbar – und wie sich dann zeigte, durchaus zu Recht – davon aus, dass die geplante
 
Vereinigte Großloge von Deutschland sich in ihrer Organisation auf regionale Distriktsgroßlogen
 
stützen würde, deren Wirkungsbereich mit den Grenzen der neu geschaffenen
 
Bundesländer zusammenfiel.
 
2.2 Die Vereinigte Großloge der Freimaurer von Deutschland (1949)
 
Im Mai 1948 trafen sich die Großmeister dieser Landesgroßlogen in Frankfurt am Main zum
 
ersten Mal, legten ein Bekenntnis zur Einigung der deutschen Freimaurer auf »humanitärer
 
und föderativer Basis« ab, beschlossen die Schaffung eines Großmeistervereins und vereinbarten
 
den Eintritt in Vorbereitungen zur Vereinigung der Landesgroßlogen und ihrer Logen
 
in einer Vereinigungsgroßloge. Im Oktober 1948 fand auf einem 2. deutschen Großmeistertag
 
in Bad Kissingen die Gründung der Vereinigten Großloge der Freimaurer von Deutschland
 
statt. Hierbei wurde ein zukünftiges Grundgesetz der Großloge angenommen und der
 
Großmeister der Großloge von Bayern, Dr. Theodor Vogel, für eine zunächst bis zum Johannistag
 
1949 währende Amtszeit zum Großmeister der VGL gewählt. Dem Grundgesetz
 
und der Gründung der VGL stimmten von 145 teilnehmenden Freimaurerlogen aus den drei
 
westlichen Besatzungszonen 142 zu.
 
Um die geplante gemeinsame deutsche Großloge zum Sammelbecken ausnahmslos
 
aller deutschen Freimaurer zu machen, sollte sie auch den Mitgliedern derjenigen freimaurerischen
 
Großkörperschaften offen stehen, die vor 1933 von den bestehenden Großlogen
 
nicht als regulär anerkannt worden waren, wie insbesondere der Freimaurerbund zur
 
aufgehenden Sonne und die Symbolische Großloge von Deutschland. Die Großmeister
 
beschlossen dementsprechend: »Die Einverbrüderung von Angehörigen und die Regularisierung
 
von Logen des Freimaurerbundes zur aufgehenden Sonne soll in würdiger und
 
keinesfalls kränkender Form erleichtert erfolgen, sobald die Bibel und der Allmächtige
 
Baumeister aller Welten als Symbole der Freimaurerei bejaht werden. Isolierte Logen, die
 
sich keiner lizenzierten Landesgroßloge angeschlossen haben, sind irregulär.«31
 
30 Archiv der Großloge A.F.u.A.M., Altenburg, A – 0005.
 
31 Zitiert nach Steffens, Manfred: Freimaurer in Deutschland, a.a.O., S. 537.
 
97
 
Am Rande einer freimaurerischen Tagung, die Anfang August 1948 in Baden-Baden stattfand,
 
war es auch zu längeren Aussprachen zwischen Vertretern der späteren Vereinigten
 
Großloge der Freimaurer von Deutschland (VGL) und dem Landesgroßmeister der Großen
 
Landesloge der Freimaurer von Deutschland, Dr. Hans Oehmen, gekommen.32 Als Resultat
 
dieser Gespräche unterbreiteten die Vertreter der späteren VGL dem Landesgroßmeister folgende
 
Verständigungsgrundlage:
 
1. »Die Große Landesloge hat das Recht, in allen Teilen Deutschlands Johannislogen zu
 
gründen oder bestehende zu reaktivieren.
 
2. Die nach dem System der Großen Landesloge arbeitenden Johannislogen schließen sich
 
der zu errichtenden Einheitsloge mit allen Rechten und Pflichten an. Die Große Landesloge
 
verzichtet auf eigene Provinzialgroßlogen, überwacht aber Lehre und Brauchtum
 
der nach ihrem System arbeitenden Logen.
 
3. Die Große Landesloge ermöglicht den Mitgliedern von Johannislogen anderer Systeme
 
Eintritt und Beförderung in ihre Andreaslogen und Kapitel, wobei ihr ein Prüfungsrecht
 
zusteht und die Bewerber auf dem Boden eines dogmenfreien Christentums stehen müssen.
 
«
 
Diese Verhandlungsgrundlage wurde von der Großen Landesloge jedoch nicht aufgegriffen.
 
Grund dafür war die Befürchtung, dass die Annahme der Punkte 2. und 3. die einzelnen Logen
 
der Großen Landesloge ihrer bisherigen Leitung entfremden und sie deren Einfluss entziehen
 
würde.
 
Zwei Jahre später, im Juni 1950 auf dem VGL-Großlogentag in Hannover, musste Großmeister
 
Vogel zum Stand der Verhandlungen der VGL mit der Großen Landesloge bilanzierend
 
feststellen:
 
»Die Versuche …, mit der GLL zu einem Übereinkommen zu gelangen haben zu keinem
 
Erfolg geführt … Zwei wesentliche Punkte trennen uns von der Auffassung der
 
GLL:
 
1. die Überzeugung, dass die Johannis-Freimaurerei das gesamte Wesen der Freimaurerei
 
umfasst und nicht irgendwie untrennbar in ein System der Hochgrade eingebaut
 
werden kann;
 
2. die Forderung der GLL, dass die Aufnahme in den Orden das christliche Bekenntnis
 
voraussetzt, während nach unserer Auffassung die Freimaurerei verpflichtet ist,
 
unter voller Würdigung der Symbole des ABaW und der Bibel sich zu der Religion
 
zu bekennen, in der alle Menschen übereinstimmen.
 
Wir anerkennen, dass die GLL aus der Entwicklung der Bruderschaft nicht wegzudenken
 
ist, in freimaurerischer Form arbeitet und dass wir Ehrfurcht vor ihr haben.
 
Wir gestatten unseren Brüdern den brüderlichen Verkehr mit den Bauhütten der GLL
 
unter der Voraussetzung, dass die gleiche freie Entscheidung auch den Angehörigen
 
der GLL gestattet ist.«
 
32 Vgl. hierzu und zum Folgenden: Steffens, Manfred: Freimaurerei in Deutschland, a.a.O, S. 540.
 
98
 
Die von Theodor Vogel 1950 umrissene Haltung der Großen Landesloge hat sich auch
 
durch die 1958 erfolgte Gründung der Vereinigten Großlogen von Deutschland (VGLvD)
 
nicht geändert.
 
Die Große Landesloge hätte sich freilich in der Tat nur um den Preis weit reichender
 
konzeptioneller und organisatorischer Veränderungen in eine deutsche Vereinigungsgroßloge
 
eingliedern können. Diese Veränderungen wären zwar nicht unmöglich gewesen, wie
 
auch von einheitswilligen Brüdern der GLL immer wieder – z.B. auch auf der Hamburger
 
Hauptversammlung im Jahre 1950 – hervorgehoben wurde.33 Für die Mehrheit der Mitglieder
 
– und vor allem für die Leitung der Großloge – waren sie jedoch nicht akzeptabel. Ja,
 
man sah in der Situation des sich verschärfenden »Kalten Krieges« geradezu ein weiteres
 
Motiv für die Selbstständigkeit der eigenen, christlich orientierten Großloge. Die Zeitschrift
 
der Großen Landesloge berichtete über die Hamburger Hauptversammlung von
 
1950, bei der intensiv über die Frage einer gemeinsamen deutschen Großloge diskutiert
 
wurde, in diesem Sinne folgendermaßen:
 
»Mit beredten Worten wurde das Zusammengehen befürwortet, aber ebenso nachdrücklich
 
und unmissverständlich verlangte man, dass die Logen nicht aus dem Verbande
 
der GLL gelöst werden könnten und dürften. Es wurde betont, dass gerade
 
jetzt, wo das Abendland um die Erhaltung und Neubelebung seiner alten, auf christlicher
 
Grundlage beruhenden Kultur ringe, der christlichen Freimaurerei eine Aufgabe
 
von unerhörter Tragweite gestellt sein.«34
 
Was nun nahegelegen hätte, wäre ein befreundetes Nebeneinander einer größeren und einer
 
kleineren deutschen Großloge gewesen. Von diesen beiden Großlogen hätte sich allerdings
 
nur die größere, die Vereinigte Großloge von Deutschland, auf unbeschränkte Weise in den
 
Kontext der Weltfreimaurerei eingliedern lassen, denn gegen das Prinzip einer christlichen
 
Großloge bestanden Bedenken – trotz der guten Beziehungen zwischen der englischen und
 
der schwedischen Großloge – seitens der an den »Alten Pflichten« orientierten Weltbruderkette.
 
35
 
Die 1958 erfolgte Gründung eines Großlogenbundes unter der Bezeichnung Vereinigte
 
Großlogen von Deutschland, VGLvD, hat der Vitalität innerhalb der deutschen Freimaurerei
 
aufs Ganze gesehen langfristig eher geschadet als genützt und ist auch der Stellung der
 
33 Der wichtigste Anwalt einer »echten« deutschen Vereinigungsgroßloge innerhalb der GLL war der Wuppertaler
 
Freimaurer und Logenmeister Ernst Walter, der zweimal zum Großmeister der VGLvD gewählt
 
wurde, aber innerhalb seiner eigenen Großloge in konzeptionellen Fragen keine nennenswerte Unterstützung
 
fand.
 
34 Auszug aus dem Bericht von der Hauptversammlung der GLL in Hamburg (»Zirkelkorrespondenz« Nr.
 
4/1950), Materialien der Bibliothek des Deutschen Freimaurermuseums Bayreuth, 4756.
 
35 So gab es insbesondere seit den 1920er Jahren gegenüber der »altpreußischen« Freimaurerei seitens der
 
»English-speaking Masonry« prinzipielle Abgrenzungen. Beispielsweise heißt es als Erläuterung zur ersten
 
der Alten Pflichten (Concerning God and Religion) im Masonic Text Book der Grandlodge of
 
Maine im Anschluss an eine Zurückweisung der rituellen Eliminierung des Großen Baumeisters aller
 
Welten durch den Grand Orient de France: »Attempts have also been made in the opposite direction. In
 
Prussia, Isrealites have been excluded. This is equally a violation of the landmark: while a belief in the
 
Fatherhood of God and the Brotherhood of Man is absolutely additional reqirements are innovations.«
 
(The Maine Masonic Text Book for the Use of Lodges, 1923, S. 164).
 
99
 
Freimaurerei in der sie umgebenden Gesellschaft nur sehr eingeschränkt zugutegekommen.
 
Die Schaffung des »Dachverbandes« VGLvD kann daher kaum als erfolgreiche Fortsetzung
 
des Vereinigungswerks von 1949 angesehen werden. Dafür stimmt sie strukturell zu sehr mit
 
der alten Zielvorstellung der GLL überein, lediglich einen in seinen Zuständigkeiten und
 
Funktionen begrenzten Großlogenbund zu akzeptieren. Ein Großlogenbund entspricht
 
allerdings kaum den international anerkannten und weltweit praktizierten Standards einer
 
echten Großloge, wie sie in den »Basic Principles for Grandloge Recognition« der United
 
Grandloge of England festgeschrieben wurden, und ist auch kaum in der Lage, für ein
 
klares Profil der in ihm zusammengefassten Freimaurerei zu sorgen. Die unter internationaler
 
Mitwirkung zustande gekommenen Strukturen der VGLvD konnten folglich von
 
Anfang an nicht befriedigen und haben seitens der an der Schaffung einer wirklichen
 
Großloge interessierten Alten Freien und Angenommenen Maurer immer wieder zu Korrekturversuchen
 
geführt, die von der Großen Landesloge allerdings nur so weit akzeptiert
 
wurden, wie ihr dies mit der unveränderten Großlogen- bzw. Autonomievorstellung der
 
GLL vereinbar erschien. Im nächsten Abschnitt dieses Beitrags ist ausführlicher auf die
 
»VGLvD-Problematik« zurückzukommen.
 
So stand die Große Landesloge bewusst und konsequent abseits, als die Vereinigte
 
Großloge der Freimaurer von Deutschland (VGL), auf die sich die Vertreter der westdeutschen
 
Logen und Großlogen in Bad Kissingen geeinigt hatten, am 19. Juni 1949 in der
 
Frankfurter Paulskirche feierlich eingesetzt wurde. Der Zusammenschluss war bis zur Paulskirchenfeier
 
am 19. Juni 1949 auf 174 Freimaurerlogen angewachsen, die – wie die nachfolgende
 
Zusammenstellung zeigt – aus sämtlichen alten Großlogensystemen stammten und
 
6745 Brüder in den Zusammenschluss einbrachten:36
 
42 Logen aus der Großen National-Mutterloge »Zu den drei Weltkugeln«, 35 Logen
 
aus der Großen Loge »Royal York zur Freundschaft«, 34 Logen aus der Großloge »Zur
 
Sonne«, 18 Logen aus der »Großen Loge von Hamburg«, 14 Logen aus dem »Eklektischen
 
Freimaurerbund«, sieben Logen aus der Großloge »Zur Eintracht«, fünf Logen aus der
 
»Symbolischen Großloge«, vier Logen aus der »Großen Landesloge«, vier Logen aus der
 
»Großen Landesloge von Sachsen«, eine Loge aus dem Freimaurerbund »Zur aufgehenden
 
Sonne«, zehn Neugründungen aus der Zeit nach 1945.
 
Die umfangreich ausgefallene Beteiligung ehemaliger Logen der Großen National-Mutterloge
 
»Zu den drei Weltkugeln« an der Gründung der Vereinigten Großloge von Deutschland
 
stieß auf Protest seitens der Berliner Großloge. Die aus der Weltkugel-Großloge stammenden,
 
schwerpunktmäßig in Nordrhein-Westfalen beheimateten und inzwischen der
 
dortigen Landesgroßloge angehörenden Logen beschlossen daher auf dem Stuhlmeistertag
 
der Landesgroßloge am 8. Mai 1949 eine Erklärung, in der es hieß:
 
»Alle Logen sind … als unabhängige, selbstständige Logen wieder ins Leben gerufen
 
worden. Sie haben daher das Recht, ihrerseits zu entscheiden, ob sie sich organisatorisch
 
der alten Großloge wieder anschließen oder eine eigene Organisation mit oder
 
ohne Logen anderer Systeme bilden wollen … Den von verschiedenen Seiten uns gemachten
 
Vorwurf der Untreue weisen wir hiermit zurück. Wir wollen nur die seit
 
Jahrzehnten von der deutschen Freimaurerei ersehnte Einheit. Wir sind demnach bei
 
36 Vgl. In memorial Theodor Vogel, a.a.O., S. 9f.
 
100
 
aller Anerkennung der Vergangenheit nur dem Gebot der Stunde gefolgt, als wir uns
 
für den Zusammenschluss zum Wohle der deutschen Freimaurerei und unseres Vaterlandes
 
entschieden.«37
 
Mit dem Tag der feierlichen Konstituierung der Vereinigten Großloge gliederten sich die
 
Großlogen der einzelnen Länder Westdeutschlands als Landesgroßlogen der VGL ein, erkannten
 
deren Verfassung auch für sich als verbindlich an und erklärten sich bereit, alle Bestimmungen
 
ihrer seitherigen Gesetze, Statuten und Verfassungen außer Kraft zu setzen, soweit
 
diese zu den Bestimmungen der Verfassung der VGL in Widerspruch standen.38
 
Mit der Gründung der Vereinigten Großloge war der organisatorische Zusammenschluss
 
der Freimaurerei in Deutschland allerdings noch nicht abgeschlossen.39 Zwar war
 
die Mehrzahl der deutschen Logen der Vereinigten Großloge beigetreten, aber neben der
 
Großen Landesloge mit ihren rund 80 Tochterlogen waren auch noch andere Logen dem
 
Zusammenschluss in der Paulskirche ferngeblieben. Dazu gehörten vor allem die Berliner
 
Tochterlogen der Großen National-Mutterloge »Zu den drei Weltkugeln«, die vier verbliebenen
 
Logen der Großen Loge Royal York zur Freundschaft und die knapp zehn Logen
 
der Großloge »Zu den Alten Pflichten«, in der Logen der einstigen Berliner Provinzialloge
 
der Großen Loge von Hamburg nach 1945 zusammengefasst worden waren. Während
 
die 3WK-Logen zunächst außerhalb einer Vereinigung blieben – sie schlossen sich später,
 
zunächst als Einzellogen und dann als Großlogenverband, den Vereinigten Großlogen von
 
Deutschland (VGLvD) an –, gingen die Logen von Royal York und »Alten Pflichten« im
 
Januar 1950 zur »Vereinigten Großloge in Berlin (VGLiB) zusammen. Auf dem Coburger
 
Großlogentag der VGL im September 1954 wurden die Logen der VGLiB in die Vereinigte
 
Großloge von Deutschland eingegliedert, deren Berliner Distriktsloge sie heute bilden.
 
Das sogenannte »Coburger Abkommen« sicherte den Berliner VGL-Logen eine begrenzte
 
Eigenständigkeit, die von der Großen Loge Royal York in ritueller Hinsicht (die Logen
 
konnten weiter Tempelarbeiten unter Leitung eines eigenen Großmeisters abhalten) genutzt
 
wurde sowie als organisatorische und juristische Grundlage für Ansprüche auf Erstattung
 
des von den NS-Behörden und später von den Behörden Ost-Berlins sowie der DDR
 
beschlagnahmten beträchtlichen Vermögens der Großloge. Die Berliner Logen der ehemaligen
 
VGLiB wuchsen allmählich, aber durchaus nicht ohne Spannungen in die Vereinigte
 
Großloge von Deutschland hinein. Diese Spannungen hatten ihre Ursache nicht zuletzt in
 
einer von Berliner Seite aus als unbefriedigend empfundenen finanziellen Unterstützung
 
durch die VGL. So schrieb Br. Erich Rüdiger, der 1947 Großmeister der »Alten Pflichten«
 
geworden war und 1957 Großmeister von »Royal York« wurde, im Januar 1956 an Dr.
 
Werner Mohr, den zug. Großmeister der Vereinigten Großloge: »Ich mache mir große Sorgen,
 
nicht nur um das Geld, das uns zugesagt ist und das wir noch nicht haben, sondern
 
um das Ansehen der VGL … Br. Vogel soll einmal gesagt haben, dass die Berliner nur Geld
 
37 Erklärung der früher der Großen National-Mutterloge »Zu den dei Weltkugeln« angehörenden Tochterlogen
 
Westdeutschlands, Archiv der Großloge AFuAM, Altenburg, A – 0005.
 
38 Rundschreiben der Vereinigten Großloge der Freimaurer von Deutschland, 1948/49, Archiv der Großloge
 
A.F.u.A.M., Altenburg.
 
39 Vgl. hierzu und zum Folgenden Steffens, Manfred: Freimaurerei in Deutschland, a.a.O., S. 546ff.
 
101
 
bekämen, wenn sie artig wären. Dieses Wort ist schon einige Jahre alt, aber es geistert jetzt
 
wieder herum.«40
 
Schließlich gehörten zu der Gruppe von Logen, die 1949 noch außerhalb der Vereinigten
 
Großloge geblieben waren, auch die auf deutschem Boden arbeitenden Logen von
 
Angehörigen der westlichen Besatzungsmächte (vor allem der in Deutschland stationierten
 
Amerikaner, Kanadier und Briten), die sich nach den Regeln des freimaurerischen Sprengelrechts
 
eigentlich der neuen Großloge hätten unterstellen müssen, diesen Schritt aber
 
hinausschoben, weil die Vereinigte Großloge erst einmal von den regulären Großlogen der
 
anderen Länder anerkannt worden sein musste. Ab Mitte der 1950er Jahre, als die internationale
 
Anerkennung der VGL bedeutende Fortschritte gemacht hatte und die Bundesrepublik
 
Deutschland im Rahmen außenpolitischer Bündnissysteme souverän geworden war,
 
traten die »Feldlogen« der Westalliierten sukzessiv der VGL bei. Deren Mitgliederzahl nahm
 
im Laufe dieser Entwicklung beträchtlich zu und erreichte 1958 mit 12.700 Mitgliedern
 
ihren Höhepunkt. In den 1960er Jahren entstanden als selbstständige Partnergroßlogen der
 
VGLvD die American Canadian Grand Lodge A.F. & A. M. (ACGL) sowie die Grandloge
 
of British Freemasons in Germany (GL BFG). Diese Verselbstständigung ließ nicht nur die
 
Zahl der Alten Freien und Angenommenen Maurer in der VGL und ihren Nachfolgegroßlogen
 
(von 1958–1971 Große Landesloge A.F.u.A.M. von Deutschland, danach Großloge
 
A.F.u.A.M. v.D.) stark zurückgehen, sondern ließ auch eine Großlogenstruktur in Deutschland
 
entstehen, die im Kontext der internationalen Freimaurerei ohne Beispiel ist.
 
Obwohl – wie aufgezeigt – nicht alle deutschen bzw. in Deutschland »arbeitenden« Logen
 
der VGL beigetreten waren, bleibt der Frankfurter Paulskirchentag von 1949 für die deutsche
 
Freimaurerei nicht nur das Ereignis, mit dem der historisch ersehnte Zusammenschluss vollzogen
 
wurde. Mit dem »Ereignis Paulskirche« wurde auch ein Symbol dafür geschaffen, dass
 
die deutsche Freimaurerei, wenn sie nur wollte, in der Lage war, über ihre bedrückenden historischen
 
Schatten zu springen. Die für diesen ersten wirklichen und weit reichenden Zusammenschluss
 
deutscher Freimaurer verantwortlichen Persönlichkeiten, vor allem der erste
 
VGL-Großmeister, Dr. Vogel, hatten es nicht nur verstanden, die Einheit der Mehrzahl der
 
deutschen Freimaurer in klug bedachten Schritten zu erreichen, sie verstanden es auch, die
 
Vereinigung in der Paulskirche so schwungvoll in Szene zu setzen, dass Deutschland in der
 
Weltbruderkette wieder wahrgenommen wurde und dass in den folgenden Jahren der Anschluss
 
der noch abseits stehenden Logen und Großlogen immer unausweichlicher wurde.
 
Theodor Vogel und seine Mitarbeiter nutzten geschickt alle moralischen, emotionalen, sachlichen
 
und maurerisch-institutionellen Vorteile, die ihnen der Zusammenschluss der Vereinigten
 
Großloge bot:41
 
• Die feierliche Einsetzung der »Vereinigten Großloge« in der Frankfurter Paulskirche war
 
mit ihren rund 700 Teilnehmern aus der deutschen und internationalen Freimaurerei
 
nach Form und Symbolgehalt so beeindruckend, dass die von ihr ausgehende Dynamik
 
die Entwicklung der deutschen Freimaurerei in den kommenden Jahren in starkem Maße
 
beeinflusste – freilich auch zu mannigfaltigen Illusionen Anlass gab.
 
40 Brief an Dr. Werner Mohr vom 16.1.1956, Archiv der Großen Loge Royal York, Berlin.
 
41 Vgl. hierzu und zum Folgenden Steffens, Manfred: Freimaurerei in Deutschland, a.a.O., S. 541f., dessen
 
Interpretation ich im Wesentlichen zustimmend übernehme.
 
102
 
• Die Gründung der »Vereinigten Großloge« entsprach einem alten Ziel vieler deutscher Freimaurer:
 
dem Zusammenschluss der deutschen Freimaurer in einer Großloge. Dies wurde
 
auch dadurch unterstrichen, dass der Großlogentag eine Reihe von freimaurerischen Gesetzen
 
des einstigen Deutschen Großlogenbundes im Juni 1949 wieder in Kraft setzte. Was
 
hierdurch gewonnen wurde, war ein erhebliches Maß an historisch begründeter Legitimität.
 
• Die Vereinigte Großloge dokumentierte durch ihre Gründung und durch ihre Struktur,
 
dass eine Vereinigung der deutschen Brüder über die Grenzen der unterschiedlichen freimaurerischen
 
Lehrarten möglich war, und setzte damit diejenigen Logen und Großlogen
 
unter Argumentationszwang, die sich dem Zusammenschluss nach wie vor verweigerten.
 
Insbesondere vielen Diskussionen in der Großen Landesloge war dieser Druck anzumerken.
 
• Da am Zusammenschluss von 1949 Tochterlogen von ausnahmslos allen früheren deutschen
 
Großlogen beteiligt waren, wurde das von manchen Großlogen in der Vergangenheit
 
immer wieder vorgebrachte Argument hinfällig, gerade ihre Lehrart verbiete einen
 
Zusammenschluss.
 
• Auf die Tatsache gestützt, dass sie Tochterlogen aller früheren deutschen Großlogen vereinigte,
 
nahm die Vereinigte Großloge von Anfang an für sich in Deutschland das ausschließliche
 
maurerische Sprengelrecht in Anspruch. Der Gründungsgroßlogentag stellte
 
nämlich ausdrücklich fest, »dass die VGL im Gebiete der freien deutschen Länder ihre
 
Jurisdiktion mit keiner anderen Macht teilt oder zu teilen gewillt ist«. Damit konnte die
 
Vereinigte Großloge von den meisten Großlogen der Welt als einzige Repräsentanz der
 
deutschen Freimaurerei anerkannt werden.
 
In diesem Sinne wurde seitens der VGL-Leitung im Anschluss an den Frankfurter Festakt mit
 
Stolz darauf verwiesen, seitens der Vereinigten Großloge der Freimaurer von Deutschland
 
bestünden nunmehr zu zahlreichen ausländischen Großlogen in Europa und Übersee Anerkennungsverhältnisse.
 
Insgesamt wurde mit dem »Paulskirchenereignis« von 1949 ein Gründungsmythos für
 
die Einigung der humanitären Freimaurerei in Deutschland begründet, dessen motivierende
 
Kraft freilich aus vielen Gründen nur unzureichend genutzt und mit der Gründung
 
der VGLvD im Jahre 1958 gar nachhaltig beschädigt wurde.
 
In diesem Zusammenhang ist auch auf den Beschluss der Masonic Service Association
 
(MSA) von Februar 1949 hinzuweisen, ein Komitee nach Deutschland zu entsenden »mit
 
dem Auftrag, sich über den gegenwärtigen Stand der deutschen Freimaurerei zu orientieren
 
und zur Weiterleitung an alle Großlogen in den USA diejenigen Tatsachen festzustellen, die
 
zur Klärung der Frage der Anerkennung der deutschen Freimaurerei beitragen könnten«.42
 
Der Besuch fand kurz nach der Paulskirchenfeier vom 17. bis 24. Juli 1949 statt. Der
 
Schlussbericht zeigt große Sympathie für das Bemühen der deutschen Freimaurer, die
 
einzelnen Logen und die Großlogenordnung wieder aufzubauen, trägt den großen Schwierigkeiten
 
Rechnung, der die Freimaurerei in Deutschland angesichts der Auswirkungen der
 
Verbotszeit und der großen Kriegsverluste gegenüberstand, macht aber auch einen Umstand
 
deutlich, der im folgenden Abschnitt eingehender zu erörtern ist: das beträchtliche
 
42 The Masonic Service Association: After Fifteen Years. Freimaurerei in Deutschland. Washington D.C.,
 
October 1949, zitiert nach der deutschen Übersetzung, München 1949, S. 6.
 
103
 
Ausmaß, in dem es den deutschen Gesprächspartnern gelang, den amerikanischen Brüdern
 
ihre spezifische Sichtweise nahezubringen. Als Beispiel hierfür mag folgender Abschnitt aus
 
dem Schlussteil des Berichtes dienen:
 
»Wenn man sich diese Lage klar vor Augen führt, so ist es fast unbegreiflich, wie die
 
Freimaurerei in Deutschland die 15 Jahre des Hitler-Regimes und den zweiten Weltkrieg
 
hat überleben können. Wir besitzen Informationen aus erster Hand über die
 
Leiden, die über unsere deutschen Brr. gekommen waren. Diese Brr. besitzen unsere
 
uneingeschränkte Sympathie. Fünfzehn Jahre lang haben sie in ständiger Lebensgefahr
 
geschwebt und haben Verfolgungen und KZ-Haft erduldet. Wir kennen persönlich
 
eine Reihe von Großbeamten dieser deutschen Großlogen, die in Konzentrationslagern
 
geschmachtet haben und dort vor ihren Mitmenschen und Freunden lächerlich
 
gemacht worden sind. Es ist nicht leicht, unter solchen Umständen ein Freimaurer
 
zu sein und zu bleiben.«43
 
Wurde so im Bericht der amerikanischen Brüder das Ausmaß der Verfolgung von Freimaurern
 
durch das NS-System übertrieben dargestellt44, so wurde gleichzeitig die nationalistischvölkische
 
Orientierung großer Teile der deutschen Freimaurerei nahezu vollständig ausgeblendet.
 
Gemäß der in Deutschland bis heute vorherrschenden Sprachregelung, die fehlende
 
»freimaurerische Einheit« sei Grund für die Schwäche der deutschen Bruderschaft angesichts
 
des Nationalsozialismus gewesen, stellt der Bericht fest:
 
»Führer der deutschen Freimaurerei lehnten alle Angebote der Anerkennung durch
 
US-Großlogen ab und wandten sich hartnäckig gegen den Vorschlag des Großmeisters
 
einer kontinentalen Großloge, Konferenzen herbeizuführen, in denen die bestehenden
 
Differenzen beigelegt werden sollten. Diese Unterlassungssünde der deutschen
 
Großlogen, zu einer freimaurerischen Einheit zu gelangen, war ohne Zweifel
 
43 Ebenda, S. 31.
 
44 Eine eingehende Analyse der Verfolgung und Benachteiligung von Freimaurern in der NS-Zeit steht
 
noch aus. Klar ist jedoch, dass freimaurerische Nachkriegsdarstellungen ihr Ausmaß übertreiben.
 
Beispielsweise kommt Jochen Schuster in einer als Kieler Dissertation durchgeführten Untersuchung
 
der beruflichen Folgen einer Zugehörigkeit zur Freimaurerei für Richter und Staatsanwälte in der NSZeit
 
zu folgendem Ergebnis: »Die Freimaurerei war zwar weltanschaulicher Gegner, die Gegnerschaft der
 
Denksysteme fand in den handelnden Personen jedoch im Regelfall bei weitem keine Entsprechung …
 
Eine generelle und massive Diskriminierung der Richter und Staatsanwälte konnte jedenfalls seitens der
 
Justizverwaltungen nicht festgestellt werden. Die wenigen Fälle, in denen sich eine spezielle Intervention
 
seitens der Parteidienstellen oder des Sicherheitsdienstes gegen einen Richter oder Staatsanwalt in den
 
ausgewerteten Akten nachweisen ließ, zeigten im Gegenteil, dass die Justizverwaltungen allen voran die
 
Präsidenten der Gerichte sich schützend vor ihre Beamten stellten. Im Verhältnis der Gerichtspräsidenten
 
zu ihren Beamten stand das tägliche Geschäft deutlich im Vordergrund gegenüber den politischen
 
Anforderungen durch Partei und Staat. Selbst ein Richter der eher schwach und unterdurchschnittlich
 
talentiert oder befähigt beurteilt wurde, hatte nicht mit Repressalien aufgrund seiner ehemaligen Zugehörigkeit
 
zur Freimaurerei zu rechnen.« Schuster, Jochen: Freimaurer und Justiz in Norddeuschland unter
 
dem Nationalsozialismus. Die beruflichen Folgen der Mitgliedschaft in Logen für Richter und Staatsanwälte,
 
Frankfurt am Main 2007, S. 161f.
 
104
 
die Kerbe, in die Hitler schlug und so die Macht ergreifen und zum unumschränkten
 
Diktator werden konnte.«45
 
Neben der vermittelten günstigen historischen Perspektive für die Jahre vor und nach 1933
 
war auch das Resultat des Besuchs für die internationale Reputation der neu gegründeten
 
Vereinigten Großloge äußerst erfreulich, konnte doch Großmeister Theodor Vogel in einem
 
Rundschreiben an die Stuhlmeister vom 25. Juli 1949 mitteilen:
 
»Die beiden Brr. Denslow und Lietz haben … ausdrücklich die Erklärung abgegeben,
 
dass sie die Vereinigte Großloge nicht nur als eine reguläre und rechtmäßig entstandene
 
Großloge von ger. und vollk. Freimaurerlogen erkennen, sondern auch als die
 
deutsche Großloge der Freimaurerei in den Westzonen betrachten. Freimaurerlogen
 
in den Westzonen werden also als irregulär behandelt werden, wenn sie nicht binnen
 
Jahresfrist der VGL beigetreten sind.«46
 
Es hat Gegenstand weiterer zeitgeschichtlicher Forschung zu sein, warum die von der VGL erreichte
 
starke internationale Position, die auch im zitierten Resultat des Besuchs des MSA-Komitees
 
deutlich Ausdruck findet, sich nicht prägender auf die Struktur der im Jahre 1958 gegründeten
 
Vereinigten Großlogen von Deutschland. Bruderschaft der Freimaurer (VGLvD), ausgewirkt
 
hat. Arbeitshypothetisch scheint erneut die Frage auf, ob nicht – nicht zuletzt aufgrund
 
der inzwischen erreichten international starken Position der VGL von 1949 – Möglichkeiten bestanden,
 
zu einer wirklich leistungsfähigen Großlogenstruktur zu gelangen und ob nicht diese
 
Möglichkeiten aufgrund noch zu analysierender Ursachen bedauerlicherweise vertan wurden.
 
Zur organisatorischen Neugestaltung der Großlogenordnung und zur Regelung der Beziehungen
 
zwischen der deutschen Bruderschaft und der Weltbruderkette gehörte schließlich
 
auch der Abschluss von Konkordaten47 zwischen der Vereinigten Großloge und Vertretern
 
der sogenannten Hochgradfreimaurerei,48 wie sie auch schon seitens einer Reihe
 
von Landesgroßlogen abgeschlossen worden waren. Treibende Kraft für den Abschluss von
 
Konkordaten mit den Hochgradsystemen war wiederum der spätere VGL-Großmeister Dr.
 
Vogel und zwar bereits in seiner Zeit als Großmeister der Großloge »Zur Sonne«. Vogels
 
Motiv war nicht nur das Bestreben, möglichst rasch Anschluss an die Weltfreimaurerei –
 
insbesondere die Freimaurerei der USA – zu gewinnen, zu der auch die Hochgradsysteme
 
gehörten, sondern auch die Absicht, die Position der von ihm vertretenen Freimaurerei
 
gegenüber der »Großen Landesloge der Freimaurer von Deutschland« zu stärken. In diesem
 
Sinne schrieb Vogel am 8. August 1948 an die »Große Loge von Hamburg«:
 
»Der Abschluss des Konkordates mit dem A.A.S.R. ist für den Aufbau der Freimaurerei
 
von einer gewissen logenpolitischen Bedeutung. Wir schaffen damit das Gegen-
 
45 The Masonic Service Association: After Fifteen Years, a.a.O., S. 7.
 
46 Archiv der Großloge A.F.u.A.M., Altenburg, A – 0009.
 
47 Zu Texten von Übereinkommen mit dem »Deutschen O.R. des AASR«, den »Schottenlogen und
 
Erkenntnisstufen
 
« sowie dem »Rat der Inneren Oriente« s. Archivmaterialien des Deutschen Freimaurermuseums
 
Bayreuth, 4756.
 
48 Vgl. hierzu und zum Folgenden Steffens, Manfred: Freimaurerei in Deutschland, a.a.O., S. 552ff., S.
 
556ff.
 
105
 
gewicht gegenüber der Großen Landesloge, schaffen damit die ausländischen Verbindungen,
 
die wir benötigen, und schaffen vor allem eine klare Grundlage, die auch
 
für die Zusammenarbeit mit den Hochgraden der Großen Landesloge den künftigen
 
Weg andeutet …«49
 
Durch die Konkordate sollte den Brüdern der deutschen Logen die Möglichkeit zur Mitarbeit
 
im »Schottischen Ritus« und einigen anderen Hochgradsystemen eingeräumt werden.
 
Hierzu gewährte die Großlogenverfassung »das Recht der Mitarbeit in Erkenntnisstufen und
 
Hochgraden, soweit deren Verhältnis zur Johannisfreimaurerei geregelt ist«. Dieses Recht zu
 
gewähren, konnte freilich nur heißen, keine Bedenken gegen eine solche Mitarbeit zu haben,
 
denn bei der Freiheit der Mitgliederauswahl, die sich die Hochgradsysteme vorbehielten –
 
und ihrem Selbstverständnis nach auch vorbehalten mussten – konnte die Großloge Rechtsansprüche
 
auf Hochgradmitarbeit für die Mitglieder ihrer Johannislogen ja gar nicht durchsetzen.
 
Auch zeigte sich sogleich, dass nicht alle Logen bereit waren, Hochgradmitgliedschaften
 
zuzulassen. So wurde, um die Einheit der Großloge zu wahren, in die Großlogenverfassung
 
ein Passus aufgenommen, demzufolge jede Loge »in ihrem Hausgesetz … durch
 
die Gesamtheit ihrer Mitglieder den Verzicht auf das (gewährte) Recht aussprechen« kann.
 
Sinnvoll, praktikabel und bis heute gültig hat dann die Verfassung der Großen Landesloge
 
A.F.u.A.M. im Jahre 1964 jeder Tochterloge der Großloge die Möglichkeit eingeräumt, in
 
ihren Hausgesetzen mit satzungsändernder Mehrheit für alle ihre Mitglieder die Annahme
 
von Hochgraden zu untersagen. In der Praxis haben nur wenige Logen von dieser Möglichkeit
 
Gebrauch gemacht, und die Großloge ist aufs Ganze gesehen mit dieser Regelung gut
 
gefahren.
 
2.3 Die Vereinigten Großlogen von Deutschland. Bruderschaft der
 
Freimaurer (1958)
 
Im Rahmen des Abschnittes »Neue Großlogenordnung« erscheint es sinnvoll, den Zeitrahmen
 
der Betrachtung bis zur Gründung der Vereinigten Großlogen von Deutschland. Bruderschaft
 
der Freimaurer (VGLvD) im Jahre 1958 auszuweiten, die entgegen hochgespannter
 
Hoffnungen und in deutlichem Unterschied zur Gründung der VGL von 1949 die Erwartungen
 
vieler deutscher Freimaurer nicht erfüllt hat, freilich vorwiegend solcher in der GL
 
A.F.u.A.M. Die VGLvD sind zwar kraft der ihnen in ihrer, in übertriebener Bedeutsamkeit
 
»Magna Charta« genannten Satzung zugeschriebenen Hauptfunktion Träger der internationalen
 
Beziehungen der deutschen Freimaurerei. Sie haben aber aufgrund der festgeschriebenen
 
starken Stellung der Partnergroßlogen – erst nur GL A.F.u.A.M. und Große Landesloge,
 
später kamen die GNML »3WK«, die American Canadian Grand Lodge A.F.&A.M. und
 
die Grand Lodge of British Freemasons in Germany hinzu – keine wirklichen Möglichkeiten,
 
den Logen dynamische Impulse zu vermitteln und die deutschen Freimaurer konzeptionell
 
zusammenzuschließen. Sie spielen, nicht zuletzt aufgrund der vorwiegend akklamatorischen
 
Funktion ihrer Hauptversammlung (des Konvents) kaum eine Rolle im brüderlichen Diskurs
 
und verfügen (nach der Einstellung der »Bruderschaft« als Organ der VGlvD) nicht einmal
 
über eine eigene Zeitschrift, die Plattform für Kommunikation und Gedankenaustausch sein
 
49 Zitiert nach Steffens, Manfred: Freimaurerei in Deutschland, a.a.O., S. 552.
 
106
 
könnte. Ihre Entscheidungsmechanismen sind sperrig, stets blockadegefährdet, finanziell
 
aufwendig und entsprechen in keiner Weise den organisatorischen und funktionalen Anforderungen,
 
die an eine – legt man international übliche Maßstäbe an – »normale Großloge«
 
zu stellen sind. Freilich sind die VGLvD – teils wegen, teils trotz wechselnder Senatskoalitionen
 
der Partnergroßlogen – institutionell stark genug, um dynamische Initiativen, die aus
 
der deutschen Bruderschaft hervorgehen, immer wieder auszubremsen.
 
Über die Gründe, die zu dieser »unvollendeten«, in vielerlei Hinsicht verkrusteten Organisation
 
geführt haben, können gegenwärtig nur Hypothesen angeboten werden, die
 
bei zukünftigen Forschungsvorhaben zur Zeitgeschichte der deutschen Freimaurerei mit
 
Fakten und Analysen zu konfrontieren sind:
 
Der Schwung, mit der die VGL von 1949 erreicht werden konnte, weckte bei den Brüdern
 
dieser Großloge Hoffnungen, die eine »echte« deutsche Großloge werden schon kommen,
 
wenn erst einmal ein Anfang gemacht worden sei, und veranlasste sie zu zahlreichen
 
Vorleistungen. So wurde eine Reihe von Großlogen-Ausschüssen aufgelöst und die von
 
der VGL verliehenen
 
Auszeichnungen (darunter die Paulskirchen- und die Bernhard-Beyer-
 
Medaille) auf die VGLvD übertragen. Zugunsten der neuen – später wieder eingestellten
 
– VGLvD-Zeitschrift »Bruderschaft« wurde auf ein eigenes Periodikum
 
verzichtet, und man
 
erörterte sogar, die Preise der GL A.F.u.A.M. (Literaturpreis,
 
humanitärer Preis) auf die
 
VGLvD zu übertragen.
 
Ein Grund für diesen Vorleistungskurs der VGL war, dass sie sich zu sehr als »Großloge
 
im Übergang« verstand, um eine als Basis für eine dynamischen Eigenentwicklung geeignete,
 
dauerhafte konzeptionelle Identität zu entwickeln, wie sie für die Große Landesloge
 
der Freimaurer von Deutschland historisch gegeben war. Ein eigenes AFuAM-Ritual, das
 
identitätsstiftend hätte wirken können, wurde erst ab Mitte der 1960er Jahre geschaffen.
 
Man fühlte sich in der alten VGL quasi unvollständig und brachte dies auf den Großlogentagen
 
nach 1958 in Diskussionsbeiträgen und in Anträgen immer wieder zum Ausdruck.
 
Es entstand die paradoxe Situation, gerade unter dem Dach der 1958 begründeten VGLvD,
 
die fehlende wirkliche Einheit schmerzlich zu vermissen. Noch 1979 hieß es in der Erinnerungsschrift
 
für Theodor Vogel:
 
»Die GLL-FO hielt an ihrem Wunsch fest, die Eigenständigkeit zu bewahren. Die GL
 
A.F.u.A.M. musste es deshalb hinnehmen, dass ihr Ziel, die eine und einzige deutsche
 
Großloge, nicht verwirklicht werden konnte.«50
 
Weiter mag eine Rolle gespielt haben, dass die Leiter der VGL um Großmeister Theodor Vogel
 
als die gleichsam endgültigen Einiger der deutschen Freimaurerei in die masonische Geschichte
 
eingehen wollten, auch wenn das Resultat der Einigung nicht dem internationalen
 
Standard einer »echten« Großloge entsprach. Immerhin kam Theodor Vogel die Ehre zu,
 
als erster Großmeister der VGLvD das Vereinigungswerk national und international zu repräsentieren.
 
Nicht zuletzt aber war von großer Bedeutung, dass sich der internationale Druck – vor
 
allem auf und nach der Londoner
 
Großmeisterkonferenz vom Sommer 1957 – als zu stark
 
erwies, um ihm auf Dauer widerstehen
 
zu können, obwohl es hierfür gute maurerische
 
50 In memoriam Theodor Vogel, a.a.O., S. 24.
 
107
 
Gründe gegeben
 
hätte. Die »Vereinigte Großloge von England«, die sich offenbar einer
 
kräftigen Einflussnahme seitens der schwedischen Großloge ausgesetzt sah, lud die beiden
 
deutschen Großlogen zu einer Großmeisterkonferenz nach London ein, die dann am
 
14. Juni 1957 stattfand. Die anwesenden Großmeister,
 
unter ihnen auch die Vertreter der
 
skandinavischen Großlogen, denen sich die »Große Landesloge« auf Grund der gemeinsamen
 
freimaurerischen
 
Lehrart besonders verbunden fühlte, drängten die beiden deutschen
 
Großlogen, sich nun doch endlich zu einigen, ein Wunsch, den der Großkanzler der
 
»Großen Landesloge von Schweden«, von Heidenstam, in die Worte kleidete:
 
»Ihr müsst Euch einigen, Ihr Alten Freien und Angenommenen
 
Maurer und Ihr von
 
der Großen Landesloge unseres Systems.
 
Um der Jugend, um der Zukunft willen.«
 
Der schwedische Großkanzler mag nicht zuletzt auch an die Zukunft der Großen Landesloge
 
gedacht haben, für die nur innerhalb der VGLvD eine umfassende internationale Anerkennung
 
erreichbar war.
 
Es ist in diesem Zusammenhang äußerst aufschlussreich, wie der damalige Großsekretär der
 
»Vereinigten Großloge von England«, Sir James Stubbs, die Londoner Konferenz und ihre
 
Auswirkungen in seinen maurerischen Lebenserinnerungen beschrieben hat:
 
»The raison d‘être of the conference in the Summer of 1957 was to bring the hostile
 
sects together, if by no other means than telling their leaders that there was not going
 
to be full recognition of German Masonry till that happened. In a sense the humanitarians,
 
the United Grand Lodge of Germany (NB the singular is important) were
 
sitting pretty: it was led by Dr Theodore Vogel who had a considerable following in
 
his own and other countries and they had shown much more elasticity of mind than
 
the stubborn successors of the Prussian Grand Lodges with the almost equally stubborn
 
Scandinavians in support. The Scandinavian Grand Lodges themselves, secure
 
in their own system, were not particularly anxious about recognition outside their
 
immediate circle. It came therefore as quite a surprise that the leading figure in that
 
conference should be the Swedish Chancellor, Count Rolf von Heidenstam, who
 
displayed a real talent for negotiation which brought the two German parties much
 
closer to each other than ever before … The next we heard of their relations was the
 
publication of a tortuous document entitled ›Magna Charta‹, which was designed,
 
if all parties could be got to accept it, to produce a kind of super Grand Lodge, or
 
more realistically an umbrella under which they could all shelter without loss of
 
independence.«51
 
Stubbs war sich der Abweichungen von den international üblichen Großlogenstrukturen
 
wohl bewusst, wenn er die VGLvD als »umbrella« bezeichnete, eine Organisation »which,
 
with full power of foreign relations, was sufficientliy close to the normal concept of a Grandloge
 
for it to be capable of recognition ...«.52
 
51 Stubbs, J. W.: Freemasonry in my Life, Frome and London 1985, S. 84f.
 
52 Ebenda, S. 94f.
 
108
 
Der Hinweis des Großsekretärs der Vereinigten Großloge von England auf die günstige Position
 
der Vereinigten Großloge von Deutschland und die beträchtliche Anhängerschaft ihres
 
Großmeisters Theodor Vogel im In- und Ausland (»sitting pretty«) legt freilich den Schluss
 
nahe, dass man sich dem Ansinnen der skandinavischen Großlogen trotz allen Drucks wohl
 
doch hätte entziehen können, wenn nicht die zuvor genannten anderen Gründe eine so große
 
Rolle bei der Entscheidungsfindung auf Seiten der VGL (Singular) gespielt hätten.
 
Die Gründung der Vereinigten Großlogen von Deutschland nützte jedenfalls vor allem
 
der Vereinigten Großloge von England, die auf diese Weise aus einem schwerwiegenden
 
»Anerkennungsdilemma« herauskam, das darin bestanden hatte, nur eine deutsche Großloge
 
anerkennen zu wollen, mit der Wahl der den Prinzipien der Weltfreimaurerei entsprechenden
 
Vereinigten Großloge aber den Schwedischen Freimaurerorden hätte frustrieren
 
müssen, und sie nutzte den heutigen VGLvD-Partnern, der Großen Landesloge und insbesondere
 
der Großen National-Mutterloge »Zu den drei Weltkugeln«. Denn Letztere konnte
 
vermutlich nur auf diese Weise ihren Status als unabhängige Großloge sichern. Der Preis
 
für die gewählten Regelungen ist, dass die mit den »Vereinigten Großlogen von Deutschland
 
« entstandene »gemeinsame nationale Ordnung« in der Tat nur einen »umbrella« darstellt,
 
dessen eigentliches Stukturprinzip – »no loss of independence« – für ausländische
 
Großlogen zwar »ausreichend nahe am Konzept einer Großloge« gewesen sein mag, um
 
Anerkennung zu finden (James Stubbs), aber kaum zu einer wirklichen, international üblichem
 
Großlogenverständnis entsprechenden und hinreichend funktionsfähigen Großloge
 
geführt hat.
 
Eine Vernunftehe sei keine Liebesheirat, hat der Alt-Großmeister der GL A.F.u.A.M.,
 
Jens Oberheide, einmal vermerkt. Dem Nachdenken darüber, ob es sich bei »Vernunftehen«
 
nicht auch um »Unvernunftehen« handeln könnte, stehen freilich viele Reflexionsschwierigkeiten
 
und Tabus innerhalb des Bundes im Wege. Doch kann wohl nicht ernsthaft
 
bezweifelt werden, dass das Positive an der deutschen Freimaurerei, die Zusammenarbeit
 
der Logen und die Freundschaft der Brüder auch ohne das »tortuous document entitled
 
›Magna Charta‹« mit weit weniger Aufwand und institutionellen Bremsen erreicht werden
 
könnte. Mit anderen Worten: Was funktioniert, ist die »VGLvD von unten«, die »VGLvD
 
der Brüder«, die allenfalls vernünftiger und kostengünstiger Rahmenvereinbarungen, kaum
 
aber der aufwendigen organisatorischen Strukturen und frustrierenden Selbstblockaden der
 
»offiziellen« VGLvD bedürfte.
 
3. Zurück zur Weltfreimaurerei: Konzeptionelle Neuorientierung
 
Die dritte Aufgabe der Nachkriegsfreimaurerei bestand darin, die deutsche Freimaurerei, die
 
nach dem Ersten Weltkrieg bis 1933/35 in starkem, im Laufe der Zeit zunehmendem Maße
 
völkisch geprägt gewesen war und sich von der Grundlage der »Alten Pflichten« gelöst hatte,
 
auf eine neue, den Prinzipien der Weltfreimaurerei entsprechende konzeptionelle Grundlage
 
zu stellen, die Auseinandersetzung mit dem NS-System und der eigenen völkischen Vergangenheit
 
offensiv zu führen und ehemalige dezidierte Nationalsozialisten von der Bruderschaft
 
fernzuhalten. Im Unterschied zu den anderen Handlungsebenen der deutschen Freimaurerei
 
nach 1945 kann im Hinblick auf die beiden zuletzt genannten Aspekte nur mit
 
Einschränkungen von Erfolg gesprochen werden.
 
109
 
Was die konzeptionelle Neuorientierung der deutschen Freimaurerei betrifft, die vor
 
allem in ihren zahlenmäßig dominierenden »altpreußischen« Bestandteilen vor dem NSVerbot
 
immer wieder ihre Unterschiede zur Weltbruderkette der »Alten Pflichten« betont
 
hatte und deren führende Repräsentanten schließlich erklärten, überhaupt keine Freimaurer
 
mehr im Sinne der Weltfreimaurerei zu sein, so erwies es sich nach 1945 als hilfreich und
 
positiv, dass neben dem organisatorischen Wiederaufbau auch die konzeptionelle Ausgestaltung
 
der neuen deutschen Großlogenlandschaft vor dem Hintergrund von Reformorientierung
 
und liberaler Tradition der Bayreuther Großloge »Zur Sonne« sehr wesentlich
 
von deren letztem Großmeister, Dr. Theodor Vogel, bestimmt wurde. Als sich die Großloge
 
»Zur Sonne« am 1. Mai 1948 in Erlangen feierlich zur Großloge der Freimaurer für
 
Bayern erklärte, wurde eine Konstitutionsurkunde beschlossen, in der »die alten Pflichten,
 
veröffentlicht im Jahre 1723 in dem englischen Konstitutionsbuch sowie die alten Landmarken,
 
veröffentlicht im Jahre 1806 von unserem Br. John Mackay« zur Grundlage ihrer
 
Arbeit erklärt wurden. Formulierungen dieser Art durchziehen die Veröffentlichungen von
 
Brüdern, Logen und Großlogen in der Nachkriegszeit. Die konzeptionelle Rückkehr der
 
deutschen Freimaurerei in die Weltbruderkette der alten, freien und angenommenen Maurer
 
war zumindest für die Freimaurer der späteren Vereinigten Großloge von Deutschland
 
zum allgemein akzeptierten Konsens geworden. In Artikel 2 der Verfassung der VGL vom
 
19. Juni 194953 hieß es dann auch folgerichtig:
 
»Glaubens-, Gewissens- und Denkfreiheit sind den Freimaurern höchstes Gut.
 
Die Freimaurer nehmen daher ohne Ansehen des religiösen Bekenntnisses, der Rasse,
 
der Staatszugehörigkeit, der politischen Überzeugung und des Standes vorurteilsfreie
 
Männer von gutem Rufe als Brüder auf.«
 
Auf dem Großlogentag 1953 in Lüneburg wurde eine Erklärung beschlossen, die grundlegende
 
Gestaltungs- und Verfahrensprinzipien der VGL in Übereinstimmung mit den Grundsätzen
 
der universellen Freimaurerei brachten: Eine solche Ausformulierung wurde für erforderlich
 
erachtet, »weil immer noch Vorstellungen aus der Zeit der früheren Großlogen, aus
 
denen die einzelnen Logen stammten, im Umlauf waren«54.
 
Der Beschluss lautete:55
 
1. In allen der VGL angeschlossenen Bauhütten werden die Arbeiten in Verehrung vor dem
 
Großen Baumeister der Welt geöffnet und geschlossen.
 
2. Während der Arbeit liegt die Bibel als Buch des Heiligen Gesetzes offen auf.
 
3. Die VGL weiß sich mit dem Schicksal des deutschen Volkes verbunden, enthält sich aber
 
jeglicher Stellungnahme zu Fragen der Politik. Sie schließt alle religiösen und konfessionellen
 
Streitfragen von den Logenzusammenkünften aus.
 
53 Vereinigte Großloge von Deutschland: Verfassung und Gesetze, in: Freimaurerische Schriftenreihe Nr. 5,
 
hrsg. von der Arbeitsgemeinschaft frm. Verleger (ohne Jahr und Ort).
 
54 Oberheide, Jens (Hrsg.): Woher, Wohin. Tatsachen und Erkenntnisse im Rückblick auf die Geschichte
 
der Großloge der Alten Freien und Angenommenen Maurer von Deutschland, Berlin 2002, S. 66.
 
55 Ebenda.
 
110
 
4. Die VGL ist eine souveräne, unabhängige Körperschaft. Sie untersteht keiner Kontrolle
 
irgendwelcher anderer Körperschaften. Mit solchen kann sie nur auf Grund von freien
 
Vereinbarungen zusammenarbeiten.
 
5. Für die Anerkennung ausländischer Großlogen und die Aufrechterhaltung freimaurerischer
 
Beziehungen mit diesen stellt die VGL die Bedingung, dass sie mit diesen Grundsätzen
 
übereinstimmen.
 
Neben der konzeptionellen Rückkehr der deutschen Freimaurerei in die Weltbruderkette
 
und ihrer festen Verankerung auf der Grundlage der alten Pflichten und Landmarken hielten
 
viele Freimaurer nach 1945 eine Klärung des alten deutschen Dualismus »christliche« und
 
»humanitäre« Freimaurerei für erforderlich. Dies galt vor allem für die Brüder der ehemaligen
 
3WK- und Royal-York-Logen, die sich der VGL anschließen wollten.
 
Als hilfreich erwies sich hier eine Formulierung des Frankfurter Freimaurers Emil Selter,
 
der später Großredner der VGL wurde:
 
»In der Freimaurerei verhalten sich das humanitäre und das christliche Prinzip wie
 
konzentrische Kreise, von denen der humanitäre den größeren Durchmesser hat.
 
Humanitäre Freimaurerei schließt alle Menschen und nicht zuletzt die Christen ein,
 
christliche Freimaurerei schließt aber alle Nichtchristen aus.«
 
Selter hielt zahlreiche Vorträge, insbesondere in den Logen früherer »altpreußischer« Großlogen
 
– ausgenommen Logen der Großen Landesloge – und war nicht ohne Einfluss auf die
 
Integration dieser Logen in die Vereinigte Großloge.
 
4. Ein neues Verhältnis zu Politik und Öffentlichkeit
 
Die Beziehungen zwischen der Freimaurerei auf der einen und Gesellschaft sowie Politik auf
 
der anderen Seite waren im Deutschland der Nachkriegszeit und in der späteren Bundesrepublik
 
durch freundliche Koexistenz geprägt, ohne dass die Freimaurerei größere Beachtung
 
gefunden hätte. Beginnend mit den führenden »Freimaurern der ersten Stunde«, die sich
 
um den Einiger der deutschen Bruderschaft und ersten Großmeister sowohl der Vereinigten
 
Großloge von 1949 als auch der Vereinigten Großlogen von 1958, Theodor Vogel, geschart
 
hatten, wurden Beziehungen zum politischen Establishment gepflegt, Repräsentanten der
 
Politik zu freimaurerischen Veranstaltungen geladen, Vogel selbst zum Gespräch mit Bundeskanzler
 
Konrad Adenauer geladen.
 
Die gelegentliche Mitgliedschaft von Bundes- und Landtagsabgeordneten, Kabinettsmitgliedern
 
in Bund und Ländern, führenden Verbandsvertretern, Hochschullehrern sowie
 
generell
 
Repräsentanten der bürgerlichen Oberschicht signalisierte eine verlässliche
 
Vertrauensgrundlage
 
für die Freimaurerei. Die traditionellen Werte des Bundes (Humanität,
 
Brüderlichkeit,
 
Toleranz) entsprachen dem Wertekonsens der neuen deutschen Republik,
 
und die nun wiederum ins öffentliche Bewusstsein gehobenen Beziehungen der kulturellen
 
Elite Deutschlands zur Freimaurerei – von Lessing über Goethe bis zu Ossietzky und Tucholsky
 
– trugen ebenso zur Akzeptanz bei wie wiederum auch hier die Wahrnehmung von
 
Verfolgung und Verbot in der NS-Zeit als einer widerständigen Qualität.
 
111
 
Das politisch-gesellschaftliche Selbstverständnis der VGL wurde auf dem Großlogentag
 
in Bad Ems am 15. Juni 1951 in der folgenden Erklärung zum Ausdruck gebracht:56
 
»Die zum dritten Großlogentag der Vereinigten Großloge in Bad Ems versammelten
 
Alten Freien und Angenommenen Maurer von Deutschland bekennen sich nachdrücklich
 
zu den in den Alten Pflichten niedergelegten Grundsätzen unserer Bruderschaft.
 
Angewandt auf die gegenwärtige Lage unseres deutschen Volkes und der Welt
 
erstehen daraus für uns folgende Verpflichtungen:
 
I. Wir wollen das geistige Leben in unseren Bauhütten, die mehr noch als bisher zu
 
einem
 
Hort brüderlichen Zusammenhaltens und gedanklicher Sammlung werden
 
müssen,
 
verstärken und vertiefen. Wir wollen insbesondere die Antworten auf die
 
vielfältigen
 
Fragestellungen unserer Zeit finden und den Brüdem wie den Suchenden
 
einen
 
besseren Weg zur Meisterung des Lebens weisen.
 
II. Wir wollen im Dasein unseres Volkes und seines Staates, seiner Kultur und seiner
 
Geschichte wirken. Wir wollen dabei die in der Abgeschlossenheit unserer Bauhütten
 
gepflegten und erarbeiteten Gedanken unbeirrt in die Tat umsetzen.
 
III. Wir wollen mit gesteigerter Kraft allen Mächten und Gewalten entgegenwirken,
 
die mit totalitären Ansprüchen Leben und Freiheit der Menschen bedrohen. Für
 
diese Ziele vertiefen wir die Zusammenarbeit mit unseren Brüdern und Freunden
 
in aller Welt. In diesem Geist sind wir bereit, uns mit allen um die Erhaltung der
 
abendländischen
 
Kultur kämpfenden Kräften zu verbünden.«
 
Freilich blieb es eine bis in die Gegenwart offene Frage, auf welche Weise dieses Wirken »im
 
Dasein unseres Volkes und seines Staates, seiner Kultur und seiner Geschichte« sowie das unbeirrte
 
Umsetzen der »in der Abgeschlossenheit unserer Bauhütten gepflegten und erarbeiteten
 
Gedanken … in die Tat« praktisch zu realisieren waren.
 
Breit war schon bald nach dem Zweiten Weltkrieg – und ist es, von Ausnahmen abgesehen,
 
bis heute geblieben – die Akzeptanz der Logen auf lokaler Ebene. Die starke
 
Verwobenheit von Freimaurern in die örtliche Geschichte, die allein schon ein Blick auf
 
die Straßenschilder mit den zahlreichen Namen prominenter Mitglieder sichtbar machte,
 
verschaffte den Freimaurern geneigte öffentliche Umfelder und den Bürgermeistern Stoff
 
für anerkennende Grußbotschaften.
 
Unproblematisch, wenn auch nicht gerade herzlich, war das Verhältnis zur evangelischen
 
Kirche. Insbesondere die christlich orientierte Große Landesloge konnte auf die
 
eine oder andere Weise an die Tradition des deutschen Kulturprotestantismus anknüpfen.
 
Die Beziehungen zur katholischen Kirche blieben zunächst gespannt. So schrieben
 
etwa die »Aachener Nachrichten« am 13. April 1950:
 
Ȇber ein Wiederaufleben des Nationalsozialismus befragt, sagte Kardinal Frings
 
(der Kölner Erzbischof), daß heute auf viel grössere Gefahren geachtet werden müsse.
 
›Denken Sie nur an den Kommunismus, der hier nicht unser einziger Feind ist. Das
 
56 In memoriam, a.a.O., S. 18.
 
112
 
Freimaurertum rührt sich wieder gewaltig und was die Zeitschriften, besonders die
 
importierten, an Asphaltgeist bringen, ist wirklich entsetzlich.‹«57
 
Freilich zeichnete sich in den folgenden Jahren eine gewisse Akkommodierung mit der katholischen
 
Kirche ab. Es fanden klärende Gespräche und Annäherungen statt, bis die »Unvereinbarkeitserklärung
 
« der deutschen Bischofskonferenz von 1980 die Hoffnung auf eine
 
endgültige Überwindung alter Feindseligkeiten zunichte machte.58
 
Das Bild, das die deutsche Presse von der Freimaurerei zeichnete, war nicht ohne
 
Ambivalenz. Seit den 50er Jahren sind in überregionalen Zeitungen und Zeitschriften
 
zahlreiche, oft opulent bebilderte Artikel59 erschienen, die sich zwar meist wohlwollend
 
von traditionellen Vorurteilen und Verdächtigungen abgrenzten, historische Verdienste
 
von Freimaurern und soziale Leistungen der Logen anerkannten, gleichzeitig
 
aber fast regelmäßig auch von kritischer (oft auch amüsiert-ironischer) Distanz und
 
Urteilsunsicherheit geprägt waren. Fast routinemäßig wurden Zweifel artikuliert, ob die
 
Freimaurerei in Anbetracht so klarer und vernünftiger Wertbekenntnisse immer noch
 
so viel rituell-inszenatorischen Aufwand betreiben müsse. Diese Zweifel wurden durch
 
das verwendete, in der Regel mit Billigung der Logen erstellte Bildmaterial eher verstärkt:
 
Dunkelheit, brennende Kerzen, schwarze Anzüge, Zylinder und Maurerschurze
 
transportierten Eindrücke, die dem Charakter des freimaurerischen Rituals als eines in
 
die Logengruppe eingebetteten Gesamtvorgangs nicht entsprachen und Perzeptionen
 
zwischen mystisch-magisch und biedermännisch-altmodisch geradezu aufdrängten. Die
 
Freimaurer standen plötzlich vor dem Problem, gerade durch ihre Informationsbereitschaft
 
in nicht unerheblichem Maße zur Verbreitung von Fehlinformationen beizutragen.
 
Heftige Diskussionen in den Logen und Großlogen waren die Folge. Später
 
entschied der Senat der »Vereinigten Großlogen von Deutschland«, Bilder und Filmaufnahmen
 
von rituellen Vorgängen zukünftig nicht mehr zur Veröffentlichung zuzulassen.
 
60
 
Andererseits war Logen und Großlogen bewusst, dass die deutsche Freimaurerei ein
 
neues Verhältnis zur Öffentlichkeit herzustellen hatte. Bereits die Gründung der Vereinigten
 
Großloge von Deutschland im Juni 1949 war mit einer öffentlichen Vortragsveranstaltung
 
verbunden61, und später wurden unter handlichen Formeln wie »Flagge zeigen« und »Wir
 
stellen uns der Zeit« gar regelrechte »Kommunikationsappelle« erlassen. Die deutsche Freimaurerei
 
verstand sich zunehmend als Bestandteil der demokratisch-pluralistischen Gesellschaft,
 
und dies bedeutete zugleich, sich ihres Platzes in eben dieser Gesellschaft zu
 
versichern und sich ihrer sozialen Umwelt verständlich zu machen.
 
57 Archivmaterialien des Deutschen Freimaurermuseums Bayreuth, 4756.
 
58 Darstellung und Wiedergabe von Dokumenten in: Holtorf, Jürgen: Die Logen der Freimaurer, Hamburg
 
o. J. (1991), S. 110ff.
 
59 Beispielhaft: Der Spiegel, 15, 1963: Titelgeschichte Freimaurer: Brüder im Schurz; Kristall, 10, 1964: Die
 
Königliche Kunst. Freimaurerei in Deutschland; Epoca 9 (1967): 250 Jahre Freimaurertum. Ein Weltbund
 
der Menschlichkeit; ZEITMAGAZIN, 44, 1975: Maurer für das Schöne, Gute und Wahre; GEO 2
 
(1988): Freimaurer in Deutschland. Ehrenmanns Bruderbund.
 
60 Der »Fall GEO«, in: Humanität, Nr. 2, 1988, S. 4ff.
 
61 Archiv der Großloge A.F.u.A.M., Altenburg.
 
113
 
5. Auseinandersetzung mit der Vergangenheit:
 
Teilbekenntnisse, Erinnerungsscham und Verdrängung
 
Als fünfte Aufgabe der deutschen Nachkriegsfreimaurerei war die kritische Auseinandersetzung
 
mit völkischer Orientierung und opportunistischer Haltung gegenüber dem NS-System
 
bei beträchtlichen Teilen der deutschen Freimaurerei vor 1933/35 bezeichnet worden.
 
Da ich hierüber ausführlich im Schlussabschnitt des vorigen Beitrags berichtet habe, genügt
 
an dieser Stelle der Hinweis auf meine dortige Beschreibung und analytische Erörterung.62
 
6. Zusammenfassung und Ausblick
 
Misst man die Entwicklung der deutschen Freimaurerei in den Jahren von 1945 bis 1950
 
bzw. 1958 am Grad der Erfüllung der am Anfang dieses Beitrags genannten fünf Hauptaufgaben
 
(Sammlung der Brüder und Wiedergründung der Logen; Herstellung einer neuen
 
und leistungsfähigen Großlogenordnung; konzeptionelle Neuorientierung der deutschen
 
Freimaurerei; Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Freimaurerei, Politik und Gesellschaft
 
sowie kritische Auseinandersetzung mit völkischer Orientierung vor und nach 1933),
 
so konnten, bis auf die zuletzt genannte Aufgabe, gewiss beträchtliche Erfolge erreicht werden.
 
Gleichzeitig waren allerdings auch zahlreiche Defizite zu verzeichnen, die sich bis in
 
die Gegenwart fortsetzen.
 
Die Brüder, welche die Katastrophe von Verbot und Zweitem Weltkrieg überlebt hatten,
 
fanden sich schnell zusammen und gingen mit großem Schwung an die Wiedergründung
 
der Logen. Westliche Besatzungsmächte und ausländische Großlogen unterstützten
 
die Renaissance der deutschen Freimaurerei in Westdeutschland, während die sowjetische
 
Besatzungsmacht und die sich bald etablierenden kommunistisch dominierten deutschen
 
Behörden einen Wiederaufbau im Osten Deutschlands verhinderten.
 
Die Mehrheit der deutschen Freimaurer ließ die national-völkischen Konzeptionen
 
der Vorverbotszeit hinter sich und ordnete sich ideell und organisatorisch in die Weltbruderkette
 
der in der Tradition der »Alten Pflichten« stehenden symbolisch-moralischen
 
Freimaurerei ein. Die Auseinandersetzung mit dem auf tragische Weise in die Irre gehenden
 
Denken und Handeln deutscher Freimaurer in den 1920er und frühen 1930er Jahre erfolgte
 
jedoch allzu zögerlich und schönfärberisch und war mehr auf die Bildung neuer Mythen
 
als auf die Anerkennung historischer Wahrheiten angelegt.
 
Die neue Großlogenordnung stand im Zeichen der Vereinigten Großloge der Freimaurer
 
von Deutschland, VGL und wurde in starkem Maße durch ihren charismatischen Großmeister,
 
Dr. Theodor Vogel, bestimmt. Der Zusammenschluss der deutschen Freimaurer
 
blieb durch das Abseitsstehen der Großen Landesloge der Freimaurer von Deutschland
 
allerdings unvollendet
 
und ist es – dies zeigt die Entwicklung der 1958 geschaffenen Vereinigten
 
Großlogen von Deutschland. Bruderschaft der Freimaurer (VGLvD) – bis heute
 
geblieben.
 
62 Höhmann, Hans-Hermann: Europas verlorener Friede, die national-völkische Orientierung innerhalb
 
der deutschen Freimaurerei und die »freimaurerische Erinnerungspolitik« nach dem Zweiten Weltkrieg,
 
in diesem Band, S. 51–87, insbesondere S. 75–87.
 
114
 
Die kräftigen Impulse der Nachkriegsfreimaurerei verebbten freilich nicht nur aufgrund
 
der skizzierten organisatorischen Probleme. Auch der Zeitgeist war der Freimaurerei spätestens
 
seit Mitte der 1960er Jahre nicht günstig. Dies liegt weniger an dem, was man das
 
»Syndrom 1968« nennen könnte, obwohl sich auch dieses eher negativ auf die Freimaurerei
 
ausgewirkt hat. Erklärungskräftiger sind die Strukturen der »postmodernen« Gesellschaft
 
mit ihrer Event- und Multioptionskultur sowie ihrem Trend zu geringerer sozialer Einbindung,
 
worunter alle gesellschaftlichen Gruppierungen leiden.
 
Wem diese Überlegungen nicht genügen, um das jahrzehntelange Pendeln der Gesamtzahl
 
der deutschen Freimaurer um international äußerst bescheidene 12–14.000 Brüder
 
zu erklären, der sei schließlich auf den weiteren Umstand verwiesen, dass im Frühjahr
 
1945 zwar die politische Unterdrückung durch die NS-Herrschaft hinfällig geworden war,
 
dass aber nach wie vor die auch von den Nationalsozialisten errichtete Vorurteilskulisse
 
wirksam blieb. Die lange Gegnerschaft seitens der katholischen Kirche, die Relikte des mit
 
kirchlicher Verurteilung der Freimaurerei verbundenen Volksaberglaubens, die politischen
 
Verbote unter Nationalsozialismus und Kommunismus, schließlich die in immer neuen Varianten
 
auftretenden »Verschwörungstheorien« mit ihren gegen die Freimaurerei gerichteten
 
pathologischen Fixierungen, machten es der Freimaurerei in Deutschland auch nach ihrer
 
Wiederbegründung schwer, mit gelassener Selbstverständlichkeit und durch quantitatives
 
Wachstum sowie durch gesellschaftliche und intellektuelle Qualität in der deutschen Gesellschaft
 
präsent zu sein.
 
115
 
Habitus, soziales Feld, Kapital –
 
Freimaurerei im Lichte der Soziologie Pierre
 
Bourdieus
 
1. Freimaurerforschung auf der Suche nach neuen Paradigmen
 
Freimaurerische Forschung ist traditionell vor allem historische Forschung gewesen. Auch
 
die Symbole und Rituale des Bundes wurden im Rahmen einerseits kunstgeschichtlich,
 
andererseits religionswissenschaftlich orientierter Betrachtungen vorwiegend in geschichtlichen
 
Kontexten behandelt. Dabei haben sich die analytischen Ansätze und Deutungsmuster
 
im Laufe der vergangenen Jahrzehnte nicht unwesentlich verändert, und der »Mainstream
 
« der historischen Forschung ist inzwischen durch neue und vielversprechende Forschungsansätze
 
ergänzt worden, so etwa (und vor allem) durch die neuere Esoterikforschung
 
und die Ritualforschung. Beide Disziplinen haben in den letzten zwei Jahrzehnten einen für
 
die Freimaurerforschung sehr wichtigen, innerhalb des Bundes allerdings nur sehr begrenzt
 
wahrgenommenen Aufschwung erfahren.1
 
Weniger befriedigend steht es dagegen um sozialwissenschaftliche Forschungsansätze
 
und entsprechende empirische Untersuchungen. Es wurden zwar beachtliche Beiträge zur
 
Sozialgeschichte der Freimaurerei veröffentlicht, doch sozialwissenschaftliche Untersuchungen
 
zur Freimaurerei der Gegenwart sind rar.2
 
Inzwischen wurden allerdings zumindest Ansätze zu einer Soziologie der heutigen Freimaurerei
 
vorgelegt, nicht zuletzt im Rahmen des von Jörg Bergmann und mir initiierten
 
Forschungsprojekts »Deutsche Freimaurerei der Gegenwart« an der Universität Bielefeld.
 
U.a. habe ich selbst im Rahmen dieses Projektes eine Arbeit vorgelegt, die Robert Putnams
 
Konzept des Sozialkapitals auf die Freimaurerei anwendet.3
 
Vor allem aus drei Gründen sollten sozialwissenschaftliche Untersuchungen zur Freimaurerei
 
der Gegenwart fortgesetzt und auch versucht werden, weitere, und vor allem jüngere Forscher
 
– etwa auch mit Promotionsvorhaben – für dieses Analysefeld zu interessieren:
 
1 Vgl. zur Esoterikforschung die zahlreichen Veröffentlichungen von Neugebauer-Wölk, Monika:
 
(http://www.geschichte.uni-halle.de/mitarbeiter/neugebauer-woelk/publikationen/) sowie Hanegraaff,
 
Wouter J.: The Birth of a Discipline, in: Faivre, Antoine/Hanegraaff, Wouter J. (Hrsg.): Western
 
Esotericism and the Science of Religion, Leuven 1998, S. VII–XVII. Zur Ritualforschung vgl.
 
insbesondere die Forschungs-, Veröffentlichungs- und Konferenzaktivitäten des Sonderforschungsbereichs
 
»Ritualdynamik« an der Universität Heidelberg, des »weltweit größten Forschungsverbunds
 
zum Thema Rituale und ihren Veränderungen« (http://www.uni-heidelberg.de/presse/news08/
 
pm281028-2ritu.html); außerdem: Ritualforschung im Internet (http://www.ritualdynamik.uni-hd.de/
 
e-journal/berichte/internetrecherche.pdf).
 
2 Vgl. Höhmann, Hans-Hermann: Entwicklung, Reflexion, Wissenschaft. Anmerkungen zum Wechselspiel
 
zwischen freimaurerischer Geschichte und Geschichte der Freimaurerforschung, in: Quatuor Coronati
 
Jahrbuch für Freimaurerforschung, Nr. 41, 2004, S. 232–234.
 
3 Höhmann, Hans-Hermann: »The Means of Conciliating true Friendship« – Freimaurerei als Sozialkapital,
 
in diesem Band, S. 132–151.
 
116
 
• Zunächst wachsen hierdurch die Möglichkeiten der freimaurerischen Forschung, gegenüber
 
einem wichtigen Sektor der Fachwissenschaft gesprächsfähig zu sein.
 
• Gleichzeitig eröffnen sich Chancen, mit leistungsfähigen Begriffen und Konzeptionen
 
neue theoretisch-konzeptionelle und empirisch-analytische Zugänge zur Gegenwartsfreimaurerei
 
zu erschließen.
 
• Schließlich können leistungsfähige sozialwissenschaftliche Analysekonzepte und entsprechende
 
Forschungsergebnisse dazu beitragen, die Handlungsgrundlagen von Logen und
 
Großlogen zu verbessern und einen Beitrag dazu zu leisten, die heute oft in der Luft
 
hängenden normativen Konzepte für eine Freimaurerei der Gegenwart vom Kopf auf die
 
Füße zu stellen.
 
Dabei muss freilich sorgfältig zwischen analytischen Befunden auf der einen und dem Gewünschten,
 
Gewollten und Angestrebten auf der anderen Seite unterschieden werden. Soziale
 
Wirklichkeit und freimaurerische Norm dürfen nicht gleichgesetzt oder gar verwechselt
 
werden. Freimaurerische Forschung kann den Wert der Freimaurerei und ihrer einzelnen
 
»Lehrarten« nicht beweisen. Kategorische Werturteile darf sie nicht fällen. Sie ist aber zur
 
Formulierung »hypothetischer Werturteile« berechtigt, wenn diese methodisch und empirisch
 
begründet sind und für Kritik offengehalten werden. Hypothetische Werturteile beziehen
 
sich auf die Beurteilung alternativer Vorgehensweisen, die eingeschlagen werden können,
 
wenn bestimmte vorgegebene Ziele erreicht werden sollen. Jede Begutachtungs- und
 
Beratungstätigkeit beruht letztendlich auf dem Prinzip, wissenschaftlich zu erörtern, welche
 
Handlungsoptionen zwecks Zielverwirklichung zur Verfügung stehen, wenn Gewolltes realisiert
 
werden soll.4 Wenn beispielsweise die Zahl der Freimaurer vergrößert werden soll (»Ziel
 
10.000« der Großloge A.F.u.A.M. von Deutschland), so kann die Forschung erörtern, welche
 
Voraussetzungen hierfür erfüllt sein müssen, wie es um das Vorhandensein dieser Voraussetzungen
 
steht und welche Wege aussichtsreich sind, um die notwendigen Voraussetzungen
 
zu schaffen.
 
2. Habitus, soziales Feld, Kapital – Grundbegriffe der Soziologie
 
Bourdieus
 
2.1 Attraktivität und empirische Schwierigkeit einer Anwendung der
 
Soziologie Bourdieus auf die Freimaurerei
 
In diesem Beitrag geht es um die Frage, inwieweit Begrifflichkeiten und Forschungskonzepte
 
des französischen Soziologen Pierre Bourdieu mit Gewinn auf die Freimaurerei anzuwenden
 
wären. Insbesondere denke ich dabei an die von ihm verwendeten Leitbegriffe Habitus, soziales
 
Feld und Kapital, die in der Zusammenschau eine neue empirisch begründete soziologische
 
Theorie ergeben, welche in den heutigen soziologischen Diskursen von großer Bedeutung
 
ist und sich selbst als »Theorie der Praxis« versteht.5
 
4 Vgl. Höhmann, Hans-Hermann: Entwicklung, Reflexion, Wissenschaft, a.a.O. S. 236f.
 
5 Vgl. Papilloud, Christian: Bourdieu lesen. Einführung in eine Soziologie des Unterschieds, Bielefeld
 
2003, S. 29ff.
 
117
 
Pierre Bourdieu, geboren am 1. August 1930 in Denguin (Département Pyrénées-Atlantiques),
 
gestorben am 23. Januar 2002 in Paris, war der wohl bedeutendste französische
 
Soziologe in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.6 Seit 1964 war Bourdieu Inhaber
 
des Lehrstuhls für Kultursoziologie an der Pariser École des Hautes Études en Sciences
 
Sociales. Seit 1981 hatte er einen Lehrstuhl für Soziologie am Collège de France inne, eine
 
der höchsten Positionen im französischen Universitätssystem. Bourdieu begann seine wissenschaftliche
 
Laufbahn als Ethnologe, durchbrach dann aber die traditionellen Grenzen
 
der Ethnologie mit zwei soziologischen Arbeiten über Algerien. Seit 1960 hat Bourdieu
 
umfangreiche, statistisch fundierte Untersuchungen über soziale Strukturen, gesellschaftliche
 
Dynamik und Bildungs- sowie Erziehungsprobleme der europäischen Gesellschaften
 
unternommen und zahlreiche, in alle Weltsprachen übersetzte Publikationen vorgelegt.
 
1985 beauftragte ihn Staatspräsident François Mitterrand, Vorschläge zur Reform des französischen
 
Bildungswesens auszuarbeiten. Bourdieu hatte und hat auch im Ausland (nicht
 
zuletzt in Deutschland) einen beträchtlichen Einfluss auf Soziologie, empirische Sozialforschung
 
und Sozialpolitik.
 
Das, was ich im Folgenden aufzeige, sind vorerst freilich weniger Forschungsergebnisse
 
als Hypothesen, die der empirischen Untersuchung harren, wobei ich mich durch
 
Bourdieu ermutigt fühle, die von ihm entwickelten Forschungsansätze an die analytischen
 
Erfordernisse des Erkenntnisobjekts Freimaurerei anzupassen. Ich folge Bourdieu
 
in seiner Auffassung, dass »›Theorien‹ Forschungsprogramme (sind), die nicht zur ›theoretischen
 
Diskussion‹ anregen sollen, sondern zur praktischen Umsetzung, über die sie
 
dann widerlegt oder verallgemeinert werden können«.7 Ich folge ihm auch darin, dass
 
ein Verstehen wissenschaftlicher Texte »heißt, dass man von der Denkweise, die in ihnen
 
zum Ausdruck kommt, an einem anderen Gegenstand praktischen Gebrauch macht, sie
 
in einem neuen Produktionsakt reaktiviert, der ebenso intensiv und originär ist wie der
 
ursprüngliche«.8
 
Allerdings gibt es bei der gegenwartsorientierten Freimaurerforschung gravierende Probleme
 
mit dem Zugang zu empirischem Material, denn dieses Material müsste ja vor allem
 
aus den Logen und Großlogen kommen. Doch die Logen sind häufig besorgt, Informationen
 
über Details des Logenlebens und persönliche Befindlichkeiten der Brüder weiterzugeben,
 
und auch die Leitungen der Großlogen verhalten sich eher zurückhaltend mit
 
der Materialvergabe und scheinen wenig an empirischer Forschung und ihren Ergebnissen
 
interessiert zu sein, insbesondere, wenn diese Forschung kritische Akzente aufweist. Möglicherweise
 
schätzen sie es ganz einfach nicht, wenn außerhalb der etablierten Leitungskreise
 
fachliche Expertise für die freimaurerische Praxis entsteht, die eingeschliffene Verwaltungsroutinen
 
stört und mit der die zuweilen eingeschränkte Effizienz oberer Leitungstätigkeit
 
kritisierbar würde.
 
6 Fröhlich, Gerhard/Rehbein, Boike (Hrsg.): Bourdieu Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/
 
Weimar 2009, S. 1–9.
 
7 Bourdieu, Pierre: Inzwischen 1988/1991: »Inzwischen kenne ich alle Krankheiten
 
der soziologischen Vernunft
 
«, Pierre Bourdieu im Gespräch mit Beate Krais, in: Bourdieu, Pierre/Chamboredon, Jean-Claude/
 
Passeron, Jean-Claude: Soziologie als Beruf, Berlin und New York 1991, S. 269–283.
 
8 Bourdieu, Pierre: Habitus und Feld 1985/1997, S. 65, zit. nach: Fuchs-Heinritz, Werner/König, Alexandra:
 
Pierre Bourdieu. Eine Einführung, Konstanz 2005, S. 9.
 
118
 
So stütze ich mich im Folgenden nicht zuletzt auf 50 Jahre eigener Beobachtung der
 
Freimaurerei als »actor-spectator« in der Logen- und Großlogenleitung und auf viele Gespräche,
 
die ich – gemäß meinem Lieblingsmotto »Nichts geht über das laut denken mit
 
einem Freunde« – in dieser Zeit bei vielen Logenbesuchen im In- und Ausland geführt
 
habe.
 
Nun zunächst zu einer zusammenfassenden Darstellung der genannten Leitbegriffe
 
Bourdieus, »Habitus«, »soziales Feld« und »Kapital«, um das erforderliche analytische
 
Handwerkszeug aufzuzeigen, woran sich dann die Anwendung der Soziologie Bourdieus
 
auf die Freimaurerei anschließen kann.
 
2.2 Das Habitus-Konzept
 
Der Begriff des Habitus – dem die vielschichtige Bedeutung von Anlage, Haltung, Erscheinungsbild,
 
Gewohnheit, Lebensweise eignet – hat eine breite philosophische und soziologische
 
Tradition, die hier nicht aufgezeigt werden kann.9 Doch in keiner Sozialtheorie
 
kommt ihm jene zentrale Bedeutung zu, die er in Bourdieus theoretischer Gesamtkonzeption
 
innehat. Kommen doch im Habituskonzept die grundlegenden anthropologischen Annahmen
 
Bourdieus über die soziologisch fundamentalen Eigentümlichkeiten sozialer Akteure
 
zum Tragen.
 
Auf eine sehr allgemeine Weise definiert Bourdieu Habitusformen als
 
»Systeme dauerhafter Dispositionen, strukturierte Strukturen, die geeignet sind, als
 
strukturierende Strukturen zu wirken, mit anderen Worten: als Erzeugungs- und
 
Strukturierungsprinzip von Praxisformen und Repräsentationen«.10
 
Mit anderen Worten: Der Habitus des Menschen ist einerseits eine im Lebensprozess entstandene
 
dauerhafte Prägung, andererseits wirkt er als gestaltende Kraft auf die ihn umgebende
 
gesellschaftliche Wirklichkeit zurück, auf das soziale Feld, auf dem er sich als Akteur
 
bewegt.
 
Im Lebensprozess bestimmt meint, dass vielfältige Faktoren auf die Formierung des Habitus
 
einwirken. Von besonderer Bedeutung sind:11
 
• die Struktur der Familie, in der wir heranwachsen;
 
• die wirtschaftlichen bzw. schichten- und klassenspezifischen Verhältnisse, aus denen wir
 
stammen;
 
• die kulturelle Sozialisation, die wir erfahren haben, einschließlich der religiösen Sozialisation
 
sowie
 
• die Bildung, die uns zuteil wurde.
 
9 Vgl. Schwingel, Markus: Pierre Bourdieu. Zur Einführung, Hamburg 2000, S. 58f.
 
10 Bourdieu, Pierre: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen
 
Gesellschaft, Frankfurt/Main 1976, S. 165.
 
11 Vgl. Fuchs-Heinritz, Werner/König, Alexandra: Pierre Bourdieu, a.a.O., S. 113ff.
 
119
 
Schließlich schreiben sich die vergangenen und gegenwärtigen Erfahrungen des Lebenslaufes
 
prägend in den Habitus ein. Kurz: Habitus ist »Leib gewordene Lebensgeschichte«
 
(Bourdieu). Doch als Produkt der Lebensgeschichte ist der Habitus gleichzeitig wie die Geschichte
 
selbst »in unaufhörlichem Wandel begriffen« (Bourdieu).
 
Um es freimaurerisch zu sagen: Der Habitus ist ein »Rauher Stein«, träge und schwierig
 
zu bearbeiten, aber doch nicht unveränderbar in seiner Form. Hierauf ist später mit der
 
Frage nach dem freimaurerischen Habitus sowie den Möglichkeiten und Instrumenten
 
einer Habitusformierung in der Loge zurückzukommen.
 
2.3 Soziales Feld und das Spiel mit und um »Kapital«
 
Menschen agieren nun als vom Habitus geprägte Akteure in unterschiedlichen gesellschaftlichen
 
Realitäten, die Bourdieu als soziale Felder beschreibt. Die Identität jedes Feldes hängt
 
von vier gemeinsamen Bauelementen bzw. Prinzipien ab:
 
• der Konstitution des Feldes als jeweils weitgehend autonomem Feld der Praxis;
 
• der Ordnung im Feld als einer hierarchischen Struktur dieses Feldes;
 
• dem Kampf im Feld als Quelle der Eigendynamik des Feldes sowie
 
• der Reproduktion des Feldes als Bedingung seiner sozialen Dauer in der Praxis.12
 
Bestimmt man auf der Grundlage dieser Prinzipien die Struktur der sozialen Felder, so wird
 
diese durch eine jeweils für das spezifische Feld typische Konstellation von Faktoren gekennzeichnet.
 
Hierzu gehören insbesondere
 
• die im Feld anzutreffenden organisatorischen Formen;
 
• die feldtypischen Institutionen, d.h. die im Feld gültigen Regelsetzungen formeller und
 
informeller Natur;
 
• die auf das Feld bezogenen Wertvorstellungen und Sinndeutungen, von Bourdieu Illusio
 
genannt, sowie
 
• die Struktur der Relationen, d.h. insbesondere die Verteilungsstruktur verschiedener Arten
 
von Macht (oder »Kapital«), welche die Positionen der Akteure oder Institutionen im
 
Feld bestimmt.13
 
Der Terminus Feld bildet gleichsam das Pendant zu Bourdieus Konzept des Habitus: Beide
 
haben mit Entwicklung, mit Geschichte zu tun: Während der Habitus – wie schon gesagt –
 
leibliche Geschichte ist, stellt das Feld verdinglichte Geschichte dar.14
 
Die Gesellschaft, das soziale Feld insgesamt, setzt sich nun aus einzelnen, miteinander
 
mehr oder weniger verflochtenen Einzelfeldern zusammen. Wichtig sind für Bourdieu vor
 
allem die Felder der Politik, der Wirtschaft und der Kultur. Diese Felder gliedern sich wiederum
 
in Subfelder auf. So lassen sich etwa beim Feld Kultur – einem der Hauptbereiche
 
der Soziologie Bourdieus – Unterfelder wie das Feld der Religion, das Feld der Literatur, das
 
Feld der Schule und das Feld der Universität unterscheiden. Auch das Feld der Freimau-
 
12 Vgl. Papilloud, Christian: Bourdieu lesen, a.a.O., S. 59.
 
13 Vgl. Fuchs-Heinritz, Werner/König, Alexandra: Pierre Bourdieu, a.a.O., S. 140.
 
14 Vgl. Bourdieu, Pierre: Reflexive Soziologie 1992/1996, S. 161f., zit. nach: Fuchs-Heinritz, Werner/König,
 
Alexandra: Pierre Bourdieu, a.a.O., S. 141.
 
120
 
rerei – von dem gleich mehr zu hören ist – kann als ein Unterfeld des kulturellen Feldes
 
betrachtet und analysiert werden.
 
Felder und Subfelder kommunizieren einerseits miteinander, sind auf der anderen Seite
 
jedoch relativ autonom, was es auch möglich macht, jeweils spezifische analytische Zugänge
 
zu ihnen zu suchen. Vor allem aber sind soziale Felder Beziehungsgeflechte und stellen
 
als solche Spielräume für das Handeln sozialer Akteure dar, für Formen der Kooperation,
 
aber auch für Konflikte, für Auseinandersetzungen um Geltung, Einfluss und Macht.
 
Bourdieu analogisiert die Felder immer wieder mit »Spielräumen«, Bereichen, die durch
 
Spielregeln definiert sind und für welche die verschiedenen Spieler ganz unterschiedliche
 
Ressourcen mitbringen:15
 
»Sie verfügen über Trümpfe, mit denen sie andere ausstechen können und deren
 
Wert je nach Spiel variiert: So wie der relative Wert der Karten je nach Spiel ein anderer
 
ist, so variiert auch die Hierarchie der verschiedenen Kapitalsorten (ökonomisch,
 
kulturell, sozial, symbolisch) in den verschiedenen Feldern. Es gibt, mit anderen
 
Worten, Karten, die in allen Feldern stechen und einen Effekt haben – das sind die
 
Kapital-Grundsorten – doch ist ihr relativer Wert als Trumpf je nach Feld und sogar
 
je nach den verschiedenen Zuständen ein und desselben Feldes ein anderer.«16
 
Dabei spielen die von Bourdieu unterschiedenen Formen von Kapital – ökonomisches, kulturelles,
 
soziales Kapital – eine besondere Rolle. Die sozialen Felder sind insbesondere zwischen
 
den arrivierten Akteuren als den Inhabern der jeweiligen Definitionsmacht des Feldes
 
und den Häretikern als Herausforderern und Neulingen des Feldes umstritten und vor allem
 
durch Machtspiele im Hinblick auf Ansehen, Einfluss und Macht und das damit verbundene
 
symbolische Kapital charakterisiert.
 
Welche Theorien taugen zur Analyse dieser Spiele?
 
Zu Recht hält Bourdieu die klassische Spieltheorie (John von Neumann/Oskar Morgenstern)
 
sowie andere analytische Modelle eines »rational choice«-Verhaltens (James Coleman)
 
für wenig geeignet, das Spiel um Macht und Einfluss im sozialen Feld zu erfassen. Anna von
 
Pfeil hat die Grenzen der »klassischen« Spieltheorie treffend auf den Punkt gebracht: »Die
 
Spieltheorie ist ein Modell, das sich häufig nur begrenzt auf realistische Situationen anwenden
 
lässt. Die dem Modell zu Grunde liegenden Annahmen wie z.B. Gewinnstreben und
 
strategisches Verhalten der Beteiligten, sind in der Realität sicherlich oft nicht gegeben, wodurch
 
das gesamte Konzept der Spieltheorie hinfällig wird. Des Weiteren kann man davon
 
ausgehen, dass den Beteiligten ihre individuelle Nutzensmatrix nicht vollständig bewusst ist,
 
d.h. sie treffen Entscheidungen, die nicht rational auf Nutzenspräferenzen zurückzuführen
 
sind.«17
 
15 Fuchs-Heinritz, Werner/König, Alexandra: Pierre Bourdieu, a.a.O., S. 143.
 
16 Bourdieu, Pierre: Reflexive Soziologie 1992/1996, S. 128, zit. nach: Fuchs-Heinritz, Werner/König, Alexandra:
 
Pierre Bourdieu, ebenda, S. 143.
 
17 Von Pfeil, Anna: Spieltheoretische Erklärungsansätze für Kooperations- und Konkurrenzverhalten in sozialen
 
Gruppen, Humboldt Universität Berlin, http://www.leistungsschein.de/archiv/agrarwissenschaften/
 
arbeiten/Pfeil_Anna_von_Spieltheorie.pdf, Download 5.11.2008.
 
121
 
Im Mittelpunkt der spielanalytischen Betrachtung Bourdieus stehen demgegenüber rational
 
kaum kalkulierbare bzw. nachkalkulierte Verhaltensweisen, die er als Verhaltensweisen
 
»aus dem Habitus heraus« charakterisiert:
 
»Der Spieler, der die Regeln eines Spiels zutiefst verinnerlicht hat, tut, was er muss, zu
 
dem Zeitpunkt, zu dem er es muss, ohne sich das, was zu tun ist, explizit als Zweck
 
setzen zu müssen. Er braucht nicht bewusst zu wissen, was er tut, um es zu tun, und
 
er braucht sich (außer in kritischen Situationen) erst recht nicht explizit die Frage zu
 
stellen, ob er explizit weiß, was die anderen im Gegenzug tun werden«.18
 
Das heißt, dass nicht die Rationalität mit ihren vielen prinzipiell möglichen Optionen,
 
sondern der Habitus mit den jeweils habitusspezifisch eingeengten Wahlmöglichkeiten die
 
Spielzüge eines Akteurs bestimmt, die folglich in einem hohen Maße sozialer Programmierung
 
unterliegen. Bourdieu zitiert in diesem Zusammenhang Leibniz mit der Feststellung,
 
dass wir »in Dreiviertel unserer Handlungen Automaten sind«.19 Das Habitus-Konzept bedeutet
 
folglich »nichts anderes als einen Paradigmenwechsel im sozialwissenschaftlichen
 
Denken, nämlich die Abkehr von einer Vorstellung vom sozialen Handeln, die dieses als Resultat
 
bewusster Entscheidungen bzw. als das Befolgen von Regeln begreift«.20
 
Worum geht es den Akteuren im sozialen Spiel? Es geht ihnen um Einsatz und Vermehrung
 
spezifischer und keineswegs vorrangig ökonomisch zu verstehender Formen von
 
Kapital.
 
2.4 Die Arten des »Kapitals«
 
Als Kapital bezeichnet Bourdieu die verschiedenen Ressourcen, die den Menschen für die
 
Durchsetzung ihrer Ziele zur Verfügung stehen, die nutzbar sind als »soziale Energie«21, als
 
Einsätze im Spiel um Positionsgewinne im sozialen Raum, die im Spiel vermehrt oder in
 
andere Arten von Kapital umgewandelt werden sollen. Dabei werden von ihm vier Formen
 
von Kapital unterschieden: das ökonomische Kapital, das kulturelle Kapital, das soziale Kapital
 
und das symbolische Kapital.
 
Das ökonomisches Kapital ist nach Bourdieu materieller Reichtum, also das, was man
 
auch im herkömmlichen Sinn unter Kapital versteht.22 Bourdieu ist der Meinung, dass
 
ökonomischem Kapital auch in der heutigen Zeit eine große Bedeutung zukommt, dass
 
wirkliche Macht damit aber nur in Verbindung mit den beiden anderen Kapitalformen des
 
kulturellen und des sozialen Kapitals ausgeübt werden kann.
 
Das kulturelle Kapital wird von Bourdieu in eine inkorporierte und eine institutionalisierte
 
Form unterschieden.23 Inkorporiertes kulturelles Kapital besteht in erworbener
 
18 Bourdieu, Pierre: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt am Main 1998, S. 168.
 
19 Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main
 
1982, S. 740. Vgl. auch Schwingel, Markus: Pierre Bourdieu. Zur Einführung, a.a.O., S. 62f.
 
20 Krais, Beate/Gebauer, Günter: Habitus, Bielefeld 2002, S. 5.
 
21 Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede, a.a.O., S. 194.
 
22 Bourdieu, Pierre: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Kreckel, Reinhard
 
(Hrsg.): Soziale Ungleichheiten. Sonderband 2 der Sozialen Welt, Göttingen 1983, S. 183–198.
 
23 Bourdieu, Pierre: ebenda.
 
122
 
Bildung, in angeeignetem Wissen, in persönlichen Fertigkeiten. Institutionalisiertes Kulturkapital
 
existiert in Form von legitim erworbenen Titeln wie z.B. Schul- oder Universitätsabschlüssen.
 
Während Titel die Eigenschaft einer gewissen »Bestandsgarantie« von
 
kulturellem Kapital besitzen, steht das inkorporierte kulturelle Kapital von »Autodidakten«
 
unter einem permanenten Beweiszwang.
 
Unter sozialem Kapital versteht Bourdieu die Summe der Beziehungen, auf die ein Individuum
 
zurückgreifen kann, das dauerhafte Netzwerk von mehr oder weniger institutionalisierten
 
Verbindungen mit anderen Individuen, das man beim Agieren im sozialen Feld nutzen
 
kann.24 Im Gegensatz zum ökonomischen und zum kulturellen Kapital bezieht sich das
 
soziale Kapital also nicht auf einen Akteur an sich, sondern auf die sozialen Beziehungen,
 
die von einem Akteur im Spiel um Ansehen, Einfluss und Macht mobilisierbar sind.
 
Bourdieus Sozialkapital-Konzept unterschiedet sich damit nicht unbeträchtlich von
 
dem Robert Putnams,25 für den Sozialkapital ein für Demokratie und soziale Verträglichkeit
 
unverzichtbares öffentliches Gut darstellt.
 
Das symbolische Kapital schließlich, verstanden »als wahrgenommene und als legitim
 
anerkannte Form der drei vorgenannten Kapitalien«, ist für Bourdieu eine den anderen
 
Kapitalarten übergeordnete Ressource.26 Sie kommt durch gesellschaftliche Anerkennung
 
zustande und schlägt sich in Charisma, Prestige und Ansehen einer Person nieder. Ökonomisches,
 
kulturelles und soziales Kapital haben im Machtspiel vor allem die Funktion, den
 
Bestand an symbolischem Kapital zu vergrößern. Allerdings bedürfen auch diese anderen
 
Kapitalarten der Anerkennung im Sinne einer Zuschreibung von Legitimität, da sie sonst
 
als Grundlage für symbolisches Kapital nicht brauchbar sind.
 
Im Spätwerk Bourdieus – Fuchs-Heinritz und König verweisen darauf27 – findet in
 
anthropologischer Perspektive eine Erweiterung des Verständnisses vom symbolischen Kapital
 
statt. Die Menschen seien, da die Religion kaum noch sinnstiftend ist, immer mehr
 
darauf angewiesen, Lebenssinn und Daseinsrechtfertigung bei den anderen Menschen zu
 
suchen. Der »späte« Bourdieu wörtlich:
 
»Die soziale Welt vergibt das seltenste Gut überhaupt: Anerkennung, Ansehen, das
 
heißt ganz einfach Daseinsberechtigung. Sie ist imstande, dem Leben Sinn zu verleihen,
 
und, indem sie ihn zum höchsten Opfer weiht, selbst noch dem Tod. Weniges
 
ist so ungleich und wohl nichts grausamer verteilt als das symbolische Kapital, das
 
heißt die soziale Bedeutung und die Lebensberechtigung.«28
 
Schon bei der hiermit zunächst abgeschlossenen Vorstellung der Begrifflichkeiten und Analyseansätze
 
Bourdieus scheinen Anwendungen auf die Freimaurerei nahezuliegen, ja sich
 
förmlich aufzudrängen.
 
24 Bourdieu, Pierre: ebenda.
 
25 Putnam, Robert D.: Making Democracy Work: Civic Traditions in Modern Italy, Princeton 1993; ders.:
 
Bowling Alone: The Collapse and Revival of American Community, New York 2000; ders. (Hrsg.): Gesellschaft
 
und Gemeinsinn. Sozialkapital im internationalen Vergleich, Gütersloh 2001.
 
26 Bourdieu, Pierre: Sozialer Raum und »Klassen«. Leçon sur la Leçon. Zwei Vorlesungen, Frankfurt am
 
Main 1985, S. 11.
 
27 Fuchs-Heinritz, Werner/König, Alexandra: Pierre Bourdieu, a.a.O., S. 171.
 
28 Bourdieu, Pierre: Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, Frankfurt am Main 2001, S. 309f.
 
123
 
3. Anwendung auf die Freimaurerei
 
3.1 Habitus
 
Kommen wir also zur Anwendung der skizzierten Konzepte Bourdieus auf die Freimaurerei
 
und beginnen wir mit dem Habitus-Konzept:
 
Zunächst haben wir es in der Freimaurerei mit »Habitus« in zwei Erscheinungsformen
 
zu tun: Einerseits beschreibt »Habitus« einen empirisch-analytischen Befund, der sich auf
 
die Mitglieder des Bundes bezieht, wie sie nun einmal sind.
 
Andererseits ist »Habitus« ein normatives Konzept, das ein ideales Modell dafür entwirft,
 
wie Freimaurer fühlen, wahrnehmen, denken und handeln sollen.
 
Das normative Konzept wird von uns Freimaurern oft und gern propagiert. Es hat
 
Leitbildcharakter für uns, und wir fühlen uns in ihm zu Hause. Mit dem anderen, dem
 
empirisch-analytischen Befund, dem Habitus des Freimaurers, wie er ist, setzen Freimaurer
 
sich nur zögerlich und ungern auseinander – es sei denn, sie sind gerade von einem ihrer
 
Mitbrüder geärgert oder verletzt worden.
 
Normativ betrachtet bedeutet freimaurerischer Habitus, dass der Bruder Freimaurer Wertüberzeugungen
 
besitzen soll, die dem Formenkreis bürgerlicher Wertorientierungen zugehörig
 
und untrennbar mit moralischen Verhaltensqualitäten verbunden sind:
 
• Wertüberzeugungen wie Mitmenschlichkeit, Solidarität, kritische Distanz zur eigenen
 
Person, Gerechtigkeit, Sittlichkeit;
 
• Verhaltensqualitäten wie gegenseitige Wertschätzung, respektvoller Umgang miteinander,
 
hohe Diskursqualität, Toleranz in Reden und Handlungen, praktizierte Hilfe (Wohltätigkeit).
 
Der Gedanke, dass Freimaurerei vor allem Habitusstrukturierung bewirken soll, ist regelmäßiger
 
Bestandteil der Rituale und taucht schon früh in der Geschichte des Bundes auf.29
 
Als frühes Beispiel möchte ich eine Rede des Londoner Freimaurers Martin Clare von
 
1735 zitieren. Clare war als Meister vom Stuhl der »Loge of Friendship« sowie als Großaufseher
 
und deputierter Großmeister der Londoner Großloge seinerzeit durchaus ein Maurer
 
von Rang.
 
»Die innerliche, geistige Höflichkeit drückt sich im allgemeinen im äußerlichen Benehmen
 
aus, dessen Art, Weise und Umstände … in der Regel und der Praxis durch
 
Beobachtung derjenigen Menschen und ihres Benehmens erlernt werden müssen, denen
 
zuzugestehen ist, dass sie höflich und wohlerzogen sind. Aber der wesentlichere
 
Teil der Höflichkeit liegt tiefer als das Äußere und ist jenes allgemeine Wohlwollen,
 
jene anständige Hochachtung und persönliche Wertschätzung für jedermann, die
 
uns davor warnt, in unserem Benehmen anderen gegenüber Geringschätzung, Miss-
 
29 Vgl. zuletzt Hasselmann, Kristiane: Die Rituale der Freimaurer. Zur Konstitution eines bürgerlichen Habitus
 
im England des 18. Jahrhunderts, Bielefeld 2008.
 
124
 
achtung oder Nachlässigkeit zu zeigen … Er ist, mit einem Worte gesagt, eine geistige
 
Gesinnung, die im Benehmen sichtbar wird.«30
 
Eine schöne Definition von Freimaurerei: eine Gesinnung, die im Benehmen sichtbar wird.
 
Die Ausbildung eines freimaurerischen Habitus soll nicht nur durch die Teilnahme
 
am Ritual, sondern auch durch den sozialen Kontakt in der Loge bewirkt werden. Dieser
 
Aspekt wurde vor allem in den Freimaurerdiskursen am Ende des 18. Jahrhunderts betont,
 
als – nach dem Zusammenbruch der »Strikten Observanz« – nach neuen Formen und
 
Aufgaben für die Freimaurerei in Deutschland gesucht wurde. Der Freimaurer Karl Philipp
 
Moritz beschrieb den Zusammenhang zwischen Habitusformierung und geselliger Logenpraxis
 
in einer seiner Berliner Freimaurerreden auf folgende Weise:
 
»Die höchstmögliche moralische Vervollkommnung ist also das Ziel, wonach der
 
Maurer strebt, und diese besteht in der zweckmäßigsten und uneigennützigsten Tätigkeit.
 
Denn die bloßen Gesinnungen machen die Moralität nicht aus.
 
Wer edel denkt, muß auch edel handeln …, und edel handeln lernt man nicht anders
 
als durch Übung und durch Beispiel, und beide, wer das Beispiel gibt sowohl als wer
 
es nimmt, gewinnen wechselseitig dadurch. Weil nun in der Welt die guten Beispiele
 
so zerstreut sind, so sollten sie in unsern Logen zusammengedrängt sein, damit dieselben
 
die eigentliche Schule der Weisheit des Lebens würden.
 
Dazu müssen denn die einzelnen Mitglieder freilich so viel Umgang wie möglich
 
miteinander haben, denn die Maurerei soll uns ja aus unserm kleinen Umgangszirkel
 
in einen größern ziehen, wo wir mehr mannigfaltiges Gute sehen, als wir sonst Gelegenheit
 
haben.
 
Wo wir uns in alle Rechte der Menschheit wieder eingesetzt fühlen.
 
Wo alle an der Wohlfahrt eines jeden einzelnen teilnehmen und bei seinen Schicksalen
 
nicht gleichgültig sind. Wo das, was unsere wahre Glückseligkeit ausmacht, zur
 
Sprache kömmt.
 
Wo ein jeder die Vorteile, die er durch eigne Erfahrung zu einer wahren Glückseligkeit
 
ausfindig gemacht hat, und seine mißlungenen Versuche dem andern mitteilt.
 
Wo alles uns abmahnen soll, das Leben zu genießen und den Tod nicht zu fürchten,
 
uns zu unterwerfen, wo wir müssen, und die Rechte der Menschheit zu verteidigen,
 
wo wir können.
 
Wo wir lernen, daß wir nicht tätig sein müssen, um zu genießen, sondern nur genießen,
 
um wieder tätig sein zu können.«31
 
30 Möller, Dieter (Hrsg.): Fünf frühe Freimaurerreden 1726–1737, Quellenkundliche Arbeiten der Freimaurerischen
 
Forschungsgesellschaft e.V und der Forschungsloge Quatuor Coronati der Vereinigten Großlogen
 
von Deutschland. Bruderschaft der deutschen Freimaurer, Frankfurt/Main 1966, Heft Nr. 2, S.
 
41–46, hier S. 41.
 
31 Moritz, Karl Philipp: Des Maurergesellen Wanderschaft (zuerst veröffentlicht Berlin 1793), zitiert nach:
 
Gerlach, Karlheinz (Hrsg.): Berliner Freimaurerreden 1743–1804, Frankfurt am Main 1996, S. 300f.
 
125
 
Gern zitiert wird bis heute – so auch als Motto auf der Homepage der Großen Landesloge
 
der Freimaurer von Deutschland32 – folgende aus dem 19. Jahrhundert stammende Beschreibung
 
des (normativen) freimaurerischen Habitus:
 
Was ist Freimaurerei?
 
Daheim ist sie Güte,
 
Im Geschäft ist sie Ehrenhaftigkeit,
 
In Gesellschaft ist sie Höflichkeit,
 
In der Arbeit ist sie Anständigkeit,
 
Für den Unglücklichen ist sie Mitleid,
 
Gegen das Unrecht ist sie Widerstand,
 
Für das Schwache ist sie Hilfe,
 
Dem Gesetz gegenüber ist sie Treue,
 
Gegen den Unrechttuenden ist sie Vergessen,
 
Für den Glücklichen ist sie Mitfreude,
 
Vor Gott ist sie Ehrfurcht und Liebe.
 
Die Freimaurer haben nun drei große Gruppen von Praxisformen bzw. von Instrumenten,
 
um den hergebrachten, ursprünglichen Habitus in einen freimaurerischen Habitus umzuformen:
 
• die soziale Praxis, d.h. die Partizipation an der spezifischen Kultur der freimaurerischen
 
Geselligkeit;
 
• die diskursethische Praxis, d.h. die Beteiligung an der für Freimaurer – normativ! – typischen
 
Art und Weise, ethische Diskurse zu führen, und – vor allem –
 
• die symbolisch-rituelle Praxis, d.h. die Teilnahme an ihren, Symbole in dramatische Vollzüge
 
umsetzenden wert-, sinn- und verhaltensorientierten Ritualen.
 
Eine Freimaurerei, die dem skizzierten Normkonzept entspricht, lässt sich leicht beschreiben:
 
Sie ist gekennzeichnet durch Logen,
 
• die harmonisch sind, wo die Regulierung von Konflikten die Arbeitsfähigkeit der Bruderschaft
 
nicht beeinträchtigt,
 
• wo Diskurse geführt werden, an denen sich auch Externe gern beteiligen,
 
• die auf gutem Niveau gesellig sind,
 
• die rituell überzeugend arbeiten,
 
• die ein klares Identitätsbewusstsein haben, d.h. die sich darüber klar sind, wie Freimaurerei
 
verstanden und praktiziert werden soll und wie sie sich nach außen vermitteln lässt.
 
Solche Logen weisen in der Regel auch ein solides, d.h. auf menschlicher und intellektueller
 
Qualität beruhendes Wachstum ihrer Mitgliederzahlen auf.
 
Es gibt freilich auch Logen, in denen manches fehlt, was dem skizzierten Normkonzept
 
entspricht, wo weder die innere Praxis noch die Außendarstellung dem Wesen einer
 
durchdachten, konsistenten, ohne Blamage-Risiko auch von außen befragbaren Freimaurerei
 
entspricht.
 
32 www.freimaurerorden.de, Download 10.10.2008.
 
126
 
Und dasselbe gilt für die übergeordneten Einheiten des Aufbaus der Freimaurerei: die
 
Distrikts-, Provinzial- und Großlogen, die bruderschaftlichen Vereinigungen, die Stiftungen
 
und dergleichen mehr. Auch hier gibt es auf der einen Seite Leitungscharisma und eindrucksvolle
 
Gestaltungskraft, auf der anderen Seite konzeptionelle Irritation, administrativer
 
Leerlauf und Führungsschwäche. Hin und wieder entstehen gar Ämterkartelle, deren
 
Mitglieder nicht der Versuchung widerstehen, formelle, satzungsgemäße Entscheidungsstrukturen
 
zu umgehen und Großlogenleitung im Stil von »Küchenkabinetten« zu betreiben.
 
Wie lassen sich solche Fehlentwicklungen erklären?
 
Zumindest teilweise dadurch, dass sich in der Freimaurerei auch Struktur- und Praxisformen
 
antreffen lassen, die – gelinde gesagt – zumindest »problemverdächtig« sind.
 
Hierzu gehören insbesondere
 
• Ämterhierarchien,
 
• Titel, Orden und Ehrenzeichen sowie
 
• vielgliedrige Gradsysteme.
 
Diese Formen sind geeignet, Widersprüche auszulösen zwischen einer Logenrealität, die
 
»bürgerliche« Unterschiede und Rangstufen verfestigt statt sie zu überwinden, und dem freimaurerischen
 
Konzept des Menschen, der – so Lessing – als »bloßer Mensch« anderen »bloßen
 
Menschen« in der Loge begegnet. Werden diese Formen nicht kritisch reflektiert und in
 
ihren Auswirkungen kontrolliert, so können sie statt zur Herausbildung eines Habitus der
 
Mitmenschlichkeit und Gleichberechtigung zur Generierung und Verfestigung eines narzisstischen
 
Habitus, eines Habitus der Anmaßung und Eitelkeit führen.
 
Schlussbemerkung zum Verhältnis zwischen Habitus und Entwicklung der Freimaurerei:
 
Habitus als Inbegriff von Wahrnehmen, Denken, Entscheiden und Handeln ist eine
 
langfristig gewachsene Kategorie. Habitus ist nur schwer veränderbar. Und so ist die Wahrscheinlichkeit,
 
dass neue Mitglieder des Bundes ihren hergebrachten – und, salopp gesagt,
 
nicht immer »freimaurertauglichen« – Habitus auf die Bruderschaft übertragen, nicht gering
 
und der umgekehrte Fall einer positiven Habitusformierung durch Mitwirken in der
 
Freimaurerei nur unter großen Anstrengungen zu erreichen.
 
Für die Auswahl neuer Mitglieder ließe sich infolgedessen überspitzt formuliert
 
empfehlen, nur den, der habituell zumindest die Anlage erkennen lässt, sich in der
 
Freimaurerei weiterzuentwickeln, zum Bruder Freimaurer aufzunehmen! Auf alle Fälle
 
gilt es, bei der Auswahl von Kandidaten die folgende Feststellung Bourdieus im Kopfe
 
zu behalten:
 
»Der Begriff Habitus bezeichnet im Grunde eine recht simple Sache: Wer den Habitus
 
einer Person kennt, der spürt oder weiß intuitiv, welches Verhalten dieser Person
 
versperrt ist.«
 
Auf die Loge angewendet hieße dies:
 
127
 
Um zu wissen, was die Loge entgegen optimistischer Annahmen von einem neuen Mitglied
 
nicht erwarten kann, muss sie seinen Habitus kennen und beachten, sonst bleiben die Erwartungen
 
auf beiden Seiten unerfüllt und Enttäuschung ist programmiert. Daraus folgt einmal
 
mehr: Mitgliederauswahl ist notwendigerweise ein langer, qualitätsorientierter Prozess.
 
3.2 Freimaurerei als »soziales Feld« und Spiel um »symbolisches«
 
Kapital
 
Kommen wir zum sozialen Feld, zum Feld Freimaurerei, und beschreiben wir zunächst seine
 
Struktur.
 
Folgende drei Elemente sind von besonderer Bedeutung:
 
• Die Organisationen. Zu diesen gehören die Logen, Distrikts- bzw. Provinziallogen und
 
Großlogen, die bruderschaftlichen Vereinigungen (sprich Hochgradsysteme und besondere
 
freimaurerische Assoziationen, Quatuor Coronati, Pegasus) sowie die Leitungsgremien,
 
Vorstände, Ordensräte, Ehrenräte aller Ebenen.
 
• Die Institutionen, d.h. die Regelsysteme. Diese können formeller Art sein, wie Satzungen
 
und Verfassungen der verschiedenen Ebenen, oder informeller Art, wie die konsensual
 
und längerfristig entstandenen Modalitäten des Verhaltens.
 
• Die Sinnzuschreibungen. Hierbei geht es um die Einschätzung und Wertschätzung, die
 
die Brüder als Akteure im freimaurerischen Feld mitbringen, die freimaurerische Idee, mit
 
der wir unser Ideal von Freimaurerei identifizieren. Bourdieu spricht hier – ich erwähnte es
 
schon – bezeichnender- und entlarvenderweise von »Illusio«. Zur freimaurerischen Illusio
 
gehört auch die Überzeugung, dass der Bund im Vergleich zu anderen Gemeinschaften etwas
 
Besonderes, etwas Ehrwürdiges, etwas Geheimnisvolles ist, das für die Freimaurerei insgesamt
 
wie für den einzelnen Bruder ein hohes Maß an symbolischem Kapital generiert.
 
Deshalb ist nicht zuletzt das Aufrechterhalten der Illusio, der permanenten, ungebrochenen
 
positiven Sinnzuschreibung, für Bestand und Beständigkeit der Freimaurerei entscheidend.
 
Umgekehrt – so beschreiben Fuchs-Heinritz und König in einem allgemeinen Sinne die Folgen
 
eines Zusammenbruchs der Illusio –:
 
»Verliert ein Spieler oder verlieren viele – aus welchen Gründen auch immer – den
 
Glauben an die Sinnhaftigkeit des Spiels …, dann brechen Sinnfragen auf, die sich zuvor
 
nicht gestellt hatten. Normalerweise reagieren alle Gruppen in einem Feld, auch
 
wenn sie darin sonst gegensätzliche Positionen vertreten, außerordentlich empfindlich
 
und aggressiv auf Individuen oder Gruppen, die den Sinn des Spiels in Frage
 
stellen und dadurch dazu beitragen könnten, dass der Fortgang des Spiels in Zweifel
 
gezogen werden muss.«33
 
Viele Austritte aus dem Bund der Freimaurer werden mit dem Zusammenbruch der Illusio begründet.
 
»Ich dachte« – so heißt es dann –, »ich wäre in einem Bunde, der sich guten Zielen ver-
 
33 Fuchs-Heinritz, Werner/König, Alexandra: Pierre Bourdieu, a.a.O., S. 147. Vgl. auch Bourdieu, Pierre:
 
Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt am Main 1999, S. 123.
 
128
 
schrieben hat, und nun sieht alles ganz anders aus.« In der Regel wird dieser Zusammenbruch
 
der Illusio personalisiert. Klassisch hierfür ist die Formel: »Die Freimaurerei ist eine gute Sache
 
– aber die Brüder, aber die Brüder«!
 
Ein Zusammenbruch der Illusio findet sich nicht zuletzt bei vielen führenden Freimaurern
 
der klassischen Periode unseres Bundes, der Jahrzehnte um das Jahr 1800. Knigge, Feßler
 
und Fichte sind prominente Beispiele, aber auch Goethe und Herder sind hier einzuordnen,
 
allerdings mit Einschränkungen.
 
Für die Sinnzuschreibung der Freimaurerei gibt es nun verschiedene idealtypische Möglichkeiten,
 
die jeweils mit bestimmten Auswirkungen auf die Formen freimaurerischer Praxis
 
verbunden sind.
 
So kann Freimaurerei zunächst in Übereinstimmung mit der vorherrschenden (normativen)
 
Illusio als System verstanden werden, in dem und durch das Aufgaben verwirklicht
 
werden, die hohen Wertvorstellungen entsprechen. In Deutschland werden diese Aufgaben
 
gegenwärtig je nach »Lehrart« humanitär (Großloge AFuAM: »Freie Entfaltung der Persönlichkeit,
 
Brüderlichkeit, Toleranz, Hilfsbereitschaft und Erziehung hierzu«) oder christlich
 
(Große Landesloge: Orientierung an der »Lehre Jesu Christi, wie sie in der Heiligen Schrift
 
enthalten ist«) pointiert. Bei diesen Sinnzuschreibungen erscheint Freimaurerei dann als
 
Produzentin und Anbieterin eines hohen moralischen bzw. religiösen Gutes, das nicht nur
 
ein persönliches oder gruppenspezifisches, sondern ein allgemeines öffentliches Gut ist.
 
Da jedoch diesen Wertvorstellungen aufgrund des freimaurerischen Grundgedankens, Menschen
 
unterschiedlicher Herkunft und weltanschaulicher Überzeugung zusammenzuführen,
 
kein gemeinsames Programm zugrunde liegt und kein konkreter Zweck zugeschrieben werden
 
kann, schiebt sich die Innenperspektive, die Beschäftigung mit sich selber stark in den
 
Vordergrund.
 
Dann kann sich die freimaurerische Sinnzuschreibung deutlich verändern und hauptsächlich
 
darin bestehen, in der Freimaurerei – zumindest auch – ein subjektives System der
 
Selbstverwirklichung zu sehen, einen Modus zur Generierung und zur Aufrechterhaltung
 
eines positiven Selbstbildes. In diesem Falle ginge es den Brüder Freimaurern nicht allein und
 
nicht vor allem um Wertorientierung und Wertpraxis, sondern um Möglichkeiten, sich in
 
Szene zu setzen, nach Ämtern zu streben und Auszeichnungen zu erlangen, kurz: es ginge um
 
den Erwerb von persönlichem symbolischen Kapital.
 
Wenn im Folgenden der Analyseschwerpunkt hier gesetzt wird, so soll keineswegs konstatiert
 
werden, dass maurerischer Idealismus keine große Rolle in der Freimaurerei spielt. Im
 
Gegenteil: Es gibt viele Beispiele dafür und jeder Freimaurer kann an ihnen teilhaben. Es soll
 
aber mit der von Bourdieu angeregten Hypothese von Freimaurerei als Wettbewerb, als Spiel
 
um symbolisches Kapital, eine Erklärung für bestimmte Erscheinungsformen, Verhaltensweisen
 
und Entwicklungstendenzen im Bund angeboten werden, mit denen wir nicht zufrieden
 
sind und sein können.
 
Das symbolische Kapital, das die Freimaurerei vermittelt, tritt wie das kulturelle Kapital in inkorporierter
 
und in institutionalisierter Form in Erscheinung.
 
• In inkorporierter Form wird es dem Freimaurer als Wertschätzung zuteil, die er bei seinen
 
Brüdern aufgrund seiner persönlichen charakterlichen, kulturellen und intellektuellen
 
Qualitäten genießt.
 
129
 
• In institutionalisierter Form besteht symbolisches Kapital in den in der Freimaurerei
 
sozahlreichen Ämtern, Titeln, Orden und Graden, die wir selbst oft als irgendwie unpassend,
 
anachronistisch oder gar lächerlich empfinden, von denen wir dann aber doch,
 
trotz der Witze, die wir selbst darüber machen, nicht lassen wollen.
 
Zwischen beiden Formen von symbolischem Kapital besteht ein Zusammenhang: Einerseits
 
kann sich persönliche Wertschätzung in der Betrauung mit Ämtern und der Verleihung
 
von Auszeichnungen niederschlagen, andererseits tragen Ämter und Orden zur persönlichen
 
Rangerhöhung
 
und Wertschätzung bei.34
 
Freilich unterliegen Erwerb und Erhalt von symbolischem Kapital durch Ämter und
 
Auszeichnungen des Öfteren der Entscheidung seitens leitender Gremien, die nicht immer
 
der Versuchung widerstehen, die Vergabe von symbolischem Kapital, aber auch seine
 
Vorenthaltung, als Teil ihrer »Erhaltungsstrategien«35 zu verwenden, d.h. als Mittel ihrer
 
Absicht, eigene Positionen im Feld Freimaurerei aufrechtzuerhalten und gleichsam symbolisches
 
Kapital gegen Loyalität einzutauschen. Werden dagegen bei Brüdern Strategien der
 
Häresie vermutet, d.h. wird angenommen, dass diese etablierte Strukturen und Denkweisen
 
infrage stellen oder gar verdrängen wollen, so kann ihnen institutionalisiertes symbolisches
 
Kapital vorenthalten werden, auch wenn sie sich bei vielen ihrer Brüder hoher Wertschätzung
 
erfreuen.
 
Bei hierarchischen Freimaurersystemen ist das symbolische Kapital auf den oberen Ebenen
 
der Hierarchie konzentriert. Daher sind diese Systeme auf besondere Weise strukturbedingt
 
konservativ. Denn jede Reform ginge zu Lasten des symbolischen Kapitals der
 
oberen Ebenen der Hierarchie. Ein solcher freimaurerischer Konservatismus hat auch gute
 
Chancen, sich zu erhalten, selbst wenn er sich überlebt hätte bzw. von den Brüdern Freimaurer
 
als überlebt angesehen würde. Denn die Abhängigkeit von denen, die über Besitz und
 
Vergabemöglichkeiten von symbolischem Kapital verfügen, veranlasst Anwärter darauf, sich
 
anzupassen und auf häretische Strategien des Spiels zu verzichten.36
 
34 Dieser Zusammenhang hat eine lange Tradition im Freimaurerbund. Bereits in August Siegfried Friedrich
 
von Goués Freimaurerroman »Ueber das Ganze der Maurerey« von 1782 berichtet einer der Helden
 
nach einer maurerischen Ehrung: »Als ich mit dem Ringe zurück kam, mein lieber Stralenberg, oh wie
 
feierten mich die hiesigen Brüder der untern Stufen. Sie tragen eine wahre Verehrung für diesen Ring,
 
und wenn mich der Kayser in den Grafen=Stand erhoben hätte, so wär ich dadurch das in ihren Augen
 
nicht geworden, wozu ich in Frankfurt gestiegen bin.« Zitiert nach Voges, Michael: Aufklärung und Geheimnis.
 
Untersuchungen zur Vermittlung von Literatur- und Sozialgeschichte am Beispiel der Aneignung
 
des Geheimbundmaterials im Roman des späten 18. Jahrhunderts, Tübingen 1987, S. 88f.
 
35 Bourdieu, Pierre: Soziologische Fragen, Frankfurt/Main 1993, S. 109.
 
36 In Bezug auf das System der »Strikten Observanz« hatte Adolph Freiherr Knigge, in den 1780er Jahren
 
führender Freimaurer und Illuminat, kritisch vermerkt: »Statt daß bis itzt Freiheit, Gleichheit und Bruderhand
 
die Stützen des Ordens gewesen waren …, so führte man nun eine unerhörte … Subordination
 
ein; die hohen inneren Ordensbrüder oder Ritter gaben sich ein solches Ansehen vor den Brüdern der
 
unteren Grade voraus, daß jeder mit Eifer Beförderung suchte, um gleicher Ehre zu genießen« (»Beitrag
 
zur neuesten Geschichte des Freimaurerordens in neun Gesprächen« mit Erlaubnis meiner Oberen
 
herausgegeben, Berlin 1786, in: Über Freimaurer, Illuminaten und echte Freunde der Wahrheit, hrsg.
 
von Wolfgang Fenner, Wiesbaden 2008, S. 21–119, hier S. 60f.). Gewiss, die »Strikte Observanz« hatte
 
sich bald überlebt, doch es ist zu fragen, ob nicht einige ihrer Struktur- und Funktionsprinzipien allen
 
hierarchischen
 
Systemen der Freimaurerei eigen sind.
 
130
 
3.3 Andere Kapitalarten und ihre (abnehmende) Bedeutung für die
 
Freimaurerei
 
Bisher wurde Kapital als Ressource bzw. als Ziel einzelner freimaurerischer Akteure behandelt.
 
Der Bestand an Ressourcen spielt jedoch auch eine beträchtliche Rolle für die Kommunikation
 
der Freimaurerei mit anderen Feldern der Gesellschaft. Hier geht es um die
 
Wertschätzung und Aufmerksamkeit, die der Freimaurerei zuteil wird. Freimaurerei wird als
 
geheimnisvolle Welt wahrgenommen und dargestellt, ihr symbolisches Kapital ist das eines
 
schwer zu entschlüsselnden Geheimnisses. Dass sie ein wichtiger und seriöser Partner sein
 
könnte, tritt dahinter zurück. Dies liegt an einer unzureichenden gesellschaftlichen Vernetzung
 
der Freimaurerei, am Fehlen ihrer Stimme in öffentlichen Diskursen – obwohl es doch
 
in diesen Diskursen oft um zutiefst freimaurerische Anliegen geht, um Menschenwürde, Gerechtigkeit,
 
Brüderlichkeit und Toleranz, kurz: an Defiziten auf Seiten ihres sozialen Kapitals.
 
Dahinter wiederum machen sich weitere Kapitaldefizite negativ bemerkbar.
 
Hierbei spielen vor allem das
 
• ökonomisches Kapital (Vermögen, Beitragsaufkommen, Logenhaus, Stiftungen),
 
• das kulturelle Kapital (Tradition, Ansehen, kulturelle und künstlerische Fähigkeiten) sowie
 
• das Humankapital (Bestand an »Persönlichkeiten«, Mitgliederrekrutierung aus Eliten)
 
eine wichtige Rolle.
 
In der Vergangenheit (sowohl in der sich transformierenden Ständegesellschaft des 18. und
 
frühen 19. Jahrhunderts als auch in der klassischen »bürgerlichen« Gesellschaft der zweiten
 
Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts) ließen sich jeweils recht hohe Kapitalbestände
 
beobachten.37 Ein bedeutender Schritt der Logenentwicklung seit Beginn und
 
mehr noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war der Bau bzw. Erwerb von Logenhäusern38,
 
die vielfach den Rang örtlicher Kulturstätten erwarben. Im Zuge der Schließung
 
der Logen im Jahre 1935 mussten die Logenhäuser zwangsverkauft werden oder wurden von
 
NS-Behörden beschlagnahmt. Durch Kriegszerstörungen, unzureichende Entschädigungen,
 
anhaltenden Eigentumsentzug in der DDR und steigende Kosten, die von den Logen nicht
 
immer verkraftet werden konnten, wurde der Immobilienbesitz weiter beeinträchtigt. Die
 
Rückgabe von Logenhäusern in den neuen Bundesländern nach 1990 hat den Substanzverlust
 
nur teilweise kompensieren können.
 
Zur Abnahme des ökonomischen Kapitals kommen Defizite beim kulturellen Kapital,
 
wenn es hier auch einen beträchtlichen Fundus an Tradition und Ansehen gibt, der
 
durch »externe Ressourcen« vermehrt werden könnte. Doch die deutsche Freimaurerei
 
der Gegenwart leidet nicht zuletzt an der zu geringen Zahl wirklich »charismatischer«
 
Persönlichkeiten. Kulturelles Kapital ging der Freimaurerei ja nicht zuletzt auch dadurch
 
verloren, dass die dem traditionellen Bildungsbürgertum vergleichbaren sozialen Gruppen
 
37 Vgl. Höhmann, Hans-Hermann: »The Means of Conciliating true Friendship« – Freimaurerei als Sozialkapital,
 
in diesem Band, S. 132–151.
 
38 Vgl. Hoffmann, Stefan-Ludwig: Die Politik der Geselligkeit. Freimaurerlogen in der deutschen Bürgergesellschaft,
 
1840–1918, Göttingen 2000, S. 213ff.
 
131
 
der heutigen Gesellschaft nicht mehr in früherer Größenordnung in der Freimaurerei vertreten
 
sind.
 
Zum Schluss noch einmal die Frage, warum es sinnvoll sein mag, Freimaurerei auch mit Methoden
 
und Paradigmen der modernen Sozialwissenschaft zu analysieren. Gewiss nicht, um
 
ihren Wert als Kulturträger und als persönliche spirituelle sowie soziale Heimat zu beschädigen,
 
wohl aber, um sie besser zu verstehen und um in der Lage zu sein, sie zu verbessern.
 
Die moderne Sozialwissenschaft ist – so gesehen – ein Spitzhammer am »Rauhen Stein« der
 
Freimaurerei.
 
132
 
»The Means of Conciliating true Friendship«–
 
Freimaurerei als Sozialkapital1
 
Zu den Begriffen, denen in der jüngeren Vergangenheit eine erhebliche Karriere gelang,
 
zählt auch der Terminus »Sozialkapital«. Kaum ein anderer sozialwissenschaftlicher Begriff
 
errege, so hieß es 2003 in einer Studie der Universität Hannover2, derzeit so viel Aufmerksamkeit
 
und würde gleichzeitig derart flexibel in verschiedenen Zusammenhängen verwendet
 
wie der des Sozialkapitals. Die Biographien erfolgreicher Manager würden damit genauso
 
in Verbindung gebracht wie die Reduzierung der Gewaltbereitschaft an Schulen und die
 
ökonomische Innovationsfähigkeit von Städten und Regionen. Auch auf der Makroebene
 
der Gesellschaft sei es gang und gäbe geworden, so wünschenswerte Erscheinungen wie die
 
wirtschaftliche Prosperität von Nationen, ein hohes Maß an sozialem Engagement der Bevölkerung
 
und eine niedrige Rate der Kriminalität mit dem Vorhandensein von Sozialkapital
 
zu erklären.
 
Dimensionen und Elemente des Sozialkapitals
 
Es sind vor allem zwei Dimensionen des Sozialkapital-Konzepts, die gegenwärtig in den
 
Mittelpunkt der Diskussion um erfolgreiche gesellschaftliche Entwicklung gerückt werden:3
 
1. Die Rolle von Sozialkapital als »Bindemittel« für ein wertorientiertes kollektives Handeln
 
in komplexen modernen Gesellschaften: Jede Gesellschaft benötige, so wird
 
argumentiert,4 zur Organisation des Zusammenlebens eine Ordnung, deren Humanität
 
und Vitalität auch vom Einsatz des Einzelnen, seiner Motivation und seiner
 
Mitsorge für die Gemeinschaft abhängig sei. Gemeinsinn und Gemeinschaftsfähigkeit
 
seien Grundvoraussetzungen für den sozialen Zusammenhalt. Gesellschaftliche Bindekräfte
 
wirkten als zentrale Ressource jeder Gesellschaft.
 
2. Die Eigenschaft von Sozialkapital als Disposition und Bereitschaft zum zivilgesellschaftlichen
 
Engagement in Assoziationen verschiedener Art (Vereinen, Initiativen, Clubs, aber
 
auch Parteien und Interessenverbänden) sowie als statisches und dynamisches Strukturelement
 
von Assoziationen: Diese Verknüpfung von Sozialkapital und Assoziationen aller
 
Art erfährt gegenwärtig sowohl in der lokalen Sozial- und Politikforschung als auch
 
auf makropolitischer Ebene große Aufmerksamkeit.5 Es werden dabei Formen von Sozialkapital
 
untersucht, die Menschen in Situationen relativer Gleichheit zusammenführen,
 
die auf Vertrauen und Gegenseitigkeit beruhen und die sich auf die Mitgliedschaft in eh-
 
1 Der Verfasser dankt Frau Diplom-Soziologin Lisa Hürter, Universität Bielefeld, für Durchsicht des Manuskripts
 
und Übertragung der Grafiken aus der Datenbank des Bielefelder Forschungsprojekts (s. Fußnote
 
30).
 
2 Zimmermann, Karsten: Sozialkapital – Grundlage der Entwicklung von sozialen Systemen?, Studie des
 
Instituts für Landesplanung und Raumforschung, Hannover 2003, S. 1.
 
3 Ebenda.
 
4 Vgl. hierzu und zum Folgenden: Weidenfeld, Werner: Vorwort, in: Putnam, Robert D. (Hrsg.), Gesellschaft
 
und Gemeinsinn. Sozialkapital im internationalen Vergleich, Gütersloh 2001, S. 11ff.
 
5 Zimmermann, Karsten: Sozialkapital, a.a.O., S. 1.
 
133
 
renamtlichen geselligen, politischen, religiösen und ethisch orientierten Vereinigungen
 
beziehen.6
 
Wenn nun Sozialkapital mit Assoziationen zu tun hat und die Freimaurerloge als ein struktureller
 
und historischer Grundtyp der Assoziationsbildung gelten kann, so erscheint es
 
schon von hierher fruchtbar, das Konzept »Sozialkapital« auf die Freimaurerei anzuwenden,
 
zumal sich – wie bereits für die Soziologie Pierre Bourdieus angemerkt wurde – hierdurch die
 
Möglichkeiten zum Gespräch mit einem für die Analyse der Gegenwartsfreimaurerei wichtigen
 
Sektor der Fachwissenschaft zunehmen.
 
Doch vor einer ausführlichen Anwendung auf die Freimaurerei zum Konzept selbst:
 
Das Konzept »Sozialkapital« wurde von einer Anzahl von Sozialwissenschaftlern entwickelt,
 
wobei Soziologen wie Pierre Bourdieu7, James S. Coleman8 und Robert D. Putnam9
 
besondere Bedeutung zukommt. Der Begriff »Kapital« beschreibt im Allgemeinen die Ressourcen,
 
die Gemeinschaften oder einzelnen Akteuren in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik
 
zur Verfügung stehen, um die von ihnen verfolgten Zwecke zu realisieren. Kapital wird
 
dabei als Ressource in Transaktionsbeziehungen verstanden.10 Eigentum und Besitz für sich
 
genommen stellen noch kein Kapital dar, sie werden erst dadurch zu Kapital, dass sie in
 
horizontalen und vertikalen Transaktionen für den Prozess ihrer Reproduktion eingesetzt
 
werden. Verschiedene Arten von Kapital lassen sich unterscheiden. Zunächst existiert Kapital
 
in »materialisierter« Form als physisches Kapital (Gebäude, Maschinen, Infrastruktur),
 
Finanzkapital (Ersparnisse, Kredite) und Humankapital (Menschen und ihre Fähigkeiten).
 
Dazu kommen aber auch Kapitalarten, die nicht materiellen Charakters sind und doch
 
eine große Rolle in der Gesellschaft spielen. Hierzu gehören das kulturelle Kapital, das
 
insbesondere von Bourdieu11 in verschiedenen Erscheinungsformen (Kulturgüter, kulturelle
 
Kompetenz, Bildungstitel) beschrieben wurde,12 und das Sozialkapital, das im Zentrum der
 
vorliegenden Analyse steht.
 
6 Vgl. Hall, Peter: Sozialkapital in Großbritannien, in: Putnam, Robert D. (Hrsg.), Gesellschaft und Gemeinsinn,
 
a.a.O., S. 47f.
 
7 Bourdieu, Pierre: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Kreckel/Reinhardt
 
(Hrsg.): Soziale Ungleichheiten, Soziale Welt, Sonderband 2, Göttingen 1983, S. 183–198; ders.: The
 
Forms of Capital, in: Richardson, J. G.: Handbook of Theory and Research for Sociology of Education,
 
New York 1986; ders.: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am
 
Main 1987; ders.: Die verborgenen Mechanismen der Macht, Hamburg 1992.
 
8 Coleman, James S.: Social Capital in the Creation of Human Capital, in: American Journal of Sociology,
 
94/1988, S. 95–120; ders.: Foundations of Social Theory, Cambridge/Mass. 1990.
 
9 Putnam, Robert D.: Making Democracy Work: Civil Traditions in Modern Italy, Princeton 1993; ders.:
 
Bowling Alone: The Collapse and Revival of Amerian Community, New York 2000: ders. (Hrsg.): Gesellschaft
 
und Gemeinsinn: Sozialkapital im internationalen Vergleich, Gütersloh 2001.
 
10 Dieser Gesichtspunkt wurde nachdrücklich von Karl Marx betont, für den ökonomisches Kapital eine
 
soziale Kategorie darstellt, die kapitalistische Unternehmer und proletarische Lohnarbeiter auf eine spezifische,
 
die Ausbeutung der Letzteren ermöglichende Weise verbindet.
 
11 Vgl. Höhmann, Hans-Hermann: Habitus, soziales Feld, Kapital – Freimaurerei im Lichte der Soziologie
 
Pierre Bourdieus, in diesem Band, S. 115–131.
 
12 Vgl. Bourdieu, Pierre: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, a.a.O., S. 183ff.; ders.:
 
Die verborgenen Mechanismen der Macht, a.a.O., S. 52ff.
 
134
 
Allgemein werden unter Sozialkapital zwischenmenschliche Netzwerke verstanden, die
 
auf Vertrauen,13 Solidarität und gemeinsam akzeptierten Normen beruhen. Sozialkapital
 
ermöglicht und fördert gemeinsames Handeln, erhöht die Risikobereitschaft der Netzwerkmitglieder,
 
führt zu Kreativität und Innovationen, vermittelt Motivationen und gestattet es,
 
weniger Energie für die Abwendung negativer Erscheinungen wie Betrug und Korruption
 
aufzuwenden.14 Zugleich beruht Sozialkapital auf Einstellungsmustern und Verhaltensweisen,
 
die aufgezehrt und zerstört werden können, wenn sie nicht ständig durch konstruktive
 
interpersonale Beziehungen (freimaurerisch gesagt: »Mitmenschlichkeit«) erneuert, weiterentwickelt
 
und gepflegt werden.
 
Sozialkapitel gilt als wichtig für die Stabilität der Demokratie15, die Lebensfähigkeit
 
der pluralistische Gesellschaft, die Entwicklung von Kultur und Bildung, die Förderung
 
von Sport und physischer Gesundheit sowie die Gewährleistung von Glück und seelischer
 
Gesundheit. Sozialkapital dient auch der gesellschaftlichen Integration von Minderheiten:
 
Armen, Obdachlosen, Waisen, Kranken, Behinderten, Aussiedlern und Ausländern.
 
Sozialkapital hat verschiedene Erscheinungsformen, die sich unter verschiedenen Gesichtspunkten
 
gegenüberstellen lassen:16
 
Formelles Sozialkapital versus informelles Sozialkapital. Während manche Formen von
 
Sozialkapital formell organisiert sind (Familie, Kirche, Verein, Loge, Verband, Partei), d.h.
 
durch formelle Organisation, offizielle Mitgliedschaft, Mitgliedsbeiträge, Satzungen, Vorstände
 
und Funktionäre, regelmäßige Sitzungen und dergl. mehr gekennzeichnet sind,
 
haben andere Formen von Sozialkapital einen vorwiegend informellen Charakter. Beispiele
 
hierfür sind gemeinsame Wanderungen von Bekanntenkreisen, spontane sportliche
 
Betätigung in Gruppen, Teilnahme an Nachbarschaftsfesten und Protestversammlungen.
 
Beide Arten von Sozialkapital stellen zwischenmenschliche Vernetzungen dar und können
 
sich überschneiden. So sind Logen und Großlogen formelles Sozialkapital, das spontane
 
Treffen von Brüdern im Rahmen der Logen- und Großlogenorganisation hat informellen
 
Charakter.
 
Langfristiges Sozialkapital versus kurzfristiges Sozialkapital. Verwandt, aber nicht identisch
 
mit der zuvor genannten Unterscheidung ist die Gegenüberstellung von Sozialkapital,
 
das auf Dauer angelegt ist (etwa Logenzugehörigkeit, die – idealiter – vom Lebensbundprinzip
 
bestimmt wird), und Sozialkapital, das – etwa in Form von Bürgerinitiativen und
 
Notgemeinschaften – lediglich vorübergehend wirkt. Insbesondere das formelle Sozialkapital
 
nimmt gegenwärtig an Dauer ab, etwa dadurch, dass die Zugehörigkeit zu Parteien und
 
Vereinen kurzfristiger wird. Mit der Entwicklung moderner Gesellschaften hin zur Postmoderne
 
scheint die Bereitschaft der Bürger, sich mit Mitbürgern auf dauerhafte soziale
 
Beziehungen einzulassen und sich um andere zu kümmern, abzunehmen. Zwar finden sich
 
zahlreiche in diese Richtung zielende Überlegungen bereits im 19. Jahrhundert, und die
 
13 S. zu verschiedenen Aspekten von Vertrauen: Welter, Friederike: Vertrauen und Unternehmertum im
 
Ost-West-Vergleich, in: Meier, Christian/Pleines, Heiko/Schröder, Hans-Henning (Hrsg.): Ökonomie –
 
Kultur – Politik, Festschrift für Hans-Hermann Höhmann, Bremen 2003, S. 127ff.
 
14 Vgl. hierzu und zum Folgenden Zimmermann, Karsten: Sozialkapital, a.a.O., S. 1ff.
 
15 Ein Gesichtspunkt, der schon in den Überlegungen von Alexis de Tocqueville auftaucht. Vgl. de Tocqueville,
 
Alexis: De la démocratie en Amérique, 2 Bde., Paris 1835/1840 (dt.: Über die Demokratie in
 
Amerika, Stuttgart 1959).
 
16 Die Darstellung folgt weitgehend Putnam, Robert D./Goss, Kristin A.: Einleitung, in: Putnam, Robert
 
D. (Hrsg.): Gesellschaft und Gemeinsinn, a.a.O., S. 25ff.
 
135
 
Entstehung des Fachs Soziologie hat nicht wenig mit eben dieser Diagnose zu tun. Doch
 
ist gerade in jüngster Zeit eine breite Diskussion über diese Thematik entstanden. Unter
 
dem Stichwort »Schwächung des Sozialkapitals« werden in dieser, insbesondere von Robert
 
D. Putnam (»Bowling alone«)17 initiierten Debatte verschiedenartige Befunde erörtert, die
 
sich auf die zurückgehende Vereinstätigkeit, auf das schwindende politische Engagement
 
und allgemein auf den abnehmenden Gemeinsinn der Bürger in modernen Gesellschaften
 
beziehen. Putnams Buch enthält auch anschauliches Material zum starken Rückgang der
 
Mitgliedschaft in Freimaurerlogen und bruderschaftlichen Vereinigungen in den USA seit
 
Mitte der 60er Jahre.
 
Brückenbildendes Sozialkapital versus abschottendes (bindendes) Sozialkapital. Brückenbildendes
 
Sozialkapital bezieht sich auf soziale Netzwerke, die unterschiedliche (heterogene)
 
Menschen zusammenbringen. Für die Freimaurerei formulieren dies geradezu
 
klassisch die »Alten Pflichten«, wenn sie konstatieren, der Bund sei ein Mittel, »treue
 
Freundschaft unter Personen zu stiften, welche sonst in ständiger Entfernung voneinander
 
hätten bleiben müssen«18 (kursiv von H.-H. H.). Bindendes Sozialkapital hält dagegen homogene
 
Mitgliedergruppen zusammen und schottet diese gegen die soziale Umwelt oder
 
– innerhalb der Gruppe – gegen andere Teile der Gruppe ab. Logen verstehen sich ihrer
 
konzeptionellen Legitimierung nach als brückenbildendes Sozialkapital, die »Menschen,
 
Menschen, immer neue Menschen«19 einbeziehen wollen. Logen können in der Realität
 
allerdings auch ausgrenzend wirken und weisen zudem in ihrer Binnenstruktur Elemente
 
auf, die bei unzureichender Reflexion und Kommunikation geeignet sind, Trennungen und
 
Entfremdungen innerhalb der Logengruppe zu bewirken.
 
Innenorientiertes Sozialkapital versus außenorientiertes Sozialkapital. Innenorientiertes
 
Sozialkapital ist primär auf die Förderung von materiellen, sozialen und politischen Interessen
 
der Netzwerkmitglieder orientiert. Es ist damit auf die Gewährleistung von privatem
 
oder gruppenspezifischem Nutzen angelegt. Die Absicht, der Förderung des Gemeinwohls
 
zu dienen und »öffentliche« Güter anzubieten, tritt dagegen in den Hintergrund. Diese
 
aber dominiert beim außenorientierten Sozialkapital. Das Sozialkapital der Freimaurerei ist
 
der Idee nach außenorientiert. Auch die Rituale enthalten deutliche Appelle in dieser Richtung:
 
»Geht nun zurück in die Welt und bewährt Euch als Freimaurer. Wehret dem Unrecht,
 
wo es sich zeigt. Kehrt niemals der Not und dem Elend den Rücken. Seid wachsam
 
auf Euch selbst.«20 De facto bietet die Loge aber auch Gruppen- und individuelle Güter an
 
(Selbstverwirklichung, Statuserhöhung durch Ämter und Orden), die nicht immer mit der
 
postulierten Außenorientierung und deren Wertgrundlage kompatibel sind.
 
17 Putnam, Robert D.: Bowling alone, a.a.O., S. 367ff.
 
18 »But though in ancient Times Masons were charg’d in every Country to be of the Religion of that
 
Country or Nation, whatever it was, yet ’tis now thought more expedient only to oblige them to that
 
Religion in which all Men agree, leaving their particular Opinions to themselves; that is, to be good
 
Men and true, or Men of Honour and Honesty, by whatever Denominations or Persuasions they may
 
be distinguish’d; whereby Masonry becomes the Center of Union, and the Means of conciliating true
 
Friendship among Persons that must have remain’d at a perpetual Distance«, zitiert nach Lennhoff, Eugen/
 
Posner, Oskar/Binder, Dieter A.: Internationales Freimaurerlexikon, München 2000, S. 12, deutsche
 
Übersetzung, ebenda S. 19.
 
19 Formel aus dem Ritual der Loge »Ver Sacrum«, Köln.
 
20 Schlussformel der Rituale der Großloge A.F.u.A.M. von Deutschland.
 
136
 
Sozialkapital hoher Dichte versus Sozialkapital geringer Dichte. Dichtes Sozialkapital
 
wird von Putnam und Goss am Beispiel einer Gruppe von Stahlarbeitern beschrieben,
 
»die tagsüber in der Firma zusammenarbeitet, sich am Samstag zum Kegeln trifft und am
 
Sonntag die katholische Messe besucht«.21 Es besteht also aus einer vielfältigen, intensiven
 
Verbindung der Gruppenmitglieder. Sozialkapital geringer Dichte ist dagegen durch eindimensionale,
 
lockere und oft flüchtige Verbindung zwischen Menschen gekennzeichnet,
 
für deren Verhältnis ansonsten eine weitgehende soziale Distanz typisch ist. Dass sich das
 
Sozialkapital der Freimaurerei offenkundig von größerer zu geringerer Dichte entwickelt,
 
macht einen Teil ihrer Gegenwartsprobleme aus und wird später ausführlicher erörtert.
 
Unterscheiden lässt sich ferner positives Sozialkapital, das Nutzen im Sinne einer Förderung
 
von Gemeinwohl schafft, ohne Schaden für andere mit sich zu bringen, und negatives
 
Sozialkapital, das Nutzen für bestimmte Gruppen und Personen bringt, aber anderen
 
schadet, bis hin zu kriminellen Verhaltensweisen (Korruptionsnetzwerke, organisierte Kriminalität).
 
Kriminelles Sozialkapital ist in hohem Maße innenorientiert und abschottend
 
(bindend). Im Maße der Intensivierung und Professionalisierung der kriminellen Aktivitäten
 
nimmt zudem seine Dichte zu. Dies resultiert aus dem umfassenden Bestreben, innerhalb
 
einer kriminellen Vereinigung alle Tätigkeitsfelder der Mitglieder zu kontrollieren. Gesichtspunkte
 
negativen Sozialkapitals tauchen regelmäßig in Verschwörungsvorstellungen
 
auf, die sich gegen die Freimaurerei wenden.22
 
Sozialkapital in den Freimaurerlogen
 
Die mannigfaltigen Beziehungen, die zwischen Freimaurerlogen und dem Sozialkapital-
 
Konzept bestehen, wurden bereits mehrfach angesprochen. Im Folgenden soll diesen Beziehungen
 
ausführlicher und systematischer nachgegangen werden. Zwei Gesichtspunkte vor
 
allem sind bedeutsam:
 
• Erstens haben sich Freimaurerlogen im Selbstverständnis schon frühzeitig als »Agenturen
 
für Sozialkapital« verstanden.
 
• Zweitens stellen Logen enge interpersonelle Vernetzungen dar, die mit Begriffen und
 
Konzepten der Sozialkapitaltheorie analysierbar sind.
 
Beide Gesichtspunkte sind miteinander verbunden: Logen tragen in dem Maße zu dem in
 
der Gesellschaft wirksamen Sozialkapital bei, in dem ihnen zum einen die Fähigkeit zugesprochen
 
werden kann, in sich selbst (positives) Sozialkapital zu produzieren und zu steigern
 
und in dem sie zum anderen in der Gesellschaft quantitativ und qualitativ signifikant
 
vertreten sind, um mit ihrem Bestand an Sozialkapital wahrnehmbar zum Angebot an »öffentlichen
 
« Gütern beizutragen, die das Gemeinwohl fördern und dazu beitragen, das Sozialkapital
 
der Freimaurerei durch Außenbewährung erweitert zu reproduzieren.
 
Zum ersten Gesichtspunkt – Sozialkapital in den Logen – kann festgehalten werden,
 
dass sein Bestand und seine Entwicklung von mindestens drei zentralen Faktoren abhängen:
 
21 Putnam, Robert D./Goss, Kristin A.: Einleitung, in: Putnam, Robert D. (Hrsg.): Gesellschaft und Gemeinsinn,
 
a.a.O., S. 26.
 
22 Unter neueren Veröffentlichungen hierzu vgl. insbesondere die Beiträge in: Reinalter, Helmut (Hrsg.):
 
Verschwörungstheorien. Theorie, Geschichte, Wirkung, Innsbruck 2003.
 
137
 
Der erste Faktor ist die Dichte der Vernetzung innerhalb der Loge. Hierzu gehören vor allem
 
der Grad der Partizipation der Brüder an Logenveranstaltungen, das Ausmaß der zwischen
 
ihnen bestehenden Freundschaftsbeziehungen, der Grad des gegenseitigen Vertrauens sowie
 
die Fähigkeit zur Austragung und Überwindung von Konflikten. Die vielfältige Palette
 
an Bindungen der Logenmitglieder und Einbindungen des einzelnen Freimaurers wurde
 
und wird immer wieder als Hauptelement der Logengemeinschaft erlebt und beschrieben.
 
In Anbetracht der geringen Aussagekraft subjektiver Einsichten in die Logenpraxis und des
 
bisherigen Fehlens eingehender empirischer Untersuchungen für Deutschland kommt einer
 
Repräsentativerhebung größere Bedeutung zu, die Ende der 90er Jahre unter dem Titel
 
»Sinn-Dimensionen der Freimaurerei« im Rahmen der Freimaurer-Akademie der Großloge
 
von Österreich durchgeführt wurde.23 Dabei wurden in 42 Logen Befragungen durchgeführt
 
und 800 Fragebögen in die Analyse einbezogen. Es sollte u.a. ermittelt werden, in welcher
 
Abfolge »freimaurerische Sinn-Dimensionen« festzustellen sind (verstanden als der einer
 
Mitgliedschaft in der Loge beigemessene subjektive »Sinn«). Nach der Häufigkeit ihrer
 
Nennung in den Befragungen geordnet ergab sich eine Abfolge folgender Sinndimensionen:
 
Soziale Nähe; Lebenssinn; Esoterik; Selbstentfaltung und Bildung. Die an erster Stelle genannte
 
Sinndimension »Soziale Nähe« wird im Wesentlichen als »Erlebnis von Freundschaft
 
und menschlichen Beziehungen im Gespräch und anderen sozialen Kontakten zu gleichgesinnten,
 
interessanten Menschen« verstanden. Sie wurde von einer »überwältigenden Mehrheit
 
« aller Befragten als wesentlich genannt.
 
Meine durch Gespräche, Beobachtungen und Untersuchungen gestützte Hypothese
 
zur Dichte des Sozialkapitals der Logen ist allerdings, dass die gegenseitige Vernetzung der
 
Brüder gegenüber früheren Perioden (konkret bis in die 60er Jahre hinein) in vielen Fällen,
 
wenn auch keineswegs in allen, als abnehmend zu kennzeichnen ist. Es kommt gehäuft
 
zu Austritten, zu einer Zunahme der »inneren« Deckung (abnehmende Partizipation der
 
Mitglieder an Logenveranstaltungen, die im Allgemeinen zwischen 25–40 Prozent liegen
 
dürfte), zu rückläufigen Kontakten der Brüder außerhalb der Logenveranstaltungen, zu
 
abnehmenden Freundschaftsbeziehungen zwischen den Mitgliedern. War man früher oft
 
erst Freund (Verwandter, Bekannter, Berufskollege) und dann Bruder, so hat sich – u.a.
 
auch aufgrund eines veränderten Rekrutierungsmusters24 – die Reihenfolge verändert: Heute
 
werden durch Initiation von Suchenden, mit denen man oft wenig vertraut ist, weil sie in
 
der Regel über »Schleppnetze« (öffentliche Veranstaltungen, Internet) zur Loge gekommen
 
sind, zuerst »rituelle« Brüder gewonnen, die dann – manchmal! – zu Freunden werden. Zu
 
geringe Umsetzung deklarierter freimaurerischer Werte in den Stil des Umgangs miteinander
 
führen nicht selten zu Konflikten. Diese Konflikte haben unterschiedliche Ursachen.
 
Teils sind sie in persönlicher Spannungen begründet, etwa in Auseinandersetzungen um
 
die Besetzung von Ämtern, teils sind sie auf Unstimmigkeiten zwischen Teilgruppen innerhalb
 
der Logengemeinschaft zurückzuführen, wobei Mitgliedschaft bzw. Nichtmitgliedschaft
 
in bruderschaftlichen Vereinigungen (»Hochgradsystemen«) eine auslösende bzw.
 
verstärkende Rolle spielen kann, teils handelt es sich um Zielkonflikte, die mit bestimmten
 
23 Gehmacher, Ernst/Russ, Kurt: Sinn-Dimensionen der Freimaurerei. Eine Studie zur Katalysator-Wirkung
 
der Freimaurerei in Österreich, Wien 1999, hier vor allem S. 5ff.
 
24 Vgl. Höhmann, Hans-Hermann: Freimaurerei und gesellschaftliche Gegenwart: Umfeld, Identität, Perspektiven,
 
in: Berger, Joachim/Grün, Klaus-Jürgen (Hrsg.): Geheime Gesellschaft. Weimar und die deutsche
 
Freimaurerei, München/Wien 2002, S. 343–350, hier S. 345.
 
138
 
Logenaktivitäten, z.B. dem Erwerb oder Umbau eines Logenhauses zusammenhängen. Die
 
genannten Konfliktkonstellationen können sich mischen und überlagern und lassen zudem
 
Einflüsse erkennen, die von logenübergeordneten Disputen, etwa von Reform- und
 
Regularitätsfragen, ausgehen, welche zu Stellungnahmen und Verfügungen übergeordneter
 
freimaurerischer Körperschaften (Distrikts-, Provinzial- und Großlogen) führen, die wiederum
 
innerhalb der Logen auf Widersprüche stoßen und Konflikte auslösen können. Die
 
genannten Konflikte sind keineswegs neu: Sie haben vielmehr die Freimaurerei seit ihrer
 
Gründung begleitet und sind letztlich auch darauf zurückzuführen, dass Freimaurerei sich
 
in ihrer gesamten Geschichte als Raum repräsentierte, »in dem vieles möglich war«25, der
 
folglich institutionell, konzeptionell und rituell unterschiedlich ausgefüllt wurde, was dazu
 
führte, dass es nie die eine Freimaurerei, sondern immer viele Freimaurereien gab, um deren
 
Gestaltung von zahlreichen Gruppierungen und Personen mit sehr verschiedenen persönlichen
 
Auffassungen gerungen wurde.
 
Der zweite Faktor hängt mit dem Verhältnis von Brückenbildung und Abschottung
 
im Inneren und nach außen sowie mit den relativen Anteilen von außen- und innenorientiertem
 
Sozialkapital in den Logen zusammen. Positiv zu werten wären hier vor allem
 
das Ausmaß der Offenheit für »neue Menschen«, der Grad der Aufmerksamkeit für Angelegenheiten
 
des Gemeinwesens (das Vorhandensein der »Dimension Gemeinsinn« in
 
der Freimaurerei) sowie das gesellschaftliche Aktivitätsniveau von Logen und einzelnen
 
Freimaurern. Meine beobachtungsgestützte Hypothese deutet auch hier auf Stärken, aber
 
auch auf Schwachstellen hin: zu geringe Neugier auf »neue Menschen« (Beispiel: das nicht
 
selten festzustellende menschliche Desinteresse der Brüder an Besuchern auf Gästeabenden,
 
zu dem die gelegentliche Überhäufung mit Informationen und Aufnahmeangeboten nur
 
scheinbar kontrastiert), Fehlen eines bewährten Konzepts für Öffnung zur Gesellschaft,
 
Probleme mit der Balance zwischen Esoterik und Exoterik. Andererseits bemühen sich die
 
Logen um Öffnung. Soziales Handeln innerhalb der Kommunen in verschiedenen Formen
 
findet ebenso statt wie regionales und überregionales karikatives Engagement. Auch ist
 
die Beschäftigung mit politischen und gesellschaftlichen Fragen bei bewusster Vermeidung
 
partei- und verbandspolitischer Positionen immer mehr zum Gegenstand von Reflexionen
 
in den Logen geworden.
 
Eine im Rahmen des Bielefelder Forschungsprojekts26 für die Jahre 1991–2003 vorgenommene
 
Auswertung27 von rd. 2000 monatlichen Veranstaltungsplänen (»Arbeitskalendern
 
«) von ca. 60 Logen aus den Regionen Niedersachsen, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern,
 
Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen ergab für »öffentliche« Veranstaltungen
 
(d.h. für Veranstaltungen mit meist geladenen Gästen, die nicht dem Freimaurerbund angehören)
 
einen Anteil von 15–20 Prozent an der Zahl aller Veranstaltungen. Dieser – für
 
Außenstehende gering erscheinende – Anteil ist darauf zurückzuführen, dass wesensgemäß
 
auf Veranstaltungen mit freimaurerischem Brauchtum (Tempelarbeiten) und Treffen im
 
Mitgliederkreis ohne Gäste ein hoher Anteil der Logenveranstaltungen entfällt. Die in
 
geschlossenen und offenen Logenveranstaltungen behandelten Themen (etwa 900 Themen
 
25 Neugebauer-Wölk, Monika: Einführung zu Maurice, Florian: Freimaurerei um 1800. Ignaz Aurelius Feßler
 
und die Reform der Großloge Royal York in Berlin, Tübingen 1997, S. XVIII.
 
26 Forschungsprojekt »Deutsche Freimaurerei der Gegenwart« an der soziologischen Fakultät der Universität
 
Bielefeld (2000–2005), Leitung: Prof. Dr. Jörg Bergmann, Prof. Dr. Hans-Hermann Höhmann.
 
27 Bearbeiterinnen Susanne Baginski und Lisa Hürter.
 
139
 
von Vorträgen und »Zeichnungen« wurden erfasst) sind auf sogenannte »freimaurerische
 
Themen« konzentriert, d.h. auf Themen, die Geschichte, Symbole und Rituale bzw. Einzelaspekte
 
davon zum Gegenstand haben. Im Sinne der oben angesprochenen zunehmenden
 
Beschäftigung mit politischen und gesellschaftlichen Fragen ist jedoch bemerkenswert,
 
dass auf Themen, die in einem weiteren Sinne politisch, gesellschaftspolitisch und kulturpolitisch
 
orientiert waren, ein Anteil von zwischen 20 und 25 Prozent entfällt und dass
 
Themen mit politischer Aktualität im engeren Sinne unter allen behandelten Themen
 
immerhin mit einem Anteil von 5–12,5 Prozent vertreten sind.
 
Der dritte Faktor betrifft das Verhältnis von Sozialkapital zu anderen Ressourcen (Formen
 
von Kapital) der Loge. Hierbei spielen das finanzielle Kapital (Vermögen, Beitragsaufkommen,
 
Logenhaus, Stiftungen), das kulturelle Kapital (Tradition, Ansehen, kulturelle
 
und künstlerische Fähigkeiten) sowie das Humankapital (Bestand an »Persönlichkeiten«,
 
Mitgliederrekrutierung aus Eliten) eine besondere Rolle. In der Vergangenheit (sowohl
 
in der sich transformierenden Ständegesellschaft des 18. und frühen 19. Jahrhunderts als
 
auch in der klassischen »bürgerlichen« Gesellschaft der 2. Hälfte des 19. und der 1. Hälfte
 
des 20. Jahrhunderts) ließen sich jeweils recht hohe Kapitalbestände beobachten. Heute
 
herrscht dagegen in der deutschen Freimaurerei »Kapitalmangel« auch in Bezug auf alle
 
anderen Kapitale neben dem Sozialkapital: geringe materielle Ressourcen, Probleme mit
 
dem Bestand an Logenhäusern, Defizite beim kulturellen Kapital (wenn es hier auch einen
 
beträchtlichen Fundus an Tradition und Ansehen gibt, der durch »externe Ressourcen« vermehrt
 
werden könnte), Mangel an »charismatischen« Persönlichkeiten. Kulturelles Kapital
 
ging nicht zuletzt auch dadurch verloren, dass die dem traditionellen Bildungsbürgertum
 
vergleichbaren sozialen Gruppen der heutigen Gesellschaft nicht mehr in früherer Größenordnung
 
in der Freimaurerei vertreten sind.
 
So kann man sich dem Fazit wohl kaum verschließen, dass das Sozialkapital innerhalb
 
der Logen (wie auch die anderen genannten Ressourcen) im historischen Vergleich
 
zurückgegangen ist. Andererseits: Die Sozialform Loge mit ihrem permanenten Angebot
 
an menschlich kommunikativer Geselligkeit, die Ideenwelt der Freimaurerei mit der für sie
 
kennzeichnenden Betonung humanitärer Werte sowie die rituelle Praxis mit der durch sie
 
vermittelten spirituellen Erfahrung und ständigen Einübung in mitmenschliche Verhaltensstile
 
machen die Loge zumindest potenziell zu einem gewichtigen Träger von sozialem
 
Kapital auch in der gegenwärtigen Gesellschaft.
 
Freimaurerei in der deutschen Gesellschaft
 
Als zweite Voraussetzung, für einen positiven Beitrag der Freimaurerei zu dem in der Gesellschaft
 
wirksamen Sozialkapital beizutragen, war die Fähigkeit der Logen genannt worden, in
 
der Gesellschaft quantitativ und qualitativ signifikant vertreten zu sein, um das Angebot an
 
»öffentlichen« Gütern, die für die Förderung des Gemeinwohls geeignet sind, mit ihrem Bestand
 
an Sozialkapital wahrnehmbar zu vergrößern.
 
Hier ist gleichfalls aus verschiedenen Gründen Skepsis angebracht, doch es ist zunächst
 
zu betonen, dass die Lage der Freimaurerei in Deutschland auch durch eine
 
Reihe positiver Grundzüge gekennzeichnet ist, die auf absehbare Zeit eine solide Entwicklungsbasis
 
repräsentieren: Die Freimaurerei, vertreten vor allem durch die Sozial140
 
form Loge, ist offenbar stabil, die Logen leben und arbeiten, wenn auch gewiss mit
 
unterschiedlicher Intensität und Ausstrahlung. Die lokale Beachtung des Bundes ist
 
beachtlich: Wohlmeinende Worte der Oberbürgermeister und positive Erwähnungen
 
in der örtlichen Presse sind eher Regel als Ausnahme, und auch das generelle, regional
 
übergreifende Beurteilungsklima ist nicht ungünstig, wie nicht zuletzt die großen Freimaurerausstellungen
 
(u.a. in Weimar, Jena und Bremen) nachdrücklich gezeigt haben.28
 
Die Forschung an Universitäten und Instituten hat die Freimaurerei entdeckt: Die Zahl
 
der Habilitationen, Dissertationen und Magisterarbeiten zu freimaurerischen oder zumindest
 
freimaurerrelevanten Themen steigt, es bilden sich Brücken zwischen externuniversitärer
 
und intern-freimaurerischer Forschung, die dem Ansehen der Bruderschaft
 
zugutekommen.29 Die deutschen Großlogen repräsentieren aufs Ganze gesehen funktionsgemäß.
 
Vor allem aber lieben viele Mitglieder den Bund, hängen an ihm und setzen
 
sich für ihn ein. All das macht deutlich, dass die deutsche Freimaurerei in ihrer schlichten
 
Lebensfähigkeit nicht bedroht ist und auf absehbare Zeit ein tragfähiges personelles
 
und finanzielles Fundament besitzt.
 
Dennoch ist, wie zuvor erwähnt, Skepsis angebracht, vor allem unter den folgenden fünf
 
Gesichtspunkten:
 
• Stagnierende Zahl der Freimaurer,
 
• problematische Logengründungen,
 
• ungünstige Altersstruktur,
 
• Teilverlust gewünschter Zielgruppen, und
 
• Entwicklungsprobleme in den östlichen Bundesländern
 
Erstens: Die Zahl der Freimaurer in Deutschland stagniert, vermutlich ist sie aufs Ganze
 
gesehen sogar eher rückläufig, wobei sich deutliche regionale Aktivitätsunterschiede zeigen.
 
30 Nach den Angaben über die Mitgliedszahlen der Logen in den »Jahrbüchern der Vereinigten
 
Großlogen von Deutschland« (VGLvD), die allerdings nur als annähernd genau
 
gelten können, nahm die Gesamtzahl der Mitglieder der drei in den VGLvD zusammengefassten
 
deutschen Großlogen zwischen 1960 und 2008 von knapp 18.000 auf ca. 13.000,
 
d.h. um ca. 27 Prozent ab. Dabei verlor die Großloge A.F.u.A.M. von Deutschland (2008
 
ca. 8930 Mitglieder) ca. 16,5 Prozent, die Große Landesloge der Freimaurer von Deutschland
 
(2008 ca. 3120 Mitglieder) ca. 30 Prozent und die Große National-Mutterloge »Zu den
 
drei Weltkugeln« (2008 ca. 750 Mitglieder) ca. 37,5 Prozent ihres Mitgliederbestandes. Die
 
GL A.F.u.A.M. weist allerdings seit 2005 wieder zunehmende Mitgliederzahlen aus. Unterschiedlich
 
verlief die Entwicklung auch in den einzelnen Städten. Unter den fünf großen
 
städtischen Zentren der deutschen Freimaurerei mit einem Mitgliederbestand von jeweils
 
über 400 Maurern im Jahre 2008 (und einem Anteil am gesamten deutschen Mitgliederbe-
 
28 Geheime Gesellschaft. Weimar und die deutsche Freimaurerei, Ausstellung der Stiftung Weimarer Klassik,
 
21. Juni bis 31. Dezember 2002, Schiller-Museum; Logenbrüder, Alchemisten und Studenten. Jena
 
und seine geheimen Gesellschaften im 18. Jahrhundert, Stadtmuseum Jena, 2002; Licht ins Dunkel. Die
 
Freimaurer und Bremen, 2. Juli bis 29 Oktober 2006, Focke-Museum.
 
29 Vgl. hierzu Höhmann, Hans-Hermann: Entwicklung, Reflexion, Wissenschaft, a.a.O., S. 229–239.
 
30 Statistische Angaben nach Datenbank des Forschungsprojekts »Deutsche Freimaurerei der Gegenwart«,
 
Bearbeiterinnen Susanne Baginski, Lisa Hürter und Maja Kandzorra.
 
141
 
stand von knapp 30 Prozent) hatten Hamburg ca. 52 Prozent, Berlin ca. 40 Prozent und
 
Hannover ca. 25 Prozent ihrer Mitglieder seit 1960 verloren. In Bremen ist die Mitgliederzahl
 
im gleichen Zeitraum nur um etwa elf Prozent gesunken. Dagegen zählten die Logen
 
in München im Jahre 2008 ca. 48 Prozent mehr Freimaurer als 1960. Allerdings verlief die
 
Entwicklung zwischen 1960 und 2000 auch für die expandierenden Logen nicht gleichförmig.
 
Teilweise verfügten sie zwar im Vergleich mit 1960 im Jahre 2008 einen höheren Mitgliederbestand,
 
hatten jedoch zuletzt gegenüber höheren Beständen in der Zwischenzeit
 
wieder an Mitgliedern verloren. Die Mitgliederzahlen sind nicht nur kennzeichnend für die
 
Lage der Freimaurerei in Deutschland, sie charakterisieren auch die Situation der einzelnen
 
Logen. Gliedert man die Logen in die fünf Kategorien sehr groß (über 100 Mitglieder), groß
 
(51–100 Mitglieder), mittelgroß (31–50 Mitglieder), klein (21–30 Mitglieder) und sehr klein
 
(über 1–20 Mitglieder), so ergibt sich für die fünf großen städtischen Zentren der deutschen
 
Freimaurerei folgende Verteilung:
 
Berlin, 38 Logen, davon sehr groß 0, groß 3, mittelgroß 5, klein 18, sehr klein 12;
 
Hamburg, 34 Logen, davon sehr groß 1, groß 5, mittelgroß 12, klein 9, sehr klein 7;
 
Hannover, 8 Logen, davon sehr groß 1, groß 3, mittelgroß 4, klein 0, sehr klein 0;
 
Bremen, 7 Logen, davon sehr groß 1, groß 3, mittelgroß 3, klein 0, sehr klein 0;
 
München, 9 Logen, davon sehr groß 1, groß 3, mittelgroß 2, klein 2, sehr klein 1.
 
Geht man davon aus, dass für eine sichere Zukunftsentwicklung mindestens der Status »mittelgroße
 
Loge« erreicht werden sollte, so sind Lage und Perspektiven der Freimaurerei in Berlin
 
(Anteil kleiner und sehr kleiner Logen = 79 Prozent) und Hamburg (Anteil kleiner und
 
sehr kleiner Logen = 47 Prozent als nicht günstig einzuschätzen, während die Logenstruktur
 
in Hannover und Bremen als stabil und dynamisch bezeichnet werden kann. Freilich unterscheiden
 
sich die Entwicklungsperspektiven einzelner Logen nicht unbeträchtlich voneinander,
 
und auch in Regionalbereichen mit ungünstiger Gesamtperspektive sind große und
 
dynamische Logen anzutreffen, denen es allerdings schwerfällt, ungünstige Tendenzen in ihren
 
Umfeldern zu kompensieren. Mehr als 100 Mitglieder haben innerhalb der deutschen
 
VGLvD-
 
Großlogen gegenwärtig neun Logen, sieben davon gehören zur GL A.F.u.A.M., zwei
 
zur GL FvD.
 
Die Gründe für den fallenden Gesamttrend wurden schon im Zusammenhang mit
 
der auch im internationalen Vergleich weithin zu konstatierenden abnehmenden Bereitschaft
 
zum formellen Engagement in Assoziationen aller Art, darunter auch in Logen
 
und anderen ethisch orientierten Vereinigungen, erörtert. Interessant sind darüber hinaus
 
die beträchtlichen örtlichen Unterschiede. Sie erklären sich einmal aus der Stärke der
 
Freimaurer in der Zeit vor dem Einsetzen der Abnahmetendenzen: je stärker die Freimaurerei
 
war (Hamburg, Berlin), desto stärker ist sie von Rückgang betroffen. Je mehr
 
sie gleichsam »historischen Nachholbedarf« hatte (München), desto besser konnte sie
 
sich stabilisieren. Dazu kommen als Erklärungsfaktoren Aktivität und Ausstrahlung der
 
Logen, insbesondere Aktivität und Charisma der leitenden Meister. Logen unterscheiden
 
sich nicht nur nach Sinn- und Aktivitätsmustern sowie nach Mitgliederprofilen, sondern
 
auch nach Dynamik und Erfolg ihrer Arbeit. Aktiven Logen mit deutlich wahrnehmbarer
 
sozialer und kultureller Ausstrahlung, wachsenden Mitgliederzahlen und einem beträchtlichen
 
Maß von sozialer Anerkennung im öffentlichen Umfeld (insbesondere seitens der
 
142
 
kommunalen Öffentlichkeit) stehen Logen gegenüber, deren Mitgliederbestand rückläufig
 
und in besonderem Maße überaltert ist und in denen die Partizipation an Logenveranstaltungen
 
überdurchschnittlich gering ausfällt. Die Beispiele Bad Reichenhall, Bad Pyrmont
 
und Hameln mit einer gemessen an der Bevölkerungszahl günstigen Mitgliederentwicklung
 
lassen vermuten, dass die Freimaurerei gerade in kleinen und mittleren Städten gute
 
Entwicklungschancen besitzt, sofern es den Logen gelingt, die öffentliche Meinung der
 
Kommunen durch Leistung und persönliches Ansehen von Logenmitgliedern nachhaltig
 
für sich einzunehmen. Dann funktionieren auch die alten Rekrutierungsmuster wieder:
 
Freunde, Verwandte und Berufskollegen werden häufiger in die Loge eingeladen und nicht
 
selten auch zu neuen Mitgliedern.
 
Die folgenden Grafiken (S. 143–145) sollen die Mitgliederbewegung deutscher Großlogen
 
und Logen für die Periode 1960–2008 sowie die Entwicklung der Zahl der Logen im
 
gleichen Zeitraum veranschaulichen. Für die Gesamtheit der Mitglieder der drei deutschen
 
VGLvD-Großlogen (Summe I, II, III) und die Mitgliederzahlen der einzelnen Großlogen
 
(GL A.F.u.A.M. v.D, GLL FvD, GNML 3WK) ist zu berücksichtigen, dass der in den
 
Schaubildern aufgezeigte Aufschwung nach 1990 vor allem auf die Zunahme von Doppelmitgliedschaften,
 
die im Zuge des Wieder- bzw. Neugründungsprozesses in den neuen
 
Bundesländern eingegangen wurden, zurückzuführen ist und keine Zunahme der Zahl der
 
Freimaurer in Deutschland beinhaltet. Die sich daran anschließenden Schaubilder mit den
 
Daten der Logen im Westen (alte Bundesländer) sind dagegen kaum durch Doppelzählungen
 
verzerrt.
 
143
 
Schaubilder zur Entwicklung der deutschen Freimaurerei
 
1960–200831
 
31 Vgl. Anmerkung 30.
 
144
 
145
 
146
 
Um die Ergebnisse der quantitativen Untersuchungen national, international und zeitlich
 
vergleichbarer zu machen, empfiehlt es sich, für die Freimaurerei nationale und regionale
 
»Membership Rates« zu ermitteln. Dies Verfahren wählt Robert D. Putnam in seinem schon
 
verschiedentlich in diesem Beitrag zitierten und für die Sozialkapitalforschung maßgeblich
 
gewordenen Buch »Bowling alone. The Collapse and Revival of American Community«.
 
Putnam untersucht die soziale Einbindung und kommunikative Vernetzung der amerikanischen
 
Bevölkerung und weist dabei u.a. nach, dass die formelle Mitgliedschaft in gesellschaftlichen
 
Organisationen im Verlauf der letzten 30–40 Jahre beträchtlich zurückgegangen
 
ist. Dies gilt auch für die Mitgliedschaft in Logen, anderen freimaurerischen Gruppierungen
 
(Shriners) sowie sonstigen ethisch orientierten Assoziationen wie Lyons, Rotary und
 
Kiwanis. Putnam veranschaulicht diesen Trend an der Entwicklung der zuvor erwähnten
 
»Membership Rates« (im Falle der genannten Vereinigungen Zahl der Mitglieder je 1000
 
Männer über 20 Jahre). Nach seinen Ermittlungen sank die »Membership Rate« der Freimaurerlogen
 
in den USA von ca. 80 im Jahre 1960 auf ca. 20 im Jahre 2000.32 Bis 2008 ist die
 
Rate weiter abgesunken und liegt nur noch bei 13,4.
 
Wendet man das Membership-Rate-Konzept auf Deutschland an, so ergibt sich aufgrund
 
der Einwohnerstatistik und der Daten des Bielefelder Forschungsprojekts für das
 
Jahr 2008 eine Membership Rate von ca. 0,4 für die deutsche Freimaurerei insgesamt. Für
 
die erfassten großen Städte ergeben sich – in abnehmender Reihenfolge – folgende (ungefähre
 
und vorläufige!) Raten: Bremen = 2,6; Hannover = 2,6; Hamburg = 2,0; Frankfurt
 
= 1,2; München = 0,9; Berlin = 0,7. Wesentlich höher sind die Raten in einigen kleineren
 
Städten, wo nur eine Loge die Freimaurerei vertritt und es offenbar vermocht hat, den
 
Bund im gesellschaftlichen und kulturellen Milieu der Stadt zu verwurzeln. Als Beispiele
 
können folgende Städte mit für deutsche Verhältnisse hohen »Membership Rates« genannt
 
werden: Bad Reichenhall (9,6), Bad Pyrmont (7,9) und Hameln (4,3).
 
Zweitens: Gegenüber der Gesamtzahl der Mitglieder nimmt die Zahl der Logen zu. Gab es
 
1960 322 »deutsche« Logen in den VGLvD, so war ihre Zahl bis 2008 auf 406 angestiegen
 
(+
 
26 Prozent). Diese Entwicklung ist zwar zum größten Teil auf Wieder- und Neugründungen
 
von Logen in den östlichen Bundesländern zurückzuführen. So wurden zwischen
 
1990 und 2002 knapp 60 Logen installiert, von denen 50 Wiedereinsetzungen und neun
 
Neugründungen waren. Das VGLvD-Jahrbuch gibt für das Jahr 2008 einen Mitgliederbestand
 
von ca. 1300 an (ca. zehn Prozent der Gesamtzahl deutscher Freimaurer).33 Davon
 
dürfte etwa ein Viertel Doppelmitglieder mit Logenmitgliedschaft in den »alten« Bundesländern
 
sein, so dass die Zahl »echter« Mitglieder in den »neuen« Bundesländern knapp unter
 
1000 liegen dürfte (zu diesen gehören sowohl aus den östlichen Bundesländern stammende
 
und dort wohnende als auch nach dort aus den alten Bundesländern verzogene Mitglieder).
 
Für die deutschen VGLvD-Großlogen ergibt sich folgende Verteilung:
 
• GL A.F.u.A.M. v.D.: insgesamt 25 Logen, wiedergegründet 18 Logen, neugegründet sieben
 
Logen, Gesamtmitgliederzahl 680;
 
32 Putnam, Robert D.: Bowling alone, a.a.O., S. 438ff.
 
33 Während die Zahl der Logen genau zu ermitteln ist und die Zahl der Mitglieder insgesamt relativ zuverlässig
 
sein dürfte, musste die Zahl der »echten« Mitglieder in den neuen Bundesländern aufgrund von
 
Einzelangaben geschätzt werden und ist vermutlich mehr oder weniger korrekturbedürftig.
 
147
 
• GLL FvD: insgesamt 21 Logen, wiedergegründet 21 Logen, neugegründet 0 Logen, Gesamtmitgliederzahl
 
420;
 
• GNML 3WK: insgesamt 13 Logen, wiedergegründet 13 Logen, neugegründet 0 Logen,
 
Gesamtmitgliederzahl 230.
 
Der oben erwähnte Trend zur Zunahme der Zahl der Logen setzte jedoch im Westen
 
Deutschlands schon früher ein als 1990/91, war auch in den »alten« Bundesländern nur teilweise
 
mit einem Wachstum der Mitgliederzahlen verbunden und lässt als Ursachen nicht
 
nur Pioniergeist, sondern auch innere Spannungen, Spaltungen und persönliche Ambitionen
 
erkennen.
 
Drittens: Die Altersstruktur ist ungünstig, das Durchschnittsalter der Mitglieder liegt bei
 
knapp 60 Jahren, es hat sich seit Ende der 1970er Jahre um etwa fünf Jahre erhöht.34 Ob die
 
zuletzt zumindest bei der GL A.F.u.A.M. spürbare Tendenz einer leichten Absenkung des
 
Durchschnittsalters den bisher dominierenden Überalterungstrend bricht, bleibt abzuwarten.
 
Nun lag das Durchschnittsalter der Logenmitglieder – mit der möglichen Ausnahme der
 
ersten Jahrzehnte der Logengeschichte im 18. Jahrhundert – aufgrund der Anforderungen,
 
die im Hinblick auf persönliche Reife und bürgerliche Etablierung der »freien Männer von
 
gutem Ruf« an die Beitrittskandidaten gestellt wurden, in der Regel über dem Durchschnitt
 
»bürgerlicher« Vereine. Das hohe Durchschnittsalter als solches ist auch noch nicht bedrohlich
 
für den Bestand der Freimaurerei, schließlich gibt es »junge Alte« und der »Dialog zwischen
 
den Generationen« mag für jüngere Mitglieder sogar verlockend sein. Außerdem darf
 
nicht vergessen werden, dass zunehmende Veralterung ein generelles Kennzeichen der deutschen
 
Gesellschaft ist. Der Anteil der über 60-Jährigen an der deutschen Bevölkerung hat
 
sich von 17,4 Prozent (1960) auf 26,2 Prozent (2010) erhöht und soll bis 2050 auf 38,9 Prozent
 
ansteigen.35 Zusammengenommen mit der steigenden Tendenz stellt die gegenwärtige
 
Altersstruktur der Logen jedoch keine Normalität dar, an die sich die Freimaurerei gewöhnen
 
könnte, insbesondere, wenn die Perspektiven der kommenden zehn oder 20 Jahre in Betracht
 
gezogen werden.
 
Viertens: Berufliche Geltung, Bildung und durchschnittliches Einkommen der Mitglieder haben
 
(wiederum mit deutlichen Unterschieden) tendenziell abgenommen, was nicht zuletzt
 
im Zusammenhang mit einer Entwicklung zu sehen ist, auf die bereits im Zusammenhang
 
mit dem Aspekt Dichte des Sozialkapitals innerhalb der Loge hingewiesen wurde: die veränderten
 
Formen der Mitgliedergewinnung. Das traditionelle Rekrutierungsschema der Freimaurerei,
 
das neue Logenmitglieder aus bereits vorhandenen gesellschaftlichen Vernetzungen
 
(Verwandtschaft, Freundeskreis, Berufskollegenschaft) gewann und das noch beim Wiederaufbau
 
der deutschen Logen in der Aufbauzeit nach dem Zweiten Weltkrieg brauchbar gewesen
 
war, hat seine Leistungsfähigkeit weitgehend verloren. Heute sehen sich die Logen vor
 
die Notwendigkeit einer Rekrutierung von Suchenden am (gleichsam) »freien Markt« gestellt,
 
etwa durch Artikel, öffentliche Vorträge und Annoncen in Zeitungen mit Einladungen zu
 
Gästeabenden, durch moderne PR-Maßnahmen insgesamt, deren Legitimität allerdings bis
 
34 Datenbank des Forschungsprojekts »Deutsche Freimaurerei der Gegenwart«.
 
35 Angaben nach bpb: 2008 Bundeszentrale für Politische Bildung, nach: Statistisches Bundesamt, Bevölkerung
 
Deutschlands bis 2050.
 
148
 
heute in der deutschen Bruderschaft umstritten ist. Folge der veränderten Rekrutierungsstrategie
 
war eine zunehmend zufällige Kandidatenauslese, was gelegentlich nicht ohne negative
 
Auswirkungen auf die Substanz der Logengruppe blieb, andererseits aber auch eine Mitgliedermischung
 
mit sich brachte, die mehr als je zuvor dem Ideal einer schichtenübergreifenden
 
sozialen Aufgeschlossenheit entsprach. Diese soziale Öffnung der Logen – wiewohl im Einklang
 
mit dem traditionellen freimaurerischen Wertekanon einer Orientierung auf den »bloßen
 
« Menschen – verändert ihren Platz in der »Bürgergesellschaft«, nicht zuletzt im Vergleich
 
mit anderen »ethisch orientierten Vereinigungen« wie Rotary und Lions.
 
Fünftens: Die Entwicklung in den aus der DDR hervorgegangenen östlichen Bundesländern36
 
zeigt, dass es trotz beachtlicher Aufbauerfolge und anhaltend guter Entwicklung eines Teils
 
der Logen bei mehr als der Hälfte der Logen inzwischen zu beträchtlichen Konsolidierungsschwierigkeiten
 
gekommen ist. So haben mehr als 40 Prozent der Logen in Mittel- und Ostdeutschland
 
eine Mitgliederzahl von unter 20, gehören somit zu den sehr kleinen Logen, so
 
dass Arbeitsfähigkeit und Bestand gefährdet sind. Einerseits wirken sich Gesellschaftsumbruch
 
sowie Wirtschaftslage auf dem Hintergrund ganz bestimmter kollektiver und individueller Erfahrungen
 
negativ aus – nicht nur auf die Entwicklung der Logen. Andererseits zeigen sich die
 
gravierenden Folgen einer 55 Jahre andauernden Unterbrechung freimaurerischer Aktivitäten.
 
Diesen Kontinuitäts- bzw. Traditionsbruch von fast zwei Generationen hatte es nach dem
 
Zweiten Weltkrieg in Westdeutschland nicht gegeben. Zwar mussten auch hier die ehemaligen
 
Mitglieder wieder gesammelt, die spätestens 1935 aufgelösten Logen neu gegründet und leistungsfähige
 
Großlogenordnungen geschaffen werden. Doch der Elan der Brüder Freimaurer,
 
die Verbot und Krieg überlebt hatten, war beträchtlich. Die Freude darüber, zur alten Gemeinschaft
 
zurückkehren zu können, führte zu einer großen Beteiligung einstiger Mitglieder an den
 
Neubegründungen, und der Schwung des Aufbruchs bewirkte – auch über zahlreiche Neuaufnahmen
 
– ein beträchtliches Wachstum der Logen. In der sowjetisch besetzten Zone und später
 
in der DDR war trotz einiger früher Versuche ein Wiederaufbau der Logen nicht möglich.
 
Die Neuerrichtung der Freimaurerei konnte erst im Zuge der deutsch-deutschen Vereinigung
 
ab 1990 erfolgen. Die anfängliche Gründungsdynamik beruhte auf dem Enthusiasmus der »Pioniere
 
«, die von Westdeutschland aus, begünstigt durch persönliche Beziehungen, berufliche
 
Verbindungen, Städtepartnerschaften und traditionelle Großlogenstrukturen, alte Logen belebten,
 
neue gründeten und bald auch die ersten
 
»Suchenden« in den neuen Bundesländern
 
aufnehmen konnten. Inzwischen ist die Zahl der mittel- und ostdeutschen Logen wie die Zahl
 
der dortigen Freimaurerei, wie oben schon gezeigt, weiter angewachsen. Der Aufbau gestaltet
 
sich aber auch deshalb schwierig, weil die ostdeutschen Logen und ihre Brüder sowohl innerhalb
 
des Bundes als auch in der umgebenden »profanen« Gesellschaft einer tragenden Einbindung
 
in soziale, kulturelle und persönliche Kontinuitäten oft entbehren müssen. Dies spiegelt
 
sich u.a. auch darin, dass zu Beginn des neuen Jahrhunderts noch viele Logenleiter ihren
 
Wohnsitz in den alten Logenländern hatten: bei der GL A.F.u.A.M. drei von 23, bei der GL
 
FvD zehn von 20 und bei der GNML 3WK sieben von 15. Für die GL A.F.u.A.M. bedeutete
 
dies andererseits bereits relativ früh eine weitgehende Selbstleitung der Logen in den östlichen
 
Bundesländern.
 
36 Vgl. Templin, Rüdiger: 10 Jahre Freimaurerei im Osten Deutschlands, in: Humanität. Das deutsche Freimaurermagazin,
 
Nr. 3, 2003, S. 10–13.
 
149
 
Zu den Ursachen der negativen Phänomene
 
Fragt man nach den Ursachen dieser für die Freimaurerei negativen Phänomene, so sinddiese
 
sowohl außerhalb als auch innerhalb des Bundes zu suchen.
 
Schwierigkeiten von außen – aus der Struktur der Gesellschaft heraus – kommen deshalb
 
auf die Freimaurerei zu, weil sich die Strukturen und Tendenzen der heutigen modernen –
 
in der Regel als »postmodern« gekennzeichneten – Gesellschaft offenbar ungünstig auf die
 
Freimaurerei auswirken.
 
Um dies zu verdeutlichen, soll noch einmal pointierend auf vier für die Entwicklung der
 
Freimaurerei besonders relevante Grundgegebenheiten der gegenwärtigen Moderne bzw.
 
Postmoderne verwiesen (eine gemeinsam mit Jörg Bergmann verfasste Studie dazu ist im
 
Jahrbuch 2003 der Forschungsloge »Quatuor Coronati« erschienen)37 und ihre Auswirkungen
 
auf die Entwicklung unseres Bundes in Stichworten umrissen werden:
 
1. Postmoderne bedeutet Veränderungen von Glaubenssystemen, Wertorientierungen und
 
Lebensstilen im Sinne einer immer heterogener, unverbindlicher und flüchtiger werdenden
 
»Multioptionsgesellschaft« (P. Gross)38. An die Stelle überkommener Verhaltensbindungen
 
trat für die Menschen mehr und mehr die Möglichkeit der Wahl. Zudem sind
 
moralische Haltungen und ethische Begründungen in der gegenwärtigen Gesellschaft erheblich
 
in Misskredit geraten. Freimaurerei ist aber auf Stabilität von sozialer Bindung,
 
anhaltende Verbindlichkeit ethischer Überzeugung und andauernde spirituelle Erfahrung
 
in der »rituellen Wiederkehr des Gleichen« angelegt.
 
2. Postmoderne bedeutet Veränderung von Wahrnehmungen und Interessen im Sinne einer
 
»Erlebnisgesellschaft« (G. Schulze)39, die sich auf unterhaltsame Events und wechselnde
 
Oberflächenreize orientiert. Auch hiermit sind grundlegende »Essentials« der Freimaurerei
 
schwer vereinbar. So etwa das unspektakuläre Ausloten eigener Befindlichkeiten
 
durch ethisch orientierte Diskurse (»Selbsterkenntnis«), die Entfaltung tradierter Wertvorstellungen
 
und die Kontinuität der rituellen Einübungspraxis. (Nebenbei: Eine besondere
 
Facette der »Erlebnisgesellschaft« ist, dass Freimaurerei in der medialen Öffentlichkeit
 
wieder verstärkt aus dem Blickwinkel von »Verschwörungstheorien« heraus wahrgenommen
 
wird: Verschwörung ist eben spannend, Ethik erscheint demgegenüber als eher
 
langweilig.)
 
3. Moderne heute bedeutet Umstrukturierung und Neuformierung der Realgesellschaft,
 
geprägt durch Wandlungen in der Arbeitswelt (deren Instabilität gerade junge Berufsanfänger,
 
insbesondere junge Akademiker als potenzielle Mitglieder des Freimaurerbundes
 
stark belastet), ein verändertes Verhältnis der Geschlechter zueinander (mit einer Neudefinition
 
von Rechten, Pflichten und Partnerschaft in Beziehungen, was insgesamt nicht
 
ohne Auswirkungen auf männerbündisches Engagement bleiben kann) sowie veränderte
 
Formen sozialer Einbindung bzw. Vernetzung der Menschen, d.h. in der Struktur des
 
37 Bergmann, Jörg/Höhmann, Hans-Hermann: Die Freimaurer im Prozeß der Modernisierung heute, in:
 
Quatuor Coronati Jahrbuch Nr. 40/2003, S. 93–102.
 
38 Vgl. Gross, Peter: Die Multioptionsgesellschaft, Frankfurt/Main 1994.
 
39 Vgl. Schulze, Gerhard: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankurt/M. 1992;
 
ders.: Kulissen des Glücks. Streifzüge durch die Eventkultur, Frankfurt/M. 1999.
 
150
 
»Sozialkapitals« (geringere Bereitschaft zu dauerhafter Bindung an hergebrachte bürgergesellschaftliche
 
Assoziationen, d.h. das »Putnam-Syndrom«).
 
4. Insgesamt gesehen bedeuten Moderne heute bzw. Postmoderne das Ende der traditionellen
 
bürgerlichen Gesellschaft, in der die Freimaurerei entstand und sich entwickelte.
 
So stellt sich die Frage: Freimaurerei als Sozial- und Kulturform der bürgerlichen Gesellschaft
 
– hat sie eine Chance gedeihlicher Entwicklung, wenn eben diese Gesellschaft
 
offenkundig an ihr Ende gekommen ist? Die Freimaurerei hat sich auf das umrissene
 
Grundproblem, – dass sich der Bund als bürgerliche Reaktion auf vormals aktuelle gesellschaftliche
 
Problemlagen entwickelt hat, dass die Problemlagen der modernen Gesellschaft
 
heute jedoch ganz anderer Art sind, – in ihren Selbstthematisierungen bisher nur
 
unzureichend eingestellt.
 
Dabei gibt es durchaus Chancen für ihre weitere Entwicklung: Mit der Reizüberflutung verbindet
 
sich die Sehnsucht nach Nachdenklichkeit, nach Kontemplation, nach Langsamkeit,
 
nach einem anderen, weniger hektischen Begriff von Zeit, kurz nach Strukturelementen der
 
Freimaurerei. Menschen suchen – gleichsam entgegengesetzt zum Zeitgeist – Einbindung
 
und Orientierung. Zwar haben die Strukturen der gegenwärtigen Moderne die für frühes
 
Bürgertum und entfaltete Bürgergesellschaft selbstverständliche und weit verbreitete Option
 
der Logenmitgliedschaft weitgehend hinfällig gemacht, doch bleibt die Chance, jene Nachfragenischen
 
zu nutzen, die die Vielfalt der Postmoderne für Assoziationsformen bereithält,
 
die eher quer zum herrschenden Trend positioniert sind. Aktive Logen nutzen die hier erkennbaren
 
Potenziale aus und sind bemerkenswert erfolgreich in ihrer Entwicklung. Auch
 
die ausgeprägte Dynamik der Frauenlogen in Deutschand40 deutet auf Entwicklungsmöglichkeiten
 
hin, die eine gründliche Analyse verdienen.
 
Wenn die erörterten »Nischen« gegenwärtig nur partiell und aufs Ganze gesehen unzureichend
 
genutzt werden, so ist dies auf Struktur- und Handlungsschwächen des Freimaurerbundes
 
zurückzuführen, wobei Substanz- und Vermittlungsprobleme unterschieden
 
werden können.
 
Was die Substanzprobleme betrifft, so leidet der Freimaurerbund in Deutschland –
 
aufs Ganze gesehen und trotz einer beeindruckenden Reihe von Gegenbeispielen – an
 
einem Mangel an Lebenskraft und Ausstrahlung, an Identität und Profil, an gründlichem
 
freimaurerischen Wissen und Verständnis für das Zusammenspiel von Gemeinschaft, Idee
 
und Ritual. Oft machen sich menschliche Schwächen bemerkbar, wie man sie eigentlich
 
in einem ethisch orientierten Bund nicht erwarten sollte. Es gibt Grundstörungen in der
 
Gruppensituation der Logen, die mit Stichwörtern wie unzureichende Einbindung von
 
Brüdern, fehlende Harmonie zwischen ihnen, Abhandenkommen von Freundschaft sowie
 
mangelnde Lebendigkeit der Loge (geistig, rituell, sozial, kulturell), kurz Routinisierung
 
des Logenlebens innerhalb und außerhalb des rituellen Bereichs, umrissen werden können.
 
Die Vermittlungsprobleme beziehen sich auf den Umgang mit der Öffentlichkeit, mit
 
den Menschen um sich herum. Die Freimaurer lassen sich in starkem Maße auf einen
 
doppelten Vergrößerungseffekt ein: Von außen wird die Freimaurerei traditionell verschwörerisch
 
überhöht und dämonisiert, von innen reagieren die Freimaurer allzu sehr mit einer
 
40 Lanik, Monika/Widmann, Helga: Frauen und Freimaurerei: Feminine Freimaurerei in Deutschland im
 
Spiegel ihrer Entwicklung, in: Quatuor Coronati Jahrbuch 2003, S. 103–120.
 
151
 
Attitüde humanitärer Überlegenheit, die im Hinblick auf die Möglichkeit einer nachhaltigen
 
Realisierung nicht hinreichend hinterfragt wird. Beides sind Fehlverständnisse, die auf
 
ein flaches, zu wenig auf Wissen begründetes, im ersten Fall aggressives, im zweiten Fall
 
apologetisches Freimaurerbild zurückzuführen sind.
 
Zum Schluss lässt sich als Fazit formulieren, dass die Freimaurerei auch in der Postmoderne
 
eine Chance hat, gesellschaftliche Nachfrage auf sich zu ziehen. Allerdings muss
 
ihr Angebot an »Sozialkapital« nach Qualität und Substanz attraktiv sein. Freimaurerlogen
 
haben kein Defizit an gehaltvollen Formen und überzeugenden Ideen: Menschlichkeit,
 
Geschwisterlichkeit und Toleranz, in redlichen Diskursen aufgearbeitet und in der Logenpraxis
 
konkretisiert, reichen aus. Freimaurer hätten nach außen und innen an klarer
 
freimaurerischer Identität zu arbeiten und dabei auf allzu glatte Bilder von Freimaurerei
 
zu verzichten. Freimaurerei hat aus ihrer Geschichte heraus eine innere Gebrochenheit,
 
die sich nicht wegdefinieren lässt. Nötig ist deshalb Auseinandersetzung mit Mängeln und
 
Widersprüchen, die sich in und mit der Geschichte der Freimaurerei entwickelt haben.
 
Freimaurerei »der Ordnung nach« (heute eher ein Produkt von Reglementierungen und
 
Ad-hoc-Interventionen) wäre positiv zu bestimmen, die Einordnung in die deutsche und
 
die internationale Freimaurerei zu klären. Es wäre Eigenes zu leisten und herauszustellen,
 
beim »Anhängen« an die Humanität anderer (etwa in Form von Preisverleihungen) ist
 
Vorsicht und Geschmack zu bewahren. Nötig ist Konzentration auf das, was Freimaurerei
 
ist, nicht auf das, was die Freimaurer wollen. Besonders wichtig ist die Hebung des brüderlichen
 
Umgangsniveaus durch eine kreative »Logenbaukunst« und – unverzichtbar für den
 
einzelnen Freimaurer – wirklich ernst genommene und nicht nur deklaratorische Arbeit an
 
der eigenen maurerischen Verhaltenskultur.
 
152
 
Der deutsche Freimaurerdiskurs der
 
Gegenwart: Was ist, was will, was soll die
 
Freimaurerei?
 
Zu den mannigfaltigen Geheimnissen der Freimaurerei gehört offenbar auch dieses: Die
 
Freimaurerei war nicht nur von Anbeginn an für ihre Umwelt geheimnisvoll, sie ist immer
 
auch für sich selber ein Stück Geheimnis geblieben, das es in immer neuen Ansätzen zu entschlüsseln
 
galt. Die Entwicklung der Freimaurerei wurde von den Mitgliedern des Bundes
 
zwar immer primär als Gestaltungsaufgabe verstanden, aber hin zu Reflexion und Diskurs
 
ist es stets nur ein kleiner Schritt gewesen. Gewiss wollten die Brüder – genauer gesagt: die
 
konzeptionell tonangebenden und administrativ führenden unter ihnen – vor allem das Leben
 
ihrer Logen gestalten, Großlogen bilden sowie neue rituelle Erlebnisformen und Grade
 
in die Freimaurerei einführen. Doch in Verbindung damit setzte sehr früh eine intensive
 
Reflexion über Ideenwelt, Rituale, Stilprinzipien und Organisationsstrukturen der Freimaurerei
 
ein. Kurz: Die Entwicklung der Freimaurerei und die Entwicklung des Freimaurerdiskurses
 
haben sich ständig begleitet. Diskurse reflektierten die Wirklichkeiten der Freimaurerei,
 
aber auch die Auffassungen der Autoren und wirkten auf den Gang der freimaurerischen
 
Realität zurück.
 
1. Zur Diskursanalyse und ihrer Anwendung auf Freimaurerei
 
Soziale Einrichtungen aller Art wie Parteien, Kirchen, ethische Assoziationen wie die Freimaurerei,
 
aber auch Prozesse und Ereignisse wie politische Konflikte, Zuwanderung aus
 
dem Ausland, Wirtschaftskrisen, Fußballweltmeisterschaften begegnen dem Betrachter stets
 
in zwei Erscheinungsformen der Realität.
 
Auf der einen Seite steht die Welt der Fakten, die mit geeigneten analytischen Methoden
 
transparent gemacht und erforscht werden können. Auf der anderen Seite stehen die
 
Gedanken der Menschen über Fakten, die Perzeptionen davon, die geschriebenen Texte
 
und Reden darüber, kurz: die Diskurse.
 
Diskurse entstehen, wenn Menschen im Reden, Schreiben und Bedeuten durch Texte
 
und Zeichen miteinander kommunizieren, wenn sie sich etwas mitteilen wollen, was für sie
 
Bedeutung hat, wenn sie etwas zu begründen, zu rechtfertigen oder zu verteidigen haben,
 
wenn sie Wissen weitergeben wollen, das sie für wahr und wichtig halten.
 
Diskurse sind gleichermaßen Bestandteile semantischer, kultureller und sozialer Prozesse.
 
1 Sie finden in bestimmten Rahmenkonstellationen statt und sind damit an die institutionellen
 
Strukturen der Gesellschaft gebunden. Doch gleichzeitig entfalten Diskurse
 
eine beträchtliche Eigendynamik und erweisen sich als eine Macht, die »aus puren Worten
 
1 Vgl. hierzu und zum Folgenden: Jäger, Siegfried: Bemerkungen zur Durchführung von Diskursanlanalysen,
 
http.//diss-Duisburg.de/Internetbibliothek/Artikel, download 15.6.2006; derselbe: Die Wirklichkeit
 
ist diskursiv, http.//diss-Duisburg.de/Internetbibliothek/Artikel, download 15.6.2006; Theorien
 
der Medienkommunikation. 3: Diskurstheorien, in: MedienWiki, file://C:/Windows/Temp/Theorien
 
der Diskurstheorien.htm, Download 26.7.2006.
 
153
 
neue oder veränderte Welten schaffen« kann2, oder – mit einer Beschreibung Michel Foucaults3
 
– »Diskurse sind Praktiken, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen
 
sie sprechen«. Norman Fairclough hat diese Eigenschaft von Diskursen folgendermaßen
 
beschrieben:
 
»Discourse is socially constitutive. Discourse contributes to the constitution of all
 
those dimensions of social structure which directly or indirectly shape and constrain
 
it: its own norms and conventions, as well as the relations, identities and institutions
 
which lie behind them. Discourse is a practice not just of representing
 
the world, but of signifying the world, constituting and constructing the world in
 
meaning.«4
 
Wenn Diskurse eng mit dem zusammenhängen, wovon sie sprechen, so bedeutet dies allerdings
 
nicht, dass sie Realitäten struktur- und maßstabsgetreu widerspiegeln. Gerade in den
 
Diskursen, die um die Freimaurerei und in der Freimaurerei geführt werden – zusammenfassend:
 
im »Freimaurerdiskurs« –, bemerken wir immer wieder Übertreibungen, die von den
 
Realitäten abdriften:
 
Von außen – etwa im »Verschwörungsdiskurs« – erscheint die Freimaurerei im Vergrößerungsglas
 
ihrer Gegner als eine dämonische Macht, als allgegenwärtiger Drahtzieher
 
der Weltverschwörung, als Anführer immer wieder wechselnder »Koalitionen
 
des Bösen«, als Verderber christlicher Religion und als Hauptquelle weltanschaulicher
 
Irrtümer.
 
Im Inneren des Bundes vergrößern sich die Freimaurer gern selbst zum Inbegriff der
 
Humanität, zum Heilmittel gegen allumfassende Sinnkrisen, zu einer segensreich wirkenden
 
Institution, die – so wird oft gesagt und geschrieben – »schleunigst erfunden werden
 
müsste, wen es sie nicht gäbe«. Aber auch zum Negativen hin wird in freimaurerischer
 
Selbstdarstellung übertrieben: Anflüge von tiefem Pessimismus (manchmal sogar von
 
unverkennbarem Selbsthass) lassen die Freimaurerei dann als Sanierungsfall oder gar als
 
Auslaufmodell erscheinen, dessen Zustand jedenfalls ebenso unverzügliche wie nachhaltige
 
Rettungsmaßnahmen erforderlich macht.
 
2. Strukturen des Freimaurerdiskurses
 
Um den Strukturen des gegenwärtigen Freimaurerdiskurses ausführlicher nachgehen zu können,
 
möchte ich – den Ansätzen der Diskurstheorie folgend – etappenweise vorgehen und
 
eine Reihe von Unterscheidungen vornehmen.
 
2 Vgl. Keller, Reiner/Hirseland, Andreas/Schneider, Werner/Viehöver, Willy (Hrsg.): Die diskursive Konstruktion
 
von Wirklichkeit. Zum Verhältnis von Wissenssoziologie und Diskursforschung (Reihe: Erfahrung
 
– Wissen – Imagination Band 10, hrsg. von Soeffner, H.-G./Knoblauch, H./Reichertz, J.), Konstanz
 
2005.
 
3 Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, 3. Aufl. Frankfurt/M. 1988, S. 74.
 
4 Fairclough; Norman: Discourse and Social Change, Cambridge 1992, S. 64.
 
154
 
Grundsätzlich sind zunächst nach dem Ort der Diskurse drei Gruppen zu unterscheiden:
 
1. Diskurse, die zwischen der Freimaurerei und der sie umgebenden Gesellschaft stattfinden;
 
2. Diskurse, die außerhalb der Freimaurerei, in der Öffentlichkeit oder Teilen davon wie
 
Kirchen oder politischen Gruppen in Bezug auf die Freimaurerei geführt werden, und
 
3. Diskurse, die sich innerhalb der Freimaurerei abspielen und bei denen dann immer wieder
 
die im Titel dieses Beitrags genannten Fragen im Vordergrund stehen: Was ist, was will,
 
was soll die Freimaurerei?
 
Ich werde den internen Diskursen der Freimaurer nachgehen, die beiden anderen Gruppen,
 
insbesondere den Diskurs zwischen der Freimaurerei und ihrer Umwelt, aber immer mit im
 
Auge behalten. Denn ein »Innen« und »Außen« in Bezug auf die Freimaurerei ist für Vergangenheit
 
und Gegenwart des Bundes nicht voneinander zu scheiden.
 
2.1 Zur Dialektik von Innen- und Außensichten der Freimaurerei
 
Seit dem Beginn der Geschichte des Freimaurerbundes als neuzeitlicher Assoziation ist das
 
Bild der Freimaurerei in der Öffentlichkeit nicht vom inneren Diskurs der Freimaurer zu
 
trennen. Was immer in der Öffentlichkeit über den Bund gesagt wurde und wird, es war und
 
ist – selbst noch im Zerrspiegel der Verschwörungs«theorien« – nicht unabhängig von den
 
Selbstdarstellungen des Bundes und seiner Mitglieder. Sein, sich selber sehen und gesehen
 
werden gehörten stets zusammen.
 
Selbstbilder und Fremdbilder der Freimaurerei, Innen- und Außensichten des Bundes
 
bedingen sich gegenseitig und bilden trotz aller Widersprüche einen Gesamtkomplex, von
 
dem jede das Verhältnis von Freimaurerei und Öffentlichkeit thematisierende Analyse auszugehen
 
hat.
 
Dieser Dialektik von Selbstbildern und Fremdbildern liegen drei von Anfang an gegebene
 
Grundbefindlichkeiten der Freimaurerei zugrunde, deren Auswirkungen gleichfalls
 
analytischer Aufarbeitung bedürfen:
 
Da ist zunächst die inhaltliche und formale Unbestimmtheit der Freimaurerei. Gewiss,
 
der Bund hat einige zentrale Merkmale, die ihn als Freimaurerei konstituieren und unterscheidbar
 
machen. Dennoch existierte von Anfang eine zur Auffüllung einladende, gleichsam
 
»fordernde« Leere (Michael Voges) der Freimaurerei im Hinblick auf die Ausgestaltung
 
der Rituale, die organisatorischen Strukturen des Bundes, seine Gradhierarchien sowie seine
 
konkreten Aufgaben und Zwecke. Dies gilt in einer durch harmonisierende Formeln und
 
Interventionen freimaurerischer Leitungsorgane freilich oft überdeckten Weise auch noch
 
für die Freimaurerei der Gegenwart.
 
Um es mit einem Wort von Monika Neugebauer-Wölk zu sagen: »Freimaurerei war
 
immer ein Raum, in dem vieles möglich war.«5 In diesem Raum entwickelten sich mannigfaltige
 
Spielarten des Bundes, teils ethisch-moralischer, teils esoterischer, teils christlicher
 
Orientierung, teils mit einfachen, teils mit weit aufgefächerten Gradstrukturen. Reformen
 
standen immer wieder auf der Tagesordnung, und im Grunde genommen befindet sich die
 
Freimaurerei bis heute auf der Suche nach ihrer eigenen Identität.
 
5 Neugebauer-Wölk, Monika: »Einführung« zu Maurice, Florian: Freimaurerei um 1800, a.a.O., S. XVIII.
 
155
 
Da ist zweitens der von Anfang an in Verbergen und Mitteilen, Verschweigen und Ausplaudern
 
gespaltene halböffentliche Charakter der Freimaurerei.6 Trotz ihres Rückzugs in
 
die Sphäre des Geheimnisvollen fand Freimaurerei stets unter Beteiligung der Öffentlichkeit
 
statt.
 
Hinweise auf Logentreffen in der Londoner Presse, Theaterbesuche und Prozessionen
 
in maurerischer Bekleidung, Publikationen in großer Zahl, Abbildungen prominenter Mitglieder
 
in masonischem Outfit waren schon bald nach Gründung der Londoner Großloge
 
an der Tagesordnung, und im Grunde genommen ist dies ja auch bis heute so geblieben.
 
Allerdings: Es sind nicht mehr deutsche Kaiser und amerikanische Präsidenten, deren Porträts
 
die Öffentlichkeit als Ausdruck korporativen Stolzes erreichen sollen, sondern beispielsweise
 
Abbildungen hoher Würdenträger der VGLvD in Schwarz mit Schurz in der
 
Zeitschrift »Focus« oder einer Gruppe gleichfalls schurzbekleideter Berliner Freimaurer mit
 
einem Anflug von »Wir sind die glorreichen Fünf« im Berliner Tagesspiegel.
 
Auch freimaurerische Prozessionen mit voller Bekleidung und hohem Hut sind nicht
 
aus der Öffentlichkeit verschwunden. Sie finden zwar nicht mehr in natura statt, doch
 
sie sind in Fernsehfilmen zu sehen, wie etwa in der von Freimaurern mitgestalteten ARDProduktion
 
»Tempel, Logen, Rituale«, die die Brüder wiederum in Schwarz, wiederum mit
 
Schurz und hohem Hut beim Einzug in die Krypta des Völkerschlachtdenkmals zeigt.
 
Schauen wir einen Augenblick von einem Ort außerhalb der Freimaurerei auf dieses Bild:
 
Freimaurer beim feierlich-pathetischen Einzug in ein Monument der Geschichte. Da stellt
 
sich dann doch die Frage, ob für so manche Verschwörungsprojektion, die von den Freimaurern
 
beklagt wird, wirklich immer nur die verantwortlich sind, die den Freimaurern den Hang
 
zur Verschwörung unterstellen, oder ob nicht auch diejenigen zur Zählebigkeit alter Mythen
 
beitragen, die vorsätzlich oder leichtfertig Stoff und Ankerplätze dafür zur Verfügung stellen.
 
Zu den optisch wahrnehmbaren Demonstrationen der Freimaurerei kam seit ihrer Begründung
 
als moderner Assoziation ein reichhaltiges Schrifttum hinzu. Um dem »Geheimnis
 
der Freimaurerei« selbst auf die Spur zu kommen, haben die Freimaurer immer
 
außerordentlich viel publiziert, gedruckte Texte waren ein wesentliches Medium ihrer
 
Selbstverständigung, und die Öffentlichkeit war meist als Leser dabei.
 
Im April 1785 – dies und das Folgende nach Michael Voges7 – richtete die angesehene
 
Jenaische Allgemeine Litteratur Zeitung eine eigene Sparte für die Besprechung freimaurerischer
 
Schriften ein. Die Herausgeber begründeten ihre Entscheidung damit, dass
 
»die innern Angelegenheiten des ehrwürdigen Ordens der Freymaurer seit einiger
 
Zeit eine ganz besondere Publicität bekommen haben, und mehr als eine Ihrer öffentlichen
 
Schriften … das Publikum … gleichsam auffordern, Theil an ihren Fehden
 
über das Wesentliche ihres Ordens zu nehmen«.
 
Schon ein Jahr zuvor hatte die Berliner Allgemeine Deutsche Bibliothek ihr bisheriges
 
Schweigen in freimaurerischen Dingen gebrochen und zwar mit einer deutlich kritischen
 
Tendenz:
 
6 Voges, Michael: Aufklärung und Geheimnis. Untersuchungen zur Vermittlung von Literatur- und Sozialgeschichte
 
am Beispiel der Aneignung des Geheimbundmaterials im Roman des späten 18. Jahrhunderts,
 
Tübingen 1987, S. 82.
 
7 Voges, Michael: Aufklärung und Geheimnis, a.a.O., S. 126.
 
156
 
»Wir haben uns bisher enthalten, eigentliche Freymaurerschriften in unserer Bibliothek
 
anzuführen … Aber es fängt doch an nöthig zu werden, von einigen dieser
 
Schriften zu reden, besonders von solchen, worin mit unerhörter Unverschämtheit
 
Unsinn und Aberglauben unter dem Scheine von großen Geheimnissen fortgepflanzt,
 
und noch dazu Katholicismus unter einer verdeckten … geheimnißvollen
 
Sprache empfohlen wird.«
 
Zu den Essays und Freimaurerreden, zu den Texten der Lessing, Knigge, Herder und Fichte
 
kamen bald die belletristischen Schriften hinzu, die Freimaurer- und Geheimbundromane,
 
die Außenstehende an der emotionalen Wirkung der Rituale und an den mit den
 
höheren Graden verbundenen subjektiven Selbstwertsteigerungen der Brüder teilnehmen
 
ließen.
 
Ein Beispiel, das ich wiederum Michael Voges verdanke8:
 
1782 veröffentlichte August Siegfried Friedrich von Goué einen Freimaurerroman mit dem
 
Titel »Ueber das Ganze der Maurerey« und dem bezeichnenden Untertitel »Zum Ersatz aller
 
bisher von Maurern und Profanen herausgegebenen unnützen Schriften«.
 
Einer der Helden des Romans, Stralenberg, schreibt an einen Freund:
 
»Aber die Aufnahme ist so schön, so feierlich, daß ich drey Tage gebrauchte mich in
 
meine vorige Fassung zurück zu setzen … Die Maurerey muß gut seyn, und erhabene
 
Vorwürfe haben, das beweiset die Meister=Aufnahme.«
 
Sein Freund Fürstenberg sekundiert nach der Einweihung in einen Hochgrad:
 
»Als ich mit dem Ringe zurück kam, mein lieber Stralenberg, o! wie feierten mich die
 
hiesigen Brüder der untern Stufen. Sie tragen eine wahre Verehrung für diesen Ring,
 
und wenn mich der Kayser in den Grafen-Stand erhoben hätte, so wäre ich dadurch
 
das in ihren Augen nicht geworden, wozu ich in Frankfurt gestiegen bin.«
 
Eine besondere Kategorie bildeten und bilden die »Verräterschriften«, oder besser vielleicht
 
»Enthüllungsschriften« ehemaliger Freimaurer von Samuel Pritchard über Leo Taxil bis hin zu
 
Burkhardt Gorissen. Diese Schriften versuchen nach dem Motto »Ich bin dabei gewesen, und
 
ich weiß, wovon ich rede« den Anschein authentischer Erfahrung zu vermitteln, und wenn
 
sich heutzutage kritische, skeptische oder amüsierte Beobachter der Freimaurerei im »Focus«
 
oder in der FAZ auf Gorissens Buch berufen, so folgen sie einem ebenso alten wie naheliegenden
 
anti-masonischen Enthüllungsschema.
 
Von welcher Seite man es betrachtet: Die Freimaurerei war nie ein Geheimbund im strikten
 
Sinne, aber sie war auch nie lediglich ein schlicht geselliger Verein oder ein Service-Club
 
vom Lions-Rotary-Typ. Sie war immer eine Assoziation zwischen Geheimbund und geselliger
 
Institution. Das bedeutete, dass sie im Inneren auf einer breiten Skala unterschiedlicher Gewichte
 
von Geheimnis und Geselligkeit gestaltet werden konnte und auf der gleichen Skala
 
8 Ebenda, S. 88f.
 
157
 
auch von außen eingeschätzt wurde. Für die Freimaurerei galt nicht nur in Bezug auf ihre
 
rituellen, konzeptionellen und organisatorischen Inhalte, sondern auch im Hinblick auf die
 
relativen Gewichte von Geheimnis und Öffentlichkeit – sei es bei der inneren Gestaltung, sei
 
es bei der Betrachtung von außen – immer ein Element von »Wie es Euch gefällt«.
 
Und dennoch gab und gibt es – dies ist mein dritter Gesichtspunkt in diesem Kontext
 
– trotz Präsenz in der Öffentlichkeit und trotz aller Inkonsequenz bei seiner Handhabung
 
stets das sowohl von den Freimaurern selbst als auch von Außenstehenden – Freunden wie
 
Gegnern – reklamierte und proklamierte freimaurerische Geheimnis.
 
Weder lassen die Freimaurer davon und flüchten notfalls in Formeln wie die Freimaurerei
 
hat kein Geheimnis, die Freimaurerei ist ein Geheimnis, noch wollen die Gegner der
 
Freimaurerei darauf verzichten, die den Freimaurern in ihren extremen Verschwörungsvarianten
 
vorhalten, dass es gerade die vermeintliche Offenheit der Freimaurerei ist, die ihren
 
Charakter als geheime Verschwörung verbergen soll, ihn aber gerade hierdurch – wie die
 
Verschwörungs«theoretiker« immer wieder zu wissen meinen – erst recht klar erkennbar
 
macht.
 
Das maurerische Geheimnis ist vor allem das Geheimnis der verschwiegenen Rituale, und
 
nicht nur die positiven Selbstzuschreibungen der Freimaurerei, auch alle Formen von Kritik,
 
Ablehnung und Verurteilung machen sich am Geheimnis der Rituale fest:
 
• Für die Kirchen verhüllen sich in den Ritualen Elemente einer alternativen Religiosität,
 
wenn nicht gar einer anderen Religion, zumindest aber der Ungeist des religiösen Relativismus.
 
• Für die Vertreter der Verschwörungsmythen bietet der geheime Raum des Rituals den Rahmen
 
für das Aushecken mannigfaltiger Verbrechen und Anschläge gegen die gesellschaftliche
 
Ordnung, gegen Volk und Staat.
 
• Für den Volksaberglauben konstituiert das Ritual die besser strikt zu meidende Welt des
 
Makaber-Gruseligen, in der vielleicht gar Satanisches im Spiele ist.
 
• In der Sicht intellektueller Kritiker kaschieren Ritual und Geheimnis Ansprüche auf
 
Selbsterhöhung
 
und persönliches symbolisches Kapital, wenn sie nicht gar als Ausdruck
 
des Lächerlichen gelten, in vielen Variationen der Charakterisierung durch den Philosophen
 
Ernst Bloch, Freimaurerei sei nichts als eine »wahnhaft gesittete Mummerei«.9
 
Auf dem skizzierten Hintergrund
 
• der inhaltlichen Unbestimmtheit der Freimaurerei,
 
• ihres halböffentlichen Charakters und
 
• des dennoch mit ihr verbundenen Mythos vom Geheimnis
 
vollzog sich nun nicht nur die Geschichte der Freimaurerei und ihrer Verurteilungen, sondern
 
– gleichsam als Ausdruck eines historischen Pingpong-Spiels – auch die Geschichte der
 
Erwiderungen und Apologien, mit der die Freimaurer auf Angriffe und Verurteilungen reagierten.
 
9 Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung, Zweiter Band, S. 838.
 
158
 
1770 fasste eine zunächst anonym erschienene, wiederholt aufgelegte kleine Schrift von
 
Johann August von Starck unter dem Titel »Apologie des Ordens der Frey Maurer« die
 
Antworten der Freimaurerei auf folgende – im Prinzip bis heute unverändert gebliebene –
 
Hauptpunkte der Kritik zusammen:10
 
• Das Geheimnis der Freimaurer als solches widerspräche der Aufklärung, denn was nützlich
 
und gut sei, könne offen und klar dargelegt werden,
 
• die Freimaurerei bilde einen Staat im Staate (statum in statu),
 
• der Eid der Maurer sei schrecklich, er schränke durch die angedrohten, unmenschlichen
 
Sanktionen die natürliche Freiheit des Menschen ein,
 
• das Abfordern eines Eides sei zudem ein Monopol der Obrigkeit, und die Freimaurerei verbreite
 
unter seinem Schutz eine gefährliche Gleichgültigkeit gegenüber Nation und Religion,
 
• schließlich sei der Orden der Freimaurer ohne wahren Nutzen und daher überflüssig, es
 
sei denn, er betreibe unerlaubte Zusammenkünfte, die einen Herd für Verschwörungen
 
bilden könnten.
 
Doch auch dies gilt bis heute: Die Freimaurer litten nicht nur an der sie umgebenden
 
Mythologie, der faszinierenden Aura des Geheimen, sie profitierten auch davon (Michael
 
Voges). Denn die Mythen hielten die Freimaurerei im Gespräch, führten ihnen – bis hin zu
 
den Dan-Brown-Fans – viele Neugierige zu und veranlassten die Maurer selbst, immer wieder
 
darüber nachzudenken, ob hinter ihrem Orden nicht doch mehr stecke, ob das Geheimnis
 
nicht doch einen anderen Inhalt habe als bisher in seiner schlichten englischen Ausformung
 
zu erkennen war.
 
Im Laufe der Zeit wurde das Geflecht der antimasonischen Mythen immer dichter.
 
Doch immer wieder waren es Auffassungen, die aus der Freimaurerei selbst hervorgingen,
 
die den Stoff dazu lieferten:
 
Wenn beispielsweise Herder in seiner Korrespondenz mit Schröder an der Wende zum
 
19. Jahrhundert die beiden Grundvoraussetzungen einer von ihm mitgetragenen Reform
 
der Freimaurerei formuliert – nämlich Wiederherstellung des »alten Rituals in seiner reinsten
 
Gestalt« und eine angemessene rituelle Praxis – und seinen Brief dann mit den Worten
 
schließt
 
»Die geheimen Gesellschaften sind bisher ein fressendes Gift, Höhlen des Betrugs,
 
der Halbwisserei und … eines despotischen, kleingeistigen Egoismus gewesen! Oh,
 
daß eine (von ihnen – nämlich die alte englische Form, H.-H.H.) in allem Glanz der
 
Redlichkeit und Wahrheit Beispiel und Vorbild werde«,
 
so argumentiert er gegen die damals aktuellen Formen der Freimaurerei nicht anders als viele
 
antimasonische Schriften.11
 
Die eigenen Mythen der Freimaurer sollten sich allerdings in den folgenden Jahrzehnten
 
im öffentlichen Raum mehr und mehr verselbstständigen und schließlich die Freimaurerei
 
10 Apologie des Ordens der Frey Maurer, von dem Bruder *** (Johann August von Starck), Philadelphia
 
1778, S. 30–83.
 
11 Voges, Michael: Aufklärung und Geheimnis, a.a.O., S. 209. Herder-Zitat ebenda.
 
159
 
von außen überholen: »Das Geheimnis eröffnete eine Spirale der Spekulation und Verdächtigung,
 
die tendenziell ohne Ende war.«12
 
Werfen wir zum Schluss dieses Abschnitts noch einmal einen Blick auf die verschiedenen
 
Freimaurer-Images oder Außenbewertungen der Freimaurerei, mit denen wir es heutzutage
 
in Deutschland zu tun haben, und auf die die deutschen Freimaurer reagieren
 
sollten, wenn auch auf verschiedene, der jeweiligen Herausforderung angemessene Weise.
 
Vielleicht lassen sich für diese Images acht wichtige Vertreter-Gruppen unterscheiden:
 
• Da sind erstens die Anhänger alter und neuer Verschwörungsmythen, die das »Objekt ihrer
 
Begierde« – die bösen Freimaurer und ihre Bundesgenossen – keinesfalls verlieren wollen
 
und mit denen man weder diskutieren kann noch soll.
 
• Da sind zweitens die nicht wenigen Menschen, die auf irgendeine Weise immer noch
 
Denkvorstellungen und Befürchtungen des Volksaberglaubens anhängen, woraus dann
 
eine diffuse Abwehrhaltung und Berührungsangst gegenüber der Freimaurerei resultiert:
 
Ein Wohltätigkeitsbuffet des Rotary-Clubs? »Prächtig, da gehen wir hin.« Eine ebenso
 
wohltätige Reibekuchenbude der Freimaurer? »Nein danke, lieber nicht, man kann
 
schließlich nicht wissen, was die da alles hineinbacken.« Da gilt es für die Freimaurer nur,
 
mit schlichter, bürgerlicher Normalität zu überzeugen.
 
• Da sind drittens die Kirchen, die – wie die katholische – entweder wissen, aber nicht mögen,
 
wie die Freimaurerei es mit der Religion hält, oder die es – wie die evangelische – bei
 
allem Wohlwollen doch noch etwas genauer wissen will: Hier sollte die deutsche Freimaurerei
 
auf redlich-seriöse Weise gesprächsbereit sein, zuvor allerdings das Verhältnis zwischen
 
Freimaurerei und Religion in ihren eigenen Kolonnen sorgfältiger klären.
 
• Da ist viertens die Wissenschaft, die sich mehr und mehr und mehr mit der Freimaurerei
 
beschäftigt und die Unterstützung verdient, wie und wo immer Freimaurer dazu in der
 
Lage sind. Die externe Freimaurerforschung ist das Gewissen der Freimaurerei, weil sie
 
hilft, Eigenverdunkelungen zu überwinden und sich selbst besser zu erkennen.
 
• Da sind fünftens die Vertreter der Politik, des Staates und der Kommunen, die der Freimaurerei
 
meist wohlgesonnen sind und deren redliche und offene Gesprächspartner
 
Großlogen und Logen zu sein haben.
 
• Da sind sechstens die Medien, in denen angemessen vertreten zu sein, Freimaurer sich auf
 
seriöse Weise bemühen sollten, wobei im Hinblick auf die Welt der bunten und bewegten
 
Bilder Zurückhaltung am Platze ist. Arkandisziplin heute sollte nicht zuletzt bedeuten,
 
sich in der Öffentlichkeit nicht lächerlich zu machen.
 
• Da ist siebtens die intellektuelle, die kulturelle Öffentlichkeit, die Öffentlichkeit gesellschaftlich
 
relevanter Diskurse. Hier sollten sich die Freimaurer um gehaltvolle Präsenz
 
bemühen, denn wenn sie etwas zu sagen haben, dann sollten sie es auch sagen.
 
• Schließlich und achtens ist da so etwas wie die Gesellschaft im Allgemeinen, die u.a. aus
 
den Menschen zusammengesetzt ist, die in die Logen kommen und fragen, wer die Freimaurer
 
sind und was sie zu sagen haben, und die vielleicht in den Logen als zukünftige
 
Brüder mittun wollen.
 
12 Ebenda, S. 129.
 
160
 
Nicht zuletzt in der Kommunikation mit diesen Menschen käme es darauf an, sich der eigenen
 
maurerischen Identitäten klarer bewusst zu werden und ein deutliches Bild davon zu
 
vermitteln, was Freimaurerei ist und was sie nicht ist. Gerade die »Suchenden« müssen rechtzeitig
 
erkennen können, dass es unterschiedliche Formen und Verständnisse von Freimaurerei
 
gibt, die der Redlichkeit halber nicht verwischt werden sollten und die nicht erst nach
 
der Aufnahme sichtbar werden dürfen.
 
2.2 Freimaurerei und Internet
 
Keine Analyse der Gegenwartsfreimaurerei und der in ihr und um sie herum geführten
 
Diskurse kann auf eine Beschäftigung mit dem Internet verzichten. Das Internet hat die
 
Welt der Freimaurerei zutiefst verändert, wenn auch Zweifel erlaubt sein mögen, ob Brüder,
 
Logen und Großlogen in ihrer Gesamtheit dies bereits hinreichend wahrgenommen
 
haben.
 
Sechs Gesichtspunkte scheinen mir von besonderer Bedeutung:
 
1. Durch das Internet kam es zu einer verstärkten, förmlich explosionsartig gesteigerten Präsenz
 
der Freimaurerei in der Öffentlichkeit über die Homepages von Logen und Großlogen,
 
der Forschungsloge »Quatuor Coronati«, des »Netzwerks Freimaurerforschung«
 
und so weiter und so fort. Diese umfangreiche und ständig weiter zunehmende Internetpräsenz
 
eröffnet mannigfaltige, völlig neue Kommunikationsmöglichkeiten zwischen
 
Freimaurerei und Öffentlichkeit.
 
2. Durch das Internet entwickelte sich ein neuer Mechanismus der Mitgliederrekrutierung.
 
Alte Mechanismen der Ansprache von Kandidaten für eine zukünftige Logenmitgliedschaft
 
über Verwandte und Bekannte, oder auch das Ausfindigmachen von Interessenten
 
durch traditionelle »Schleppnetze« wie Annoncen in der Tagespresse und öffentliche
 
Veranstaltungen sind vom »Superschleppnetz Internet« wohl endgültig abgelöst worden.
 
Logenberichte weisen inzwischen auf eine Internet-Rekrutierungsquote von bis zu 90
 
Prozent hin. Dies kann zu Mengenwachstum, Qualitätssteigerung und Verjüngung der
 
Mitgliederstruktur der Logen beitragen – allerdings nur dann, wenn es gelingt, die zweifellos
 
auch angezogenen obskuren Interessenten rechtzeitig als solche zu erkennen und als
 
Kandidaten auszuscheiden.
 
3. Das Internet eröffnet neue Möglichkeiten für die Kommunikation unter Brüdern – national
 
und weltweit – und erhöht auf diese Weise die Dichte der intern geführten Freimaurerdiskurse.
 
Es eröffnet freilich auch neue Möglichkeiten, sich in der Anonymität des
 
Netzes unbrüderlich zu beschimpfen und lässt darüber nachdenken, wie innerhalb der
 
Freimaurerei Stil und Ethik der Führung von Diskursen – hierzu weiter unten mehr – verbessert
 
werden können.
 
4. Durch das Internet sind die Informationen über die Freimaurerei ins völlig Unüberschaubare
 
angewachsen, und zwar durch Texte sowohl von Freimaurern und Nichtfreimaurern
 
als auch von ehemaligen Freimaurern, womit ein neuer Typus von »Verräter-
 
Publikationen« entstanden ist. Die Internet-Darstellungen zur Freimaurerei beinhalten
 
seriöse Informationen, sie transportieren aber auch masonisches Halbwissen sowie alte
 
und neue Fantasie- und Verschwörungswelten, auf die die Freimaurer und ihre Institutionen
 
angemessen zu reagieren haben.
 
161
 
5. Durch das Internet ist die Freimaurerei auf noch nie da gewesene Weise der Macht der
 
bunten
 
und bewegten Bilder ausgesetzt. Freimaurerfilme im You-Tube-Format – vor allem
 
solche antimasonischen Inhalts – geistern durch das Netz und ziehen Betrachter an. Ist
 
das schon problematisch genug, so wird es nur selten besser, wenn Freimaurer mit Filmen
 
darauf zu reagieren versuchen. Film ist ein »ritualsüchtiges« Medium, das mit großer Vorsicht
 
gehandhabt werden sollte und das selten so gut gelingt wie das großartige Gespräch
 
mit dem »maurerischen Urgestein« Rolf Appel. Ich wiederhole mit Nachdruck: Sich in
 
und vor der Öffentlichkeit nicht zu blamieren, – das vor allem ist heutzutage das Gebot
 
freimaurerischer Arkandisziplin.
 
6. Doch ob mit oder ohne Bilder: Nicht zuletzt bietet das Internet in einem Ausmaß ohne
 
jede historische Präzedenz Informationsmöglichkeiten über die freimaurerischen Rituale.
 
Mit wenig Zeitaufwand für Recherchen lassen sich die Texte vieler Rituale unterschiedlicher
 
Systeme und Grade ausfindig machen und zwecks Speicherung auf der Festplatte
 
des eigenen Computers »downloaden«.
 
Insbesondere:
 
Wenn Außenstehende sich detailliert über Rituale informieren können und wenn sie mit
 
Freimaurern darüber kommunizieren wollen, dann benötigen die freimaurerischen Gesprächspartner
 
nicht nur mehr Wissen über Inhalt und Funktion von Ritualen in Freimaurerei,
 
Kultur und Gesellschaft. Erforderlich ist auch eine neue Schwerpunktsetzung im Umgang
 
mit dem Ritual: Anstelle einer Begriffswelt, die um »Arkandisziplin« und »Geheimnis«
 
angesiedelt ist, hätte eine Begriffswelt zu treten, die um Begrifflichkeiten wie Privatheit, Intimität,
 
Diskretion und Schutz des persönlichen Vertrauens kreist.
 
Insgesamt hat das Internet die Ausgangslage für den Diskurs mit der Öffentlichkeit gründlich
 
verändert. Einerseits muss mit einem Aufblühen alter und neuer Verschwörungs- und
 
Fantasy-Welten gerechnet werden. Andererseits kann – zumindest partiell – von einer besser
 
informierten Öffentlichkeit ausgegangen werden, und die Kommunikation zwischen innen
 
und außen gewinnt an Niveau. Dies setzt allerdings, wenn es Gewinn bringen soll, in jedem
 
Fall den besser informierten Freimaurer voraus.
 
2.3 Der Freimaurerdiskurs der Kirchen
 
Ohne Zweifel hat sich das Interesse der Kirchen an der Freimaurerei in der jüngsten Vergangenheit
 
belebt. Dies gilt auch für die katholische Kirche, die ihre Positionen gegenüber der
 
Freimaurerei seit den 80er Jahren zwar kaum revidiert hat13, aber doch daran interessiert ist,
 
insbesondere in ihren Akademien mit Vertretern des Freimaurerbundes ins Gespräch zukommen.
 
Für das Interesse der evangelischen Kirche sprechen vor allem die Aktivitäten des
 
Zentrums für Weltanschauungsfragen (ZWF) in Berlin, dessen Referent für Sekten (!), Mathias
 
Pöhlmann, zwei auch in Freimaurerkreisen geschätzte Schriften veröffentlicht hat, in de-
 
13 Ausführlicher dazu Höhmann, Hans-Hermann: Freimaurerei in Deutschland: Ein Überblick im Kontext
 
von Geschichte, internationalen Entwicklungen und freimaurerischen Konzeptionen, in diesem
 
Band, S. 12–50.
 
162
 
nen er sich darum bemüht, der Freimaurerei gerecht zu werden.14 Im Dezember 2006 führte
 
das ZWF einen »Studientag« zur Freimaurerei durch, an dem u.a. Mathias Pöhlmann und
 
ich selbst als Referenten teilnahmen. In der Zeitschrift des Zentrums wurden die Beiträge
 
publiziert.15 Die Erfahrungen der Diskurse zeigen, wie sehr es erforderlich ist, das Verhältnis
 
der Freimaurerei zur Religion aus der Sicht der deutschen Logen deutlich zu machen und
 
die dabei zwischen den deutschen Großlogen bestehenden Unterschiede nicht auszublenden.
 
Ausführlicher bin ich hierauf im nächsten Beitrag dieses Bandes eingegangen, der den
 
Religionsdiskurs der Freimaurer in Deutschland aus historischer und gegenwärtiger Perspektive
 
behandelt.16
 
2.4 Der Freimaurerdiskurs der Wissenschaft und seine Bedeutung für
 
das Verhältnis zwischen Freimaurerei und Gesellschaft
 
Ursprünglich waren es meist Freimaurer gewesen, die sich der freimaurerischen Forschung
 
verschrieben hatten und zwar in allen Ländern, in denen sich der Bund in seinen unterschiedlichen
 
Formen entfalten konnte. Auf den weiteren internationalen Kontext kann hier
 
allerdings nicht eingegangen werden. Eine kommentierte Übersicht dazu hat Ludwig Hammermayer
 
gegeben17, und hinzuweisen ist in diesem Kontext auch auf die Beiträge zur 2. Internationalen
 
Konferenz der Wissenschaftlichen Kommission zur Erforschung der Freimaurerei
 
(Innsbruck, 19.–21 Mai 1995) zum Thema »Freimaurerische Historiographie im 19.
 
und 20. Jahrhundert«.18 Für die Geschichte der freimaurerischen Forschung in Deutschland
 
ist eine ganze Anzahl von Namen zu nennen, die ihren Rang auch aus heutiger Sicht bewahren
 
konnten. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sei hingewiesen auf Georg Kloß, Christian
 
Carl von Nettelbladt, Josef Findel, Adolf Schiffmann, Ludwig Keller, Wilhelm Begemann,
 
August Wolfstieg, Friedrich Kneisner, Ferdinand Runkel, Eugen Lennhoff, Oskar Posner
 
und Adolf Pauls. Diese Brüder waren aber nicht nur Forscher, sie kamen aus unterschiedlichen
 
freimaurerischen Systemen, und sie hatten auch bestimmte Einstellungen dazu, was
 
das »Wesen« der Freimaurerei sei und wie man sie zu gestalten habe. So blieb es nicht aus,
 
dass ihre Auffassungen des Öfteren voneinander abwichen und es zu gegenseitigen Vorwürfen
 
der Einseitigkeit, der Voreingenommenheit, ja der Unwissenschaftlichkeit kam. Modern
 
gesagt, die Autoren stellten sich wechselseitig unter »Ideologieverdacht«. Ein geradezu klassisches
 
Beispiel war der Konflikt um Grundpositionen freimaurerischer Geschichtsdeutung
 
14 Pöhlmann, Mathias: Verschwiegene Männer. Freimaurer in Deutschland, EZWTexte 182, Berlin 2008;
 
ders.: Freimaurer. Wissen was stimmt, Freiburg/Basel/Wien 2008.
 
15 Pöhlmann, Mathias/Höhmann, Hans-Hermann: Zwischen Geheimnis und Öffentlichkeit. Freimaurerei
 
in Deutschland – von außen und innen betrachtet, in: Materialdienst. Zeitschrift für Religions- und
 
Weltanschauungsfragen, 70. Jg., H. 6/2007, S. 205–222.
 
16 Höhmann, Hans-Hermann: »Von Gott und der Religion«. Zum Religionsdiskurs in der deutschen Freimaurerei,
 
in diesem Band, S. 179–197.
 
17 Hammermayer, Ludwig: Zur Geschichte der europäischen Freimaurerei und der Geheimgesellschaften
 
im 18. Jahrhundert, in: Éva H. Balázs, Ludwig Hammermayer, Hans Wagner und Jerzy Wojtowicz: Beförderer
 
der Aufklärung in Mittel- und Osteuropa. Freimaurer, Gesellschaften, Clubs, S. 17ff.
 
18 Helmut Reinalter (Hrsg.): Freimaurerische Historiographie im 19. und 20. Jahrhundert. Forschungsbilanz
 
– Aspekte – Problemschwerpunkte, Bayreuth 1996.
 
163
 
zwischen Keller und Begemann, in den auch Wolfstieg eingriff und den Monika Neugebauer-
 
Wölk im Kontext ihres Beitrags zur Hallenser QC-Arbeitstagung behandelt hat.19
 
Nun ist die Beeinflussung von Forschungsresultaten durch die »kognitiven Modelle«
 
der Wissenschaftler ein allgemeines Phänomen der Forschung, insbesondere in den Geistesund
 
Sozialwissenschaften, wo individuelle und gruppenspezifische Bindungen an Denkschulen
 
und Paradigmensysteme eher die Regel als die Ausnahme sind. Auch Freimaurerforscher,
 
die nicht dem Bund angehören, können miteinander in den wissenschaftlichen
 
Streit geraten, wie in jüngerer Zeit beispielsweise die Auseinandersetzung um die Thesen des
 
amerikanischen Germanisten W. Daniel Wilson zur Mitgliedschaft Goethes im Freimaurerund
 
im Illuminatenbund gezeigt hat.20
 
Für Forscher, die dem Bund angehören, besteht jedoch eine spezifische Versuchung,
 
Analyse und Wertung zu vermischen und subjektiv Normatives (»So sehe ich die Freimaurerei
 
«) als objektive Beschreibung der Wirklichkeit (»So ist die Freimaurerei«) auszugeben.
 
Dieses »Ineinander-verwoben-Sein« analytischer und normativer Sichtweisen bei
 
Darstellungen durch Freimaurer ist der externen, d.h. der von Nichtfreimaurern betriebenen
 
Forschung natürlich nicht verborgen geblieben. Die externen Forscherinnen und
 
Forscher erkennen zwar an, dass der internen freimaurerischen Forschung durchaus wissenschaftlicher
 
Wert zukommt. Die Forschungsergebnisse gelten aber oft als so sehr von
 
den freimaurerischen Standorten der Autoren beeinflusst, als dass sie generell als verlässlich
 
eingeschätzt werden könnten. (Dieselbe Standortgebundenheit gilt allerdings meist auch
 
für das freimaurerkritische Schrifttum, selbst, wenn es sich wissenschaftlich ausgibt.)
 
Als sich seit der Mitte des 20. Jahrhunderts immer mehr externe Forscher, vor allem
 
Historiker,
 
mit der Erforschung der Freimaurerei beschäftigten und/oder sie in weitere
 
Kontexte ihrer Untersuchungen rückten, bekam die freimaurerische Forschung einen neuen
 
Auftrieb. Ein wesentlicher Anstoß kam von Reinhart Koselleck, dem in Bielefeld lehrenden
 
Neuhistoriker, der es in seiner, zuerst 1959 erschienenen bahnbrechenden Studie »Kritik
 
und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt« unternommen hatte, die
 
Freimaurerlogen in den bürgerlichen Emanzipationsprozess des 18. Jahrhunderts einzuordnen
 
und die bisher nur unzureichend berücksichtigte gesellschaftliche und politische Funktion
 
der Freimaurerlogen herauszuarbeiten.21 Die Ansätze Kosellecks sind inzwischen von
 
anderen Wissenschaftlern weitergeführt, modifiziert und korrigiert worden. Neue Fokussierungen
 
kamen hinzu. Ludwig Hammermayer und Monika Neugebauer-Wölk, selbst durch
 
grundlegende Beiträge zur Freimaurerforschung ausgewiesen, haben wichtige Aspekte und
 
Entwicklungsstufen der Geschichte der Freimaurerforschung beschrieben.22 Heute erstreckt
 
19 Neugebauer-Wölk, Monika: Esoterik als Element freimaurerischer Geschichte und Geschichtsforschung,
 
in: Quatuor Coronati Jahrbuch 2003, S. 12ff.
 
20 Wilson, Daniel W.: Unterirdische Gänge: Goethe, Freimaurerei und Politik, Göttingen 1999. Zur Kritik
 
an Wilson: Joachim Bauer, Gerhard Müller: »Des Maurers Wandeln, es gleicht dem Leben«. Tempelmaurerei,
 
Aufkärung und Politik im klassischen Weimar, Jena 2000.
 
21 Koselleck, Reinhart: Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, 2. Auflage,
 
Freiburg/München 1969, insbes. S. 55ff.
 
22 Hammermayer, Ludwig: Zur Geschichte der europäischen Freimaurerei und der Geheimgesellschaften
 
im 18. Jahrhundert, a.a.O, S. 17ff.; Monika Neugebauer-Wölk: Die Geheimnisse der Maurer: Plädoyer
 
für die Akzeptanz des Esoterischen in der historischen Aufklärungsforschung, in: Quatuor Coronati
 
Jahrbuch 39/2002, S. 7ff.; dies.: Esoterik als Element freimaurerischer Geschichte und Geschichtsforschung,
 
in: Quatuor Coronati Jahrbuch 40/2003.
 
164
 
sich das Interesse der Forschung auf ein breites Spektrum wissenschaftlicher Disziplinen.
 
Nicht nur Historiker, sondern auch Literaturwissenschaftler, Religionswissenschaftler, Ritualforscher,
 
Theaterwissenschaftler, Kommunikationsforscher, Politologen und Soziologen
 
entdeckten im Kontext ihrer Forschungsfelder interessante Aspekte der Freimaurerei. Die
 
Zahl der wissenschaftlichen Veröffentlichungen wuchs an, die Zahl der Habilitationen23,
 
Dissertationen24 und Magisterarbeiten zu freimaurerischen oder zumindest freimaurerrelevanten
 
Themen ist angestiegen. Es bildeten sich Brücken zwischen extern-universitärer und
 
intern-freimaurerischer Forschung, die dem Ansehen der Bruderschaft zugutekommen, und
 
bei denen in ihren Disziplinen ausgewiesene Forscher, die der Freimaurerei angehören, wie
 
etwa der Frankfurter Philosoph Alfred Schmidt, der Aachener Philosoph Klaus Hammacher
 
und der Innsbrucker Historiker Helmut Reinalter, eine impulsgebende Rolle spielten.
 
Fasst man thematisch zusammen, so lässt die stärkere Berücksichtigung der Freimaurerei in
 
der wissenschaftlichen Forschung seit den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts vier Hauptansätze
 
erkennen, vier wissenschaftliche Diskursstränge, an denen als Forscher Nicht-Freimaurer
 
wie Freimaurer beteiligt waren:
 
1. Thematisierung der Rolle der Freimaurerei als ein auf zukünftige Offenheit und Freiheit angelegter
 
moralischer Innenraum im politisch-sozialen Umfeld des Absolutismus. Hier ist
 
vor allem auf Reinhart Koselleck mit seiner bereits erwähnten Studie »Kritik und Krise«
 
hinzuweisen. Zu nennen sind aber auch Forscher wie Ludwig Hammermayer, Rudolf
 
Vierhaus25, Jürgen Habermas26, Michael Voges27, Norbert Schindler28 – die beiden Letzteren
 
mit vorzüglichen Beiträgen zur Vermittlung zwischen Kultur- und Sozialgeschichte
 
– sowie – als dem Bund angehörende Forscher – Helmut Reinalter29 und Winfried
 
Dotzauer30.
 
23 Unter den Habilitationsschriften sei insbesondere hingewiesen auf: Westerbarkey, Joachim: Das Geheimnis.
 
Zur funktionalen Ambivalenz von Kommunikationsstrukturen, Opladen 1991, sowie Simonis,
 
Linda: Die Kunst des Geheimen. Esoterische Kommunikation und ästhetische Darstellung im 18. Jahrhundert,
 
Heidelberg 2000.
 
24 Unter den neueren Dissertationenen sind von herausragender Qualität: Maurice, Florian: Freimaurerei
 
um 1800. Ignaz Aurelius Feßler und die Reform der Großloge Royal York in Berlin, Tübingen 1997;
 
Hoffmann, Stefan-Ludwig: Die Politik der Geselligkeit. Freimaurerlogen in der deutschen Bürgergesellschaft,
 
1840–1918, Göttingen 2000.
 
25 Vierhaus, Rudolf: Aufklärung und Freimaurerei in Deutschland, in: ders.: Deutschland im 18. Jahrhundert,
 
Göttingen 1987, S. 110–125.
 
26 Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit, Frankfurt/M. 1990, suhrkamp taschenbuch wissenschaft
 
(Erstveröffentlichung 1962).
 
27 Voges, Michael: Aufklärung und Geheimnis. Untersuchungen zur Vermittlung von Literatur und Sozialgeschichte
 
am Beispiel der Aneignung des Geheimbundmaterials im Rahmen des späten 18. Jahrhunderts,
 
Tübingen 1987.
 
28 Schindler, Norbert: Freimaurerkultur im 18. Jahrhundert. Zur sozialen Funktion des Geheimnisses in
 
der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft, in: Berdahl/Lüdtke/Medick/Poni/Reddy/Sabean/Schindler/
 
Sider: Klassen und Kultur. Sozialanthropologische Perspektiven in der Geschichtsschreibung, Frankfurt
 
am Main 1 1982, S. 205–262.
 
29 Reinalter, Helmut: Die Freimaurer, München 2000.
 
30 Dotzauer, Winfried (Hrsg.): Quellen zur Geschichte der deutschen Freimaurerei im 18. Jahrhundert,
 
Frankfurt/M. 1991.
 
165
 
2. Wiederentdeckung der Esoterik und des Spannungsverhältnisses zwischen Esoterik und
 
Aufklärung als Gegenstand historischer Forschung. Diese Entwicklung der Freimaurerforschung
 
ist vor allem Monika Neugebauer-Wölk in Halle zu verdanken31 und wird inzwischen
 
in zahlreichen Forschungsprojekten weitergeführt.
 
3. Aufschwung der Ritualforschung32 im Kontext historischer und vor allem religionswissenschaftlicher
 
Forschung. Aus dem Freimaurerbund heraus hat hierzu vor allem Jan
 
Snoek33 entscheidend beigetragen, insbesondere durch eine Integration engerer freimaurerischer
 
Gesichtspunkte in den allgemeinen Kontext der Ritualforschung.
 
4. Weiterentwicklung dessen, was man, Fichte folgend, Philosophie der Freimaurerei nennen
 
kann und wofür aus dem Bund prominente Namen wie Alfred Schmidt34, Klaus Hammacher35
 
und Klaus-Jürgen Grün36 zu nennen sind.
 
Die Forschungsloge »Quatuor Coronati« hat sich sehr um eine enge Verzahnung der externen
 
und internen Freimaurerforschung bemüht. Hinzuweisen ist auf:
 
• die »offenen« Arbeitstagungen der Forschungsloge mit interner und externer Beteiligung37,
 
• die Beiträge externer Forscher im Quatuor Coronati Jahrbuch,
 
• die Aufnahme von Dissertationen in das Publikationsprogramm der Forschungsloge,
 
wobei zuletzt Stefan-Ludwig Hoffmanns38 preisgekrönte Arbeit »Politik der Geselligkeit«,
 
Kristiane Hasselmanns39 Berliner Dissertation »Die Rituale der Freimaurer« und Marcus
 
Meyers40 Hamburger Dissertation »Bruder und Bürger« besonders hervorzuheben sind,
 
• das Forschungsprojekt »Deutsche Freimaurerei der Gegenwart« an der soziologischen Fakultät
 
der Bielefelder Universität,
 
• das Netzwerk Freimaurerforschung (www.freimaurerforschung.de).
 
31 Neugebauer-Wölk, Monika (Hrsg.): Aufklärung und Esoterik a.a.O.; dies.: Esoterik als Element freimaurerischer
 
Geschichte und Geschichtsforschung, in: Quatuor Coronati Jahrbuch, Nr. 40/2003, S. 9–32.
 
32 S. unter den deutschsprachigen Veröffentlichungen: Belliger, Andréa/Krieger, David J. (Hrsg.): Ritualtheorien.
 
Ein einführendes Handbuch, Opladen/Wiesbaden 1998, sowie Wulf, Christoph/Zirfas, Jörg
 
(Hrsg.): Rituelle Welten, Paragrana 12/2003.
 
33 Snoek, Jan: Die historische Entwicklung der Auffassungen über Geheimhaltung in der Freimaurerei, in:
 
Quatuor Coronati Jahrbuch Nr. 40/2003, S. 51–60; ders.: Drei Entwicklungsstufen des Meistergrades,
 
in: Quatuor Coronati Jahrbuch für Freimaurerforschung, Nr. 41/2004, S. 21–46.
 
34 Schmidt, Alfred: Freimaurerei und Religion: Historisch-philosophische Grundlagen ihres Verhältnisses,
 
in: Quatuor Coronati Jahrbuch für Freimaurerforschung, Nr. 41/2004, S. 11–20.
 
35 Hammacher, Klaus: Einübungsethik. Überlegungen zu einer freimaurerischen Verhaltenslehre, Bayreuth
 
2005.
 
36 Grün, Klaus-Jürgen: Philosophie der Freimaurerei. Eine interkulturelle Perspektive, Interkulturelle Bibliothek,
 
Band 124, Nordhausen 2006.
 
37 Texte der Beiträge veröffentlicht in verschiedenen Ausgaben von »Quatuor Coronati Jahrbuch für Freimaurerforschung
 
«.
 
38 Hoffmann, Stefan-Ludwig: Die Politik der Geselligkeit. Freimaurerlogen in der deutschen Bürgergesellschaft,
 
1840–1918, Göttingen 2000.
 
39 Hasselmann, Kristiane: Die Rituale der Freimaurer. Performative Grundlegungen eines freimaurerischen
 
Habitus im 18. Jahrhundert, Bielefeld 2008.
 
40 Meyer, Marcus: Bruder und Bürger. Freimaurerei und Bürgerlichkeit in Bremen, Bremen 2010.
 
166
 
Die nachhaltige Entdeckung der Freimaurerei für die universitäre Forschung hat nicht nur
 
wissenschaftliche Bedeutung. Sie steigert auch das Interesse an der Freimaurerei und das
 
Wissen über die Freimaurerei innerhalb der deutschen Gesellschaft auch außerhalb der Wissenschaft:
 
• Zunächst ist es auch in einem weiteren – d.h. über den engeren wissenschaftlichen Kontext
 
hinausgehenden – Sinne von beträchtlicher Relevanz, dass Freimaurerforschung inzwischen
 
einen legitimen Platz in der wissenschaftlichen Forschung einnimmt, und dies
 
in einer multidisziplinären Perspektive, die sich gleichermaßen auf Geschichte, Philosophie,
 
Religionswissenschaften und Sozialwissenschaften erstreckt. Wichtig aber ist vor
 
allem auch, dass jüngere Forscher und Forscherinnen angesprochen werden und sich die
 
Zahl der Diplom- und Magisterarbeiten, Dissertationen und Habilitationsschriften zu
 
freimaurerischen oder freimaurerrelevanten Themen beträchtlich erhöht hat.
 
• In diesem Zusammenhang ist auf zahlreiche internationale Konferenzen zur Freimaurerforschung
 
hinzuweisen, an denen Freimaurer und Nichtfreimaurer, Forscherinnen
 
und Forscher sowie jüngere und ältere Wissenschaftler beteiligt sind, und unter denen
 
die im zweijährigen Turnus abgehaltene »Conference on the History of Freemasonry«
 
(2007 und 2009 in Edinburgh, 2011 in Alexandria, Virginia, USA) besondere Bedeutung
 
zukommt.
 
• Es ist gleichfalls von Relevanz für die öffentliche Wahrnehmung des Bundes, dass Freimaurerei
 
zunehmend Eingang in die universitäre Lehre findet41.
 
• Ebenfalls ist bedeutsam, dass sich im Zusammenhang mit der Ausweitung freimaurerischer
 
Forschung eine erhöhte Aufmerksamkeit einer weiteren kulturellen Öffentlichkeit
 
zeigt, wobei vor allem die Medien, die Bibliotheken und die Museen zu nennen sind:
 
Die bedeutenden Freimaurerausstellungen der jüngeren Vergangenheit – ich nenne nur
 
die Ausstellungen in Weimar42, Jena43 und Bremen44 – wären ohne das erhöhte Interesse
 
und eine vorbereitende bzw. begleitende Rolle der Wissenschaft nicht möglich gewesen.
 
Insgesamt ist das Ineinandergreifen von öffentlicher Aufklärung über die Freimaurerei und
 
wissenschaftlicher Kooperation zwischen Freimaurerei und Freimaurerforschung für eine
 
gedeihliche Entwicklung des Bundes unverzichtbar geworden – auch in Anbetracht der parallel
 
zur wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Freimaurerei zunehmenden Belebung
 
oder Wiederbelebung von Verschwörungswelten und Fantasievorstellungen.
 
Bedauerlich ist freilich, dass die freimaurerische Gegenwart bis jetzt nur wenig Interesse
 
bei der externen Forschung gefunden hat. Der Ruf der Freimaurerei ist vielfach eben doch
 
eher der eines Verwalters historisch-kultureller Tradition. So ist freimaurerische Gegenwartsforschung,
 
wenn sie gewollt ist, die eigene Aufgabe von Forschung betreibenden Freimaurern.
 
41 S. Internetrecherche zu »Lehrveranstaltungen über freimaurerische Kontexte an deutschen Universitäten
 
«, Netzwerk Freimaurerforschung, www.freimaurerforschung.de.
 
42 Geheime Gesellschaft. Weimar und die deutsche Freimaurerei. Ausstellung im Schiller-Museum Weimar,
 
21. Juni bis 31. Dezember 2002.
 
43 Bausteine zur Stadtgeschichte: Logenbrüder, Alchemisten und Studenten – Jena und seine geheimen Gesellschaften
 
im 18. Jahrhundert, Ausstellung im Romantikerhaus Jena, 16. Juni bis 15. September 2002.
 
44 Licht ins Dunkel. Die Freimaurerei und Bremen, Focke-Museum Bremen, 2. Juli bis 29. Oktober 2006.
 
167
 
Was kann freimaurerische Gegenwartsforschung leisten?
 
Nicht das, was manche Freimaurer erhoffen und andere befürchten: nämlich ein wissenschaftlich
 
begründetes freimaurerisches Leitbild zu erstellen, Modelle zu entwerfen oder gar
 
Großlogen ideologisch-konzeptionell zu beraten.
 
Entscheidungen über Selbstverständnis, Profil und Ziel ihres Bundes müssen die Brüder
 
Freimaurer selber treffen und zwar vor allem durch das, wovon dieser Beitrag handelt:
 
ihre Diskurse. Forschung kann jedoch Handlungsfelder transparenter machen, kann Ausgangslagen
 
klären, kann Widersprüche deutlich machen, kann vor Selbstüberforderungen
 
schützen, kann das Freimaurerbild komplexer machen.
 
Ich stehe für ein Ja zu einer gegenwartsorientierten Freimaurerforschung, gerade auch
 
weil ich ein engagierter Freimaurer bin und weil es mich bedrückt, wenn der Freimaurerbund
 
sich überflüssigerweise gleichsam auf Wissens- und Aufklärungsdiät setzt. »Wissensdiät«
 
schadet dem Bund, weil die Ressource der Vielgestaltigkeit und Komplexität der Freimaurerei,
 
ihres kulturgeschichtlichen und historischen Reichtums (wozu durchaus auch Ungereimtheiten
 
und Widersprüche gehören) nicht genutzt wird und Chancen zum Gespräch
 
mit Wissenschaft, Kultur und Gesellschaft verpasst werden. »Aufklärungsdiät« bremst den
 
Schwung der inneren Auseinandersetzung und beeinträchtigt die Intensität der Diskurse, die
 
zum Thema »Was ist, was will, was soll die Freimaurerei?« geführt werden müssen.
 
Müssen? Ja müssen: Freimaurerei, wie sie heute ist und morgen gestaltet werden soll,
 
lässt sich nicht in Lehrbüchern beschreiben und durch Großlogenbeschlüsse umsetzen.
 
Lebendige Freimaurerei entsteht ausschließlich durch die Kommunikation der Brüder. Ein
 
lebendiger Diskurs muss zu einer Freimaurerei beitragen, die nach innen und außen überzeugend
 
und identitätsstiftend wirkt.
 
Wie steht es also um die freimaurerischen Diskurse heute?
 
3. Der Freimaurerdiskurs der Gegenwart
 
Die folgenden Ausführungen sind mehr Bestandteile eines Arbeitsprogramms als Ergebnisse
 
intensiver Forschungsarbeit. Die Fülle der Texte, die es auszuwerten gilt, ist überwältigend.
 
Zugleich wird deutlich, das ein diskursanalytisches Herangehen erfolgversprechend ist. Freimaurer
 
produzieren nun einmal vor allem Worte, mit denen sie für sich selbst und andere
 
die Freimaurerei konstituieren. Taten der Freimaurer sind spärlich. Aber wir haben ja von
 
Lessing, dem uns liebsten aller freimaurerischen Klassiker, gelernt, dass die eigentlichen Taten
 
der Freimaurer gerade darin bestehen, am richtigen Ort, zur rechten Zeit, mit den richtigen
 
Partnern die richtigen Worte zu wechseln, ein »gemeinschaftliches Gefühl sympathisierender
 
Geister« zu entwickeln, laut mit dem Freunde zu denken und hierdurch die Grenzen
 
zu überwinden, die das Leben in komplexen Gesellschaften so bedrohlich machen.45
 
Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf die Freimaurerei in Deutschland
 
und behandeln dabei wiederum vor allem das Diskursgeschehen innerhalb der Großloge
 
AFuAM, der weitaus größten unter den Partnergroßlogen der Vereinigten Großlogen von
 
45 Vgl. Höhmann, Hans-Hermann: »Ernst und Falk« und die Freimaurerei der Gegenwart, Schriften der
 
Lessinggesellschaft, Hamburg 2005.
 
168
 
Deutschland, und der deutschen Großloge, mit der ich selbst durch Mitwirkung in vielen
 
Gremien am meisten verbunden bin.
 
3.1 Grundsätzliches
 
Definitionen und Unterscheidungen helfen bei der analytischen Ordnung der Diskurse. Zunächst:
 
Im Freimaurerdiskurs tauchen die verschiedensten Themen auf, und thematisch einheitliche
 
Diskursverläufe können jeweils als Diskursstränge bezeichnet werden.46 So lassen
 
sich etwa Ritual-, Reform- und Regularitätsdiskurse unterscheiden.
 
Jeder der thematischen Diskursstränge hat eine synchrone und eine diachrone Dimension:
 
Synchron bezieht sich auf die Frage, was beispielsweise in einem bestimmten Zeitabschnitt
 
– an der Wende zum 19. Jahrhundert etwa oder heute – zum Ritual gesagt wird und
 
wie sich der Ritualdiskurs zu anderen thematischen Diskurssträngen der gleichen Periode
 
verhält.
 
Diachron bezieht sich auf die Frage, welche (gleichen oder verschiedenen) Inhalte der
 
Ritualdiskurs beim »Fließen durch die Zeit«47 hatte, beim Vergleich von heute, gestern und
 
vorgestern, wenn wir etwa den Ritualdiskurs bei Feßler und Schröder mit dem heutigen –
 
sagen wir bei Klaus Horneffer oder Alfried Lehner – vergleichen.
 
Diskurse verändern sich im Verlauf der Zeit, ja, sie machen zuweilen regelrechte Sprünge.
 
Solche Richtungswechsel von Diskursen sind abhängig
 
• von der Situation des Bundes, von Ereignissen im Bund, wie es etwa die Reformdebatte
 
nach dem Zusammenbruch der »Strikten Observanz« zeigt,
 
• vom Auftreten charismatischer Persönlichkeiten, die den Diskursen eine neue Richtung
 
geben (als Beispiel hierfür kann der von Lessing, Herder, Fichte und Krause geprägte
 
»klassische« Freimaurerdiskurs48 gelten), und nicht zuletzt
 
• von den politisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, in die Freimaurerdiskurse
 
eingebettet sind und deren bestimmende Kraft die Folgerung nahelegt, dass die Zeit
 
die Freimaurerei immer in einem stärkeren Maße bestimmt hat als die Freimaurerei die
 
Zeit.
 
Vergleichen wir einmal die drei Fünfjahresperioden 1927–1932, 1947–1952 und 1967–1972.
 
1927–1932 erfasste die rechts-völkische Wende große Teile des deutschen Bürgertums
 
und der Freimaurerei, und die Diskurse in Freimaurerei und Gesellschaft waren gleichermaßen
 
in starkem Maße auf nationale Apologie ausgerichtet.49
 
46 Jäger, Siegfried: Theoretische und methodische Aspekte einer kritischen Diskurs- und Dispositivanalyse,
 
http.//diss-Duisburg.de/Internetbibliothek/Artikel, Download 15.6.2006.
 
47 Jäger, Siegfried: Kritische Diskursanalyse: Eine Einführung, 4. Auflage, Münster 2004.
 
48 Vgl. Höhmann, Hans-Hermann: Entwicklung, Reflexion, Wissenschaft. Anmerkungen zum Wechselspiel
 
zwischen freimaurerischer Geschichte und Geschichte der Freimaurerforschung, in: Quatuor Coronati
 
Jahrbuch Nr. 41/2004, S. 232–234.
 
49 Vgl. Höhmann, Hans-Hermann: Europas verlorener Friede, die nationalvölkische Orientierung innerhalb
 
der deutschen Freimaurerei und die »freimaurerische Erinnerungspolitik« nach dem Zweiten Weltkrieg,
 
in diesem Band, S. 51–57.
 
169
 
1947–1952 dominierten in der deutschen Gesellschaft und Freimaurerei die Bemühungen
 
um Anschluss an das westliche Modell der Demokratie und internationale Versöhnung.
 
Beiderseits – in Gesellschaft wie Freimaurerei – kam es folglich zur Verdrängung der
 
Erinnerung an nationalsozialistische Anpassung, beiderseits war der Erinnerungsdiskurs
 
defizitär.50 Auch der »Kalte Krieg« wurde in der Freimaurerei ganz typisch westdeutsch
 
thematisiert: So hieß es im Jahre 1951 auf dem Großlogentag der Vereinigten Großloge
 
von Deutschland in Bad Ems: »Der Großmeister hat den Kreis derer umrissen, die dazu
 
berufen sind, den geistig-sittlichen Kampf gegen die furchtbare totalitäre Macht des Ostens
 
als Aufgabe der Gegenwart gemeinsam zu führen.«51
 
1967–1972 zeigten sich in der Freimaurerei und ihren Diskursen von der 1968er-Bewegung
 
zwar insgesamt nur moderate, aber doch deutlich spürbare Reaktionen. So erklärte
 
beispielsweise Hans Gemünd, Großmeister der Alten, Freien und Angenommenen Maurer,
 
das Thema »Demokratie und Opposition« zweimal hintereinander zum Jahresthema der
 
Großloge und zum Thema eines Podiumsgesprächs auf dem Würzburger Großlogentag im
 
Jahre 1969.52
 
Im Großen und Ganzen weist der Freimaurerdiskurs der Nachkriegszeit – trotz gelegentlicher
 
Akzentverlagerungen, trotz Veränderungen im Stil des Sprechens und Schreibens
 
– ein hohes Maß an Redundanz auf. Die gleichen Themen kehren immer wieder, Konstanz
 
der Diskursstränge überwiegt und auch im Einzelnen stimmen viele Argumente und
 
Schlagworte in diachroner Perspektive überein.
 
Insbesondere Lagebeschreibungen wie »Die Zeit der Selbstzufriedenheit unserer Bruderschaft
 
ist längst vorbei« und Appelle wie »Wir wollen die in der Abgeschlossenheit unserer
 
Bauhütten gepflegten und erarbeiteten Gedanken unbeirrt in die Tat umsetzen« durchziehen
 
die letzten Jahrzehnte. Es ist schwer auszumachen, ob die genannten Zitate aus 1950,
 
1975 oder dem Jahr 2000 stammen.
 
Die Auswahl von Diskursen für analytische Zwecke ist nun abhängig vom jeweiligen
 
Anliegen der Forschung. Ihre eingehende Untersuchung verspricht sowohl Gewinn für die
 
Beantwortung der (empirischen) Frage, was Freimaurerei war und ist, als auch für (normative)
 
Überlegungen, was Freimaurerei sein und leisten kann.
 
3.2 Diskursstränge
 
Identifizierbar unter den Freimaurerdiskursen der Gegenwart ist zunächst ein Diskursstrang,
 
der sich durch die ganze Geschichte der Freimaurerei gezogen hat, den man daher als den
 
»freimaurerischen Grunddiskurs« bezeichnen kann und der immer auf die Erörterung der
 
im Titel meines Beitrags genannten Frage »Was ist, was will, was soll die Freimaurerei?« hinausläuft.
 
50 Vgl. Höhmann, Hans-Hermann: Freimaurerische Erinnerungskultur, in TAU, Zeitschrift der Forschungsloge
 
Quatuor Coronati, I/2005, S. 4–12.
 
51 Protokoll des Großlogentages 1951 der Vereinigten Großloge von Deutschland in Bad Ems, Bibliothek
 
des Deutschen Freimaurermuseums Bayreuth.
 
52 Demokratie und Opposition, Hamburg 1969.
 
170
 
Geht man den Verästelungen des freimaurerischen Grunddiskurses in seine verschiedenen
 
thematischen Diskursstränge nach, so lassen sich Diskurse über folgende thematische Komplexe
 
unterscheiden:
 
1. Nationale Struktur der deutschen Freimaurerei und ihre internationale Einordnung:
 
• Einheitsdiskurs:
 
Frage nach der einen deutschen Großloge, Vereinigte Großlogen von Deutschland (VGLvD)
 
als Übergangsmodell oder als langfristig gültige Organisationsform der Freimaurerei
 
in Deutschland? Der »Einheitsdiskurs« ist allerdings in der jüngeren Vergangenheit fast
 
vollständig zum Erliegen gekommen. Dies ist auf die gegensätzlichen Einstellungen der
 
Hauptpartner der VGLvD, der Großloge AfuAM und der Großen Landesloge der Freimaurer
 
von Deutschland zurückzuführen. Während die GL AFuAM weitgehend intergrationsfreundlich
 
orientiert war und den Integrationsprozess bis hin zu einer »wirklichen«
 
Großloge im Verständnis der internationalen Freimaurerei weiterführen wollte, fürchtet
 
die Große Landesloge um den Bestand ihrer institutionellen Struktur und konzeptionellen
 
Identität, hält die Zusammenführung der deutschen Freimaurer unter einem Dach
 
für abgeschlossen und steht weiteren Integrationschritten bisher ablehnend gegenüber.
 
Um Fortschritte auf dem Weg zu einer internationalen Maßstäben genügenden Großloge
 
zu erreichen, wäre deshalb zunächst der »Einheitsdiskurs« wieder nachhaltig zu beleben.
 
• Regularitätsdiskurs:
 
Wie soll und kann sich das Verhältnis zwischen deutscher und französischer Freimaurerei
 
(Grand Orient de France und Grande Loge de France) weiterentwickeln? Genderproblematik:
 
Wie soll die Freimaurerei der Männer mit der Freimaurerei der Frauen umgehen?
 
2. Soziale Struktur der Freimaurerei:
 
• Elitediskurs:
 
Ist der Freimaurerbund eine Elite, und wenn ja, in welchem Sinne (dem Anspruch nach,
 
in der Realität, eine Statuselite, eine Habituselite, eine Verantwortungselite)?
 
3. Ideenwelt und Werte:
 
• Wertediskurs:
 
Zu welchen Werten bekennt sich die Freimaurerei, und wie sind diese Werte in die heutige
 
Praxis des Bundes umzusetzen?
 
4. Symbole und Rituale:
 
• Ritualdiskurs:
 
Hier geht es um Herkunft, Bestandteile und Rolle der freimaurerischen Symbole und Rituale
 
sowie um ihre Bedeutung für Konstituierung und Selbstverständnis der Freimaurerei,
 
beispielsweise um die zuletzt von Klaus Horneffer, Großmeister der Vereinigten
 
Großlogen von Deutschland bis Oktober 2006, in einem vom NDR gesendeten Podiumsgespräch
 
aufgeworfene (und im positiven Sinne beantwortete) Frage, ob die zentrale
 
Stellung des Rituals die Freimaurerei zu einer religiösen Vereinigung macht.53
 
53 »Man missversteht die Freimaurerei, wenn man nicht erkennt, dass es sich in Wirklichkeit um einen religiösen
 
Bund handelt. Das Religiöse steht im Mittelpunkt der Freimaurerei, nicht die Ideale, nicht die
 
Ziele.« »Streng geheim!« – Perspektiven der Freimaurerei, NDR-Literarisches Caféhaus, 19.2.2006.
 
171
 
5. Öffentlichkeitsarbeit und öffentliche Aufgaben:
 
• Diskurs Öffentlichkeitsarbeit:
 
Wie soll in Bezug auf Außendarstellung und öffentliche Vermittlung der Freimaurerei
 
verfahren werden?
 
• Aufgabendiskurs:
 
Was sind die Taten der Freimaurer? Hat die Freimaurerei »öffentliche Aufgaben«? Wie
 
steht es um öffentliche Präsenz, gesellschaftliche Partizipation und politisches Engagement
 
des Freimaurerbundes?
 
Auf einen dieser Diskurse will ich ausführlicher eingehen: den Diskurs um das Verhältnis
 
zwischen Freimaurerei und Politik. Dabei möchte ich auch meinen eigenen Standpunkt darlegen,
 
d.h. vom Diskursanalytiker zum Diskursteilnehmer mutieren.
 
3.3 Diffenzierende Begrifflichkeiten
 
Doch zuvor empfiehlt es sich, einige weiter differenzierende Begrifflichkeiten einzuführen,
 
die bis auf die letzte (Diskurshoheit), die von mir – weil für den Kontext unverzichtbar – ergänzt
 
wurde, der Diskursanalyse Siegfried Jägers54 entnommen und auf die Freimaurerei zu
 
bezogen wurden.
 
Neben den schon erörterten Diskurssträngen mit ihren synchronen und diachronen Aspekten
 
lassen sich unterscheiden:
 
Diskursfragmente:
 
Jeder Diskursstrang setzt sich aus einer Fülle von Elementen zusammen, die man traditionell
 
auch als »Texte« bezeichnet. Diskursfragment ist ein Text oder ein Textteil, der ein bestimmtes
 
Thema behandelt. Diskursfragmente verbinden sich zu Diskurssträngen. Schlüsseltexte
 
spielen eine besondere Rolle: Die »Alten Pflichten« sind ein gutes Beispiel dafür. Gleichzeitig
 
verdeutlichen die »Alten Pflichten«, dass ein Text mehrere verschiedene Diskursfragmente
 
enthalten kann, die unterschiedlichen Diskurssträngen zugeordnet werden können.
 
So thematisiert der Abschnitt »Von Gott und der Religion« das Verhältnis zwischen Freimaurerei
 
und Religion, während der Abschnitt »Betragen, wenn die Loge vorüber ist, die Brüder
 
aber noch nicht auseinandergegangen sind« das Verhältnis zwischen Freimaurerei und Politik
 
anspricht. Ein Schlüsseltext der Gegenwart sind – jedenfalls für die Mitglieder der Großloge
 
AFuAM von Deutschland – die sogenannten »Leitgedanken zur Freimaurerei«55. Fast
 
keine Homepage der AFuAM-Logen kommt heute ohne sie aus. Wiederum handelt es sich
 
um einen Text, der mehrere Diskursfragmente enthält.
 
Diskursebenen:
 
Diskursstränge operieren auf verschiedenen diskursiven Ebenen. Diskursebenen lassen sich
 
als soziale Orte bezeichnen, von denen aus jeweils gesprochen wird, wobei verschiedene
 
Ebenen des Diskurses aufeinander einwirken können. Für die Freimaurerei lassen sich u.a.
 
54 Jäger, Siegfried: Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung, Münster 2009.
 
55 Text im Internet unter: http://www.freimaurerei.de/index.php?id=9.
 
172
 
folgende Diskursebenen unterscheiden: Großlogengremien und Großlogenveranstaltungen
 
(Großlogentage, Großlogentreffen), Logen, Collegia Masonica, freimaurerische Zeitschriften,
 
Buchpublikationen, Filme, Videos, Internetpräsenz (Homepages), Internet-Chaträume
 
u.s.w.
 
Diskursive Ereignisse:
 
Diskursive Ereignisse prägen den Verlauf von Diskursen, lösen Diskurse aus: rechtsradikale
 
Gewalt, Wertewandel und Literatur darüber, vermittelt durch provozierende Artikel in der
 
freimaurerischen Presse oder Feststellungen prominenter Freimaurer.
 
Diskurspositionen:
 
Diskursposition meint die spezifischen argumentativen Standorte von Institutionen, Personen,
 
Gruppen, Medien: für oder gegen Aufarbeitung völkischer Traditionen in der Freimaurerei,
 
für oder gegen mehr Ritual in der Logenpraxis, für oder gegen mehr Öffnung zur
 
Gesellschaft, für oder gegen Prinzipien der »Regularität«, für oder gegen ein politisches Engagement
 
der Freimaurerei.
 
Diskurshoheit:
 
Die Teilnehmer am Diskurs sind zwar alle gleich, de facto aber sind Unterschiede da. Höhere
 
Gremien, leitende Personen, ausgewiesene Autoritäten beanspruchen entweder eine größere
 
Autorität für sich oder es wird ihnen eine solche von anderen Diskursteilnehmern zugeschrieben.
 
Ein Großmeister etwa nimmt folglich vermutlich mit größerer Wirkung am Diskurs
 
teil als andere Teilnehmer, auch wenn ihm nicht zugestimmt wird. Schließlich gehört zur
 
Diskurshoheit, dass mancher Bruder mit innovativen, wenn nicht gar unbequemen Auffassungen
 
gar nicht mehr an den Diskursen der freimaurerischen Leitungsorgane beteiligt wird.
 
3.4 Ethisch-normative Aspekte des Freimaurerdiskurses
 
Bevor ich zu inhaltlichen Aspekten des Freimaurerdiskurses der Gegenwart zurückkehre,
 
zuvor noch ein Wort zum normativen Umgang mit Diskursen, zu Diskursniveau und Diskursstil.
 
Hier scheint mir ein Arbeitsfeld des Freimaurerbundes gegeben zu sein, daß unsere
 
Aufmerksamkeit verdient.
 
Ein – zugegebenermaßen drastisches – Beispiel: Im Jahre 1980 wurden in der »Humanität
 
« sogenannte »Thesen bis zum Jahr 2000« veröffentlicht, die nicht allein auf die Freimaurerei
 
bezogen waren, sondern im allgemein Bereich von Werten und Weltbildern angesiedelt
 
waren. Diese Thesen erhielten Zustimmung. Sie stießen jedoch auch auf Kritik, die
 
von den Autoren (den Frankfurter Freimaurern Gerhard Grossmann und Alfred Schmidt)
 
wie folgt zusammengefasst wurde56: »Andere Brüder äußern sich anders. Einige verdammen
 
die Thesenaktion und die Autoren, wobei Ausdrücke wie ›Kathedergeschwätz‹, ›bedauernswerte
 
Thesen‹, ›unfreimaurerische Sprache‹, ›Gemeinplätze‹, ›mieseste Theologenpraxis und
 
-predigt‹, ›Unfug‹, ›krampfhaftes Bemühen‹, ›Blödsinn‹, ›halbgares Aufklärungsgeschwätz‹
 
sowie ›geistige Blähungen‹ fallen und uns Ungeistigkeit vorgeworfen wird.«
 
56 Grossmann, Gerhard/Schmidt, Alfred: Thesen bis zum Jahr 2000: Ein Entwurf und seine Kritiker, in:
 
Humanität, Das deutsche Freimaurermagazin, 6. Jg., Heft 2/1980, S. 8.
 
173
 
Damit stellt sich in der Tat die Frage: wann und wie Diskurse als Mittel der Verständigung
 
taugen, welcher normativen Diskursethik sie zu entsprechen haben und ob es in der
 
Freimaurerei eine »ideale Sprechsituation« (J. Habermas) gibt oder geben kann.
 
Anstoßgebend für das Bemühen um eine »ideale Sprechsituation« waren vor allem die
 
Beiträge zur Diskursethik von Jürgen Habermas, deren zentrales ethisches Kriterium der
 
Diskurs ist. Die Diskursethik beansprucht einerseits den Status einer allgemeinen Ethik57
 
und ist insofern z.B. mit der Ethik Kants, dem Kontraktualismus oder dem Utilitarismus
 
zu vergleichen; andererseits soll die Diskursethik aber auch klären, wie innerhalb von
 
Diskursen ethisch angemessen zu verfahren ist. Als »ideal« im Sinne von Habermas gilt
 
»eine Sprechsituation, in der Kommunikationen nicht nur nicht durch äußere kontingente
 
Einwirkungen, sondern auch nicht durch Zwänge behindert werden, die sich aus der Struktur
 
der Kommunikation selbst ergeben«.58 Freiheit von den von Habermas so genannten
 
»strukturellen Zwängen« ist dann gegeben, wenn alle Diskursteilnehmer die gleichen Chancen
 
haben, »Sprechakte zu wählen und auszuführen«, Geltungsansprüche anzunehmen
 
oder zurückzuweisen, die eigenen Gründe gelten zu lassen, die fremden eigenständig und
 
jenseits äußerer Nötigung zu prüfen. Die Symmetrie der Diskurssituation, also die Herrschaftsfreiheit,
 
zeichnet diese als eine ideale Diskurssituation aus.59
 
Was steht diskursethischen Postulaten in der Freimaurerei im Wege?
 
Auf drei Arten von Störfaktoren kann verwiesen werden:
 
1. Zunächst leiden Diskurse in starkem Maße unter persönlichen Befindlichkeiten (Frustrationen,
 
Missverständnissen, Streitlust, Abwesenheit postulierter freimaurerischer Tugenden,
 
problematisches intellektuelles Niveau) sowie unter ungünstigen Diskursbedingungen
 
(fehlende »Face-to-face-Situationen, Aggressionen enthemmende Anonymität
 
von Internetforen).
 
2. Weiter wirken sich die der Freimaurerei nicht fremden hierarchischen Strukturen und die
 
unterschiedliche Diskursautorität sowie die damit verbundenen Versuchungen negativ
 
auf die Sprechsituation aus: Auf der einen Seite wird nicht auf Diskurs, sondern auf Dekret
 
gesetzt, auf der anderen Seite wird Zurückhaltung geübt und Vorsicht praktiziert,
 
ohne dass diese Schieflagen der Sprechsituation hinreichend thematisiert und reflektiert
 
werden.60
 
3. Schließlich gibt es gleichsam schon institutionell gewordene internationale Rücksichten
 
(Regularitätsfrage, Genderdiskurs, Verhältnis von Männer- und Frauenlogen) sowie interne
 
Harmoniegebote, die einerseits mit der Struktur der VGLvD und den dort mühsam
 
gefundenen Meinungs- und Entscheidungsgleichgewichten, andererseits mit dem par-
 
57 Werner, Micha H.: Diskursethik, in: Düwell, Marcus/Hübenthal, Christoph/Werner, Micha H. (Hrsg.):
 
Handbuch Ethik, Stuttgart/Weimar 2002, S. 140.
 
58 Habermas, Jürgen: Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns,
 
Frankfurt/M. 1995, S. 177.
 
59 De Angelis, Gabriele: Die Vernunft der Kommunikation und das Problem einer diskursiven Ethik. Überlegungen
 
über Vernunft, Kommunikation und Ethik im kritischen Anschluss an die Diskursethik von
 
Jürgen Habermas, 1999, http://www.ub.uni-heidelberg.de/archiv/1813, zitiert nach: Renner, Katharina:
 
Jürgen Habermas’ Diskurstheorie in der Anwendung, Heidelberg 2004, http://mirjam.ktf.univie.ac.at/
 
page/fileadmin/pdf/ wissenschaftliche_texte/HabermasArbeit.pdf.
 
60 Ausführlicher hierzu: Höhmann, Hans-Hermann: Habitus, soziales Feld, Kapital – Freimaurerei im
 
Lichte der Soziologie Pierre Bourdieus, in diesem Band, S. 115–131.
 
174
 
tiell und periodisch immer wieder einmal prekären Verhältnis zwischen blauen Logen
 
und Hochgradsystemen zusammenhängen. Die genannten Rücksichten und Harmoniegebote
 
begrenzen nicht nur die Spielräume der Diskurse, sondern machen auch eine behutsame,
 
gleichsam »wattierte« Sprache erforderlich, die dem Bemühen um Aufklärung
 
abträglich ist. Letztlich mischen sich bei all diesen Fragen Identitätsunsicherheiten, Legitimitätsängste
 
und fehlende Gelassenheit. Gewiss, Rücksichtnahme auf den Charakter
 
des Gesprächsgegenstands und den Partner ist erforderlich, doch setzen »Gesprächsbremsen
 
« des Öfteren bereits ein, bevor sie der Sache und Personen nach erforderlich wären.
 
Es ist Aufgabe der Freimaurerei, es ist gerade eine ihrer wichtigsten Aufgaben, sich um einen hohen
 
Standard der Diskursethik zu bemühen, sich klarzumachen, dass es nicht nur auf das »Was«
 
der Gespräche, sondern vor allem auch auf das »Wie« der Gespräche ankommt, dass zur Einübungsethik
 
der Freimaurerei auch die Einübung in gedeihliche Kommunikationsstile gehört.
 
Bei der diskursethischen Einübung hilft
 
• einerseits das Bevorzugen von Face-to-Face-Gesprächen,
 
• andererseits die Bereitschaft, bei anderen Formen der Kommunikation den Face-to-Face-
 
Test anzuwenden, d.h. sich die Frage zu stellen, inwieweit ich meinen Beitrag zum Diskurs
 
in einer Face-to-Face-Situation ändern müsste.
 
4. Der Diskurs über das politische Engagement der Freimaurerei
 
Als einer der beständigsten und zugleich engagiertesten Diskurse in Gegenwart und jüngerer
 
Vergangenheit kann das Verhältnis zwischen Freimaurerei und Politik gelten. Immer wieder
 
wurden Forderungen angemeldet, die Freimaurerei müsse präsent sein im politischen Raum
 
und in den großen Auseinandersetzungen der Zeit.
 
Schon Ende der 50er Jahre im 1. Heft des 1. Jahrgangs der Zeitschrift »Die Bruderschaft
 
« fragte und antwortete Br. Eberhard Hornig61:
 
»Hat die Politik in der Freimaurerei etwas zu suchen? Nein!«
 
»Hat die Freimaurerei etwas in der Politik zu suchen? Ja!«
 
Und er erläuterte dazu:
 
»Wenn auch die Politik in der Freimaurerei nichts zu suchen hat, so hat, recht verstanden,
 
die Freimaurerei sehr wohl etwas in der Politik zu suchen. … Die Freimaurerei
 
kann und soll aus dem moralischen Gehalt ihres Wesens die Ideale der Toleranz
 
und der Humanität auch in das Spiel der politischen Kräfte hineintragen.«
 
Einerseits – andererseits. Die Freimaurerei darf und darf nicht, sie soll und sie soll nicht.
 
Offensichtlich ist dem Freimaurerbund der Impuls zum öffentlichen Wirken ebenso
 
eigen wie die Grenze, die es aus dem Wesen des Bundes heraus für ein solches Wirken gibt.
 
61 Hornig, Erhard: Ohne politische Scheuklappen, in: Die Bruderschaft, 1. Jahrgang 1959, S. 70–71.
 
175
 
Viele Beispiele ließen sich geben, und eine wichtige Forschungsaufgabe ist zu entdecken.
 
Die Forschungsloge »Quatuor Coronati« hat sich der Problematik auf einer ihrer letzten
 
Arbeitstagungen angenommen. Die Referate sind in der Zeitschrift »TAU« veröffentlicht.62
 
Insgesamt war das Verhältnis zwischen Freimaurerei und Politik in der Nachkriegszeit
 
immer wieder – wenn auch mit unterschiedlicher Intensität – Gegenstand der publizistischen
 
Selbstverständigung in der freimaurerischen Presse.
 
Sechs verschiedene Ebenen dieses Verhältnisses sind dabei erkennbar. Es mag zweckmäßig
 
sein, diese Ebenen auch bei der weiteren Behandlung des politischen Freimaurerdiskurses
 
zu unterscheiden:
 
1. Beziehungen zur Politik im Sinne von Beziehungen zu den Repräsentanten von Politik (den
 
»politischen Räumen« sozusagen: Bundespolitik, Landespolitik, Kommunalpolitik);
 
2. Beziehungen zur Politik im Sinne der Identifizierung mit gesellschaftlich und politisch
 
relevanten
 
Werten und Überzeugungen (Menschenwürde, Freiheit, soziale Gerechtigkeit,
 
Toleranz und Friedensliebe);
 
3. Beziehungen zur Politik im Sinne von Stellungnehmen und Sicheinmischen, kurz eines
 
Engagements, das die Freimaurerei als Institution ins Spiel bringt und über bloße Reflexion
 
hinausgeht;
 
4. Beziehungen zur Politik im Sinne von sozialem und karikativem Handeln;
 
5. Beziehungen zur Politik im Sinne eines Einbeziehens von politischen Fragen in die Diskurse
 
der Logen, Großlogen und der anderen Formen bruderschaftlicher Organisation (etwa
 
die Akademie des AASR oder die Arbeitstagungen der Forschungsloge »Quatuor Coronati«);
 
6. Beziehungen zur Politik im Sinne von publizistischen Beiträgen, d.h. im Sinne von
 
»veröffentlichter Meinung der Freimaurer« in den Zeitschriften der Großlogen.
 
Für all diese Ebenen wären interessante Entwicklungen aufzuzeigen, denn überall gab es Anstöße,
 
die mehr oder weniger weit reichten, mehr oder weniger erfolgreich waren und mehr
 
oder weniger Konsens für sich beanspruchen konnten.
 
Ihre eingehende Behandlung muss weiteren Untersuchungen vorbehalten bleiben.
 
Doch auf eine letzte Zuspitzung möchte ich noch eingehen, weil sie unterschiedliche, ja
 
entgegengesetzte Diskurspositionen auf anschauliche Weise deutlich macht.
 
Br. Rüdiger Oppers, Unternehmenssprecher des WDR und Redner der Großloge
 
AFuAM von Deutschland, schrieb in einem Beitrag zur Zeitschrift »Humanität«63, nachdem
 
er die Teilnahme des Großmeisters an Sabine Christiansens Politik-Talk-Runde befürwortet
 
hatte:
 
»Wir müssen acht geben, dass wir es uns nicht in der schönen Welt des geistigen Tempelbaus
 
bequem machen. Wir würden ja lediglich in einer Scheinwelt leben. Im Tempel
 
entsteht der Bauriss einer gerechten Gesellschaft. Im Logenleben wird dieser Plan
 
in Diskussionen, sogar Bruderzwisten erprobt.
 
Wir verfügen über eine Jahrhunderte alte Erfahrung, wie man unterschiedlichste
 
Gruppen und Interessen zusammenbringt.
 
62 TAU, Zeitschrift der Forschungsloge Quatuor Coronati, II/2005.
 
63 Oppers, Rüdiger: Geht hinaus in die Welt: Politik und Freimaurerei, in: Humanität. Das deutsche Freimaurermagazin,
 
31. Jg., Heft 5/2005, S. 7–11.
 
176
 
Wir können den ›Alten Pflichten‹ treu bleiben ohne eine Sehnsucht nach dem unwiederbringbar
 
vergangenen Gestern. Was wir für die Gestattung der Zukunft unseres
 
Bundes brauchen, sind ›neue Pflichten‹! Zu diesem Pflichtenkatalog gehört unter
 
anderem:
 
• Die Öffnung der Freimaurer für den gesellschaftlichen Diskurs
 
• Die Diskussion mit der Politik
 
• Die Öffnung der Logen für Themen der Allgemeinheit und für möglichst viele
 
Menschen
 
• Die selbstbewusste Darstellung freimaurerischer Werte in der Öffentlichkeit
 
• Die selbstverständliche Repräsentation der Freimaurer in Kultur und Gesellschaft.«
 
Br. Jürgen Gansäuer, Präsident des niedersächsischen Landtages, legte in der Zeitschrift
 
»TAU«64 Widerspruch ein, den er zuvor auf der Quatuor Coronati-Arbeitstagung in Altenburg
 
vorgetragen hatte:
 
»Ich habe Zweifel daran, ob der Freimaurerei und der politischen Kultur in unserem
 
Land wirklich geholfen wäre, wenn der Großmeister regelmäßig als Sprecher der Logen
 
bei Sabine Christiansen und ähnlichen Talkshows zu Gast wäre.
 
Die Frage ist doch: Was würde der Großmeister bei Sabine Christiansen sagen und
 
mit welcher Verbindlichkeit spräche er politisch für die Logen und den einzelnen
 
Bruder? Hätte er der Westbindungspolitik Adenauers zugestimmt, der Einführung
 
der Bundeswehr, dem Nato-Beitritt, den Weichenstellungen für die Europäische Gemeinschaft,
 
dem Nato-Doppelbeschluss, der Beteiligung Deutscher Truppen im Kosovo
 
oder der Einführung des Euro? Wäre die Welt gar besser, wenn sie nur noch von
 
Freimauren regiert würde?
 
Die Wahrheit ist: Das gemeinsame Bekenntnis zur Humanität und Toleranz impliziert
 
geradezu, dass Freimaurer aus guten Gründen zu unterschiedlichen politischen
 
Wertungen gelangen können. Was also soll man sagen, wenn man so selbstbewusst
 
an die Öffentlichkeit geht, wie es hier vorgeschlagen wird, und Pressekonferenzen
 
veranstaltet und darauf hin arbeitet, zu Empfängen und Diskussionen im Radio und
 
im Fernsehen eingeladen zu werden? Brauchen wir wirklich eine solche ›Öffnung
 
der Freimaurer für den gesellschaftlichen Diskurs‹, einen institutionalisierten Dialog
 
›der‹ Freimaurer mit ›der‹ Politik?
 
Ich sage da ein deutliches Nein!«
 
Verfolgt und bilanzierte man nun die Positionen, die zum Verhältnis Freimaurerei und Politik
 
im Laufe der letzten Jahre vertreten worden sind, dann stellt sich mir Folgendes mit aller
 
Deutlichkeit heraus:65
 
64 Gansäuer, Jürgen: Freimaurerische Werte und politische Praxis, in: TAU, Zeitschrift der Forschungsloge
 
Quatuor Coronati, II/2005, S. 26–36.
 
65 Vgl. Höhmann, Hans-Hermann: Deutsche Freimaurerei und Politik nach dem Zweiten Weltkrieg: Zustimmung
 
zur Demokratie – Grenzen für politisches Engagement, in: TAU, Zeitschrift der Forschungsloge
 
»Quatuor Coronati«, II/2005, S. 52–60.
 
177
 
• Für ein gemeinsames politisches Stellungnehmen oder gar Handeln gibt es in der Freimaurerei
 
wenig Raum. Werte wie Freiheit, Toleranz, Gerechtigkeit lassen sich zwar gegenüber
 
manifester, insbesonderer totalitärer Unfreiheit, Intoleranz und Ungerechtigkeit gemeinsam
 
vertreten. In Systemen, die verfassungsmäßig auf Freiheit, Toleranz und Gerechtigkeit
 
angelegt sind, ist die Realisierung der genannten Werte jedoch Resultat der Auseinandersetzung
 
programmatisch unterschiedlich ausgerichteter demokratischer Gruppierungen.
 
Zu diesen gehören Logen und Großlogen aufgrund von Tradition und Selbstverständnis
 
nicht. Wer meint, aus einer freimaurerischen Vereinigung eine parteinehmende
 
Gruppierung machen zu können, bewirkt, dass zuerst die Freimaurerei in Parteien und
 
als Bund dann schließlich gänzlich zerfällt.
 
• Ausnahmen von dieser Regel bestehen allerdings im Falle grober Verstöße gegen gemeinsame
 
Überzeugungsgrundlagen (etwa rassistische Entgleisungen). Dann können, ja müssen
 
Freimaurer gemeinsam vorgehen, weil Überzeugungen verletzt werden, in denen Freimaurer
 
übereinstimmen, weil und solange sie Freimaurer sind.
 
• Das öffentliche Auftreten von Freimaurern im Namen der Freimaurerei erfordert Behutsamkeit,
 
und kein Repräsentant des Bundes sollte in solchen Fällen Aussagen zu politischen
 
Problemen und Vorgängen als »freimaurerisch« deklarieren, wenn diese im Rahmen
 
einer demokratischen Ordnung umstritten sind und folglich auch von Freimaurern
 
ganz unterschiedlich beurteilt werden können.
 
• Die Loge kann und soll politisches Handeln des einzelnen Freimaurers vorbereiten und unterstützen,
 
indem sie ihre Mitglieder informiert, zur Reflexion einlädt, motiviert und
 
mögliche Diskurs- und Handlungsfelder durch »Orientierungen« kenntlich macht, wobei
 
es dann jedoch der einzelne Freimaurer ist, der politisch zu entscheiden und zu handeln
 
hat.
 
Ich habe in verschiedenen Beiträgen sechs derartige »Orientierungen« für ein freimaurerisches
 
»Interesse an der Politik« vorgeschlagen. Diese Orientierungen entsprechen sowohl der freimaurerischen
 
Wertetradition als auch den politischen Aufgabenfeldern im Zeitalter der Globalisierung.
 
Daher sind sie auch geeignet, den politischen Diskurs der Freimaurer zu strukturieren
 
und den thematischen Rahmen für Gespräche im öffentlichen Raum vorzugeben.
 
Ich benenne im Folgenden die von mir vorgeschlagenen Orientierungen und ordne ihnen
 
jeweils pointierte inhaltliche Thesen zu:
 
• die humanitäre Orientierung: Zentrale Werte der Freimaurerei sind Würde und Glückseligkeit
 
jedes einzelnen Menschen;
 
• die demokratische Orientierung: Freimaurer gehen davon aus, dass Würde und Glückseligkeit
 
des Menschen sich aller Erfahrung nach am besten in der politischen Freiheit demokratisch
 
verfasster Systeme sichern lassen;
 
• die soziale Orientierung: Freimaurer sind der Überzeugung, dass Würde und Freiheit des
 
Menschen ohne Bemühen um soziale Gerechtigkeit nicht verwirklicht werden können;
 
• die ökologische Orientierung: Freimaurer stimmen darin überein, dass ohne Friede mit der
 
Natur menschliches Dasein unter industriegesellschaftlichen Bedingungen nicht möglich
 
ist;
 
• die globale Orientierung: Alle Politik ist heute an globalen Maßstäben, symbolisch ausgedrückt
 
an der freimaurerischen Idee der Weltbruderkette, zu messen und
 
178
 
• die rationale Orientierung: Freimaurer gehen davon aus, dass handlungsleitende Orientierungen
 
in der Welt Wissenschaftlichkeit und kritisch rationale Diskurse erfordern.
 
Diese Orientierungen sind nicht dogmatisch, aber auch nicht beliebig. Sie repräsentieren
 
gleichermaßen den minimalen Konsensrahmen, ohne den ethisch verantwortliches individuelles
 
wie gesellschaftliches Handeln unter den komplexen Bedingungen der Welt von heute
 
und morgen nicht möglich ist und ohne den die Gesellschaft auseinanderfällt. Meine Absicht
 
ist dabei, Erörterungsebenen anzubieten, die aus freimaurerischem Wertbewusstsein
 
hervorgehen, ohne die für politisches Entscheiden und Handeln erforderlichen inhaltlichen
 
Auffüllungen vorzunehmen. Denn diese müssen dem Diskurs und der individuellen Entscheidung
 
vorbehalten sein.
 
179
 
»Von Gott und der Religion« –
 
Zum Religionsdiskurs in der deutschen
 
Freimaurerei
 
1. Der Religionsdiskurs in historischer Perspektive
 
1.1 Vorbemerkung
 
In seinem im Jahr 2009 bei Kiepenheuer & Witsch erschienenen Roman »Der Himmel ist
 
kein Ort« erzählt der Autor Dieter Wellershoff von zwei evangelischen Pastoren, die sich
 
in der Pause einer Akademietagung beim Spaziergang unterhalten. »Neulich habe ich einen
 
geistvollen Witz gehört«, sagt der eine, »ein Verstorbener, der gerade in den Himmel kommt,
 
bittet Gott, ihm eine einzige Frage stellen zu dürfen, die er auf Erden nicht beantworten
 
konnte: ›Welche Religion ist eigentlich die richtige?‹ Gott antwortet: ›Das weiß ich nicht. Ich
 
bin nicht religiös.‹«1
 
Die Freimaurer dagegen wussten immer gut Bescheid über die religiösen Dinge, und
 
sie haben stets mit ihren Mitbrüdern, mit der Öffentlichkeit und mit den Institutionen
 
der Religion über ihr Religionsverständnis kommuniziert. Und so begleitet der religiöse
 
Diskurs mit all seinen unterschiedlichen Feldern, Themen und Akteuren die Geschichte
 
der Freimaurerei von Beginn an bis in unsere Tage, ja man kann sagen, dass der religiöse
 
Diskurs der zentrale Diskurs der Freimaurerei gewesen ist und weithin das Denken und die
 
Kommunikation der Freimaurer bestimmt hat. Allerdings nie grenzenlos und ungehemmt,
 
denn weil das Thema Religion nicht nur wichtig, sondern auch brisant ist, empfahlen die
 
Väter der modernen Freimaurerei bekanntlich schon früh, spätestens mit den »Alten Pflichten
 
« von 1723, zurückhaltend und tolerant damit umzugehen und vor allem in der Loge
 
nicht über Religion zu streiten.
 
Meine Skizzen zum masonischen Religionsdiskurs – und um mehr als um Skizzen
 
kann es sich nicht handeln – haben zwei Teile. Während sich der erste mit historischen
 
Perspektiven beschäftigt, behandelt der zweite Aspekte der Gegenwart, wobei auch auf die
 
Relevanz des religiösen Diskurses für die freimaurerische Praxis der deutschen Großlogen
 
eingegangen werden soll.
 
1.2 Warum religiöse Diskurse?
 
Die Frage, warum religiöse Diskurse von so großer Bedeutung für die Freimaurerei sind,
 
lässt sich nur aus historischer Perspektive beantworten. Von Anfang an ergab sich für die
 
Freimaurerei bereits dadurch ein auch auf Religion bezogener Erörterungs- und Definitionsbedarf,
 
dass sie Formen, Zeichen und Riten des Steinmetzhandwerks im Vollzug des historischen
 
»crossovers« von der Maurerei der »Stonemasons« zur Freimaurerei der »Gentleman-
 
1 Wellershoff, Dieter: Der Himmel ist kein Ort, Köln 2009, S. 250.
 
180
 
Masons« auf teils ethisch-soziale, teils religiöse Kontexte übertrug.2 Bei dieser Selbstthematisierung
 
musste das Verhältnis zur Religion schon deshalb eine vorrangige Rolle spielen, weil
 
die Steinmetz-Korporationen, von denen sich die Freimaurerei herleitete, in hohem Maße
 
religiös – konkret: christlich – eingebundene Institutionen gewesen sind.
 
Dieser gleichsam »ontologische« Begründungsbedarf der Freimaurerei und ihres Verhältnisses
 
zur Religion wurde bald doppelt verstärkt.
 
Einmal machten die schon früh einsetzenden Angriffe von außen begründete Apologien
 
erforderlich, in denen es vorrangig um religiöse Fragen ging. Bereits 1698 warnte in
 
London ein Pamphlet »alle gottgefälligen Menschen, dass die, die Freimaurer genannt werden,
 
eine teuflische Sekte darstellen, die im Geheimen Eide abfordert und der Antichrist
 
ist«.3 Offenbar wurde die Freimaurerei bereits im Bewusstsein früher Zeitgenossen in einer
 
gewissen Distanz zum kirchlich etablierten Christentum gesehen und aus christlicher Sicht
 
nicht nur aufgrund ihrer besonderen Gruppenstruktur und der damit verbundenen Arkandisziplin,
 
sondern auch wegen der ihr unterstellten kirchenfernen Religiosität kritisiert.
 
Die immer wieder zitierte Charakterisierung des Freimaurers in den »Alten Pflichten«
 
– »Wenn er seine Kunst recht versteht, wird er weder ein engstirniger Gottesleugner noch
 
ein bindungsloser Freigeist sein« –, diente neben der Identitätsbestimmung ebenso der
 
Abwehr von Angriffen wie der Mitte des 18. Jahrhunderts ausdrücklich als »Apologie des
 
Freimaurerordens« bezeichnete, zuerst in französischer und dann in englischer Sprache
 
veröffentlichte Text4, in dem die Freimaurerei als strikt christlich dargestellt wird und der
 
Autor gleich zu Beginn zum ersten und in seiner Sicht wesentlichsten Einwand, »dass der
 
Freimaurerorden gegen Religion im allgemeinen gerichtet sei; oder dass er zumindest eine
 
christliche Konfession auf den Trümmern aller anderen aufzurichten versuche«, folgendermaßen
 
Stellung bezieht:
 
»Der erste Einwand scheint zwei unterschiedliche Punkte zu umfassen; da aber die meisten
 
der Argumente für beide gleich ausfallen, habe ich mich dafür entschieden, sie nicht voneinander
 
zu trennen.
 
1. Wir vermeiden sorgfältig, Atheisten oder Deisten zum Orden zuzulassen, (und wir versuchen)
 
soweit es möglich ist, in einem Kandidaten derartige Auffassungen zu entdecken
 
oder in seinem Verhalten Anzeichen auszumachen, dass er derartigen Prinzipien zuneigt.
 
2. Der Orden lässt nur Christen zu. Jenseits der Grenzen der christlichen Kirche kann und
 
darf niemand akzeptiert werden. Juden, Mohammedaner und Heiden sind üblicherweise
 
als Ungläubige ausgeschlossen.
 
3. Alle christlichen Gemeinschaften haben gleiche Rechte im Orden und sind ohne jeden
 
Unterschied zugelassen: Dies ist die wohlbegründete Wahrheit, unterstützt durch unsere
 
dauernde Praxis und niemand wird sie verneinen.«
 
2 Vgl. Höhmann, Hans-Hermann: Entwicklung, Reflexion, Wissenschaft. Anmerkungen zum Wechselspiel
 
zwischen freimaurerischer Geschichte und Geschichte der Freimaurerforschung, in: Quatuor Coronati
 
Jahrbuch für Freimaurerforschung, Nr. 41/2004, S. 229–239, hier insbesondere S. 229.
 
3 Nach Neugebauer-Wölk, Monika: »… You shall not reveal any part of what you shall hear or see …«. Geheimnis
 
und Öffentlichkeit in masonischen Systemen des 18. Jahrhunderts, in: Quatuor Coronati Jahrbuch
 
für Freimaurerforschung, Nr. 43/2004, S. 279–294, hier S. 280.
 
4 Apology for the Order of Free Masons by N. M. N. (Author) and Henry W. Thorpe (Translator),
 
Whitefish/
 
MT 2004, S. 2–8 (eigene Übersetzung).
 
181
 
Zur Abwehr äußerer Angriffe kamen bald innere Auseinandersetzungen hinzu, mit denen
 
um die »echte und eigentliche« Form der Freimaurerei gerungen wurde. Für die Freimaurerei
 
waren zwar immer bestimmte Grundelemente konstitutiv5, die über Länder und Zeiten
 
hinweg dieselben blieben, und ich nenne noch einmal in aller Kürze: (1) die abgeschlossene,
 
durch verschwiegene Rituale geschützte, in der Regel männerbündische Gruppe, (2) den initiatischen
 
Charakter der Rituale, (3) die der Bauhüttenüberlieferung entstammende Bausymbolik,
 
die später – insbesondere mit der Schaffung von Hochgradsystemen – ins Hermetisch-
 
Esoterische erweitert und durch Rittersymbolik ergänzt wurde, sowie (4) den Kanon
 
von Werten und religiösen Orientierungen, der um unterschiedliche, teils aufklärerisch-humanitär
 
teils christlich-esoterisch geprägte Begrifflichkeiten kreiste.
 
Die genannten übereinstimmenden Elemente erwiesen sich aber schon früh als unterschiedlich
 
versteh- und ausgestaltbar.6 Nicht zuletzt der freimaurerische Wert- und Orientierungskanon
 
war inhaltlich von Anfang an flexibel interpretierbar, vor allem in seiner
 
Bedeutung für die politisch-gesellschaftlichen und philosophisch-religiösen Kontexte, innerhalb
 
deren sich Logen und Logensysteme definierten. Unterschiedliche Konzepte – etwa
 
hinsichtlich der Frage, ob Freimaurerei einen ethisch orientierten Bund, ein »System of Morality
 
« oder einen religiösen Orden darstelle oder ob ausschließlich Christen oder alle Gott
 
bekennenden Menschen in den Bund aufgenommen werden sollten – wirkten auf Inhalt
 
und Form der Rituale zurück, was dann wiederum Denken und Diskurse zu bestimmten
 
»Lehrarten« der Freimaurerei verdichtete und ihnen Kontinuität verlieh. Es ist zwar richtig,
 
dass Symbole und Rituale in ihrer nunmehr drei Jahrhunderte überspannenden Geschichte
 
die besonderen Merkmale der Freimaurerei sind, die sie von anderen ethisch-geselligen
 
Assoziationen unterscheidbar machten, aber Symbole und Rituale bestimmten nicht, oder
 
zumindest nur zum Teil, die konzeptionellen Inhalte der Freimaurerei, die sich von System
 
zu System, ja oft von Loge zu Loge unterschieden, und die oft entsprechend der jeweils dominierenden
 
ideologischen Grundlage und Interessenstruktur eine neue symbolisch-rituelle
 
Fassung erhielten.
 
Die Unterschiede zwischen den verschiedenen Typen von Freimaurerei lassen sich
 
einmal auf Faktoren zurückführen, die mehr außerhalb als innerhalb der Freimaurerei
 
lokalisiert waren, jedoch nachhaltig auf den Entwicklungsprozess des Bundes, seine Dynamik
 
und seine Differenzierungen zurückwirkten, wie politisches Umfeld, Zeitgeist und
 
gesellschaftliche Strukturen. Sie waren aber auch darauf zurückzuführen, dass es auf dem
 
Hintergrund dieser Einflussfaktoren und Entwicklungsmilieus durchaus unterschiedliche
 
individuelle Motivationen gab, dem Freimaurerbund beizutreten: Religiöse, weltanschaulich-
 
philosophische, soziale und politische Motive vermischten sich bei dem nach 1717
 
einsetzenden »Run« auf das Erfolgsmodell Freimaurerei. Viele suchten, aber die meisten
 
von ihnen suchten immer auch etwas jeweils anderes.
 
Resultat waren zahlreiche Formen und Typen von Freimaurerei, und so taugte die seit
 
Kaiser Friedrichs III. Tagen vor allem in Deutschland populär gewordene Formel: »Es gibt
 
nur eine Freimaurerei« von Anfang an nicht zur Analyse, und sie sollte sich später – bis in
 
5 Vgl. Höhmann, Hans-Hermann: Die Freimaurer, in: Klöcker, Michael/Tworuschka, Udo: Handbuch
 
der Religionen, 21. Ergänzungslieferung 2009 (Juli), IX – 20, S. 4–10.
 
6 Vgl. Neugebauer-Wölk, Monika: Zur Einführung, in: Maurice, Florian: Freimaurerei um 1800. Ignaz Aurelius
 
Feßler und die Reform der Großloge Royal York in Berlin, Tübingen 1997, S. XI–XVIII, hier S. XVIII.
 
182
 
die Gründungsphase der Vereinigten Großlogen von Deutschland (VGLvD) hinein – auch
 
als Grundlage fragwürdiger strategischer Konzepte erweisen.
 
1.3 Vom 18. zum 19. Jahrhundert
 
Der Wilhelmsbader Freimaurer-Konvent von 1782 war ein letzter, umfassender Versuch,
 
Ordnung in der deutschen Freimaurerei zu schaffen und das System der »Strikten Observanz
 
« auf eine neue, tragfähige Grundlage zu stellen. Zugleich bot der Konvent ein Beispiel
 
für einen auf hoher gesellschaftlicher Ebene geführten religiösen Diskurs, an dem gleichermaßen
 
Protestanten wie Katholiken beteiligt waren und wie er danach in der Freimaurerei
 
nicht wieder zustande kommen sollte.
 
Mit Ludwig Hammermayer lassen sich drei Hauptgruppen von Konventsteilnehmern identifizieren,
 
von denen zwei ganz dezidiert von einem religiösen Verständnis von Freimaurerei
 
ausgingen:7
 
1. Die Anhänger sehr verschiedener hermetisch-alchymistischer Traditionen, die grundsätzlich
 
am maurerischen Templerorden festhalten und ihn höchstens modifizieren und modernisieren
 
wollten.
 
2. Die Anhänger des mystisch-martinistischen Lyoner Systems, angeführt durch Herzog Ferdinand,
 
Prinz Karl von Hessen und Jean Baptiste Willermoz.
 
3. Die Anhänger von Aufklärung und Rationalismus mit Ditfurth, Bode und von Kortum
 
aus Warschau als wichtigsten Vertretern und Adolph Freiherr Knigge als nachhaltig wirkende
 
Hintergrundperson. In dieser Gruppe spielten auch Illuminaten eine bedeutsame
 
Rolle.
 
Hammermayer hat die Ergebnisse des Konvents und insbesondere die Bedeutung des »Systems
 
der wohltätigen Ritter« folgendermaßen zusammengefasst:
 
»(Nach Wilhelmsbad sah) der Orden seine wahre Aufgabe in der Vollendung des
 
Christentums auf dem Wege esoterischer, mystisch-spiritualistisch-martinistischer
 
Freimaurerei. In der Lehre Saint-Martins wähnte er den Schlüssel zu vertiefter Erkenntnis
 
Gottes, seiner menschlichen wie dinglichen Schöpfung – und nicht zuletzt
 
zum Wiedergewinn der prä-existenten Harmonie und der ihr innewohnenden übersinnlichen
 
Kräfte gefunden. Diesem dominierenden Martinismus verbanden sich im
 
Wilhelmsbader System mystisch-pietistische und theosophische Einflüsse aus den
 
maurerischen Systemen eines Haugwitz und der Schwedischen Logen, (die bereits
 
in den Johannesgrad-Ritualen ersten Niederschlag fanden). Dass ein solches maurerisches
 
System vielen fremd und unzugänglich, ja unheimlich erscheinen musste und
 
manchen Adepten überforderte, verwundert nicht.«8
 
Die deutsche Freimaurerei ist nach dem Konvent von Wilhelmsbad jedenfalls nicht dem
 
Weg des Lyoner Systems gefolgt, und sie konnte auch keine andere gemeinsame Grundla-
 
7 Hammermayer, Ludwig: Der Wilhelmsbader Freimaurer-Konvent von 1782, Heidelberg 1980, S. 37f.
 
8 Ebenda, S. 86f.
 
183
 
ge finden. Insofern war der Konvent gescheitert. Wilhelmsbad brachte jedoch aus heutiger
 
Sicht einen erheblichen Erkenntnisgewinn. Wurden doch die Probleme und Strömungen
 
der deutschen und kontinentaleuropäischen Freimaurerei vor der Wende zum 19. Jahrhundert
 
sowie wichtige Tendenzen zukünftiger Entwicklungen klar erkennbar.
 
Für das Verhältnis zwischen Freimaurerei und Religion bzw. den religiösen Diskurs
 
waren zwei Umstände von besonderer Bedeutung: Einmal verfestigten sich in Deutschland
 
tief verwurzelte, bis heute weiterwirkende konzeptionelle und organisatorische Unterschiede
 
zwischen »humanitärer« und »christlicher« Freimaurerei,9 zum anderen änderte
 
sich die konfessionelle Struktur der deutschen Freimaurerei, weil die Zahl katholischer
 
Mitglieder rasch und gründlich zurückging.
 
Jetzt entstand die für die Logen der klassischen Bürgerperiode vom Vormärz bis zum
 
Ersten Weltkrieg typische Zivilreligion, die sich als kirchenfern, undogmatisch, »gebildet«
 
und doch religiös und in unterschiedlichem Ausmaß auch als christlich verstand.10
 
Eine solche »Religion der Bürger« bestimmte das Selbstverständnis wie die kulturellen
 
Praktiken der Logen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Zivilreligion der
 
Logen, die »Religion der Menschheit« – dies und das folgende in Übereinstimmung mit
 
der überzeugenden Analyse Stefan Ludwig Hoffmanns11 –, stand nicht, wie die Freimaurer
 
glaubten, über den Konfessionen, sondern war im Kern protestantisch. Dies zeigte sich
 
nicht nur am Antikatholizismus der Freimaurer, der vielen Logenreden eigen war, und an
 
den gleichzeitig erfolgenden Zurückweisungen der Kritik von Seiten der Kirchen, vor allem
 
der katholischen. Es zeigte sich auch und insbesondere am logen- und großlogeninternen
 
Diskurs über die Aufnahme von Juden, die man maurerischen Prinzipien entsprechend
 
doch eigentlich als Brüder in der Loge hätte akzeptieren sollen und die man doch selbst
 
bei den humanitären Großlogen nur zögerlich akzeptieren wollte.
 
Johann Caspar Bluntschli,12 Staats- und Völkerrechtler von großer Bedeutung, war führender
 
Protestant und als engagierter Freimaurer einer der einflussreichsten Teilnehmer
 
am Religionsdiskurs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Bluntschli war 1838 in
 
Zürich Freimaurer geworden (Loge »Modestia cum libertate«) und gehörte in seiner Zeit
 
als Heidelberger Hochschullehrer der Loge »Ruprecht zu den fünf Rosen« als Mitglied
 
an, deren Stuhlmeister er war. Von 1872 bis 1878 war er Großmeister der Großloge »Zur
 
Sonne« in Bayreuth und maßgeblich an der Gestaltung der Großlogenrituale beteiligt.
 
Aufsehen erregte sein offenes Schreiben an Papst Pius IX. im Jahre 1865, in dem er die erneute
 
Verdammung der Freimaurerei (Enzyklika »Quanta cura« mit beigefügtem »Syllabus
 
errorum«) zurückwies. Bluntschli war Anwalt der Vereinigung der deutschen Freimaurer in
 
einer gemeinsamen Großloge, fand jedoch mit einem entsprechenden Verfassungsentwurf
 
auf dem Großlogentag von 1878 keine Zustimmung. Aus Enttäuschung darüber stellte er
 
danach seine freimaurerischen Aktivitäten weitgehend ein.
 
9 Auf diese Unterschiede ist im zweiten Teil dieses Beitrags noch einmal ausführlicher zurückzukommen.
 
10 Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte, Bd. 1, München 1999, S. 519.
 
11 Hoffmann, Stefan-Ludwig: Die Politik der Geselligkeit. Freimaurerlogen in der deutschen Bürgergesellschaft
 
1840–1918, Göttingen 2000, S. 256–266.
 
12 Zu Bluntschli unter Berücksichtigung seines freimaurerischen und protestantischen Engagements zuletzt
 
Metzner, Carolin: Johann Caspar Bluntschli: Leben, Zeitgeschichte und Kirchenpolitik 1808–1881,
 
Frankfurt/Main 2009.
 
184
 
Bluntschli hat das Grundprinzip der »Religiosität der Bürger-Freimaurer« folgendermaßen
 
definiert:13
 
»Sie hält fest an dem, allen christlichen und nichtchristlichen Völkern gemeinsamen
 
Glauben an einen persönlichen Gott, der dem Maurer vorzüglich als ein schaffender
 
und erhaltender Künstler, als Erbauer des Weltgebäudes nahe tritt, und prägt diesen
 
Gedanken in kultusartiger Form aus.«
 
Eine solche Religiosität stehe über den Konfessionen, denn – so wieder Bluntschli –:
 
»Die maurerische Moral betont überall die Würde der Menschennatur und mahnt
 
zur Bruderliebe … Eine Loge kann daher konsequent keinem human Andersgläubigen
 
die Bruderhand versagen, wenn gleich sie der christlichen Religion als der ihres
 
mütterlichen Bodens am nächsten steht.«
 
Die individuelle Tugend der Bürger, ihre Moralität schien nicht ablösbar vom religiösen
 
Glauben zu sein. »Wer sich nur Menschen und nicht Gott verantwortlich fühlt, kann kein
 
sittlicher Mensch sein«, hieß es in einer Logenrede,14 und »als die ›sittlichste‹ Form der Religiosität
 
galt wie selbstverständlich der liberale Protestantismus«.15
 
Atheismus galt als für Freimaurer ausgeschlossen.16 Bluntschli selbst trug in starkem
 
Maße dazu bei, dass der Glaube an einen nicht weiter bestimmten Gott als Aufnahmebedingung
 
aller deutschen Logen in den von ihm mitverfassten »Allgemeinen Grundsätzen«
 
des Großlogentages von 1878 festgeschrieben wurde. Freimaurerlogen, welche die Existenz
 
Gottes verleugneten, sollten nicht als reguläre Loge anerkannt und die Beziehungen zum
 
»Grand Orient de France«, der sich im Vorjahr zum Verzicht auf das Symbol des »Großen
 
Baumeisters« entschlossen hatte, abgebrochen werden. Die Trennungslinie zwischen einer
 
christlich-protestantischen, wenn auch teilweise Nicht-Christen offenen Logenwelt auf der
 
einen und einer Atheismus als persönliche Weltanschauung zulassenden Freimaurerei auf
 
der anderen Seite blieb für längere Zeit scharf gezogen.
 
Die Auffassung, Sittlichkeit bedürfe der religiösen Rückbindung, findet sich auch in
 
den Beiträgen eines anderen prominenten Teilnehmers am religiösen Diskurs deutscher
 
Freimaurer in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, des bedeutenden Berliner Agrarwissenschaftlers
 
Hermann Settegast. Settegast war von 1884 bis 1889 zugeordneter Großmeister
 
der Großen Loge Royal York, wurde 1889 zum Großmeister gewählt, trat aber ein Jahr
 
später zurück, weil seine »Vorschläge zur Umgestaltung des Systems der großen Loge, die
 
Verzichtleistung auf maurerische Hochgrade … sowie (seine) Anträge bezüglich ungerechtfertigter
 
Zurückweisung von Suchenden nicht-christlicher Religion abgelehnt wurden«.17
 
13 Bluntschli, Johann Caspar: Freimaurer, in: Bluntschli, Johann Caspar/Brater, Karl (Hrsg.): Deutsches
 
Staatswörterbuch, Bd. 3, Stuttgart 1858, S. 745–755, hier S. 753, zitiert nach Hoffmann, Stefan-Ludwig:
 
a.a.O., S. 257f.
 
14 Zitiert nach Hoffmann, Stefan-Ludwig: a.a.O., S. 258.
 
15 Ebenda.
 
16 Dies und das Folgende wiederum nach Hoffmann, Stefan-Ludwig: a.a.O., S. 261f.
 
17 Settegast, Hermann: Die Deutsche Freimaurerei. Ihre Grundlagen, ihre Ziele für Freimaurer und Nichtfreimaurer,
 
Berlin 1892/1919, S. 9.
 
185
 
Für Settegast ist
 
»die Idee der Sittlichkeit … mit der Gottesidee untrennbar verbunden. Da der Denkende
 
seine Beziehungen zu Gott, seine Abhängigkeit von ihm nicht lösen, d.h. ohne
 
religiöses Bewußtsein menschenwürdig nicht leben kann, so ist er in seiner gesamten
 
Lebensanschauung und Lebensführung dem Gebot der Sittlichkeit untertan. Aber
 
die Religion ist nicht die Kirche und fesselt den Bekenner der Sittlichkeit so wenig an
 
einen positiven kirchlich-religiösen Glauben, dass ihm in Unabhängigkeit von diesem
 
und von allen Besonderheiten kirchlicher Lehrarten, Lehrmeinungen und -ordnungen
 
auf dem Boden sittlichen Fürwahrhaltens selbständige Bewegung gestattet,
 
d.h. unantastbare sittliche bzw. Gewissensfreiheit verbürgt ist«.18
 
Andererseits prangerte Settegast in scharfen Worten die Praxis der Großen Loge Royal York
 
an, trotz formaler Öffnung in der Großlogenverfassung Juden de facto aus Logen der Großloge
 
herauszuhalten. Alfred Oehlke berichtet in einer biographischen Skizze über Settegasts
 
Kritik an der vorherrschenden Kugelungspraxis:
 
»Nach den damals bestehenden Vorschriften der Großloge Royal York war die Abstimmung
 
über Suchende eine absolut geheime. Eine bis drei ungünstige Stimmen
 
mußten zwar begründet werden, mehr als drei aber wiesen den Suchenden ohne weiteres
 
ab. Bei der gerade in jener Zeit zur Herrschaft gelangten antisemitischen Strömung
 
hatte sich der Brauch herausgebildet, Suchende jüdischen Glaubens systematisch
 
dadurch abzuweisen, daß ihnen mehr als drei schwarze Kugeln geworfen wurden.
 
Settegast erblickte in dieser regelmäßigen Übung einen Verstoß nicht nur gegen
 
das Wesen der Freimaurerei, sondern auch gegen eins der Grundgesetze eben jener
 
Großloge selbst.«19
 
Settegast war wie Bluntschli evangelischer Christ, doch er betonte gleichzeitig, »dass es
 
für die Freimaurerei auf den Unterschied zwischen Judentum und Christentum nicht ankomme,
 
denn die Grundgedanken, die die Freimaurerei zur Voraussetzung haben, seien an
 
kein religiöses Bekenntnis geknüpft; in dem Judentum aber seien sie, wie sich nachweisen
 
lasse, ganz ausdrücklich vorhanden«.20
 
1.4 Neue Grenzziehungen im 20. Jahrhundert
 
Im Verlauf des 20. Jahrhundert zeichneten sich allerdings neue Grenzziehungen ab. Zunächst
 
entstand mit dem »Freimaurerbund zur aufgehenden Sonne« (FzaS) auch in Deutschland
 
ein nicht religiös gebundenes, säkular-liberales Verständnis von Freimaurerei, in dem
 
insbesondere der postulierte strikte Zusammenhang zwischen religiösem Glauben und moralischem
 
Handeln infrage gestellt wurde. Dabei hielt der FzaS an der symbolisch-rituellen
 
Ausrichtung der Freimaurerei fest, und seine in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts
 
18 Ebenda, S. 32.
 
19 Oehle, Alfred: Hermann Settegast. Ein Lebensbild, in: Settegast, Hermann: Die Deutsche Freimaurerei.
 
Ihre Grundlagen, a.a.O., S. 17f.
 
20 Ebenda, S. 23f.
 
186
 
entstandenen Rituale sind sowohl von der ethisch-aufklärerischen Ausrichtung der Freimaurerei
 
des FzaS als auch von einer breit ausgestalteten kosmologischen Spiritualität geprägt.
 
Auch hier fand sich mit Rudolph Penzig ein überragender Diskursteilnehmer.21 In
 
seinem Mitte der 1920er Jahre veröffentlichten »Freimaurerlehrbuch« führt Penzig auf die
 
Frage »Verlangt nicht aber gerade das freimaurerische Ziel sittlicher Willensbildung nach
 
einer religiösen Begründung der Sittlichkeit?« das Folgende aus:
 
»Diese Frage sollte seit Spinozas und Kants Lebenswerk unmöglich geworden sein.
 
Daß die Sittlichkeit keiner religiösen Begründung bedarf, eine solche vielmehr mit
 
dem Lohn- und Strafbegriff die wahre Sittlichkeit gefährdet, dass nur das Bedürfnis
 
nach einer überweltlichen Vollzugskraft rechtlichen und sittlichen Vorschriften die
 
Weihe des Heiligen verlieh, dass endlich eine reinmenschlich-natürliche Sittenlehre
 
längst als lediglich auf dem Gemeinschaftswillen der Menschheit anerkannt ist, kann
 
selbst von den Vertretern der Gegenseite nicht mehr bestritten werden. Die auf dem
 
Boden des Menschheitsgedankens ruhende Freimaurerei kann für ihr Erziehungswerk
 
nur eine von allen Glaubensmeinungen und jenseitigen Voraussetzungen freie
 
rein-menschliche Sittenlehre brauchen.«22
 
In Abwehr der dem FzaS entgegengehaltenen Vorwürfe, religiöse Bekenntnisse und Freimaurerei
 
schlössen sich in seiner Sicht aus, bemerkt Penzig:
 
»Der Freimaurerbund … fordert seinerseits keinerlei Bekenntnis, auch nicht das des
 
Unglaubens. Allerdings macht er dabei die Voraussetzung, dass der Fromme noch
 
ein Suchender sei, nicht ein Angekommener, ein Strebender, nicht ein Fertiger, ein
 
Hungernder, nicht ein Satter! Schätzt doch der Freimaurer mehr das Forschen nach
 
der Wahrheit, als ihren Besitz, den Willen zum Besserwerden mehr als die unantastbare
 
Heiligkeit, kurz den Weg höher als das Ziel.«23
 
Und an anderer Stelle konstatiert Penzig zum Nebeneinander einer religiös gebundenen und
 
einer religiös ungebundenen, liberalen Freimaurerei:
 
»Wie ein Strom von den verschiedensten Quellen und Nebenflüssen aus Himmelshöhen
 
und Erdentiefen gespeist wird, so mag auch der Wille zur Vervollkommnung
 
der Menschheit seine lebendige Kraft aus religiösen oder humanen, göttlichen oder
 
menschlichen Beweggründen schöpfen – dass er da sei und wirke und die ganze
 
Menschheit endlich erfülle, – darauf kommt es an.«24
 
21 Dr. Rudolph Penzig war von 1919 bis 1926 Großmeister des FzaS. Er gehörte seit 1903 zum linken Flügel
 
der Fortschrittspartei und ab 1917 zur SPD. Penzig war in Berlin-Charlottenburg ehrenamtlicher Stadtrat
 
und von Beruf Moralpädagoge. Er wirkte u.a. leitend im Bruno-Bund, in der Deutschen Gesellschaft
 
für ethische Kultur, im Deutschen Bund für weltliche Schule und Moralunterricht und im Vorstand des
 
Bundes freireligiöser Gemeinden.
 
22 Penzig, Rudolph: Freimaurer-Lehrbuch, Oldenburg o.J., S. 17.
 
23 Ebenda, S. 18.
 
24 Ebenda, S. 19.
 
187
 
Ein eigentlicher, von gegenseitiger Achtung und Toleranz bestimmter Diskurs um die Position
 
des FzaS ist nicht geführt worden. Bedauerlicherweise, so muss man sagen, vor allem
 
im Hinblick auf die späteren weltanschaulich-religiösen Annäherungen großer Teile der
 
deutschen Freimaurerei an den Nationalsozialismus. Es blieb beim Diktum der Irregularität.
 
Und so ist es nicht ohne historische Ironie, dass sich heute alle deutschen Großlogen,
 
auch die ehemals strikt ablehnenden christlichen Großlogen in ihrer Öffentlichkeitsarbeit
 
gern mit den Namen der FzaS-Brüder Kurt Tucholsky und Carl von Ossietzky schmücken
 
und insbesondere deren ablehnende, ja widerständige Einstellung zum Nationalsozialismus
 
hervorheben. Ist das nun Gedankenlosigkeit, ist es schlicht peinliche Anmaßung, ist es eine
 
– zumindest implizite – Kritik an der ablehnenden Haltung gegenüber dem FzaS in den
 
1920er Jahren oder ist es Ausdruck der Überzeugung, dass spätestens im ewigen Osten die
 
Scheidung regulär – irregulär nicht mehr gilt? Die deutschen Freimaurer sollten diese Fragen
 
in ihren künftigen Diskursen nicht ausschließen.
 
Neue Trennungslinien traten zwischen dem Ersten Weltkrieg und dem Verbot der Freimaurerei
 
Mitte der 1930er Jahre in Erscheinung. Zunächst kam es zu einer wechselseitigen
 
Verschärfung des Tons zwischen deutscher – insbesondere altpreußischer Freimaurerei –
 
und der englisch-amerikanischen Freimaurerei. Auf der Seite der »altpreußischen« Freimaurerei
 
wurde die Verbindlichkeit der »Alten Pflichten« abgelehnt und den englischen
 
Freimaurern Oberflächlichkeit und Fehlen religiöser Tiefe vorgehalten. Umgekehrt gab
 
es seitens der »English-speaking Masonry« prinzipielle Abgrenzungen und Verurteilungen
 
gegenüber der »altpreußischen« Freimaurerei, deren Regularität in Zweifel gezogen wurde.25
 
Gleichzeitig vertiefte sich die Spannung zwischen altpreußischer und humanitärer Freimaurerei
 
in Deutschland. Es wurde konzeptionell heftig gestritten, wobei die Vermischung nationaler
 
mit religiös-christlicher Rhetorik besonders kennzeichnend war. Auf altpreußischer
 
Seite kam es zu einer zunehmenden Identifizierung mit altgermanischer Mystik, die schließlich
 
auch zu einer Arisierung der Rituale führte, während gleichzeitig eine Anlehnung an
 
die Glaubenspositionen der »deutschen Christen« des Reichsbischofs Müller empfohlen
 
wurde.26
 
Vorangetrieben wurde diese Entwicklung vor allem durch August Horneffer, den
 
Schriftführer, Archivar und De-facto-Großsekretär der »Großen Loge von Preußen, gen.
 
zur Freundschaft«. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg hatte August Horneffer gemeinsam
 
mit seinem Bruder Ernst eine mystisch-religiöse Auffassung der Freimaurerei vertreten,
 
die zunächst kaum Akzeptanz fand.27 Im Verlauf der 1920er Jahre näherte sich Horneffer
 
immer mehr einer »ariosophen« Esoterik an, wie sie von Guido von List und Jörg Lanz
 
von Liebenfels entwickelt und vertreten wurde, die auch Hitler nicht unwesentlich beeinflussten.
 
Konsequenterweise hieß es dann im Juni 1933 an der Tafel des zur Sonnwendfeier
 
25 The Maine Masonic Text Book for the Use of Lodges, 1923, S. 164. Vgl. Höhmann, Hans-Hermann: Europas
 
verlorener Friede, die nationalvölkische Orientierung innerhalb der deutschen Freimaurerei und
 
die »freimaurerische Erinnerungspolitik« nach dem Zweiten Weltkrieg, in diesem Band, S. 58.
 
26 Ausführlich hierzu Höhmann, Hans-Hermann: Europas verlorener Friede, die nationalvölkische Orientierung
 
innerhalb der deutschen Freimaurerei und die »freimaurerische Erinnerungspolitik« nach dem
 
Zweiten Weltkrieg, in diesem Band, S. 51–87.
 
27 Vgl. Hoffmann, Stefan-Ludwig: a.a.O., S. 275.
 
188
 
gewordenen Johannisfestes als Quasi-Tischgebet: »Sonnenwende – Schicksalswende! Ständig
 
nesteln Nornenhände …«28
 
Gewiss: Verbot und Unterdrückung durch das NS-System haben die deutsche Freimaurerei
 
auf das Schwerste beschädigt, das Verbot hat freilich auch weitere Verbiegungen
 
und Anpassungen an das System verhindert, zu denen es – daran kann nach Lage der
 
historischen Fakten überhaupt kein Zweifel bestehen – zweifellos gekommen wäre. So war
 
das Ende von 1935 zugleich eine Rettung des Ansehens der Freimaurerei, ohne die es den
 
Neuaufbau nach 1945 nicht hätte geben können.
 
2. Der freimaurerische Religionsdiskurs der Gegenwart
 
2.1 Ängste und Besorgnisse
 
Und nun im zweiten Teil meiner Skizze: zum religiösen Diskurs in der deutschen Gegenwartsfreimaurerei.
 
Auch heute führen Brüder, Logen und Großlogen den religiösen Diskurs in Erklärungen,
 
in Zeitschriften (insbesondere die »Zirkelkorrespondenz« der Großen Landesloge
 
besteht zu einem großen Teil aus Beiträgen zum religiösen Diskurs) und auf ihren Internetseiten.
 
Es ist allerdings immer nur ein kleiner Anteil der deutschen Freimaurer, der sich
 
daran beteiligt. Was die einzelnen Freimaurer über religiöse Fragen denken und wie ihr
 
Verhältnis zu Kirche und Glauben beschaffen ist, gehört zu den der empirischen Forschung
 
bislang versperrten, persönlich-subjektiven freimaurerischen Geheimnissen – und vielleicht
 
ist das auch gut so!
 
Auch die Forschungsgesellschaft »Quatuor Coronati« beteiligt sich am religiösen Diskurs,
 
und zwar so intensiv, dass der eine oder andere meint, es sei inzwischen genug damit.
 
Genug weniger, weil die Ergebnisse der Gespräche wirklich zufriedenstellend wären, genug
 
vielmehr deshalb, weil sich zeigt, dass ein offen geführter religiöser Diskurs nicht nur Erkenntnisfortschritte,
 
sondern auch Risiken für Harmonie und Stabilität in der Bruderschaft
 
mit sich bringt. Des Öfteren scheinen Unklarheiten in Bezug auf das Verhältnis zwischen
 
Freimaurerei und Religion leichter zu ertragen zu sein als Deutlichkeit und Präzision in
 
den weltanschaulichen Positionen, was ja ein Nachdenken über Konsequenzen und klare
 
Stellungnahmen nahelegen, ja erforderlich machen würde.
 
Die heutigen Freimaurer scheinen aus vielen Gründen nicht so recht frei zu sein,
 
wirklich offen über Fragen der Religion im Kontext ihres Bundes zu sprechen. Während
 
die religiösen Diskurse der Theologen oft von erfrischender Schärfe und Eindeutigkeit in
 
den Positionen sind, verläuft der freimaurerische Religionsdiskurs einerseits merkwürdig
 
unscharf und gebremst, andererseits aber auch erregt, beleidigt und aggressiv, wozu er sich
 
dann oft in die zuweilen recht trübe Welt der masonischen Internetforen verlagert. Eine
 
Ausnahme machen allerdings meiner Beobachtung nach die Freimaurerinnen, denen oft
 
ein erfrischend direkter Umgang mit Tabus gelingt.
 
28 Ordensblatt, hrsg. vom Nationalen Christlichen Orden Friedrich der Große in Berlin, 1. Jg., Juli/August
 
1933, Nr. 3, S. 45.
 
189
 
Warum ist der religiöse Diskurs so schwierig?
 
Zu benennen ist insbesondere eine Reihe von Besorgnissen und Ängsten:
 
• Ängste vor einer Beschädigung der gewohnten und liebgewonnen weltanschaulich-religiösen
 
Heimat und – damit verbunden und daraus resultierend – Besorgnisse und Ängste
 
im Hinblick auf möglicherweise einsetzende Veränderungen von Ritual und Organisation.
 
Die empirische Soziologie beobachtet ja des Öfteren, dass besonders dann an tradierten
 
formalen Strukturen festgehalten wird, wenn die aus der Tradition überlieferten
 
Inhalte unscharf und instabil geworden sind.
 
• Dazu kommen Besorgnisse und Ängste im Hinblick auf Konflikte innerhalb der und zwischen
 
den Großlogen der VGLvD, müsste doch ein offener Religionsdiskurs gravierende
 
Unterschiede zwischen der ethisch-symbolisch orientierten GL A.F.u.A.M. und dem
 
christlichen Freimaurerorden zutage fördern, durch die die Harmonie, wenn im Extremfall
 
nicht gar Einheit und Bestand der VGLvD beschädigt werden könnten. (Ich komme
 
auf diesen Gesichtspunkt noch ausführlicher zurück.)
 
• Weiter zu erwähnen sind Auswirkungen der »Arkandisziplin«: Oft sind die Brüder Freimaurer
 
unsicher, was bei der Kommunikation mit Außenstehenden zum Ritual gesagt
 
werden darf bzw. soll und die Bemühungen der Großlogen, hierzu eine Klärung herbeizuführen,
 
reichen nicht aus. Wer das Ritual im Diskurs ausspart, kann freilich auch nicht
 
über dessen Beziehung zu Religion und Religiosität kommunizieren. Die Fähigkeit, gehaltvoll
 
über das Ritual zu sprechen und zugleich das »Kerngeheimnis« nicht preiszugeben,
 
ist unterentwickelt, zumal die Ergebnisse der neueren Ritualforschung, die hier
 
zu Kompetenz und Auskunftsfähigkeit verhelfen könnten, bis in die Spitzen der maurerischen
 
Hierarchien hinein weitgehend nicht zur Kenntnis genommen wurden. Ersatzweise
 
begnügt man sich dann zuweilen mit der Mitwirkung an fragwürdigen Fernsehfilmen
 
(besonders abschreckend: die ARD-Produktion »Tempel, Logen, Rituale«).
 
• Besonders groß sind die genannten Besorgnisse und Schwierigkeiten bei den Vertretern
 
höherer Gradsysteme, die fürchten, in einen von ihnen nicht gewünschten Diskurs innerhalb
 
und außerhalb des Bundes hineingezogen zu werden, nicht erwünscht, weil mit der
 
Erfordernis einer größeren Offenheit im Hinblick auf Struktur und Sinnhaftigkeit der
 
entsprechenden Systeme verbunden. (Weiter unten komme ich auch auf diesen Punkt zurück.)
 
• Dann gibt es – »natürlich« möchte man sagen – Besorgnisse und Ängste im Hinblick auf
 
drohende Infragestellungen der Regularität und einer nachfolgenden Intervention seitens
 
der Vereinigten Großloge von England.
 
• Schließlich bestehen Unsicherheiten im Hinblick auf die Frage, wie mit Agnostikern oder
 
gar Atheisten im Falle von Aufnahmeanträgen umzugehen ist, während es keine Schwierigkeiten
 
macht – ich wiederhole –, sich posthum mit ihnen und ihrem Freimaurer-Status
 
werbewirksam zu identifizieren (von Ossietzky, Tucholsky). Dabei könnte die Sache
 
doch ganz einfach sein, und Helga Widmann, die Großmeisterin der Frauengroßloge, hat
 
auf der Frankfurter QC-Arbeitstagung im März 2009 – während sich die auf dem Podium
 
versammelten Vertreter der Großlogen in schwammigen Unverbindlichkeiten gefielen –
 
nachdrücklich auf das auch in meiner Sicht hier allein Entscheidende hingewiesen: Ein
 
die Werte des Freimaurerbundes verneinender Nihilismus, nicht ein mit humanistischem
 
190
 
Denken und Handeln durchaus vereinbarer Atheismus oder Agnostizismus, ist das für einen
 
ethischen Bund unabdingbare Ausschlusskriterium.
 
2.2 Warum trotzdem Diskurse?
 
Warum ist der religiöse Diskurs trotz all dieser Besorgnisse und Unvollkommenheiten in der
 
deutschen Freimaurerei so lebendig und vielleicht auch so notwendig? – Ganz einfach aus
 
den prinzipiell gleichen Gründen wie von 1717 an:
 
• Es gilt, sich um die Bestimmung freimaurerischer Identität zu bemühen.
 
• Gegenüber mannigfaltigen Angriffen erweisen sich immer wieder Apologien als erforderlich.
 
• Die zunehmende Kommunikation mit Medien und Institutionen der Öffentlichkeit bedarf
 
der Auskunftsfähigkeit der Freimaurerei auch in Bezug auf das Verhältnis zwischen
 
Freimaurerei, Religion und Kirchen.
 
• Unterscheidungen auch im Hinblick auf die »religiöse Frage« sind notwendig, um die jeweiligen
 
Besonderheiten der VGLvD-Großlogen deutlich zu machen.
 
Zunächst – wie es sich für eine Forschungsloge gehört – zur Frage, warum der religiöse Diskurs
 
der Gegenwart auch analytisch, d.h. als Gegenstand der Freimaurerforschung, interessant
 
ist.
 
Vor allem deshalb, weil der Religionsdiskurs, das hat ja auch die historische Reflexion
 
deutlich gemacht, wie kein anderer zeigt, welche Inhalte, welche rituellen Ausdrucksformen
 
und welche organisatorischen Strukturen für die Freimaurerei – im Unterschied zu anderen
 
gesellig-gesellschaftlichen Assoziationen – typisch sind. Daher das lebhafte Interesse auch in
 
der »externen«, der universitären Freimaurer-Forschung, sich gerade mit dem Religionsdiskurs
 
der Freimaurer zu beschäftigen. Beispiele unter vielen dafür sind Monika Neugebauer-
 
Wölks Studien zum Thema Freimaurerei und Esoterik oder Stefan-Ludwig Hoffmanns
 
zuvor ausgiebig zitierte Beschreibung einer spezifischen freimaurerischen Zivilregion in der
 
bürgerlichen Freimaurerei zwischen Vormärz und Erstem Weltkrieg.
 
Insbesondere an Hoffmanns Untersuchungen können dann auch analytische Fragen
 
für die Gegenwart angeschlossen werden, die nicht ohne praktische Konsequenzen bleiben
 
sollten. Hoffmann führt ja – wie zuvor aufgezeigt – den zivilreligiösen Charakter der
 
Freimaurerei in der klassischen Bürgerperiode auf eine weitgehende Integration der Brüder
 
Freimaurer in ein kirchlich gebundenes protestantisches Bürgertum zurück. Nun haben
 
sich inzwischen nicht nur die Struktur der Gesellschaft und ihre Kultur weitgehend geändert,
 
auch das religiöse Umfeld der Freimaurerei ist längst nicht mehr dasselbe wie in der
 
»klassischen« Bürgergesellschaft des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Nur noch etwas mehr
 
als zwei Drittel der erwachsenen männlichen Bevölkerung gehören in Deutschland einer
 
der christlichen Kirchen an, und nur die knappe Hälfte davon sind Protestanten und damit
 
Mitglieder der traditionellen Rekrutierungsgruppe der deutschen Freimaurerei. Gleichzeitig
 
ist auch bei formaler Kirchenzugehörigkeit das Ausmaß einer wirklichen Teilnahme an
 
kirchlichen Aktivitäten beträchtlich zurückgegangen.29
 
Was bedeuten die zuvor genannten Relationen für die Zielgruppe der Freimaurerei?
 
29 Hier ist an eine Bemerkung des zug. VGLvD-Großmeisters Bruno Schultze auf der Frankfurter QC-Tagung
 
vom März 2009 zu erinnern, die noch der Kirche angehörenden Freimaurer seien wohl zu 90 Prozent
 
»laue« Protestanten.
 
191
 
Zunächst kann aus ihnen schwerlich geschlossen werden, dass sich deshalb der Anteil
 
von nach Sinn und Wert suchenden »Freien Männern von gutem Ruf« in Deutschland
 
im gleichen Maße verringert hat wie die Zahl der traditionell »Gläubigen«, und die vielen
 
ethisch orientierten Männer, die von religiösen Bindungen im traditionellen Sinne frei,
 
doch zu Freundschaft fähig und für spirituelle Erfahrungen empfänglich sind, sollten doch
 
eigentlich ebenso willkommene »Suchende« sein wie seinerzeit der protestantische Christ.
 
Eine Freimaurerei, die als soziale, geistige und spirituelle Heimat von wertüberzeugten
 
Männern heute ebenso intensiv gesucht werden soll wie die Freimaurerei des 19. Jahrhunderts,
 
müsste allerdings erst einmal gründlich ihre religiöse Identität klären, vielleicht sogar
 
neu bestimmen. Denn es fragt sich doch sehr, ob eine Freimaurerei, die heutzutage attraktiv
 
sein will, identisch sein kann mit der bürgerlich-zivilreligiösen Freimaurerei, die nach
 
der Gärungszeit des 18. Jahrhunderts im Verlauf des 19. Jahrhunderts definiert, organisiert
 
und rituell gestaltet wurde und an der sich seitdem nicht allzu viel geändert hat.
 
Und eine weitere Frage ist damit zu verbinden: Warum stellt die Freimaurerei nach
 
außen immer wieder ihre ethischen Ziele heraus, ihren Charakter als »System of Morality«,
 
ihre Absicht, prinzipiell alle nach Sinn und Wert suchenden Menschen zu verbinden und
 
nicht nur Teile davon, wenn sie im Inneren so beharrlich an altem Denken, an überholten
 
Begründungen und zuweilen auch an überlebten Formen festhält?
 
Die Bindung von Moral an religiöse Überzeugungen wird mittlerweile ja nicht einmal
 
mehr von führenden katholischen Theologen für erforderlich gehalten. So heißt es etwa
 
bei Hans Küng:
 
»Aus dem Grundvertrauen kann auch ein Atheist ein echt menschliches, also humanes
 
und in diesem Sinn moralisches Leben führen … Auch Atheisten und Agnostiker
 
müssen folglich keineswegs Nihilisten, sondern können Humanisten und Moralisten
 
sein: ernsthaft um Humanität und Moralität bemüht.«30
 
»Grundvertrauen« bedeutet dabei für Küng ein grundsätzliches Ja zur Sinn- und Werthaftigkeit
 
der Realität, zu dem jeder Freimaurer fähig ist, dessen Denken und Handeln von der
 
Überzeugung getragen ist, dass es sich lohnt, für das Wohl der Menschen, ihr von gegenseitiger
 
Achtung bestimmtes Miteinander und eine sichere Zukunft der Welt zu wirken.
 
Im gleichen Sinne hatte Guido Groeger, Hochschullehrer, Psychotherapeut und Freimaurer,
 
auf der Frühjahrsarbeitstagung der Forschungsloge »Quatuor Coronati« in Burg
 
bei Magdeburg im Jahre 1996 vermerkt:
 
»Das Thema Religion ist in unserm Bund heftig umstritten … Wenn gefordert wird,
 
›Freimaurer müssen an ein höchstes Wesen (supreme being) glauben‹, dann ist allen
 
areligiösen freien Männern von gutem Ruf der Zugang zu uns verschlossen … Die
 
in Entwicklung begriffene neue Weltschau kann als Bedrohung erlebt werden, aber
 
auch als ein Anstoß zur Übernahme der vollen Verantwortung für den Fortbestand
 
des menschlichen Lebens auf dieser Erde. Ob dies mit oder ohne Glauben an ein
 
höchstes Wesen geschieht, unterliegt der Entscheidung des Einzelnen. Werden wir es
 
30 Küng, Hans: Existiert Gott? Antwort auf die Gottesfrage der Neuzeit, München 1983, S. 523.
 
192
 
schaffen, unsere Logen für beide Fraktionen zu öffnen? Verbunden miteinander bleiben
 
wir durch den Bau am Tempel der Humanität und unsere Rituale.«31
 
Guido Groeger hatte das Thema »Freimaurerei und Religion« im Rahmen eines Beitrags zur
 
»Identität« aufgegriffen und damit ein wichtiges Stichwort gegeben.
 
2.3 Identitätsprobleme
 
Die Frage nach der freimaurerischen Identität von heute ist in der Tat dringlich, und die
 
deutschen Freimaurer sollten sich um Antworten darauf bemühen. Antworten sind nicht
 
nur wegen des erheblichen Klärungsbedarfs innerhalb der Freimaurerei erforderlich. Sie sind
 
dringlich auch wegen der zahlreichen Fragen, die aus dem gesellschaftlichen Umfeld der
 
Freimaurerei gestellt werden, aus der Öffentlichkeit, den Medien, den Kirchen. Auf diese
 
Fragen, von denen wir ja wünschen, dass sie an uns gestellt werden, können die Freimaurer
 
allerdings nur dann antworten, wenn sie wissen, wer, was und wie sie sind.
 
Ein praktisches Beispiel: Auf die Frage, ob Dan Browns neues Buch »Das verlorene Symbol«
 
vorteilhaft oder schädlich für die Freimaurerei ist, müsste doch zunächst erst einmal zurückgefragt
 
werden: für was für eine Freimaurerei eigentlich? Eine ethische, eine bürgerlich-konventionelle
 
oder eine esoterische Freimaurerei?
 
Nichts zuletzt aufgrund der Stagnation der Mitgliederzahlen hierzulande und eines
 
weltweit gar dramatischen Absturzes der Mitgliedszahlen – von sechs auf unter drei Millionen
 
Freimaurer innerhalb von fünf Jahrzehnten – ist zu fragen, ob diese Entwicklung
 
nicht zuletzt auf ein in der Gesellschaft nur allzu deutlich spürbares Identitätsdefizit des
 
Bundes zurückzuführen ist, und wenn dies so ist, was diese Bestandshalbierung mit dem
 
Verhältnis zwischen Freimaurerei und Religion zu tun hat?
 
Die Masonic Service Association of North America hat sich des Problems in einer
 
hochinteressanten, hierzulande allerdings kaum wahrgenommenen Studie mit dem Titel »It’s
 
about time! Moving masonry into the 21st Century« recht überzeugend angenommen.32
 
Die Studie geht von einem doppelten Problem der Freimaurerei aus: »Loss of masonic
 
identity« und »Lack of energy invested in masonry« und antwortet dann auf die Frage:
 
»How does the public perceive Freemasonry today?« auf folgende Weise
 
»We believe that the public’s perception and opinion of Freemasonry can be summarized
 
briefly in the following ways:
 
1. Confused. Are the Masons a fraternity, a religious organization or an alternative
 
religion?
 
2. Mistaken. Only grandfathers could be in such an old-fashioned organization as
 
Freemasonry.
 
3. Oblivious. People are not even aware Masonry still exists.«
 
31 Groeger, Guido: Identität. Aspekte und Fragen, Eingangsreferat auf der Arbeitstagung der QC in Burg
 
b. Magdeburg, 9. März 1996, unveröffentlichtes Manuskript, S. 13f.
 
32 http://www.msana.com/aboutime_foreword.asp.
 
193
 
Gewiss, US-amerikanische Verhältnisse sind keine deutschen Verhältnisse. Gravierende Unterschiede
 
sind nicht zu übersehen. Und doch gibt es eine Reihe von Übereinstimmungen
 
im Hinblick auf Problemlagen und Strukturdefizite, von denen die Freimaurerei hierzulande
 
lernen könnte.
 
Nehmen wir also die erste der zuvor gestellten Fragen auf: »Sind die Freimaurer eine Bruderschaft,
 
eine religiöse Organisation oder eine alternative Religion?«
 
Auf der Homepage der Großen Landesloge der Freimaurer von Deutschland,33 einer
 
der Partnergroßlogen der VGLvD, war im Jahre 2009 eine Zeit lang an prominenter Stelle
 
Folgendes zu lesen:
 
Ȇber Freimaurerei ist schon viel geschrieben worden! Als Ziele der Logen werden
 
stets genannt: Selbstveredelung und Humanität. Aber geht es wirklich darum? Nein!
 
Damit sich niemand in die Logen verirrt, der dort nichts zu suchen hat, klärt das gerade
 
im renommierten Münchner Thiele Verlag erschienene Kurzwissen-Buch ›Freimaurer
 
in 60 Minuten‹ endlich darüber auf, worum es der alten Bruderschaft tatsächlich
 
geht: Unsterblichkeit ist das Ziel, Selbstveredelung nur der Weg und Humanität
 
eine logische Konsequenz.«
 
Doch geht es wirklich um Unsterblichkeit in der Freimaurerei?
 
Und wenn es der Freimaurerei tatsächlich darum ginge, wäre sie dann nicht etwas, was sie
 
doch gemeinhin so gar nicht sein will: nämlich Religion?
 
Will sie aber nicht Religion sein, so hätte sie sich deutlich von Religion abzugrenzen,
 
was freilich einer ethisch-symbolisch orientierten Freimaurerei leichter fällt als einem Freimaurerorden
 
christlicher Tradition.
 
2.4 Ein Orientierungsvorschlag zur Diskussion
 
Als Teilnehmer am gegenwärtigen Religionsdiskurs in der deutschen Freimaurerei möchte
 
ich – zwecks weiterer Diskussion – die Beziehungen zwischen Freimaurerei und Religion folgendermaßen
 
umreißen:
 
• Freimaurerei ist eine ethisch orientierte Vereinigung und keine Religion, und sie will auch
 
keinen Ersatz für eine Religion bieten, denn sie vermittelt kein Glaubenssystem und
 
kennt weder sakramentale Heilsmittel noch Theologie und Dogma.
 
• Die Freimaurer haben auch keinen gemeinsamen Gottesbegriff. Die symbolische Präsenz
 
eines »Großen Baumeisters aller Welten« in ihren Ritualen darf nicht mit den verschiedenen
 
Gottesverständnissen der Religionen verwechselt oder gar gleichgesetzt werden.
 
• Das Symbol des »Großen Baumeisters« stellt vielmehr das umfassende Symbol für den
 
Sinn der freimaurerischen Arbeit dar und ist als solches vom Freimaurer zu respektieren.
 
Denn ethisch orientiertes Handeln setzt die Anerkennung eines sinngebenden Prinzips,
 
eines die Unverbindlichkeiten des Alltags transzendierenden »höheren Seins« voraus, das
 
– weltanschaulich bestimmt, oder empirisch gefunden – Verantwortung begründet und
 
auf das die Ethik des Freimaurers letztlich rückbezogen ist. Das Symbol des »Großen
 
33 http://www.freimaurerorden.org.
 
194
 
Baumeisters« deutet den transzendenten Bezug des Freimaurers an, wobei Transzendenz
 
auch als eine immanente, nicht auf einen religiösen Glauben bezogene Transzendenz, als
 
ein »Über-sich-Hinausgehen innerhalb des Seins des Menschen« (Ernst Tugendhat34) verstanden
 
werden kann.
 
• Freimaurerei ist folglich offen für Menschen aller Glaubensbekenntnisse und Weltanschauungen
 
und auch für Menschen ohne Glaubensvorstellungen im herkömmlichen
 
Sinne. Unabdingbar ist allerdings, dass sie mit den im Diskurs gefundenen ethischen
 
Überzeugungen und moralischen Prinzipien des Freimaurerbundes übereinstimmen und
 
seine symbolisch-rituellen Ausdrucksformen akzeptieren.
 
• Die freimaurerische Tempelfeier ist kein Gottesdienst. Das Brauchtum des Bundes soll
 
vielmehr menschliches Miteinander, ethische Lebensorientierung und emotionale Spiritualität
 
durch Symbole und rituelle Handlungen in der Gemeinschaft der Loge darstellbar,
 
erlebbar und erlernbar machen.
 
Aufgrund einer solchen Festlegung und Abgrenzung kann das Verhältnis zu den großen
 
christlichen Kirchen entspannt und selbstbewusst entwickelt werden, zumal an zwei bedeutsame
 
Gemeinsamkeiten von Freimaurerei und Kirchen zu erinnern ist:
 
• die gemeinsamen Wurzeln in der europäischen Kultur- und Geistesgeschichte sowie
 
• die Verpflichtung zum ethischen Handeln, insbesondere zu praktischer Mitmenschlichkeit.
 
Zweierlei ist zu ergänzen. Zum einen bedeuten die zuvor dargelegten normativen Standpunkte,
 
die alle von der Grundaussage »Freimaurerei ist weder Religion noch Religionsersatz
 
«
 
ausgehen, in keiner Weise, dass Freimaurerei nicht de facto für den einen oder anderen Freimaurer
 
Religion oder Religionsersatz bedeutet oder dass zumindest die konkreten religiösen,
 
insbesondere christlichen Einstellungen freimaurerisch beeinflusst sind. Zum anderen empfiehlt
 
es sich, den Religionsbegriff nicht theologisch, sondern religionssoziologisch zu verstehen.
 
Deshalb stehen im Hintergrund meiner Überlegungen und Abgrenzungen auch ganz
 
bewusst Begriffe von Religion und Religiosität, die Glaubensinhalte und religiöse Funktionen
 
auseinanderhalten und die ihren Ursprung in der Religionssoziologie haben.
 
Talcott Parsons etwa, einer ihrer wichtigsten Vertreter, sieht die Aufgabe des Religiösen
 
darin, kulturelle Werte und Normen durch den Rekurs auf eine letzte Wirklichkeit – Parsons
 
spricht von »ultimate reality« – lebendig und verbindlich zu halten.35 Das was Parsons
 
»Rekurs auf eine letzte Wirklichkeit« nennt, ist nun aber nichts anderes als das, was der
 
Begriff Religion jenseits aller ihrer konkreten Erscheinungsformen und Glaubensinhalte
 
meint, nämlich Rückbindung an und Vertrauen auf eine sinnspendende Ordnung. Genau
 
das aber will Freimaurerei leisten: die Herstellung eines tragfähigen, das bloße materielle
 
Sein transzendierenden Sinn- und Wertbezugs, der freilich spezifisch religiöser Rückbindungen
 
oder eines Glaubens an Gott im traditionellen Sinne nicht bedarf.
 
Auch der Soziologe Thomas Luckmann stellt die positive, konstruktive gesellschaftliche
 
Rolle der Religion in den Vordergrund, indem er auf deren Potenzial bei der Krisenbewältigung
 
und bei der Stabilisierung der Gemeinschaft in Phasen sozialer Umbrüche hinweist.
 
34 Tugenthat, Ernst: Anthropologie statt Metaphysik, München 2010, S. 15.
 
35 Vgl. die Beiträge in: Trevino, A. Javier (Ed.): Talcott Parsons today. His theory and legacy in contemporary
 
sociology, Langham/Md. and Oxford, 2001.
 
195
 
Religiosität ist für Luckmann eine anthropologische Konstante, die sich in der Moderne
 
nur neue Formen der Repräsentation sucht und nicht – wie die Säkularisierungsthese
 
behauptet – verschwindet. Luckmann hat im Rahmen seiner Religionssoziologie Aufgabe
 
und Wirkungsweise der Religion als »Einübung und Einzwängung in ein das Einzeldasein
 
transzendierendes Sinngefüge« bezeichnet.36
 
Bei aller Ablehnung der Religionseigenschaft der Freimaurerei im Sinne eines inhaltlich
 
definierten Glaubens wäre es folglich gleichermaßen falsch und irreführend, den Begriff
 
des »Religiösen« allzu strikt von der Freimaurerei fernzuhalten. Im Sinne der Religionssoziologie
 
religiös, aber weder Religion noch religiöse Vereinigung, so ließe sich pointiert
 
formulieren.
 
Noch einmal: Freimaurerei ist kein Heilsweg, sondern ein Weg zur Bewährung im Hier
 
und Jetzt. Ein Weg – es gibt viele andere. Die Gleichzeitigkeit des Respekts vor Religion
 
und des Verzichts auf Nachahmung von Religion und/oder Einmischung in Religion
 
kann die Freimaurerloge zu einer Gemeinschaft machen, in der sich gläubige Menschen
 
ganz verschiedener Religionen mit religiös skeptischen, ja ungläubigen Menschen auf der
 
Grundlage verpflichtender Werte freundschaftlich miteinander verbinden. Hierin sollten
 
Freimaurer eine integrierende Kraft sehen, die – wenn auch gewiss nur in bescheidenem
 
Maße – dazu beitragen kann, die moderne (oder postmoderne) Gesellschaft mit all ihren
 
Auflösungs- und Spaltungstendenzen auf der Basis einer gemeinsamen Wertbasis zusammenzuhalten.
 
2.5 Erforderliche Differenzierungen
 
Es war – und jetzt ist zu einem weiteren Gesichtspunkt überzuleiten – von deutlichen Auffassungsunterschieden
 
in puncto Religion innerhalb der deutschen Freimaurerei die Rede.
 
Sie sind weitbekannt, werden jedoch nur selten reflektiert. Es lohnt sich daher, erneut davon
 
zu sprechen und Präzisierungen zu versuchen.
 
In den »Vereinigten Großlogen von Deutschland« treffen zwei aus der deutschen Tradition
 
hervorgegangene Freimaurereien – eine »humanitäre« und eine »christliche« – aufeinander.
 
Dies bedeutet natürlich nicht, dass Humanität Christentum und Christentum
 
Humanität ausschlösse. Eine solche Argumentation wäre töricht. Doch es macht schon
 
einen Unterschied, ob man als Freimaurer einem ethischen Bund angehören möchte, der
 
– die verschiedenen Weltanschauungen übergreifend – die moralische Vervollkommnung
 
von Einzelmensch und Gesellschaft anstrebt und zur Einübung ethisch orientierte Rituale
 
praktiziert, oder ob man einer religiös und christlich orientierten Logengemeinschaft angehören
 
möchte, deren von Gradstufe zu Gradstufe immer christlicher ausgerichteten Rituale
 
die Tempelfeier in Richtung Quasi-Gottesdienst transformieren. Man kann Freimaurerei
 
selbstverständlich so sehen und praktizieren, nur gilt es dann einzuräumen, dass es sich um
 
eine andere Freimaurerei handelt.
 
Die Unterscheidung »humanitär« und »christlich« ist somit auch heute – vielleicht sogar
 
wieder verstärkt – durchaus erforderlich. Sie ist analytisch unverzichtbar, sie ist für die
 
Bestimmung alternativer freimaurerischer Identitäten und ihrer organisatorischen Ausge-
 
36 Luckmann, Thomas: Religion in der modernen Gesellschaft, in: Wössner, J. (Hrsg.): Religion im Umbruch:
 
soziologische Beiträge zur Situation von Religion und Kirche in der gegenwärtigen Gesellschaft,
 
Stuttgart 1972, S. 13–15, hier S. 5.
 
196
 
staltung (demokratischer Aufbau vs. Ordensprinzip) ausschlaggebend, und sie ist für klare
 
Auskünfte gegenüber der Öffentlichkeit, den Medien, den Kirchen und nicht zuletzt den
 
Suchenden erforderlich, die nicht selten darüber im Unklaren gelassen werden, in welche
 
»Lehrart« der Freimaurerei sie sich aufnehmen lassen. Und nebenbei: Es waren gerade die
 
christlich-altpreußischen Großlogen, die die Unterscheidung »christlich« – »humanitär«
 
Ende der 1920er, Anfang der 1930er Jahre intensiv und nachgerade begeistert verwendeten,
 
um in stürmischer See das Rettungsboot der nationalistisch-nationalsozialistischen Anpassung
 
zu erreichen.
 
Gäbe es die benannten Unterschiede mit ihren hierarchisch-organisatorischen Auswirkungen
 
und dem damit verbundenen Strukturkonservatismus nicht, dann gäbe es in
 
Deutschland nicht die Vereinigten Großlogen (Mehrzahl), sondern es gäbe eine Vereinigte
 
Großloge (Einzahl). Doch wir haben es – bei allem Respekt vor der VGLvD und ihren Repräsentanten
 
– allenfalls mit einem Großlogenbund, vielleicht gar nur mit einem »Vertrag
 
zwischen Großlogen« zu tun, der sich manchmal an der Vorstellung überhebt, Großloge zu
 
sein, mit durchaus unterschiedlichen Auffassungen der Partner vor allem in religionsbezogenen
 
Fragen. Die VGLvD sei aus keiner Liebesheirat entstanden, sie sei eine Vernunftehe
 
– etwa so kürzlich AFuAM-Großmeister Br. Jens Oberheide.37 Manch einer meint freilich,
 
es handele sich gar um eine »Unvernunftehe«, die ihre Entstehung vor allem internationalem
 
Druck und persönlichem Geltungsdrang verdanke. Doch nun ist sie da, die deutschen
 
Freimaurer müssen mit ihr leben, und wenn die erörterten Auffassungsunterschiede keine
 
Sprengkraft entfalten sollen, dann müssen die Brüder von hüben und drüben notwendigerweise
 
den religiösen Diskurs offen und redlich führen, einen Diskurs, der Gemeinsamkeiten
 
und Unterschiede in aller Freundschaft deutlich werden lässt und erklärt, und dann muss
 
man sich gemeinsam auch darüber klar werden, welche Großloge für welche Spielart von
 
Freimaurerei in der deutschen Öffentlichkeit spricht und zu sprechen befugt ist. Dass die
 
VGLvD nicht für die »ganze« deutsche Freimaurerei sprechen kann, ist klar. Hier gilt nun
 
einmal: keine Lehrart, keine Identität – keine Identität, keine Stimme. (Tatsächlich hilft
 
sich die VGLvD ja weitgehend damit, dass sie nach außen mit humanitären Tönen spricht.)
 
Schließlich gibt es noch eine weitere Schwierigkeit beim religiösen Diskurs: Die Gretchenfrage
 
an die Freimaurer – Wie haltet ihr’s mit der Religion? – kann ernsthaft nur beantwortet
 
werden, wenn die Hochgradsysteme, insbesondere die des Schottischen Ritus und
 
des Freimaurerordens in den Diskurs einbezogen werden. Denn, so kann gesagt werden, je
 
höher die Grade, desto religiöser die Inhalte, sei es im Sinne einer sich stufenweise entfaltenden
 
esoterischen Religiosität (Stichworte: »Letzter Tempel«, »Heiliges Reich«) oder im
 
Sinne einer symbolischen Christologie, die die jesuanische Ethik deutlich überhöht, eben
 
Jesus Christus statt allein Jesus, und die dieses in einer eindeutig christlich ausgerichteten
 
religiösen Praxis rituell bekräftigt.
 
Das sich fortgesetzt vertiefende, nur gradweise enthüllende, doch durch Arkandisziplin
 
zugleich immer wieder verhüllte Religionsverständnis der Hochgradsysteme erschwert
 
sowohl die Kommunikation nach innen und außen als auch das kompetente Urteil über
 
empirische Befunde. Man weiß nicht, wie es ist, weil man nicht weiß, wie es weitergeht.
 
Gewiss – so bekanntlich Ludwig Wittgenstein – »wovon man nicht sprechen kann, darüber
 
muss man schweigen«. Doch dann gerät man beim internen Diskurs wie bei den immer
 
37 Humanität. Das deutsche Freimaurermagazin, 35. Jg., H. 6/2009, S. 5.
 
197
 
wieder versuchten Klarstellungen nach außen in erhebliche Schwierigkeiten. Wäre es anders,
 
so würden sich die belletristisch-heiteren wie die verschwörungsdüsteren Fiktionen
 
nicht immer wieder gerade an den Hochgraden der Freimaurerei festmachen.
 
2.6 Konsequenzen
 
Letzte Frage: Welche Konsequenzen hat das Thema »Freimaurerei und Religion« für die zukünftige
 
Gesprächs- und Gestaltungspraxis innerhalb der deutschen Freimaurerei?
 
Über die Qualität einer »freimaurerischen Gesprächskultur« entscheidet nicht, worüber
 
man spricht, sondern auf welche Weise man sich mit anderen im Gespräch über etwas
 
austauscht.
 
Der Diskurs wird sich fortsetzen – nicht ob, sondern wie er geführt wird, ist die Frage.
 
Es geht um die Identität der Freimaurerei, um die Frage, worin ihre Mitglieder übereinstimmen,
 
aber auch, worin sie sich unterscheiden, es geht um Auskunftsfähigkeit gegenüber
 
der Gesellschaft, den »Interessenten außerhalb«.
 
Es geht aber auch um ein Ausloten von Reformbedarf und Reformmöglichkeiten im
 
Inneren des Freimaurerbundes: Denn – dies sei noch einmal nachdrücklich gefragt –, ist
 
nicht vieles in der Freimaurerei von heute konserviertes 19. Jahrhundert, konzeptionell,
 
rituell und auch organisatorisch?
 
Die deutschen Freimaurer können selbstverständlich alles so lassen wie bisher, wenn
 
sie davon überzeugt sind, dass alles gut und richtig ist. Doch meistens fehlen schlüssige
 
Begründungen dafür, dass etwas in der Freimaurerei so bleiben muss, wie es ist, nur weil es
 
immer so gewesen ist. Manchmal vermittelt sich der Eindruck, dass die Freimaurer vieles
 
einfach so passieren lassen (freemasonry by default, gleichsam) und dass es dann im Wesentlichen
 
für gut gehalten wird, weil es einfach so passiert. »Das haben wir immer schon so
 
gemacht, das haben wir noch nie so gemacht, da könnte ja jeder kommen« – Freimaurerei
 
als ein sich um sich selbst drehendes Bestätigungssystem, das in erster Linie symbolisches
 
Kapital für seine Akteure produziert, statt das große kulturelle Kapital des Bundes für die
 
Gemeinschaft aller Bürger zu nutzen und zu vermehren.
 
Deshalb sind weitere Diskurse erforderlich, interne Diskurse und Diskurse mit den
 
externen Beobachtern der Freimaurerei aus Wissenschaft, Gesellschaft und Medien. Der
 
Bund, der bald 300 Jahre alt ist, braucht Klarheit und Offenheit wie die Luft zum Atmen.
 
Wenn die Freimaurer im Ghetto innerer Widersprüche und konzeptioneller Inkonsequenzen
 
verharren, können sie nicht darauf hoffen, von denen ernst genommenen zu
 
werden, auf die es ihnen ankommen sollte: den Klugen, Gebildeten und Redlichen hierzulande
 
und anderswo in der Welt.
 
198
 
Vom Vorurteil zum Urteil:
 
Der freimaurerische Bildungsweg
 
»Vielleicht lautet die kürzeste aller Definitionen des Vorurteils: Von anderen ohne ausreichende
 
Begründung schlecht denken.« (G. W. Allport)
 
»Es ist leichter ein Atom zu zertrümmern als ein Vorurteil« (Albert Einstein)
 
»Ich habe keine Vorurteile – ich hasse jeden!« (Graffito an einer Großstadtwand)
 
Die Freimaurer sind – wie könnte es anders sein – auf dreifache Weise mit dem Thema »Vorurteil
 
« verbunden:
 
• Freimaurer forderten von Anfang an in Ideen und Ritualen eine von Vorurteilen freie Gesinnung;
 
• Freimaurer haben sich bis heute mit den teils lächerlichen, teils naiven, teils aggressiven
 
Vorurteilen auseinanderzusetzen, die andere über sie hegen und pflegen,
 
• Freimaurer müssen sich umgekehrt ihren eigenen Vorurteilen über sich selbst und die Welt
 
stellen, denn Freimaurer sind Menschen, und Menschen haben nun einmal Vorurteile.
 
Ich beginne mit einigen allgemeinen analytischen Überlegungen aus dem Kontext der Sozialwissenschaften,
 
um sie dann auf die Freimaurerei anzuwenden.
 
Vorausurteile und Vorurteile
 
Prüft man Literatur und Debatten zum »Vorurteil«, so ist zunächst festzustellen, dass es bis
 
heute keine generell anerkannte Definition des Vorurteils gibt und dass auch weder übereinstimmende
 
Erklärungen für die Entstehung von Vorurteilen noch allseits anerkannte Rezepte
 
für ihre Überwindung vorhanden sind.
 
Dennoch finden sich neben Differenzen auch Übereinstimmungen in der Vorurteilsforschung,
 
von denen bei der Analyse ausgegangen werden kann.
 
Zunächst wird oft empfohlen, zwischen Vorurteilen im Sinne von Voraus-Urteilen bzw.
 
vorläufigen Annahmen auf der einen und Vorurteilen als verfestigten Einstellungen mit
 
meist negativen Zuschreibungen auf der anderen Seite zu unterscheiden.
 
Voraus-Urteile, d.h. vorläufige Urteile ohne eingehende Überprüfung von Sachverhalten
 
und Personen, gelten gemeinhin als für uns Menschen unvermeidlich.
 
Die uns umgebende Wirklichkeit ist ebenso komplex wie unübersichtlich. Um sicher
 
in ihr leben zu können, brauchen wir jedoch ein möglichst vollständiges Bild unserer Lebenswelt.
 
Wir benötigen verlässliche, weil von uns für wahr gehaltene Vorstellungen, auf
 
deren Grundlage wir uns orientieren und handeln können. Diese Verlässlichkeit verschaffen
 
wir uns, indem wir durch Sprache, Begriffe und Symbole gesellschaftliche Realitäten
 
199
 
konstruieren,1 die so lange gültig und plausibel für uns sind, wie sie nicht durch gegenteilige
 
Erfahrungen und genauere Analysen infrage gestellt werden.
 
In diesem Sinne, im Sinne von Voraus-Urteilen, sind Vorurteile also ebenso unvermeidbar
 
wie notwendig. Doch solange sie vorläufig sind, d.h. ungeprüft bleiben, leisten
 
sie im Konflikt mit der Wirklichkeit oft nicht das, was wir von ihnen erwarten, nämlich
 
Sicherheit sowie verlässliche Orientierung, und so ist der Schritt vom Vorurteil zum Urteil
 
im Sinne von Annäherung an Realitäten Bestandteil und Aufgabe unserer tagtäglichen
 
Lebenswirklichkeit.
 
Auch die Wissenschaft hat von Voraus-Urteilen auszugehen. Sie formuliert Hypothesen,
 
in denen (prinzipiell der Falsifizierung zugängliche) Zusammenhänge formuliert werden,
 
die so lange dem Test fortgesetzter Falsifizierungsversuche auszusetzen sind, bis sie zu
 
(vorläufig) brauchbaren Urteilen, d.h. Theorien, geworden sind (Karl R. Popper2). Auch in
 
der Hermeneutik Hans-Georg Gadamers3 spielt das Vorurteil im Sinne einer Vormeinung,
 
die für Überprüfungen und Erweiterungen offen ist, eine zentrale Rolle.
 
Zu Vorurteilen in einem gefährlichen, weil für den sozialen, religiösen und internationalen
 
Frieden abträglichen Sinne werden Voraus-Urteile dann,
 
• wenn sie auf unzulässige Weise durch die Bildung von Stereotypen verallgemeinert werden,
 
etwa nach dem Muster »alle Türken sind nun einmal so«,
 
• und wenn sie starr sind, d.h., wenn sie auch angesichts neuer und ihnen widersprechender
 
Informationen nicht geändert werden.
 
Gewiss: In vielen Fällen sind Vorurteile harmlose Selbsttäuschungen, deren soziale Gefahr
 
gering ist. Häufig dienen sie auf mehr oder weniger geistreiche Weise auch der Selbstkoketterie
 
(»ich als altes Maurerschlachtross«) oder der Frotzelei (»Hallo, ihr Düsseldorfer«). Doch
 
oft wirken sich Vorurteile sozial schädlich aus, insbesondere dann, wenn sie Feindbilder festschreiben,
 
die emotional aufgeladen sind und von denen aus die Schwelle zur aggressiven
 
Handlung nur allzu leicht überschritten wird.
 
Einzelne Werte wie die freimaurerische Werttrias Menschlichkeit, Toleranz und Brüderlichkeit
 
oder umfassende moralische Systeme, die darauf angelegt sind, Einzelwerte zum
 
Ethos zu integrieren – Stichwort »Projekt Weltethos«, für das Hans Küng mit dem Kulturpreis
 
deutscher Freimaurer ausgezeichnet wurde –, werden nicht zuletzt durch Vorurteile
 
gefährdet, die sich auf eine manchmal offene, manchmal versteckt subtile Weise zu negativ
 
und aggressiv aufgeladenen, handlungssteuernden Weltsichten verdichten.
 
Deshalb steht zu Recht, auch aus freimaurerischer Sicht zu Recht, dieser sozial gefährliche,
 
aggressive Charakter des Vorurteils im Vordergrund der Vorurteilsforschung und
 
vieler Debatten in der gesellschaftlich-politischen Praxis.
 
Für die Identifizierung von Vorurteilen und den Kampf gegen ihren negativ-aggressiven
 
Charakter sind inzwischen gar spezielle Institute gegründet worden, wie das »Sir Peter
 
1 Vgl. Berger, Peter L./Luckmann, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie
 
der Wissenssoziologie, 3. Aufl., Frankfurt a.M. 1972.
 
2 Popper, Karl R: Logik der Forschung, 11. Auflage, Tübingen 2005.
 
3 Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 3., erweiterte
 
Auflage Tübingen 1975.
 
200
 
Ustinov Institut zur Erforschung und Bekämpfung von Vorurteilen«, das seit 2003 in Wien
 
besteht.
 
Peter Ustinov hat den Kern seiner Impulse, Überlegungen und Absichten einmal in der
 
für ihn typischen lockeren und zugleich präzisen Art wie folgt formuliert:
 
»Das Vorurteil ist nach Jahrhunderten im Untergrund als Maulwurf in unserer Mitte
 
identifiziert worden. Es ist identifiziert worden als einer der großen Schurken in
 
der Besetzungsliste der Geschichte. Es ist verantwortlich für die Missverständnisse
 
zwischen Nationen und Religionen, die anders sind als die eigene, genauso wie für
 
die unkritische Lobpreisung der eigenen Religion und Nation. Es benutzt die blanke
 
Unkenntnis als Waffe.«4
 
Ustinov wollte die verhängnisvolle Rolle aufdecken, die negative, aber auch positive Vorurteile
 
bei der Verursachung von menschlichem Leid und von Streit zwischen Völkern und Religionen
 
spielen. Er wollte helfen, die Entstehungs- und Wirkungsstrukturen von Vorurteilen
 
transparent machen, und er wollte in seinem Institut Vorgehensweisen erforschen lassen,
 
durch die Vorurteile und ihre schädlichen Wirkungen reduziert werden können.
 
Ursachen
 
Was ist – wenn wir genauer hinschauen – die Ursache aggressiver, sozial schädlicher Vorurteile?
 
5
 
Hierzu gibt es unterschiedliche Erklärungsansätze, die jeweils einzelne Aspekte fokussieren,
 
doch in ihrer Gesamtheit das Entstehen von Vorurteilen von fünf Seiten her recht gut erklären
 
können.
 
• Danach sind Vorurteile erstens auf die immer lückenhaften und fehlerbehafteten Prozesse
 
der Informationsverarbeitung des Menschen zurückzuführen.
 
• Zweitens entstehen Vorurteile aufgrund der Persönlichkeitsstruktur des Individuums, seiner
 
frühkindlichen Verletzungen, seiner innerpsychischen Konflikte und seiner oft destruktiven
 
Versuche, diese Konflikte zu lösen.
 
• Drittens kommen Vorurteile durch die Übernahme von Vorurteilen anderer im Sozialisationsprozess
 
des Menschen zustande, aufgrund der prägende Rolle von Familien und
 
Schulen sowie von sozialen, kulturellen und religiösen Gruppen.
 
• Viertens entstehen Vorurteile als Schutz- und Angriffsmechanismen in Konflikten zwischen
 
sozialen, ethnischen und religiösen Gruppierungen, bei denen einerseits Macht
 
und ökonomische Interessen, andererseits aber auch politische Ideologien und religiöse
 
Überzeugungen auf dem Spiele stehen.
 
4 www.ustinov.at/institut.htm.
 
5 Vgl. hierzu und zum Folgenden: Vorurteile und Diskriminierung – Bildungsmaterialien gegen Ausgrenzung
 
(Verfasserin Birgit Reims), hrsg. vom Informations- und Dokumentationszentrum für Antirassismusarbeit
 
in Nordrhein-Westfalen (IDA-NRW), Düsseldorf 2005, deren nützlicher Strukturierungen
 
und Zusammenfassungen ich mich auf den folgenden Seiten meines Textes bediene. Ida-nrw.de/Diskriminierung/
 
html/glossar.
 
201
 
• Fünftens schließlich sind Vorurteile Bestandteile des kollektiven Gedächtnisses von Völkern,
 
Kulturen und Religionen, Ergebnis eines keiner Erklärung bedürfenden »Das war
 
so, das ist so, und das bleibt so«, im Sinne eines »Württemberger sind nun einmal besser
 
als Badenser« (bzw. umgekehrt!).
 
Auch die Hartnäckigkeit der Vorurteile, die Frage, warum Vorurteile so resistent gegen Kritik
 
sind, auch wenn diese Kritik aufgrund ihrer argumentativen Dichte einen hohen Grad an
 
Überzeugungskraft besitzt, ist von der Forschung aufgegriffen worden.
 
Vorurteile – so lautet zusammenfassend das Ergebnis vieler einzelner Analysen – sind trotz
 
ihrer allgemein anerkannten Schädlichkeit für ihre Urheber und Träger nützlich, und es ist
 
diese ihre Funktionalität, die dazu verleitet, an ihnen festzuhalten:
 
• So dienen Vorurteile – wir kennen den Gesichtspunkt bereits – der Orientierung in einer
 
komplexen Welt im Sinne eines (oft unbewussten) »Ich kenne meine Welt, und ich halte
 
an ihr fest, denn ich habe sie mir selbst konstruiert«.
 
• So ermöglichen Vorurteile Einzelpersonen wie Gruppen die Herstellung und Aufrechterhaltung
 
von Selbstwertgefühlen, indem sie – im Sinne eines »Kleider machen Leute« – einer
 
attraktiven Selbstausstattung dienen.
 
• So fungieren Vorurteile als Legitimierung von Herrschaft. Alle hierarchischen Systeme –
 
auch solche in demokratischen Systemen und pluralistischen Gesellschaften – pflegen
 
folglich eine dafür geeignete Vorurteilskultur, oder besser: Vorurteilsunkultur.
 
• So dienen Vorurteile schließlich über die Benennung von »Sündenböcken« der Vorbereitung
 
von politischen Umstürzen und Griffen nach der Macht. Die Instrumentalisierung
 
des Antisemitismus durch die Nazis vor und nach 1933 ist hierfür ein ebenso abstoßendes
 
wir folgenreiches Beispiel.
 
Aggressive Vorurteile sind dabei auf eine fatale Weise dann besonders effektiv, wenn es gelingt,
 
ihre kognitiven, affektiven und zum Handeln antreibenden Komponenten zu verschmelzen
 
und sie gleichsam mit »geballter Wucht und Wut« zum Einsatz zu bringen.
 
Als Beispiel nenne ich die verhängnisvolle Trias des nazistischen Antisemitismus:
 
• Kognitive Komponente: »Alle Juden sind sozial schädlich.«
 
• Affektive Komponente: »Ich habe deshalb eine unheimliche Wut auf sie.«
 
• Handlungsstimulierende Komponente: »Und jetzt werden wir es ihnen einmal gründlich
 
zeigen!«
 
(Die Älteren von uns mögen Goebbels’ diesbezüglich hetzende Tiraden noch im Ohr haben.)
 
Überwindung von Vorurteilen
 
Wie steht es nun um Gegenmaßnahmen, um Chancen für einen Abbau, für eine Überwindung
 
von Vorurteilen?
 
202
 
Bedauerlicherweise gelten Vorurteile in der Vorurteilsforschung aufgrund ihrer psychischen,
 
sozialen und gesellschaftspolitischen Funktionen als nur schwer überwindbar, und
 
die Praxis liefert ja auch viele Beispiele dafür.
 
»Es ist leichter ein Atom zu zertrümmern als ein Vorurteil«, hat Albert Einstein einmal
 
gesagt.
 
Wie können – trotz aller Schwierigkeiten – Vorurteile, wenn nicht gänzlich überwunden,
 
so doch zumindest abgeschwächt werden?
 
Auch auf diese Frage gibt es je nach Analyseansatz unterschiedliche Antworten, und ich
 
möchte die wichtigsten dieser Ansätze, die vermutlich am besten kombiniert zum Einsatz
 
kommen, zusammenfassend nennen.
 
Zunächst stimmen Vorurteilsforscher in der Regel darin überein, dass Vorurteile kaum direkt
 
und unmittelbar überwunden werden können, dass vielmehr die Ursachen der Vorurteile
 
beseitigt, und d.h. vor allem, dass die individuellen und kollektiven Prägungen, Einbettungen
 
und Milieus verändert werden müssen, in deren Wirkungsbereich sich Vorurteile entwickeln.
 
Im Einzelnen setzen
 
• Individualpsychologische und psychoanalytische Theorien vor allem auf die Veränderung
 
von Erziehungsstilen und Eltern-Kind-Beziehungen, insbesondere auf die Stärkung
 
von Selbstwertgefühlen durch die Förderung von Eigeninitiative und das Vermitteln von
 
Erfolgserlebnissen.
 
• Kognitive Ansätze verweisen auf die Bedeutung von Bildung und Aufklärung. Die Spannweite
 
geeigneter Gegenmaßnahmen reicht hierbei von der Wissensvermittlung über das
 
jeweils als »fremd« wahrgenommene »andere« bis hin zur Aufklärung über die Mechanismen
 
menschlicher Selbsttäuschungen, die oft versteckten Erscheinungsformen von Diskriminierung
 
und die vom Urheber oft gar nicht bedachten Konsequenzen, die Diskriminierungen
 
für Diskriminierungsopfer mit sich bringen.
 
• Konflikttheoretische Ansätze heben hervor, dass der Kampf gegen das Vorurteil über den
 
Abbau von Konkurrenz und hierarchischer Macht zu führen habe sowie über die Entwicklung
 
sozialer Kompetenz und die Einübung in ein solidarisches Handeln.
 
• Aus lern- bzw. sozialisationstheoretischer Sicht werden die Vorbildfunktionen von Eltern,
 
Erziehenden, Medien sowie von politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Eliten hervorgehoben.
 
Ferner wird die günstige Auswirkung eines gesellschaftlichen Klimas der Toleranz
 
betont, in dem – auf der Basis wechselseitiger Akzeptanz – viele, auch unterschiedliche
 
Lebensweisen und Lebensstile heimisch werden können und sich soziale Milieus
 
entwickeln, in denen Vorurteile gleichsam in sich selbst zusammenschrumpfen.
 
• Aus der Sicht sozialpsychologischer bzw. gruppensoziologischer Studien schließlich tragen
 
Kontakte zwischen vorurteilsbesetzten Gruppen zum Abbau von Vorurteilen bei –
 
etwa die Bildung interethnischer und interreligiöser Gruppen –, die freilich nur unter der
 
Bedingung von Fairness, Akzeptanz und Gleichberechtigung Erfolg versprechen. Daniel
 
Barenboims isrealisch-palästinensisches Jugendorchester (»The West-Eastern Divan Orchestra
 
«) ist ein hervorragendes Beispiel dafür.
 
Als wichtig wird bei all diesen Ansätzen hervorgehoben, dass es primär der Einzelne ist, der
 
Vorurteile abzulegen und sich in eine Haltung der Offenheit für neues Wissen und neue soziale
 
203
 
Orientierung einzuüben hat. Und bevor ich nun im zweiten Teil meines Beitrags eingehender
 
auf die Freimaurer zu sprechen komme, möchte ich bereits an dieser Stelle einmal fragen:
 
Sich aktiv einzuordnen in kleinere oder gar größere Bemühungen um die Entwicklung
 
einer Kultur der Vorurteilsüberwindung – wäre dies nicht eine Aufgabe, geradezu geschaffen
 
für eine Freimaurerei, die immer etwas im öffentlichen Raum leisten will, was ihren
 
Zielen und ihrer Tradition entspricht, und die doch oft nicht weiß, worin eigentlich diese
 
ihre öffentliche Aufgabe bestehen könnte?
 
Verlassen wir jetzt also die allgemeine Vorurteilsanalyse und wenden wir sie auf die
 
Freimaurerei im Speziellen an.
 
Freimaurerische Anwendungen
 
Zunächst: So sehr es richtig ist, dass eine systematische Erforschung des Vorurteils, des
 
Nährbodens, auf dem es wächst, und der Methoden, es zu überwinden, erst in den 50er und
 
60er Jahren des 20. Jahrhunderts einsetzt, wobei Gordon W. Allports großer Studie über
 
»Die Natur des Vorurteils« von 19546 eine besondere Bedeutung zukommt, so sehr ist doch
 
zugleich darauf hinzuweisen, dass die Beschäftigung mit dem Vorurteil und der Kampf dagegen
 
viel älter ist, dass ihr Beginn in die Entstehungszeit der Freimaurerei, ja noch fast ein
 
Jahrhundert weiter zurück in ihre Vorperiode zu datieren ist.
 
Die erste bedeutsame Thematisierung des Vorurteilsproblems findet sich in einer vom
 
englischen Empiristen Francis Bacon im Jahre 1620 unter dem Titel »Novum Organum«
 
veröffentlichten Aphorismen-Sammlung7.
 
Der Mensch, so erläutert Bacon in Aphorismus 38, kann nur mit Mühe die Wahrheit
 
erkennen. Idole (Bacons Wort für Trugbilder und Vorurteile) und falsche Begriffe hindern
 
ihn daran.
 
Bacon unterscheidet vier interessante und durchaus modern anmutende Arten von Idolen:
 
• die Idole des Stammes, die in der Gattung des Menschen begründet sind, der nun einmal
 
nie die ganze Wahrheit kennen kann;
 
• die Idole der Höhle, die individuell bei jedem vorhanden sind, denn jeder hat – so Bacon
 
– eine Höhle oder eine spezifische Grotte, »welche das Licht der Natur bricht und verdirbt
 
«;
 
• die Idole des Marktes als Folge des engen Beieinanderseins der Menschen, als Folge der
 
Gemeinschaft und als Folge des Verkehrs mit anderen Menschen
 
und schließlich
 
• die Idole des Theaters. Denn auf der großen Bühne geistiger Selbstdarstellung wurden
 
– so wieder Originalton Bacon – »Philosophien erfunden, wurden für wahr unterstellt
 
und sind in den Geist des Menschen eingedrungen. Philosophische Lehrmeinungen, Sekten,
 
Prinzipien sowie Lehrsätze von Wissenschaften haben durch Tradition, Leichtgläubigkeit
 
und Nachlässigkeit Geltung erlangt. Der menschliche Verstand muss vor ihnen
 
auf der Hut sein.«
 
6 Allport, Gordon W.: Die Natur des Vorurteils (1954), Köln 1971.
 
7 Bacon, Francis: Novum Organum. Aphorismen über die Interpretation der Natur und das Reich des
 
Menschen, in: Gawlick, Günter: Empirismus, Stuttgart 1980, S. 26–49, hier S. 33–36.
 
204
 
Damit ist das große Thema angeschlagen, das im Zentrum der Aufklärung steht und das
 
auch zum großen Thema der Freimaurerei geworden ist.
 
Freimaurer als gleichermaßen Geschöpfe und Mit-Schöpfer der Aufklärung reihten sich
 
in den Kampf gegen das Vorurteil ein und vermittelten ihm Akzente und Impulse.
 
Lessing, wenn nicht der bedeutendste, so doch sicher der wortmächtigste Aufklärer
 
unter den deutschen Freimaurern, gab diesem Ringen um kommunikative Vernunft immer
 
wieder beredt Ausdruck.8
 
Wir kennen und lieben seine geschliffenen Sätze:
 
»Recht sehr zu wünschen, dass es in jedem Staate Männer geben möchte, die über
 
die Vorurteile der Völkerschaft hinweg wären und genau wüssten, wo Patriotismus
 
Tugend zu sein aufhöret.«
 
»Recht sehr zu wünschen, dass es in jedem Staate Männer geben möchte, die dem
 
Vorurteile ihrer angeborenen Religion nicht unterlägen; nicht glaubten, dass alles
 
notwendig gut und wahr sein müsse, was sie für gut und wahr erkennen.«
 
Und im Nathan:
 
»Es eifre jeder seiner unbestochnen, von Vorurteilen freien Liebe nach!«
 
Es ist nun von signifikanter Bedeutung für das Selbstverständnis einer ethisch orientierten
 
Freimaurerei, wie sie aus den Reformen des Bundes nach dem Zusammenbruch der »Strikten
 
Observanz« und dem Wilhelmsbader Freimaurer-Konvent von 1782 am Ende des 18.
 
Jahrhunderts hervorgeht, dass die Benennung des Vorurteils als eines großes Übels auch
 
Eingang in das freimaurerische Ritual gefunden hat. Allerdings nicht in jedes. Während beispielsweise
 
das Ritual, das am intensivsten den Geist der Aufklärung umsetzt, das Ritual
 
Friedrich Ludwig Schröders, im Ritual des Lehrlingsgrades von 1801 an nicht weniger als sieben
 
Stellen vom Vorurteil und der Notwendigkeit seiner Überwindung spricht, findet sich
 
im Ritual der Großen Landesloge keine einzige Erwähnung.
 
Schröder, wie auch der Kantianer Feßler für die Große Loge Royal York, wollten auf
 
das, was Fichte nach dem Zusammenbruch der »Strikten Observanz« »die tabula rasa der
 
Freimaurerei« nennt9, etwas schreiben, »was ihrer würdig ist«: den Geist der Aufklärung, der
 
nicht nur gegenüber einer rückständigen profanen Umwelt, sondern auch gegenüber vielen
 
zeitgenössischen freimaurerischen Irrwegen wieder zu befestigen und zu bewahren ist. Es
 
sind also nicht zuletzt die in der Freimaurerei selbst anzutreffenden und von ihnen vor
 
allem auf Hochgradirrwege zurückgeführten Vorurteile, gegen die Reformer wie Schröder
 
und Feßler anzugehen sich bemühen.
 
8 Vgl. Höhmann, Hans-Hermann: Lessing und die deutsche Freimaurerei der Gegenwart, Veröffentlichungen
 
der Lessing-Gesellschaft, Hamburg 2004.
 
9 Fichte, Johann Gottlieb: Philosophie der Maurerei. Briefe an Konstant, hrsg. von Thomas Held, Düsseldorf
 
und Bonn 1997, S. 21.
 
205
 
Hören wir im Originalton den Ritualreformer Schröder von 180110:
 
»Hülfsbedürftig setzt die Natur den Menschen in die Welt; von Vorurtheilen und
 
Leidenschaften geblendet vergißt er seine Würde; die Vernunft zeigt ihm die Mittel,
 
auf den Weg der Wahrheit zu gelangen.«
 
Oder:
 
»Der rohe Stein, an welchem der Lehrling zur Arbeit angewiesen wird, ist das Sinnbild
 
des unaufgeklärten, mit Vorurtheilen erfüllten Menschen; der behauene aus ihm
 
werden kann, wenn er sein Herz und seinen Geist bearbeitet.«
 
Oder:
 
»Denn so wie ein Gebäude durch Weisheit erfunden, durch Stärke ausgeführt, und
 
durch Schönheit geziert wird, so bedeuten auch die drei großen Gegenstände der
 
Freimaurerei: erstens Weisheit, Ueberwindung der Vorurtheile, Wahrheit, Ueberzeugung,
 
Erforschung unserer Selbst ….«
 
Wohlgemerkt: Weisheit bedeutet in Schröders Ritualverständnis primär Überwindung der
 
Vorurteile und Erforschung des eigenen Selbst. Ideenwelt und Ritual stehen in der ethisch
 
orientierten Freimaurerei nicht unverbunden nebeneinander: Das Ritual nimmt vielmehr
 
die Ideen der (am Ende des 18. Jahrhunderts immer »bürgerlicher« werdenden) Aufklärung
 
auf und spiegelt sie – um sie einübbar zu machen – im rituellen Vollzug auf den Freimaurer
 
zurück.
 
Folgerungen für die Praxis
 
Aber bedarf der Freimaurer heutzutage überhaupt der Belehrung, vorurteilsfrei zu sein?
 
Nehmen wir »Brüder des Lichts« nicht gern von uns an, bereits durch und durch aufgeklärt
 
zu sein?
 
Mir scheint Skepsis am Platz, und wenn wir die Analyse des Vorurteils von Francis
 
Bacon bis Gordon Allport und die moderne Sozialtheorie Revue passieren lassen, so wäre
 
ein vorurteilsfreier Freimaurer wahrlich ein anthropologisches Wunder.
 
Natürlich haben wir Freimaurer Vorurteile! Aber warum?
 
• Erstens, weil auch wir Freimaurer Menschen sind, die nicht alles wissen können und die
 
gezwungen sind, Wissenslücken durch Annahmen, durch Voraus-Urteile zu überbrücken.
 
• Zweitens, weil auch wir unsere Herkunft, unsere frühen Erfahrungen, unsere Sozialisation
 
nicht verleugnen können, weil wir aus verschiedenen prägenden Milieus stammen und
 
weil alle diese Milieus mehr oder weniger mit Vorurteilen behaftet sind.
 
10 Schröder, Friedrich Ludwig: Ritual des Lehrlings-Grades der unter der Constitution der großen Provinzial-
 
Loge von Hamburg und Niedersachsen arbeitenden gerechten und vollkommenen Freimaurer Logen,
 
Hamburg 1801.
 
206
 
• Drittens: Auch wir Freimaurer stehen im gesellschaftlichen Prozess, wir haben unsere Positionen
 
und wir haben unsere Interessen. Und weil wir unterschiedliche Rollen spielen und
 
nicht davon ausgehen können, dass diese immer allen gefallen, versuchen wir, unser Rollenverhalten
 
vor uns selbst und anderen durch lieb gewordene Stereotype zu legitimieren.
 
• Schließlich haben auch wir Freimaurer uns in den großen Denk- und Glaubenssystemen
 
religiös, weltanschaulich, ideologisch und politisch verortet, auch in den uns lieb gewordenen
 
freimaurerischen Systemen, auch in den Gehäusen unserer niederen oder höheren
 
Grade. Wir spielen immer und unvermeidbar kleines oder großes Welttheater, und wir
 
sind immer wieder in Versuchung, die Bühne, auf der wir spielen, mit den Kulissen unserer
 
Vorurteile attraktiv auszugestalten.
 
Welche unserer Vorurteile sind nun besonders schädlich? Ich denke, dass die Gefahr, unter
 
Freimaurern auf aggressive Vorurteile zu stoßen, geringer geworden ist. Doch man braucht
 
nur das freimaurerische Schrifttum der 20er und frühen 30er Jahre durchzusehen, um zu
 
erschrecken, wie bis hin zum Antisemitismus die ganze Palette völkischer Vorurteile in der
 
deutschen Freimaurerei heimisch gewesen ist.11
 
Dies aufzuarbeiten haben wir Freimaurer leider weitgehend der externen Forschung
 
überlassen.12 Doch das »Sich-drücken-vor-dem-Wahrnehmen« der Vorurteile von gestern
 
führt nun nicht geradewegs zur Sorge, dass auch die heutige deutsche Freimaurerei anfällig
 
für nationalistische oder gar rassistische Vorurteile ist. Wie erinnern uns nicht gern an das,
 
was früher war, aber wir haben es hinter uns gelassen.
 
Die Vorurteile, die uns Freimaurer heute anhaften, haben m.E. vor allem mit unserem
 
Strukturkonservativismus, unseren Schwächen im zwischenmenschlichen Verhalten und
 
mit unserem unzureichenden Wissen zu tun.
 
Ich möchte nicht behaupten, sondern Fragen stellen:
 
• Bemühen wir uns genug darum, Vorurteile auch in unseren eigenen Strukturen und Verhaltensweisen,
 
ja in unseren Ritualen aufzuspüren und sie nicht nur unserer Umwelt anzulasten?
 
• Ziehen wir immer die erforderlichen organisatorischen Konsequenzen, wenn wir uns im
 
Brustton der Überzeugung darauf berufen, dass es nur eine Freimaurerei gäbe?
 
• Sind wir nicht oft schroff und anmaßend im Verhalten zueinander, und lassen wir uns
 
nicht durch unsere Vorteile auch noch ein gutes Gewissen dafür verschaffen?
 
• Hegen wir nicht zuweilen verletzende Vorurteile gegen die von uns, die sich um gründliche
 
intellektuelle Aufarbeitung bemühen, ja Forschung betreiben, im Sinne eines: »Wissenschaft
 
bedeutet, dass noch mehr geschrieben wird, was keiner liest« oder »Was da erforscht
 
wird, ist mir ohnehin schon alles bekannt«?
 
• Belastet nicht ein zu geringes freimaurerisches Wissen unser Verhältnis zum reichen kulturellen
 
Erbe der Freimaurerei, zur ganzen Fülle dessen, was Freimaurerei kulturell und
 
historisch ausmacht?
 
11 Vgl. Höhmann, Hans-Hermann: Europas verlorener Friede, die nationalvölkische Orientierung innerhalb
 
der deutschen Freimaurerei und die »freimaurerische Erinnerungspolitik« nach dem Zweiten Weltkrieg,
 
in diesem Band, S. 51–87.
 
12 Vgl. Höhmann, Hans-Hermann: Freimaurerische Erinnerungskultur, in: TAU, Zeitschrift der Forschungsloge
 
»Quatuor Coronati«, I/2005, S. 3–8.
 
207
 
• Begnügen wir uns nicht in unserer Kommunikation mit der Gesellschaft allzu oft mit
 
recht abgespeckten Versionen von Freimaurerei, die zudem nicht selten wenig mit den
 
Realitäten zu tun haben, d.h. Vorurteile sind?
 
• Besteht nicht zwischen unserem Anspruch, moralische Urteile über Politik und Gesellschaft
 
zu fällen, und dem Wissen, das bei uns Freimaurern vorhanden ist, um in der Lage
 
zu sein, soziale Zusammenhänge wirklich realitätsadäquat zu beurteilen, eine häufig ärgerliche
 
Diskrepanz?
 
• Lassen nicht eine oft unangemessene Politik- und Politikerschelte sowie Fehleinschätzungen
 
der Funktionsweise des demokratischen Systems vermuten, dass unser politischgesellschaftliches
 
Wissen und Urteilsvermögen geringer ist, als es sich wir Freimaurer eigentlich
 
leisten dürften?
 
• Und lassen nicht gar grobe Vereinfachungen, aggressive Rechthaberei, kategorisches Entweder-
 
oder oder moralische Selbstgerechtigkeit manchmal nicht gar die Konturen einer
 
problematischen Stammtischnähe aufscheinen?
 
• Und wenn diese Fragen etwas für sich haben sollten: Sind wir bereit, Vorurteile zu überwinden
 
und zum Urteil fortzuschreiten?
 
Zum Schluss: Was sollen wir tun, um vom Vorurteil zum Urteil fortzuschreiten?
 
Vier methodische Ansätze kommen mir in den Sinn, die mir ebenso unverzichtbar wie aussichtsreich
 
erscheinen:
 
• Erstens das Bemühen um einen offenen, empathischen, doch zugleich kritischen Umgang
 
miteinander in der brüderlichen Gemeinschaft der Loge.
 
• Zweitens das Engagement für einen redlichen, ethisch orientierten Diskurs bei unserer
 
geistigen Arbeit, ausgerichtet am unverzichtbaren »nichts geht über das laut denken mit
 
dem Freunde«, bei dem nicht der lauwarme Regen vermeintlicher Toleranz Vorurteile
 
überdeckt, wenn nicht gar legitimiert, sondern durch klare Benennungen offen legt.
 
• Drittens die Pflege einer Ritualpraxis, die das freimaurerische Ritual mit seinen prozesshaft
 
auf Veränderung angelegten Prüfungs- und Einübungselementen aufklärerisch-lebendig
 
im Sinne ethischer Einübung auf uns wirken lässt.
 
• Und Viertens – gleichsam als freimaurerische Hausaufgabe – das stete Anarbeiten gegen
 
Unwissenheit im Sinne eines: Wo Vorurteil war, soll Urteil möglich werden, sowie das
 
Bemühen, in Bezug auf Gesinnung und Verhalten anstatt eines Teilzeitmaurers ein Ganztagsmaurer
 
zu sein, dem es zu wenig ist, das Ringen um eine bessere Welt vorwiegend an
 
andere zu delegieren, um sie dann – durchaus zu Recht – dafür mit Preisen auszuzeichnen,
 
der vielmehr selbst aktiv wird, beispielsweise durch eine mit geeigneten Partnergruppen
 
vernetzte Aktion »Freimaurer gegen Vorurteile«.
 
Dann können vielleicht auch einmal andere über die Freimaurer sagen: Donnerwetter, die
 
stehen ja mitten in der Zeit und die sind wirklich gut – (und dann gäbe es vielleicht gar einmal
 
einen Preis für die Freimaurerei).
 
Aber wäre das dann nicht ein unzulässiges politisches Engagement? Nicht, wenn wir klar unterscheiden
 
zwischen
 
208
 
• dem politischen Prozess, bei dem – im politischen Streit auf der institutionellen Grundlage
 
einer pluralistischen Demokratie – parteiische Meinungen aufeinandertreffen und in
 
dem die Freimaurerei als Institution (im Unterschied zum einzelnen Freimaurer) nichts
 
zu suchen hat und
 
• den quasi vorpolitischen, politisch aber höchst relevanten Grundlagen der Politik. Hiergeht
 
es in erster Linie um dreierlei: (1) um Wissenserwerb und den Kampf gegen Vorurteile,
 
(2) um unaufgebbare moralische Standards für politisches Handeln sowie die Frage,
 
inwieweit sich Norm und Realität entsprechen und (3) um Verhaltensstile, um menschlichen
 
Umgang im politischen Raum, kurz um politische Kultur.
 
Für eine Freimaurerei, die sich als Lebenskunst versteht, die menschliches Miteinander und
 
ethische Lebensorientierung durch Symbole und rituelle Handlungen in der Gemeinschaft
 
der Loge erlebbar macht, böte sich hier auf dem Gebiet der Grundlagen von Politik ein
 
ebenso kreatives wie verantwortungsvolles Denk- und Handlungsfeld. Würde sie hier verstärkt
 
aktiv, so könnte sich nicht nur der einzelne Freimaurer, sondern auch die Freimaurerei
 
als Institution viel stärker als bisher im öffentlichen Raum bemerkbar machen. Dann würde
 
die Freimaurerei zu einer ernst zu nehmenden Gruppe, die bereit und in der Lage ist, sich
 
mit ihrem ganz spezifischen Angebot den Problemen der Zeit zu stellen.
 
209
 
Bürgerliches Selbst- und Wertebewusstsein
 
als Zukunftsfaktor Europas
 
1. Kulturelle Faktoren in der Politik
 
Politik ist sowohl in ihren institutionellen Strukturen als auch in ihren durch Interessenkonflikte
 
und Machtkämpfe bestimmten Abläufen stets äußerst vielschichtig und kompliziert. Es mag
 
daher ratsam sein, zu Beginn einer Analyse gegenwärtiger und zukünftiger Perspektiven europäischer
 
Politik, bei der vor allem kulturelle Faktoren berücksichtigt werden sollen, in aller Kürze
 
einige Dimensionen der angemerkten Komplexität aufzuzeigen. Einerlei, ob es um innerstaatliche
 
Entwicklungen geht, um internationale Beziehungen oder um die Gestaltung des künftigen
 
Europas: Stets hat das Gelingen von Politik mindestens vier unverzichtbare Voraussetzungen:
 
• Erstens muss ein möglichst widerspruchsfreier institutioneller Rahmen vorhanden sein,
 
der aus verbindlichen Normen, aus Gesetzen von der Verfassung bis hin zu einzelnen
 
Rechtsregeln und Vorschriften besteht. Ohne einen solchen Rahmen lassen sich politische,
 
insbesondere ökonomische Abläufe, wie zuletzt die internationale Finanzkrise gezeigt
 
hat, nicht zufriedenstellend regeln.
 
• Innerhalb dieses Rahmens müssen zweitens klare, konsistente und ausreichend akzeptierte
 
Konzeptionen für das Handeln der politischen Akteure vorhanden sein. Ohne fundierte
 
Konzeptionen sind zieladäquate, effektive und zugleich effiziente Maßnahmen der
 
Politik auf all ihren Feldern nicht zu gewährleisten.
 
• Drittens muss es in allen Bereichen des politischen Handelns und Entscheidens leistungsfähige
 
Akteure geben, Politiker, die mit »Leidenschaft und Augenmaß« (Max Weber) politische
 
Konzepte im Rahmen der gegebenen Institutionen professionell und wirkungsvoll
 
umzusetzen verstehen.
 
• Viertens schließlich gelingt Politik nur auf der Basis von kulturellen Faktoren, zu denen
 
in erster Linie Vertrauen, Motivationen, Überzeugungen und Wertvorstellungen gehören.
 
Menschen müssen nicht nur wissen, was sie tun und in welchem Ordnungsgefüge sie handeln,
 
sie müssen auch wissen, warum sie handeln, und vor allem müssen sie über innere
 
Maßstäbe verfügen, die sie verpflichten, ethisch verantwortlich tätig zu sein.
 
Viele Diskussionen hierzulande weisen darauf hin, dass das Bewusstsein für die kulturellen
 
Grundlagen der Politik in der jüngsten Vergangenheit zugenommen hat.
 
Ich erwähne mit ein paar Stichworten nur
 
• die Diskurse über Notwendigkeit – aber auch Abwegigkeit – einer sogenannten »deutschen
 
Leitkultur«,
 
• die anhaltenden Debatten um Werteverfall, Wertewandel und neue Werte in der modernen
 
Gesellschaft von heute,
 
• die vehementen öffentlichen Klagen um die Zusammenhänge zwischen Wirtschaftskrise,
 
Unternehmerversagen und moralische Defizite der ökonomischen Eliten,
 
sowie
 
• das zunehmende öffentliche Nachdenken über Notwendigkeit und Möglichkeit einer
 
neuen Bürgerlichkeit, worauf gleich noch ausführlich zurückzukommen ist.
 
210
 
Diese Debatten haben längst den nationalen Rahmen verlassen. Vor allem die Wertdebatte
 
hat einen internationalen, ja globalen Charakter angenommen. Teils wird sie hoffnungsvoll
 
geführt – ein wichtiges Beispiel dafür ist das von Hans Küng propagierte »Projekt Weltethos«
 
–, teils steht sie unter einem pessimistischen Vorzeichen, wofür Samuel Huntingtons düstere
 
Perspektive eines »Clash of Civilisations«, eines »Kampfes der Kulturen«, besonders paradigmatisch
 
ist.
 
Schließlich hat mit den Bemühungen um eine Verfassung der Europäischen Union zu
 
Beginn des 21. Jahrhunderts eine intensive Debatte um die der Union zugrunde liegenden
 
europäischen Werte eingesetzt.
 
2. Europäische Werte
 
Ohne Werte geht es nicht, dessen sind sich offenkundig auch die Mütter und Väter einer neuen
 
europäischen Verfassungsordnung bewusst.
 
Daher wird sowohl im gescheiterten »Vertrag über die Verfassung der Europäischen
 
Union« vom Oktober 2004 als auch im danach in Angriff genommenen »Vertrag über die
 
Europäische Union« vom Dezember 2007, dem sogenannten Vertrag von Lissabon, neben
 
der Regelung von Institutionen und Entscheidungsprozessen auch die Frage nach den Wertgrundlagen
 
Europas angesprochen und ein europäischer Wertekanon definiert.
 
Dementsprechend lautet Artikel 2 des »Vertrags über die Europäische Union«:
 
»Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind Achtung der Menschenwürde, Freiheit,
 
Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte
 
einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese
 
Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus,
 
Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit
 
von Frauen und Männern auszeichnet.«1
 
Auch Herkunft und Grundlagen dieser Werte werden genannt:2 Man habe bei der Formulierung
 
geschöpft
 
»aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas, aus dem sich die
 
unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen sowie Freiheit, Demokratie,
 
Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte entwickelt haben«,
 
und man habe sich von der Überzeugung leiten lassen,
 
»dass ein nach schmerzlichen Erfahrungen nunmehr geeintes Europa auf dem Weg
 
der Zivilisation, des Fortschritts und des Wohlstands zum Wohl aller seiner Bewohner,
 
auch der Schwächsten und der Ärmsten, weiter voranschreiten will, dass es ein
 
Kontinent bleiben will, der offen ist für Kultur, Wissen und sozialen Fortschritt, dass
 
1 Vertrag von Lissabon, hrsg. von der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2008, S. 34.
 
2 Vertrag von Lissabon, Präambel, ebenda, S. 32.
 
211
 
es Demokratie und Transparenz als Grundlage seines öffentlichen Lebens stärken und
 
auf Frieden, Gerechtigkeit und Solidarität in der Welt hinwirken will«.
 
Gewiss, die Europäische Union umfasst nicht das gesamte Europa, und sie ist auch nicht homogen
 
und einheitlich; doch politisch und konzeptionell ist die Union der bedeutsamste
 
gemeinsame Ausdruck, den Europa in seiner Geschichte gefunden hat. Es hat zwar auch im
 
bisherigen Verlauf der europäischen Integration Gesetze und Verordnungen gegeben, doch es
 
gab bisher keine Verfassungsordnung. Diese Lücke ist mit dem Vertrag von Lissabon geschlossen
 
worden, was für die Zukunft der Union eine große Bedeutung hat, wie auch die Verankerung
 
der europäischen Leitwerte im Verfassungsvertrag neu und bedeutsam ist.
 
Das Festschreiben gemeinsamer Werte war den europäischen Parlamentariern sogar so
 
wichtig, dass sie sich nicht mit dem erwähnten Wertekanon der Verfassungstexte begnügten.
 
Sie verabschiedeten vielmehr zusätzlich auch eine »Charta der Grundrechte der Europäischen
 
Union«.3
 
Der erste Artikel dieser Charta »Die Würde des Menschen ist unantastbar« folgt im
 
Wortlaut dem entsprechenden Text des deutschen Grundgesetzes. Die folgenden Hauptabschnitte
 
»Würde des Menschen« – »Freiheiten« – »Gleichheit« – »Solidarität« und »Bürgerrechte
 
« folgen dem Wertekanon der Verfassungsdokumente und der Schlussabschnitt – »Allgemeine
 
Bestimmungen über die Auslegung und Anwendung der Charta« – enthält auch die
 
Verpflichtung zu einer ernsthaften Suche nach geeigneten Prozeduren für die institutionelle
 
und politische Umsetzung der aufgelisteten Grundrechte und Werte.
 
3. Die Meinung der europäischen Bürger
 
Doch was sagen die europäischen Bürger selbst zu »ihren« Werten? Welche Werte sind ihnen
 
besonders wichtig?
 
Das sogenannte »Eurobarometer« der Europäischen Union, in dem gleichzeitige Umfragen
 
aus allen Ländern der Europäischen Union erarbeitet und veröffentlicht werden, hat sich in
 
seiner Herbstumfrage 2006 erstmalig auch mit Werten und gesellschaftlichen Themen befasst,
 
wobei knapp 30.000 Personen befragt wurden.4
 
Den Befragten wurde zweimal eine Liste von Werten vorgelegt, aus denen sie jeweils drei
 
Werte benennen sollten, einmal hinsichtlich der für sie persönlich wichtigsten Werte, zum
 
anderen in Bezug auf die Frage, welche Werte die Europäische Union am besten repräsentieren
 
würden. Die Vorgaben, unter denen jeweils gewählt werden konnte, waren dabei die folgenden:
 
Rechtsstaatlichkeit; Respekt gegenüber dem menschlichem Leben; Menschenrechte; Freiheit
 
des Einzelnen; Demokratie; Frieden; Gleichheit; Solidarität; Toleranz; freie Religionsausübung;
 
Selbstverwirklichung und Respekt gegenüber anderen Kulturen.
 
Für die Befragten als persönlich am wichtigsten erwiesen sich Frieden (52 Prozent), Respekt
 
gegenüber dem menschlichem Leben (43 Prozent) und Menschenrechte (41 Prozent).
 
3 Charta der Grundrechte der Europäischen Union, ebenda, S. 205–217.
 
4 Eurobarometer 66. Die öffentliche Meinung in der Europäischen Union. Befragung, durchgeführt im
 
Auftrag der Generaldirektion Kommunikation http://ec.europa.eu/public_opinion/archives/eb/eb66/
 
eb66_highlights_de.pdf, download 28. 11. 2010, S. 35f.
 
212
 
Als die drei Werte, die in der Sicht der EU-Bürger die Europäische Union am eindrucksvollsten
 
repräsentieren, wurden Menschenrechte (38 Prozent), Demokratie (38 Prozent) und
 
gleichfalls Frieden (36 Prozent) genannt.
 
Die freie Ausübung der Religion gehörte dagegen nur für sieben Prozent der Befragten
 
zu den drei wichtigsten persönlichen Wertbereichen, und nur drei Prozent von ihnen
 
bezeichneten Religionsfreiheit als einen der drei wichtigsten repräsentativen Werte der Europäischen
 
Union.
 
Die Befragung deutet somit auf ein Wertverständnis der europäischen Bürger hin, das
 
mit den Formulierungen in Verfassung und Verfassungsvertrag weitgehend übereinstimmt,
 
sie bestätigt zugleich aber auch das vorwiegend säkulare Verständnis europäischer Werte,
 
das ja auch im – mancherorts beklagten – Verzicht auf einen Gottesbezug im europäischen
 
Verfassungsvertrag seinen Ausdruck gefunden hat.
 
4. Bilanz der gegenwärtigen Wertdebatte
 
Dass Werte im Bewusstsein der Bevölkerung präsent sind und dass Werte nach dem Willen
 
der Verfassung zur Grundlage des politischen Handelns und Entscheidens gemacht werden
 
sollen, bedeutet nun freilich nicht, dass Institutionen und Politik die Wirksamkeit und Verbindlichkeit
 
von Werten sichern könnten.
 
Gewiss, eine erfolgreiche Politik sowie zweckmäßige und konsistente Institutionen können
 
dazu beitragen, dass sich Wertbewusstsein entfaltet und dass sich das Vertrauen festigt,
 
das Bürger der Politik entgegenbringen, wie umgekehrt eine schlechte Politik und inkonsistente
 
Institutionen Vertrauen und Moral zerstört. Doch letztlich sind Werte den Institutionen
 
und politischen Entscheidungen vorgeordnet, geben ihnen Impuls und Richtung und
 
folgen ihnen nicht nach.
 
Werte sind im Gespräch: Auf der einen Seite ist von Wertewandel, wenn nicht gar
 
von Werteverfall die Rede. Auf der anderen Seite wird die Notwendigkeit betont, alte
 
Wertesysteme zu beleben, sie erneut verbindlich zu machen oder gar neue Wertesysteme
 
zu entwickeln. Während in den Medien und der Populärpublizistik eine eher negative
 
Einschätzung dominiert, die meist an spektakulären Ereignissen (Korruptionsskandalen, sexuellen
 
Entgleisungen prominenter Mitbürger, unterschiedlichen Formen von Gewalttätigkeit)
 
festgemacht wird, stehen sich in der Politikwissenschaft, Soziologie und empirischen
 
Sozialforschung zahlreiche analytische Ansätze mit unterschiedlichen Ergebnissen und
 
Interpretationen gegenüber.5 Als wichtige Autoren sind u.a. Ronald Inglehart6, Helmut
 
5 Vgl. hierzu und zum Folgenden: Belwe, Katharina: Editorial, Aus Politik und Zeitgeschichte, B 29/2001.
 
6 Inglehart Ronald/Baker, W. E.: Modernization, cultural change, and the persistence of traditional values,
 
in: American Sociological Review, 65, 2000; Inglehart, Ronald: Modernisierung und Postmodernisierung.
 
Frankfurt 1998.
 
213
 
Klages7, Elisabeth Noelle-Neumann8 und Karl-Heinz Hillmann9 hervorzuheben. Was die
 
einen als zunehmende Selbstentfaltung, Autonomie und Gleichberechtigung beschreiben,
 
stellt sich für andere Autoren als Werteverfall oder -verlust dar. Einige Untersuchungsergebnisse
 
deuten neuerdings auf eine Wiederbelebung »traditioneller« Werte wie Moral,
 
Pflichtbewusstsein, »Law and Order« sowie Fleiß hin. Ob derartige Entwicklungen auf die
 
generelle Renaissance eines bürgerlichen Wertesystems verweisen, ist allerdings umstritten.
 
Umstritten ist auch, ob der neuerliche Bezug auf bestimmte tradierte Wertkonventionen
 
tiefer geht oder lediglich eine auf Teilbereiche der Gesellschaft beschränkte »Wertdekoration
 
« darstellt.
 
Insgesamt steht nach wie vor die auf viele Beobachtungen gestützte Befürchtung im
 
Vordergrund, dass im politisch-gesellschaftlichen wie im privaten Leben viele Werthaltungen
 
fehlen, unzureichend vorhanden sind oder einen unverbindlich-rhetorischen Charakter
 
angenommen haben, die das Verhalten der Menschen bisher geregelt haben. In
 
zunehmendem Maße vermisst werden Einstellungen, die unmittelbar öffentlich bedeutsam
 
sind wie soziale Verantwortung, Sorge um die Zukunft der Gemeinschaft, Offenheit für
 
den Mitmenschen, Redlichkeit im Umgang miteinander sowie Maßhalten im Vertreten
 
von ideologischen Standpunkten und materiellen Interessen. Vor allem die politischen und
 
wirtschaftlichen Eliten werden unter diesen Gesichtspunkten zunehmend kritisch betrachtet.
 
Machtversessenheit vor der Wahl und Machtvergessenheit nach der Wahl (Richard von
 
Weizsäcker) etwa ist ein ebenso pointierter wie oft zitierter Vorwurf an die Adresse der
 
politischen Parteien. Den ökonomischen Eliten wird Missbrauch wirtschaftlicher Macht,
 
ungebremste Geldgier, »Heuschreckenmentalität« und »Weißkragenkriminalität« vorgehalten.
 
Vermisst werden aber auch Einstellungen, die der tagtäglichen Alltagspraxis zuzurechnen
 
sind, wie Rücksichtnahme, Respekt und Höflichkeit im Umgang miteinander. Rüdes
 
Verhalten in öffentlichen Verkehrsmitteln, nicht zuletzt alten und gebrechlichen Fahrgästen
 
gegenüber, mag ein anschauliches Demonstrationsfeld hierfür sein.
 
Auch die Freimaurer stehen im Wertediskurs. Denn die Frage nach Werten, Tugenden
 
und moralischen Verhaltensweisen hat im Freimaurerbund eine lange, in die Zeit seiner
 
Gründung im frühen 18. Jahrhundert zurückreichende Tradition.10 Auch die gegenwärtige
 
Wertproblematik ist für die Freimaurer von großer Bedeutung, und es ist eine Herausforderung
 
für sie, den Wertewandel der Gegenwart mit ihrer Ideenwelt zu konfrontieren, nach
 
der heutigen Relevanz ihrer Ideenwelt zu fragen und über die Tragfähigkeit ihres eigenen
 
Beitrags zum Wertediskurs nachzudenken.
 
7 Klages, Helmut/Gensicke, Thomas: Wertesynthese – funktional oder dysfunktional, in: Kölner Zeitschrift
 
für Soziologie und Sozialpsychologie, 58. Jg. 2006. Klages, Helmut: Werte und Wertewandel, in:
 
Schäfers, Bernhard/Zapf, Wolfgang (Hrsg.): Handwörterbuch zur Gesellschaft Deutschlands, 2. Auflage,
 
Opladen 2001.
 
8 Noelle-Neumann, Elisabeth: Werden wir alle Proletarier? Wertewandel in unserer Gesellschaft, Zürich
 
1978; Noelle-Neumann, Elisabeth/Petersen, Thomas: Zeitenwende. Der Wertewandel. 30 Jahre später,
 
in: »Aus Politik und Zeitgeschichte« 29/2001.
 
9 Hillmann, Karl-Heinz: Wertwandel, Würzburg 2003.
 
10 Vgl. Höhmann, Hans-Hermann: Der Freimaurerdiskurs der Gegenwart. Was ist, was will, was soll die
 
Freimaurerei, in diesem Band S. 152–178; ders.:, Entwicklung, Reflexion, Wissenschaft. Anmerkungen
 
zum Wechselspiel zwischen freimaurerischer Geschichte und Geschichte der Freimaurerforschung, in:
 
Quatuor Coronati Jahrbuch für Freimaurerforschung, Nr. 41/2004, S. 229–239.
 
214
 
Die zunehmende Verunsicherung, ja das zunehmende Krisenbewusstsein, das als
 
Hauptgrund für das Nachdenken über die Wertgrundlagen der Gesellschaft erkennbar ist,
 
lässt sich auf die zahlreichen, oft grundstürzenden Veränderungen zurückführen, die kennzeichnend
 
für die politische und gesellschaftliche Struktur der Gegenwart geworden sind.
 
Ich nenne nur mit Stichworten
 
• die Globalisierung mit ihren vielen ungelösten Problemen und Herausforderungen;
 
• die Auflösung der festen internationalen Strukturen nach dem Zusammenbruch des
 
kommunistischen Weltsystems;
 
• die konfliktträchtigen Mischungen von multikulturellen Gesellschaften, religiösen Fundamentalismen
 
und internationalem Terrorismus;
 
• die Zunahme problematischer technischer Machbarkeiten wie Genmanipulation und Anwachsen
 
der Kontrolle über den Menschen durch eine ausufernde Erfassung seiner persönlichen
 
Daten;
 
• die Gefährdung der Stabilität von Umweltbedingungen (Stichwort: drohende Klimakatastrophe)
 
sowie
 
• die ganz aktuellen – vermuteten oder tatsächlichen – Zusammenhänge zwischen Finanzsystem,
 
Wirtschaftskrise und den moralischen Grundlagen der Wirtschaft.
 
Entscheidend aber sind die gesellschaftlichen Veränderungen der gegenwärtigen Moderne
 
bzw. Postmoderne, die unverkennbar ein Ende der bürgerlichen Gesellschaft im traditionellen
 
Sinne bedeuten:
 
• die Veränderungen von Glaubenssystemen, Wertorientierungen und Lebensstilen im
 
Sinne einer immer heterogener, unverbindlicher und flüchtiger werdenden »Multioptionsgesellschaft
 
« (Peter Gross11),
 
• die Veränderung von Wahrnehmungen und Interessen im Sinne einer »Erlebnisgesellschaft
 
« (Gerhard Schulze12), die sich auf unterhaltsame Events und wechselnde Oberflächenreize
 
orientiert,
 
sowie
 
• die tiefgehende Umstrukturierung und Neuformierung der Realgesellschaft13, geprägt
 
durch Wandlungen in der Altersstruktur der Gesellschaft, eine drohende Desintegration
 
der Generationen, Probleme der Integration von Menschen mit Einwanderungshintergrund,
 
Veränderungen in der Arbeitswelt, ein neues Verhältnis der Geschlechter zueinander
 
sowie veränderte Formen der sozialen Einbindung bzw. Vernetzung der Menschen,
 
d.h. Wandlungen in der Struktur des »Sozialkapitals« im Sinne einer geringeren Bereit-
 
11 Vgl. Gross, Peter: Die Multioptionsgesellschaft, Frankfurt/Main 1994.
 
12 Vgl. Schulze, Gerhard: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt/M. 1992;
 
Gerhard Schulze: Kulissen des Glücks. Streifzüge durch die Eventkultur, Frankfurt/M. 1999.
 
13 Vgl. Bergmann, Jörg/Höhmann, Hans-Hermann: Die Freimaurer im Prozesse der Modernisierung heute,
 
in: Quatuor Coronati Jahrbuch, 40, 2003, S. 93–102; Hans-Hermann Höhmann: Freimaurerei als Sozialkapital.
 
Sozialwissenschaftliche Aspekte der gegenwärtigen Freimaurerei in Deutschland, in: Quatuor
 
Coronati Jahrbuch, 41, 2004, S. 303–321; ders.: Vertrauen als Element ökonomischer Kultur, in: Festschrift
 
für Wolfgang Eichwede, Bremen 2007.
 
215
 
schaft zu dauerhafter Bindung an hergebrachte bürgergesellschaftliche Gruppierungen
 
(Robert Putnam14).
 
All diese Entwicklungen erfordern rasche und nachhaltige Reaktionen von Politik und Gesellschaft.
 
Gleichzeitig wird immer deutlicher, dass die zuvor skizzierten Probleme nicht allein
 
pragmatisch zu lösen sind. Institutionen, Verfassungen, Normen, Rechtsregeln, staatliche
 
Interventionen – all das reicht hierzu offensichtlich nicht aus. Es ist vielmehr – national
 
und international und insbesondere auch im europäischen Kontext – nach der Wertorientierung
 
von Politik und Gesellschaft zu fragen, nach den »vorpolitischen moralischen Grundlagen
 
des Gemeinwesens«15, und zwar nicht im Sinne eines Vorhandenseins bloßer Wertkataloge,
 
sondern im Sinne einer für Politik und Gesellschaft verbindlichen Wertpraxis.
 
Um es salopp mit Erich Kästner zu sagen: »Es gibt nichts Gutes, außer man tut es!«
 
5. Die »Böckenförde-Formel«
 
Ernst-Wolfgang Böckenförde, deutscher Rechtsprofessor und von 1983 bis 1996 Richter am
 
Bundesverfassungsgericht, hat das Problem der Gewährleistung einer integrierenden, motivierenden
 
und verhaltensleitenden Grundlage einer modernen säkularen Gesellschaft auf die
 
immer wieder zitierte – sozusagen »klassisch« gewordene – Formel gebracht:
 
»Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht
 
garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen
 
ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit,
 
die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen
 
und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Andererseits kann er diese
 
inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt, mit den Mitteln des Rechtszwanges
 
und autoritativen Gebots zu garantieren versuchen, ohne seine Freiheitlichkeit
 
aufzugeben …«16
 
Ralf Lord Dahrendorf hat Zweifel an der generellen Gültigkeit der zitierten Sentenz Böckenfördes
 
angemeldet und betont, dass unter den »Ligaturen«, wie er Formen von Bindung innerhalb
 
der Gesellschaft und Solidarität stiftende Elemente genannt hat, möglicherweise
 
doch auch »Institutionen der liberalen Ordnung« eine größere Rolle spielen als von Böckenförde
 
angenommen.17 Demokratische Überzeugungen können tatsächlich auch im Vollzug
 
demokratischer Praxis, gleichsam als »Einübungsdemokratie« entstehen. Doch ist die Präfe-
 
14 Putnam, Robert D.: Making Democracy Work: Civil Traditions in Modern Italy, Princeton 1993; ders.,
 
Bowling Alone: The Collapse and Revival of American Community, New York 2000; ders. (Hrsg.): Gesellschaft
 
und Gemeinsinn: Sozialkapital im internationalen Vergleich, Gütersloh 2001.
 
15 Habermas, Jürgen/Ratzinger, Joseph: Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion, Freiburg
 
2004.
 
16 Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: Recht,
 
Staat, Freiheit, Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt am
 
Main 1991, S. 42–64, hier S. 60.
 
17 Lord Dahrendorf, Ralf/Nolte, Paul: Bürgerlichkeit in Deutschland, in: Vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte
 
und Gesellschaftspolitik, 170, 44. Jahrgang, Juni 2005, Heft 2, S. 3–20, hier S. 15f.
 
216
 
renz für liberale Institutionen kaum vorstellbar ohne bestimmte Wertvorstellungen und motivationelle
 
Regulierungskräfte.
 
Mit der Frage nach den Regulierungskräften, die den Staat tragen, seine Homogenität
 
verbürgen und die Freiheit seiner Bürger sichern, und »deren er bedarf, nachdem die Bindungskraft
 
aus der Religion für ihn nicht mehr essentiell ist und sein kann«,18 ist die Frage
 
nach der Wirkungskraft von gesellschaftlichen Werten in einer säkularisierten Gesellschaft
 
gestellt, die nicht mehr allein und nicht mehr vorrangig religiös bestimmt sind. Allgemeiner
 
gefasste, doch nicht weniger verbindliche Werte müssen dann zu den grundlegenden,
 
zentralen Zielvorstellungen und Orientierungsmaßstäben für das individuelle menschliche
 
Handeln und für das soziale Zusammenleben werden. »Werte sind unbedingte Vorrangregeln
 
mit moralischer Qualität« – dies das Wort Udo di Fabios, wie Böckenförde gleichfalls
 
Bundesverfassungsrichter.19 Werte bedeuten, so einmal nüchtern-kategorisch von Niklas
 
Luhmann formuliert, »Höchstrelevanz mit normativem Gehalt«.20
 
Werte haben sowohl eine individuell-persönliche als auch eine kollektiv-gesellschaftliche
 
Dimension.
 
In individueller Hinsicht bestimmen Werte Selbstverständnis, Selbstbewusstsein und
 
Selbstachtung jedes einzelnen Menschen: Menschen definieren sich im Hinblick auf die
 
Werte, zu denen sie sich bekennen und für die sie einstehen.
 
In sozialer Hinsicht orientieren sich Gruppen und Gesellschaft an Werten. Von ihrer
 
Wertbasis her wird bestimmt, wie sich eine Gesellschaft selbst versteht, welche Grundprinzipien
 
für ihre Gestaltung bestimmend, welche Elemente von »Leitkultur« für sie gültig
 
sein sollen.
 
Woher stammen europäische Werte? Wie und durch wen können sie dem überwiegend
 
rhetorischen Charakter entgehen, der ihnen oft anhaftet, und als Handlungsgrundlage
 
verbindlich werden? Und welche Rolle spielt dabei ein Bewusstsein, das man ein »bürgerliches
 
« nennen kann?
 
6. Die europäische Wert- und Bürgertradition – Rolle der
 
Freimaurerei
 
Die Werte, die als ideelle Grundlagen einer modernen europäischen Gesellschaft dienen
 
können, entstammen den großen Werterzählungen der Aufklärungszeit, die ja europäische
 
und nicht zuletzt auch freimaurerische Werterzählungen gewesen sind.
 
»Vor allem im Milieu des damals entstehenden Bürgertums« – so erläutert der Berliner
 
Historiker Jürgen Kocka21 – »entwickelten sich (im späten 18. Jahrhundert) moderne, durch
 
die Aufklärung geprägte Ideen, Ideen von einer neuen Gesellschaft, Kultur und Politik: das
 
Programm einer ›bürgerlichen Gesellschaft‹. Es wurde in den bürgerlich geprägten Assoziationen
 
und Lesegesellschaften, in den Vereinen und Zeitschriften des späten 18. und frühen
 
18 Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, a.a.O., S. 59.
 
19 Zitiert nach http://bebis.cidsnet.de/weiterbildung/sps/allgemein/bausteine/erziehung, Download 24.
 
10.2006.
 
20 Zitiert nach ebenda.
 
21 Kocka, Jürgen: Bürger und Bürgerlichkeit im Wandel, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 9–10/2008, S.
 
3–9, hier S. 5.
 
217
 
19. Jahrhunderts diskutiert, bald auch auf öffentlichen Versammlungen und Festen der sich
 
ausbreitenden liberalen Bewegung«.
 
Eine besondere Rolle dabei spielten auch die Logen der Freimaurer. Die Logen schließen
 
»Privatleute zum Publikum« zusammen, und sie antizipieren Öffentlichkeit, wenn auch
 
noch weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit, so Jürgen Habermas in seiner Habilitationsschrift
 
»Strukturwandel der Öffentlichkeit«.22 Reinhart Koselleck beschrieb die Loge
 
als das »stärkste Sozialinstitut der moralischen Welt im achtzehnten Jahrhundert«23 und
 
hob ihre Wirkung mit den viel zitierten Worten hervor: »Die Freiheit im Geheimen« – d.h.
 
die Freiheit im geschützten Milieu der Loge – »wird zum Geheimnis der Freiheit«,24 d.h. der
 
zukünftigen politisch-gesellschaftlichen Freiheit in Europa.
 
Es war ein zukunftsgerichteter Entwurf, zu dem sehr verschiedene Autoren beigetragen
 
hatten – von John Locke und Adam Smith über Montesquieu und die Enzyklopädisten bis
 
zu Immanuel Kant und Gotthold Ephraim Lessing.
 
»Die bürgerliche Gesellschaft – wofür hältst du sie?«, fragt der Freimaurer Falk seinen
 
Freund Ernst beim Spaziergang auf der Bad Pyrmonter Hauptallee.25 Und nachdem dieser
 
erwidert, »für etwas sehr Gutes«, stimmen die Freunde wenig später darin überein, welchem
 
Zweck die bürgerliche Gesellschaft dienen soll: »Das bürgerliche Leben des Menschen,
 
alle Staatsverfassungen sind nichts als Mittel zur menschlichen Glückseligkeit«, denn »die
 
Natur (hat) nicht die Glückseligkeit eines abgezogenen Begriffs – wie Staat, Vaterland und
 
dergleichen« zur Absicht gehabt –, sondern die »Glückseligkeit jedes wirklichen einzelnen
 
Wesens«. Und wiederum kurz danach – nach Erörterung auch ihrer negativen Seiten –
 
präzisiert Falk das für Lessings Aufklärungsverständnis Wesentliche: »Wenn die bürgerliche
 
Gesellschaft auch nur das Gute hätte, dass allein in ihr die menschliche Vernunft angebauet
 
werden kann, ich würde sie auch bei weit größeren Übeln noch segnen.«
 
Eine solchermaßen positive Bewertung des Bürgertums galt allerdings nicht generell und
 
nicht immer, und man darf nicht übersehen, dass – auch hier folge ich Jürgen Kocka – Bürger
 
und Bürgertum in der neueren europäischen Geschichte sehr unterschiedlich bewertet
 
worden sind. Zwischen Ablehnung und Hochschätzung, Verachtung und Respekt, Hass und
 
Lob schwankt das Bild des Bürgertums in der Geschichte:26
 
• Da gab es die aristokratische Kritik, die den Bürger für borniert und mittelmäßig hielt.
 
• Da polemisierte die sozialistische Arbeiterbewegung gegen bürgerlichen Klassenegoismus,
 
bourgeoise Ausbeutung und bürgerlichen Standesdünkel.
 
• Da wandte sich die Jugendbewegung zu Anfang des 20. Jahrhunderts gegen bürgerliche
 
Konventionen und bürgerliche Heuchelei.
 
• Da bekämpften die europäischen Faschisten den bürgerlichen Individualismus ebenso
 
wie den bürgerlichen Rechtsstaat.
 
22 Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit, Darmstadt und Neuwied 1962, S. 50f.
 
23 Koselleck, Reinhart: Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Freiburg/
 
München 1959, S. 64.
 
24 Ebenda, S. 60.
 
25 Lessing, Gotthold Ephraim: Ernst und Falk. Gespräche für Freimaurer (ursprünglich 1778/80), Frankfurt
 
am Main 1968.
 
26 Kocka, Jürgen: Bürger und Bürgerlichkeit im Wandel, a.a.O., S. 3.
 
218
 
• Da unterdrückten auch die kommunistischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts das Bürgertum
 
und die Artikulation seiner Kultur.
 
• Da gaben schließlich die am Marxismus orientierten Studenten und Intellektuellen, die
 
1968 in Berkeley, Paris und Berlin protestierten, ihrer Verachtung für alles Bürgerliche unmissverständlich
 
Ausdruck – bis hin zum Spott über »bürgerliche Wissenschaft«, »bürgerliche
 
Kunst« und »bürgerliche Liebe« (nach dem Motto: »Wer zweimal mit derselben
 
pennt, gehört schon zum Establishment«).
 
Umgekehrt schrieb der Historiker Theodor Mommsen 1899 im Rückblick auf sein Leben:
 
»… mit dem Besten, was in mir ist, bin ich stets ein animal politicum gewesen und wünschte,
 
ein Bürger zu sein.« Und Mommsen bedauerte: »Das ist nicht möglich in unserer Nation …«27.
 
7. Die Renaissance des Bürgers
 
Gewiss, es war nicht möglich in Deutschland an der Wende zum 20. Jahrhundert und es war
 
generell nicht möglich in einem Europa der vielerorts zur autoritären Rechten abdriftenden,
 
kriegerisch zerfallenen Nationalstaaten, in denen entgegen ihrer kosmopolitischen Tradition
 
bedauerlicherweise auch die Freimaurer aufs Ganze gesehen politisch keine positive Rolle
 
gespielt haben.28
 
Aber an der Wende zum 21. Jahrhundert, nach Katastrophen, politischen Verwerfungen
 
und grundstürzenden Systemumbrüchen, scheint es wieder möglich geworden zu
 
sein, Bürgerlichkeit zu reflektieren und neben der Ambivalenz ihrer Elemente auch ihre
 
»starken Seiten« und ihre Bedeutung für Gegenwart und Zukunft auszuloten. Heute sind
 
die Begriffe »bürgerlich« und »Bürger« wieder deutlich positiv besetzt, so in Begriffen wie
 
»Staatsbürger«, »Bürgerrecht« und »Bürgergesellschaft« oder wenn im Verfassungsvertrag
 
von Lissabon von den »Bürgerinnen und Bürgern der Europäischen Union« die Rede ist.
 
»Wir brauchen bewusste Bürger« –, so ist ein Interview der taz, der Berliner Tageszeitung,
 
mit den Professoren Ralf Lord Dahrendorf und Paul Nolte vom Dezember 2005
 
überschrieben, in dem Dahrendorf Typus und Habitus des von ihm gemeinten und gewünschten
 
Bürgers folgendermaßen beschreibt: »Seine Position ist nicht abgeleitet vom
 
Staat, sondern eine eigene, selbstbewusste Haltung.«29
 
Eine solche bewusste und unabhängige Bürgerlichkeit – so hatte schon ein paar Jahre
 
zuvor der niederländische Philosoph Stephan Strasser in seinen »Ethisch-politischen Meditationen
 
für diese Zeit« geschrieben – »orientiert sich am Ziel der rationalen Gestaltung der
 
menschlichen Geschichte durch mündige, diskutierende, friedlich konkurrierende Individuen
 
und Gruppen, im Glauben an die Möglichkeit des Fortschritts«.30
 
27 Zitiert nach Kocka, ebenda.
 
28 S. hierzu Höhmann, Hans-Hermann: Europas verlorener Friede, die nationalvölkische Orientierung innerhalb
 
der deutschen Freimaurerei und die »freimaurerische Erinnerungspolitik« nach dem Zweiten
 
Weltkrieg, in diesem Band, S. 51–87.
 
29 »Wir brauchen bewusste Bürger«, taz vom 31. Dezember 2005.
 
30 Strasser, Stephan: Ethisch-politische Meditationen für diese Zeit, zitiert nach Kocka a.a.O., S. 3.
 
219
 
8. Odo Marquards Philosophie der Bürgerlichkeit
 
Mein persönlicher Favorit als Gewährsmann einer neu durchdachten Konzeption von Bürgerlichkeit
 
ist allerdings der in Gießen lehrende Philosoph Odo Marquard, um dessen Interpretation
 
im Kontext aktueller Politik sich vor allem der Berliner Historiker und Politikwissenschaftler
 
Jens Hacke verdient gemacht hat.31
 
Marquard setzt einen »weiten Begriff des Bürgerlichen«32 voraus und löst sich damit
 
von den vor allem in der historiographischen Literatur häufig anzutreffenden engen historisch-
 
soziologischen Definitionen des Bürgerbegriffs: »Der Bürger – als freies und gleiches
 
Mitglied der Bürgerwelt der ›polis‹ – ist der individuelle Mensch, der selbstbestimmt für
 
sich und seine Mitbürger einsteht.«33
 
Dabei ist der Bürger kein eifernder Ideologe: Marquard tritt für die Normalität, das
 
gänzlich Unspektakuläre der bürgerlichen Welt ein, denn diese bevorzuge »das Mittlere
 
gegenüber den Extremen, die kleinen Verbesserungen gegenüber der großen Infragestellung
 
…, die Geschäftsordnung gegenüber dem Charisma, das Normale gegenüber dem
 
Enormen, kurzum: die Bürgerlichkeit gegenüber ihrer Verweigerung. So ist die bürgerliche
 
Welt – auch weil die Lebensvorteile, die sie bringt, als selbstverständlich gelten – nicht sehr
 
aufregend, ein wenig langweilig gar und reichlich allzumenschlich«.34
 
Die Sympathie für den von einem empathischen common-sense-geleiteten Durchschnittsbürger,
 
der in seiner heimatlichen Lebenswelt eingebettet ist und sich in ihr auf
 
vielfältige Weise politisch und sozial engagiert, steht im Vordergrund dieser eher pragmatischen
 
als ideologischen Konzeption von Bürgerlichkeit.35
 
Inhaltlich sind Marquards Leitlinien auf einfache Formeln zu bringen. »Bürgerlichkeit« manifestiert
 
sich für ihn in fünf grundsätzlichen Einstellungen:
 
Erstens im Festhalten an der Aufklärung als jener Modernitätstradition, »die – als Wille zur
 
Mündigkeit, d.h. zum Erwachsensein – den Mut zur Nüchternheit zur Routine macht. Man
 
darf – weil man von Usancen ohne Not nicht abweichen soll – auch von dieser Tradition
 
(der Usance Modernität) nicht ohne Not abweichen. Dabei muss man die Aufklärung vor
 
jenen retten, die sie zum Kursus in Weltfremdheit umfunktionieren wollen: zum Doping für
 
Revolutionäre«.36
 
Zweitens in der Absage an ideologische Verblendung, im »Abschied vom Prinzipiellen« (so
 
der Titel eines seiner Bücher), in der Bereitschaft zu intellektueller Offenheit und im Verteidigen
 
einer »offenen« Gesellschaft: »All diese Überlegungen verabschieden die prinzipielle
 
Philosophie; aber sie verabschieden nicht die unprinzipielle Philosophie: die Skepsis. Sie ver-
 
31 Hacke, Jens: Bekenntnis zur Bürgerlichkeit. Selbstbehauptungsmotive in der Philosophie der Bundesrepublik,
 
in: vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik, 170, 44. Jahrgang, Juni 2005,
 
Heft 2, S. 33–44, hier S. 39f. Meine Interpretation folgt im Wesentlichen Hacke.
 
32 Marquard, Odo: Individuum und Gewaltenteilung. Philosophische Studien, Stuttgart 2004, S. 93.
 
33 Ebenda.
 
34 Marquard, Odo: Philosophie des Stattdessen. Studien, Stuttgart 2000, S. 106.
 
35 Hacke, Jens: a.a.O., S. 40.
 
36 Marquard, Odo: Zeitalter der Weltfremdheit, in: ders.: Apologie des Zufälligen, Stuttgart 1986, S. 76–97,
 
hier S. 94f.
 
220
 
abschieden für die Menschen die prinzipielle Freiheit; aber sie verabschieden nicht die wirkliche
 
Freiheit, die im Plural: die Freiheiten.«37
 
Drittens in der Bewahrung der freiheitsbedingenden Wirkung der Gewaltenteilung: »Individuelle
 
Freiheit gibt es für Menschen nur dort, wo sie nicht dem Alleinzugriff einer einzigen
 
Alleinmacht unterworfen sind, sondern wo mehrere – voneinander unabhängige – Wirklichkeitsmächte
 
existieren, die – beim Zugriff auf den Einzelnen – durch Zugriffsgedrängel einander
 
wechselseitig beim Zugreifen behindern und einschränken. Einzig dadurch, dass jede
 
dieser Vielzahl von Wirklichkeitspotenzen – politische Formationen, Wirtschaftskräfte, Sakralgewalten,
 
Geschichten, Überzeugungen, Üblichkeiten und Traditionen, Kulturen – den
 
Zugriff jeder anderen einschränkt und mildert, gewinnen die Menschen ihre Distanz und
 
individuelle Freiheit gegenüber dem Alleinzugriff einer jeden. So lebt das Individuum von
 
der Gewaltenteilung: sola divisione individuum.«38
 
Viertens im Einsatz für einen Pluralismus, der aus Skepsis vor absoluten Wahrheiten und
 
aus Respekt vor vielfältigen Herkunftsgeschichten resultiert. Ohne das Nebeneinander und
 
das Miteinander unterschiedlichster bürgergesellschaftlicher Gruppierungen, ohne Pluralität
 
auch der Denkformen kann keine freie Gesellschaft existieren: »Es muss eine Pluralität
 
von Wirklichkeitsmächten geben, damit individuelle Freiheit sein kann. Darum – beispielsweise
 
– dürfen die Menschen – jeder Mensch für sich und alle Menschen zusammen – nicht
 
nur eine Geschichte haben, sondern sie brauchen viele Geschichten; und entsprechend dürfen
 
die Philosophen – jeder Philosoph für sich und alle Philosophen zusammen – nicht nur
 
eine Denkform haben, sondern sie brauchen viele Denkformen. Jede befreit den Einzelnen
 
von der Macht der jeweils anderen und sichert ihm dadurch den Freiheitsspielraum fürs Selberleben
 
und Selberdenken.«39
 
Fünftens schließlich im hartnäckigen Festhalten an dem durch die Institutionen des
 
Rechtsstaats und durch das Handeln demokratischer Politik gewährten Schutz der individuellen
 
Freiheitsräume des Bürgers sowie durch eine engagierte Haltung, jede »Bürgerlichkeitsverweigerung
 
« zu verweigern: »Denn die Kontraposition zur einen – der totalitär
 
nationalsozialistischen – Verweigerung der Bürgerlichkeit ist nicht die andere – die totalitär
 
sozialistische – Verweigerung der Bürgerlichkeit, sondern die Verweigerung dieser Bürgerlichkeitsverweigerung:
 
die insofern ›konservative‹ Option für die bürgerlich liberale
 
Demokratie.«40
 
37 Marquard, Odo: Abschied vom Prinzipiellen, in: ders.: Abschied vom Prinzipiellen. Auch eine autobiographische
 
Einleitung, Stuttgart 1981, S. 4–22, hier S. 19.
 
38 Marquard, Odo: Mut zur Bürgerlichkeit, in: ders.: Individuum und Gewaltenteilung. Philosophische
 
Studien, Stuttgart 2004, S. 91–96, hier S. 95.
 
39 Marquard, Odo: Die Denkformen und die Gewaltenteilung, in: ders.: Individuum und Gewaltenteilung,
 
a.a.O., S. 114–123, hier S. 122.
 
40 Marquard, Odo: Eine Philosophie der Bürgerlichkeit, in: ders.: Individuum und Gewaltenteilung, a.a.O.,
 
S. 159–165, hier S. 165.
 
221
 
9. Vom bürgerlichen Selbst- und Wertbewusstsein zur
 
gesellschaftlichen Praxis
 
Wie aber kommen diese Einstellungen in der politischen Praxis zustande? Wie lassen sie sich
 
im Habitus des Bürgers verankern, der ja nur durch eine solche Verankerung zum selbstund
 
wertbewussten Bürger wird? Gewiss nicht durch eine bloße Wertrhetorik, die eher abstößt
 
und Verdruss bereitet, wohl aber durch eine Praxis bürgerlicher Wertaneignung und
 
Wertumsetzung.
 
Hierzu drei Überlegungen zum Schluss:
 
Erstens: Zur Praxis bürgerlicher Wertaneignung gehört ein komplexes und schwieriges Verständigungsprogramm,
 
denn es gibt viele Fragen, die nach Antwort verlangen:
 
• Welche Werte sollen gelten?
 
• Wie verhalten sich die einzelnen Werte zueinander, Freiheit und Gleichheit etwa?
 
• Auf welche Weise sind Werte ganz konkret und gesetzestechnisch in Institutionenbildung
 
und Politik umzusetzen?
 
• Was sind die zweckmäßigen pädagogischen Programme, um – insbesondere bei jungen
 
Menschen – Wertbewusstsein zu wecken und habituell zu verankern? Ethikunterricht
 
etwa oder Pro-Reli?
 
Eine solche Prüfung, Befragung und Konkretisierung von Werten setzt die Anerkennung der
 
Pluralität von Auffassungen sowie einen toleranten, redlichen Diskurs voraus. Dabei geht es
 
nicht nur um Werte, es geht auch um Einsicht in die Strukturen der realen Welt, die immer
 
unübersichtlicher werden und die es schwierig machen, für politische und gesellschaftliche
 
Herausforderungen Lösungen zu finden, die nicht nur den Werten entsprechen, auf die man
 
sich beruft, sondern bei denen auch das erforderliche Maß an Praktikabilität und Alltagsvernunft
 
nicht zu kurz kommt.
 
Zweitens: So wichtig eine Verständigung über heutige Realitäten ist, die notwendige Tiefe gewinnt
 
dieser Diskurs doch nur, wenn er sich mit Erinnerungskultur und historischer Reflexion
 
verbindet. Die europäischen Bürgerkriege des 19. und 20. Jahrhunderts haben ja dem
 
Europa der Aufklärung im Sinne einer den europäischen Eliten gemeinsamen Lebens- und
 
Denkweise ein Ende gesetzt. An diese gemeinsame Lebens- und Denkweise hätte das heutige
 
Europa wieder anzuknüpfen. Um aber an gemeinsame Vergangenheiten anknüpfen zu können,
 
müssen die Europäer der Gegenwart – so hat es der lange in Princeton und seit 2007
 
in Harvard lehrende Historiker Robert Darnton einmal formuliert – »einen Salto rückwärts
 
über das 19. und 20. Jahrhundert springen und sich von neuem mit der europäischen Dimension
 
des Lebens im Zeitalter der Aufklärung auseinander setzen. Nicht, dass irgendwer
 
das 18. Jahrhundert wieder aufleben lassen wollte – lebte doch damals die große Mehrheit
 
der Europäer im Elend und war doch die Aufklärung selbst eine komplexe Bewegung voller
 
Widersprüche und Gegenströmungen«.41
 
41 Darnton, Robert: Das Glück der Gemeinschaft, in: Aust, Stefan/Schmidt-Klingenberg, Michael (Hrsg.),
 
Ein Kontinent macht Geschichte. Experiment Europa, Stuttgart/München 2003, S. 125–143, hier S. 126.
 
222
 
Doch sie ist »vergangene Hoffnung« (Horkheimer/Adorno), sie ist der Ursprung jener
 
Werte, »die heute das Herzstück der Europäischen Gemeinschaft ausmachen, und
 
das in einer Form, die eine wirkliche, zukunftsträchtige Alternative zum Nationalismus
 
ermöglicht«.42
 
Freilich müssen europäische Werte heutzutage offen sein für tolerante Begegnungen
 
mit den Werten anderer Kulturen, wenn sie auch ihren Kern bei diesen Begegnungen zu
 
bewahren haben. Nicht aus Prinzip und Überheblichkeit, sondern deshalb, weil sie sich als
 
Grundlage einer freien Gesellschaft ganz pragmatisch bewährt haben.
 
Drittens schließlich ist bürgerliches Handeln vonnöten. Es kommt auf eine Teilhabe am
 
Leben der Gesellschaft an, die nicht exklusiv ist im Sinne eines Ausschlusses anderer und
 
die nicht daherkommt als eine »Bürgerlichkeit der feinen Leute«, sondern die als eine »Bürgerlichkeit
 
der Einbeziehung aller« wirkt, als eine Bürgerlichkeit der sozialen Offenheit, als
 
eine Bürgerlichkeit, die andere mitnimmt und die auch die weniger Privilegierten in das gesellschaftliche
 
Ganze einschließt. Insofern darf Eintreten für »Bürgerlichkeit« auch in keiner
 
Weise als Gegensatz zum Sozialstaat gesehen werden, dessen Notwendigkeit unbestritten
 
bleibt.
 
Eine Einstellung bewusster, wertorientierter Bürgerlichkeit erfordert nicht zuletzt eine
 
Mitwirkung in den vielen Gruppierungen der Bürgergesellschaft – von den Familien über
 
die Parteien, die Bürgerinitiativen, die Vereine, die Kindergärten und Schulen bis hin zum
 
Hospiz und zur Altenbetreuung, – d.h. eine Mitwirkung in den zahlreichen vom Staat unabhängigen
 
Initiativen und Assoziationen, deren Aktivitäten und deren Vernetzung allein
 
eine humane Gesellschaft ermöglicht. Dabei ist die Vernetzung bürgergesellschaftlichen Engagements
 
über die nationalen Grenzen hinaus besonders wichtig für die Zukunft Europas.
 
»Die simultane Eröffnung von Baustellen der Bürgerschaft« – so der französische Philosoph
 
Étienne Balibar in seiner lesenswerten Essay-Sammlung »Sind wir Bürger Europas?«
 
– »ist die konkrete Voraussetzung, damit der öffentliche Raum wieder zum Raum des
 
Bürgers wird. Deshalb ist die Frage einer europäischen Öffentlichkeit (die praktisch immer
 
noch nicht existent,
 
aber gleichwohl ›latent‹ vorhanden ist) so wichtig … Ohne eine solche
 
Öffentlichkeit ist in dem geschichtlichen Raum, in den wir nun eingetreten sind, an ›aktive
 
Bürgerschaft‹ nicht zu denken … Wenn Europa (das heißt die wirklichen Europäer, die
 
›Einwohner‹ Europas) die Triebkraft der politischen Aktion auf diese Weise umverlagern
 
kann, wird es zweifellos nicht das sich selbst genügende ›Ganze‹ sein, das die Verträge und
 
Gipfel verkünden. Es könnte aber – als der Name eines künftigen Volkes – durchaus ›etwas‹
 
werden«.43
 
10. Und die Freimaurerei?
 
Wie kaum eine andere Assoziation stehen die Freimaurer in der Geschichte europäischer
 
Wertentwicklung und in der Tradition europäischen Bürgerbewusstsein. Die Frage nach
 
Werten, Tugenden und moralischen Verhaltensweisen hat im Freimaurerbund eine lange,
 
42 Ebenda.
 
43 Balibar, Étienne: Sind wir Bürger Europas?, Bonn 2005, S. 290.
 
223
 
in die Zeit seiner Gründung im frühen 18. Jahrhundert zurückreichende Tradition. Ja, man
 
kann die Freimaurerei geradezu als Bund definieren, der sich um ethische Orientierungen
 
herum entwickelt hat und in dem der Wertediskurs von Anbeginn an eine zentrale Rolle
 
spielte. »A peculiar system of morality« (»ein eigentümliches System der Moralität« – eigentümlich
 
aufgrund der mit ihm verbundenen symbolisch-rituellen Lehrmethode) – so haben
 
die englischen Freimaurer schon früh ihren Bund genannt.
 
Mit fünf Feststellungen lassen sich die Zusammenhänge zwischen Freimaurerei, Wertediskurs
 
und Wertepraxis umreißen:
 
1. Freimaurer sind aufgrund ihrer Tradition mit der Entwicklung ethischer Werte verbunden
 
und aufgrund dieser Tradition auch an der Umsetzung von Werten in der Lebenspraxis
 
der Gegenwart interessiert. Werterziehung gehört daher zu den wichtigsten Aufgaben
 
der Loge.
 
2. Freimaurer gehen davon aus, dass Werterziehung scheitern muss, wenn sie nicht im Verhalten
 
der einzelnen Menschen innerhalb der Gesellschaft eingeübt und verankert wird.
 
Deshalb versteht sich die Ethik der Freimaurer in erster Linie als eine Ethik der Einübung
 
(Klaus Hammacher).
 
3. Freimaurer sind der Auffassung, dass die Gruppe das leistungsfähigste Medium der Werterziehung
 
und der Einübung wertbezogener Verhaltensweisen ist. Dies gilt für die Familie,
 
den Kindergarten, die Schule und die Kirchengruppe ebenso wie für die Logen der
 
Freimaurer.
 
4. Freimaurer sind davon überzeugt, dass in der Freimaurerei geeignete Methoden zur Einübung
 
von Werten vorhanden sind, und sie sehen diese in der sozialen, der diskursethischen
 
und der rituellen Praxis der Loge.
 
5. Freimaurer wissen, dass sie in der Praxis der Einübung und der alltäglichen Umsetzung
 
von Werten immer wieder scheitern können und sie haben dafür ein anschauliches Symbol,
 
den rauhen, unbehauenen Stein des eigenen Selbst, den sie immer wieder bearbeiten
 
müssen.
 
Freimaurerei war zuerst eine europäische Bewegung, eine Bewegung engagierter europäischer
 
Bürger, bevor sie im 19. und im frühen 20. Jahrhundert – nicht zu ihrem Vorteil und
 
nicht zum Vorteil Europas – nationalstaatlichen Charakter annahm, in Deutschland teilweise
 
gar völkisch wurde und sich zugleich einer lähmenden Innerlichkeit verschrieb.
 
Deshalb sind auch die Freimaurer aufgefordert, erneut über ihre Identität nachzudenken
 
und ihr Selbstverständnis sowie ihr Handeln an ihren besten, ihren europäischen Traditionen
 
auszurichten. Dieser europäischen Dimension hätten sich die Freimaurer – über die
 
bloß repräsentative und gesellige Begegnung hinaus – gegenwärtig verstärkt zu stellen und
 
sich wahrnehmbarer als bisher einzuordnen in die Reihe derer, denen Europa mit seiner
 
Kultur und mit der Tradition seiner Werte als Heimat der Menschen unseres Kontinents
 
am Herzen liegt.
 
224
 
Die Allgegenwart des Rituellen.
 
Rituale, Ritualforschung, Freimaurerei
 
Die Rückkehr des Rituellen
 
Im Jahre 1969 schrieb die englische Sozialanthropologin Mary Douglas: »Eines der ernstesten
 
Probleme unserer Zeit ist das Schwinden des Verbundenseins durch gemeinsame Symbole
 
… (Es gibt) einen weit verbreiteten Abscheu und Widerwillen gegen das Ritual überhaupt.
 
›Ritual‹ ist ein anstößiges Wort geworden, ein Ausdruck für leeren Konformismus …
 
Bei den Vorgängen, die wir hier und heute beobachten können, handelt es sich um eine weltweite
 
Revolte gegen alle Formen des Rituals.«1
 
Kurze Zeit danach hatte sich die Szenerie gründlich verändert. Man begann sich der
 
Ubiquität und des zeitüberspannenden Charakters von Ritualen zu erinnern, man betonte
 
zunehmend den Wert von Ritualen für den Zusammenhalt der Gesellschaft, ja man
 
empfahl die Schaffung neuer Rituale zur Bewältigung menschlicher Alltagsprobleme von
 
Paarproblemen über Erziehungsschwierigkeiten bis hin zu Einschlafstörungen. Die Suchmaschine
 
»Google« führt Beispiel um Beispiel zutage.
 
Das, was sich im Hinblick auf die rituelle Praxis und den analytischen Umgang mit
 
Ritualen seit den 1970er/1980er Jahren ereignete, verstand sich als »performative turn«, als
 
performative, handlungsbezogene Wende. Grundlage dafür war die Erkenntnis, dass nicht
 
Symbole und Texte, sondern Inszenierungen und Handlungen Wesen, Wert und Wirksamkeit
 
des Rituellen ausmachen. Es verwundert daher auch nicht, dass Wissenschaftler mit
 
einer starken Affinität zum Theater wie Viktor Turner2 und Richard Schechner3 bei dieser
 
»performativen Wende« eine führende Rolle spielten.
 
In der Folgezeit wurden zahlreiche Ritualkongresse organisiert und Ritualzeitschriften
 
begründet, wie das renommierte »Journal of Ritual Studies«, das seit 1987 erscheint. Auch
 
in Deutschland blühte die Ritualforschung in der Folgezeit auf. Hinzuweisen ist auf die
 
zunehmende Zahl von universitären Lehrveranstaltungen, Dissertationen und Buchveröffentlichungen,
 
vor allem aber auf die komplexen, mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
 
eingerichteten Sonderforschungsbereiche, wie den Sonderforschungsbereich
 
»Ritualdynamik« – Soziokulturelle Prozesse in historischer und kulturvergleichender
 
Perspektive an der Universität Heidelberg, der den weltweit größten Forschungsverbund repräsentiert,
 
der sich ausschließlich mit dem Thema Rituale, deren Veränderungen und ihrer
 
Dynamik befasst, sowie den Sonderforschungsbereich Kulturen des Performativen an der
 
Freien Universität Berlin, der das Verhältnis von Performativität und Textualität sowie die
 
Funktionen und Bedeutungen des Performativen in den großen europäischen Kommunikationsumbrüchen
 
im Mittelalter, in der Frühen Neuzeit und in der Moderne untersucht.
 
1 Douglas, Mary: Abwendung vom Ritual, in: Douglas, Mary: Ritual, Tabu und Körpersymbolik. Sozialanthropologische
 
Studien in Industriegesellschaft und Stammeskultur, Frankfurt am Main 2004, S. 11.
 
2 Vgl. Turner, Victor: Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels, Frankfurt/New York
 
2009.
 
3 Schechner, Richard: Ritual, Play and Performance, New York 1977.
 
225
 
»Die neue Kraft der Rituale«
 
Folgen wir dem Selbstverständnis der Ritualforschung, so ist die aktuelle Debatte um die
 
Wiederentdeckung des Rituals nicht zufällig. So weisen Christoph Wulf und Jörg Zirfas in
 
der Einleitung des von ihnen edierten Bandes »Die Kultur des Rituals« – mit dem bezeichnenden
 
Untertitel »Inszenierungen, Praktiken, Symbole« – darauf hin, dass Rituale und Ritualisierungen
 
in der gegenwärtigen politischen Situation, die von Diskussionen um den
 
Zerfall des Sozialen, den Verlust von Werten und der Suche nach einer kulturellen Identität
 
geprägt sei, nicht von ungefähr eine größere Bedeutung gewönnen.4 Seien Rituale im Zuge
 
der 1968er Debatte um den Nationalsozialismus fast ausschließlich unter den Aspekten der
 
Stereotypie, Rigidität und Gewalt thematisiert worden, wenn nicht gleich nur vormodernen
 
Gesellschaften zugeschrieben, so hätten sie jetzt eine Brückenfunktion zwischen den Individuen,
 
den Gemeinschaften und den Kulturen zu übernehmen. Rituale erschienen nun als
 
lebensweltliche Scharniere, die durch ihren ethischen und ästhetischen Gehalt Sicherheit in
 
den Zeiten der Unübersichtlichkeit gewähren sollten. Kurz: Rituale versprächen eine Kompensation
 
für die mit der Moderne verbundenen Verlusterfahrungen von Gemeinschaftlichkeit
 
und Kommunikationsmöglichkeiten, von Identität und Authentizität, von Ordnung
 
und Stabilität.
 
Es ließe sich tatsächlich, so sekundiert der Heidelberger Ritualforscher Axel Michaelis,
 
»eine neue Kraft der Rituale beobachten, auch wenn sie in weiten Teilen nur die alte
 
ist, die wir wiederentdecken. Und vielleicht sehnen wir uns sogar nach dieser Kraft,
 
weil um uns alles flüchtiger geworden ist, sehnen uns nach dem Halt, den Rituale geben
 
oder geben sollen«.5
 
Gleichzeitig betonen Wulf und Zirfas – und hierin stimmen sie mit vielen ihrer Ritualforschungskollegen
 
überein –, dass es angesichts der zentralen Bedeutung von Ritualen in zahlreichen
 
unterschiedlichen gesellschaftlichen und kulturellen Feldern keine allgemein akzeptierte
 
Theorie des Rituals geben könne.6 Dafür seien die Positionen und Methoden in den
 
verschiedenen Wissenschaften zu unterschiedlich. Vielmehr würden je nach Forschungsfeld,
 
Disziplin und methodischem Ansatz unterschiedliche Aspekte betont und unterschiedliche
 
Dimensionen des Rituellen für wesentlich erachtet. Es sei erforderlich, eine Vielfalt von Gesichtspunkten
 
zu thematisieren und dadurch die Komplexität des Feldes sichtbar zu machen,
 
was angemessen nur im Zusammenwirken mehrerer Disziplinen, also in transdisziplinärer
 
Forschung, erfolgen könne.
 
Bevor ich nun in gebotener Kürze versuche, eine Anzahl der im Ritualdiskurs der Forschung
 
erörterten Ritual-Dimensionen aufzuzeigen, insbesondere solche, die von erkennbarer
 
Relevanz für freimaurerische Rituale sind, möchte ich mit ein paar Bemerkungen auf
 
das wechselseitige Verhältnis zwischen Ritualforschung und Freimaurerei eingehen, das ich
 
– um es pointiert zu sagen – für unbefriedigend und korrekturbedürftig halte.
 
4 Vgl. hierzu und zum Folgenden: Wulf, Christoph/Zirfas, Jörg: Performative Welten. Einführung in die
 
historischen, systematischen und methodischen Dimensionen des Rituals, in: Wulf, Christoph/Zirfas,
 
Jörg (Hrsg.): Die Kultur des Rituals. Inszenierungen. Praktiken. Symbole, Paderborn 2004, S. 7.
 
5 Michaels, Axel: Vorwort, in: Michaels, Axel (Hrsg.): Die neue Kraft der Rituale, Heidelberg 2008, S. 8f.
 
6 Wulf, Christoph/Zirfas, Jörg: Performative Welten, a.a.O., S. 8.
 
226
 
Zum Verhältnis zwischen Ritualforschung und Freimaurerei
 
Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass freimaurerische Rituale in der modernen Ritualforschung
 
kaum analytische Beachtung gefunden haben. Natürlich gibt es Ausnahmen – quasi
 
»hell leuchtende« Ausnahmen – wie Jan Snoek und Andreas Önnerfors, aber diese beiden
 
hochkompetenten Ritualspezialisten sind ja nicht nur Ritualforscher, sondern auch Freimaurer
 
und könnten daher – by their tenure, um es mit den Alten Pflichten zu sagen – in
 
ihrer Forschungstätigkeit gar nicht an masonischen Ritualen vorbeigehen. Aufs Ganze gesehen
 
ist es jedoch eine verhältnismäßig bescheidene Rolle, die die Freimaurerei im Rahmen
 
der modernen Ritualforschung bisher gespielt hat. Nach den Gründen dafür möchte ich
 
allerdings an dieser Stelle nicht weiter fragen. Vielleicht hängen sie ganz einfach damit zusammen,
 
dass wir in unserer masonischen Innensicht die Freimaurerei als Ort des Rituellen
 
schlechthin wahrnehmen, während unsere Rituale in der Perspektive der Ritualforschung
 
eher eine untypische Randstellung einnehmen.
 
Ich möchte mich vielmehr – so knapp wie möglich – der für die Freimaurerei sehr bedeutsamen
 
umgekehrten Frage zuwenden, nämlich warum Methoden und Erkenntnisse der
 
modernen Ritualforschung in den Selbstthematisierungen der Freimaurer bisher (gleichfalls)
 
nur eine sehr geringe Rolle gespielt haben.
 
Dies mag an Desinteresse, an Wissensdefiziten sowie am fehlenden methodischen Zugang
 
zur einschlägigen Fachliteratur liegen. Den tieferen und eigentlichen Grund sehe ich
 
jedoch in der Einseitigkeit des Ritualdiskurses, wie er bislang in der Freimaurerei hierzulande
 
geführt wird. Im Vordergrund der gewiss nicht kleinen Zahl ritualbezogener Betrachtungen
 
stehen ja regelmäßig die Ritualtexte sowie – und vor allem – die freimaurerischen
 
Symbole als Zeichensysteme, die im Hinblick auf Herkunft und Bedeutung analysiert und
 
erläutert werden. Das Ritual als kollektives Handeln, als inszenierter dramatischer Prozess
 
mit all seinen Auswirkungen auf das Denken, Fühlen und Handeln von Individuen und
 
Gruppen wird dagegen kaum thematisiert. Mit anderen Worten: Die »performative Wende«
 
der 1980er und 1990er Jahre, die die Dynamik der modernen Ritualforschung eingeleitet
 
hat, hat in der freimaurerischen Selbstreflexion bisher kaum stattgefunden.
 
Dies kann – wie bereits erwähnt – mit fehlenden inhaltlichen und methodologischen
 
Interessen an der Ritualforschung zusammenhängen. Dies mag aber auch auf das Bestreben
 
zurückzuführen sein, sich unangenehmen Fragestellungen zu entziehen, beispielsweise der
 
Frage, ob sich freimaurerische Rituale neben ihrer gewünschten Funktion als Faktor sozialer
 
Integration (Stichwort »Brüderlichkeit«) und Inkorporierung freimaurerischer Werte
 
(Stichwort »Humanität«) nicht auch dadurch auszeichnen, dass sie in durchaus konfliktträchtigen
 
Mischungen Entwicklungen dienen, die dem »offiziellen« Wertekonsens der Freimaurer
 
widersprechen. Als leicht zu vermehrende Beispiele dafür nenne ich die Sicherung
 
gesellschaftlicher Einflüsse, die Herstellung von »symbolischem Kapital«7 für individuelle
 
Zwecke (das »Ämter- und Ordensyndrom«), das Übergewicht einer bloß zeremoniellen Repräsentation
 
sowie die mannigfaltigen Erscheinungsformen von Reformfeindlichkeit und
 
Bewahrung obsolet gewordener institutioneller Strukturen.
 
7 Zur Rolle von symbolischem Kapital in der Freimaurerei vgl. Höhmann, Hans-Hermann: Habitus, soziales
 
Feld, Kapital: Freimaurerei im Lichte der Soziologie Pierre Bourdieus, in diesem Band, S. 115–131.
 
227
 
Hätten diese Erwägungen etwas für sich, so stünden die deutschen Freimaurer vor der
 
Aufgabe, sich zu einem neuen, vertieften Ritualdiskurs zu entschließen, der die Ergebnisse
 
der modernen Ritualforschung einbezieht und sich an den Handlungsaspekten des Rituals
 
orientiert. Erich Kästners berühmte Feststellung »Es gibt nichts Gutes, außer man tut es«
 
gilt für das Ritual ebenso wie die daraus abgeleitete arbeitshypothetisch-skeptische Vermutung,
 
dass nicht alles, was man im Ritual tut, in seinen Auswirkungen auf den Habitus der
 
Brüder auch gut ist.
 
Meine Empfehlung für den Ritualdiskurs wäre nun, sich einfach und analytisch durchaus
 
vorläufig an den »Dimensionen« zu orientieren, mit denen die moderne Ritualforschung
 
unter Vermeidung rigider Theorien das Wesen der Rituale beschreibt.
 
Ritualdimensionen und ihre freimaurerische Bedeutung
 
Einige dieser Dimensionen sind für uns selbstverständlich. Trotzdem halte ich es für gut,
 
sich ihrer zu erinnern, nicht nur um das eigene Ritualverständnis zu vertiefen, sondern auch,
 
weil man anhand der verschiedenen Ritualdimensionen das Wesen des freimaurerischen Rituals
 
ohne Beeinträchtigung der Arkandisziplin sehr überzeugend nach außen vermitteln
 
kann. »Erklären statt Enthüllen« – längst ist es Zeit für eine solche »Wende der Darstellung«
 
im Verhältnis der Freimaurerei zur Öffentlichkeit.
 
Die folgende Auflistung typischer Ritualdimensionen mit erheblicher freimaurerischer
 
Relevanz ist zu einem großen Teil der ritualtheoretischen Literatur entnommen und folgt
 
vor allem der Arbeit des niederländischen Religionswissenschaftlers Jan Platvoet.8
 
Was sind die uns als Freimaurer vertrauten Ritual-Dimensionen, die die Forschung
 
beschreibt?
 
Welche davon hätten wir problemorientiert zu diskutieren?
 
Zu den rituellen Selbstverständlichkeiten ohne weitere Perzeptionsschwierigkeiten gehören
 
zunächst die interaktive und die kollektive Dimension des Rituals. Das Ritual ist ein
 
spezifischer Typus sozialer (verbaler und nichtverbaler) Interaktion zwischen anwesenden
 
und wechselseitig ansprechbaren Personen. Es braucht als Interaktion mindestens zwei
 
Teilnehmer, der Kommunikationstheorie entsprechend einen »Sender« und einen »Empfänger
 
«, wobei sich diese Rollen vertauschen können. Auch göttliche Wesen können in die
 
rituelle Kommunikation einbezogen werden, kaum aber Symbole des Göttlichen, wie der
 
»Große Baumeister aller Welten« – es sei denn, das Ritual würde als Gottesdienst verstanden.
 
9
 
Selbstverständlich ist auch die Gewohnheits-Dimension. Das Ritual ist eine Folge sozialer
 
Interaktionen, die durch Wiederholungen konventionalisiert sowie formalisiert und
 
somit zur Gewohnheit gemacht werden. Prinzipiell wird das Ritual durch feste, bleibende
 
Regeln bestimmt, die sich sowohl auf Inhalte als auch auf Modalitäten der richtigen Ausführung
 
beziehen. Dennoch sind Rituale alles andere als starr, und »Ritualdynamik« ist
 
ein wesentliches Element des rituellen Geschehens. In Heidelberg wurde – ich erwähnte es
 
8 Platvoet, Jan: Das Ritual in pluralistischen Gesellschaften, in: Belliger, Andréa/Krieger, David J. (Hrsg.):
 
Ritualtheorien, Opladen/Wiesbaden 1998, S. 173–190, hier S. 175–183.
 
9 Vgl. Höhmann, Hans-Hermann: »Von Gott und der Religion«. Zum Religionsdiskurs in der deutschen
 
Freimaurerei, in diesem Band, S. 179–197.
 
228
 
bereits – ein ganzer universitärer Sonderforschungsbereich für die Analyse der Ritualdynamik
 
begründet. Auch die Freimaurerei kennt viele Veränderungen ihrer Rituale, die aus unterschiedlichen
 
Gründen, auf unterschiedliche Weise und in ganz spezifischen Rhythmen
 
erfolgen, Rhythmen, die auch lange Phasen der Stagnation einschließen können.
 
Einige Bemerkungen zur Ritualdynamik in der Freimaurerei:
 
Gewiss sind Symbole und Texte in freimaurerischen Ritualen präsent, aber die Rituale
 
erschöpfen sich nicht darin. Rituale sind »Handlungsformen von Symbolen« (Thomas
 
Luckmann). Sie sind Aufführungen und damit Inszenierungen, die sich von Mal zu Mal
 
in unterschiedlichen Schattierungen von Gestus und Stimme, aber auch in kleineren oder
 
größeren Änderungen der Ritual-Texte und/oder der Handlungsabläufe des Rituals niederschlagen.
 
Dahinter können sich Zufälligkeiten bemerkbar machen wie Erinnerungsdefizite,
 
die dann ihre eigene stilbildende Kraft entfalten. Ritualveränderungen können aber auch
 
bewusste Motive haben, ästhetische Überlegungen etwa (»Es ist doch einfach viel schöner,
 
wenn wir es so machen«), oder semantische Überlegungen (»Es macht freimaurerisch doch
 
viel mehr Sinn, wenn wir es so machen«). Dahinter können allerdings auch Selbstinszenierungsbestrebungen
 
von Ritualgestaltern stehen, etwa, wenn sich ein Großmeister – abweichend
 
vom Brauch – zu Beginn einer Großlogentempelarbeit nicht im Tempel befindet,
 
sondern feierlich von seinem Stellvertreter einführen lässt. Solche »kleinen« Ritualdynamiken
 
sind volatil, tauchen plötzlich auf und werden oft ebenso schnell korrigiert.
 
»Große« Ritualdynamiken sind in der Freimaurerei dagegen seltener. Eigentlich ist es
 
seit dem 19. Jahrhunderts kaum mehr dazu gekommen, auch wenn die konkreten Ritualfassungen,
 
wie etwa beim A.F.u.A.M.-Ritual, neueren Datums sind. Dies nötigt die
 
Freimaurerei zu nicht immer gelingenden Balancen zwischen drei relevanten Polen: dem
 
Zeitgeist, der den aktuellen Hintergrund des rituellen Geschehens bestimmt, dem Selbstund
 
Wertverständnis der Freimaurerei, das sich wandelt, und einer Struktur der Rituale,
 
die im Wesentlichen gleich bleibt. Um unvermeidlich aufbrechende Widersprüchlichkeiten
 
zwischen Ritualtext und performativer Wirkung des Rituals zu überbrücken, muss dann
 
eine Ritualexegese einsetzen, die erklärt, was im Ritual eigentlich gemeint ist bzw. für heute
 
gemeint sein sollte.
 
Eine weitere, Freimaurern durchaus geläufige Dimension des Rituals ist die expressive
 
Dimension: Die Gemeinschaft wird im Ritual durch die bloße Tatsache, dass die
 
eigenen Mitglieder daran teilnehmen, abgebildet. Die Werte der Gemeinschaft und die
 
Beziehungen zwischen den Teilnehmern finden ihren Ausdruck in den Positionen und den
 
Rollen, die das Ritual vorgibt. Insofern, wie das Ritual auf diese Weise Solidarität, Identität
 
und Grenzen einer Gruppe betont zum Ausdruck bringt, wirkt es für gewöhnlich integrativ
 
nach innen, zugleich aber auch trennend nach außen, was in gestaffelten, vielgliedrigen
 
Gradsystemen der Freimaurer durchaus zum Problem werden kann.
 
Weiter nennen möchte ich – als Stichworte einer Checkliste ohne ausführliche Kommentierung
 
– die Ritual-Dimensionen
 
• der Performance: Ritual als Drama: »das meiste, wenn nicht das ganze wird wie auf einer
 
Bühne bewusst dargestellt«10, wobei nicht nur generell die verschiedenen freimaure-
 
10 Moore, Sally F./Myerhoff, Barbara G.: Secular Rituals: Forms and Meanings, in: dies.: Secular Rituals,
 
Amsterdam 1977, S. 3–24, hier S. 7, 8, zitiert nach: Platvoet, Jan: Das Ritual in pluralistischen Gesellschaften,
 
a. a. O., S. 180.
 
229
 
rischen Rituale, in deren Zentrum die Initiationen stehen, Bestandteile dramatischer Aufführungen
 
sind, sondern es auch – im Ritual des Meistergrades – zum »Drama im Drama
 
« kommt,
 
• des Performativen: Herstellen neuer Wirklichkeiten durch Sprechakte, die das bewirken,
 
wovon sie sprechen, Beispiel: »Wir bauen den Tempel der Humanität!« Es sind vor allem
 
diese »illokutionären Sprechakte« im Sinne von John L. Austin11, durch die die freimaurerische
 
Gruppe mit ihren Werten und habituellen Prägungen immer wieder neu konstituiert
 
und geschaffen wird,
 
sowie
 
• der Multimedialität: Ritual als Kombination von Sprache, Mimik, Gestik, Bewegung und
 
Musik, wobei es für die Wirkung des freimaurerischen Rituals immer darauf ankommt,
 
die einzelnen Medien sorgfältig aufeinander abzustimmen und dafür zu sorgen, dass
 
Sprechakte und Körperinszenierungen stets im Vordergrund bleiben.
 
All diese Dimensionen sind uns vertraut, können aber durchaus als kritische Maßstäbe unserer
 
Ritualreflexion- und -praxis dienen.
 
Ganz wichtig ist die Dimension der Ritual-Ästhetik. Das Ritual muss »schön« ausgeführt
 
werden, hässlich ausgeführte Rituale scheitern in ihrer Wirkung. Vom Grad der
 
Ästhetik beim Vollzug des Rituals hängt letztlich auch ab, ob sich jene emotionale Verzauberung
 
einstellt, die das »Geheimnis« der Freimaurerei ausmacht, das in der Tat als erlebte
 
Verzauberung nicht verraten werden kann und das im Grunde sehr wesentlich ja auch ein
 
subjektives Geheimnis ist, das jeder Freimaurer auf seine ganz spezifische Weise erlebt.
 
Keine Schwierigkeiten macht dem Freimaurer – zunächst jedenfalls – die symbolische
 
Dimension des Rituals, der Umstand, dass Ausdruck und Kommunikation in Ritualen
 
durch symbolisches Handeln hervorgebracht werden. Dies geschieht vor allem mittels dichter,
 
zentraler Kernsymbole, die in einer repetitiven und redundanten Weise Schüsselkonzepte
 
des jeweiligen gruppenspezifischen Glaubens- und Wertesystem darstellen. Wer von
 
uns dächte beim Stichwort Kernsymbole nicht sogleich an die drei »Großen Lichter der
 
Freimaurerei«?
 
Vertraut sind wir auch damit, »dass Rituale mit einer im höchsten Maße symbolisch
 
aufgeladenen Grenz- und Übergangserfahrung verknüpft sind«12, mit der sich vor allem
 
der Ethnologe und Theateranthropologe Viktor Turner beschäftigt hat. Im Rückgriff auf
 
Arnold van Genneps »Rites de Passage« unterscheidet Turner drei Phasen des rituellen
 
Übergangs: die Trennungsphase, in der der Initiand seinen bisherigen Status verlässt, die
 
Schwellenphase, in der er sich in einem Zustand der Unbestimmtheit, der Liminalität, befindet
 
sowie die Phase der Wiedereingliederung, in der der Initiant schließlich zu seinem
 
neuen Status gelangt und so den Fortbestand der Gemeinschaft sichert.13
 
11 Vgl. Austin, John L.: How to Do Things with Words, Cambridge (Mass.) 1962, deutsch: Zur Theorie der
 
Sprechakte, Stuttgart 1972.
 
12 Fischer-Lichte, Erika: Einleitung. Zur Aktualität von Turners Studien zum Übergang vom Ritual zum
 
Theater, in: Turner, Viktor: Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels, Frankfurt/New
 
York 2009, S. vi.
 
13 Vgl. Turner, Viktor: Vom Ritual zum Theater, a.a.O., S. 34–38.
 
230
 
Die Ambivalenz des Rituellen
 
Schwieriger wird es allerdings, wenn wir über einen weiteren Aspekt der symbolischen Dimension
 
des Rituals nachdenken, den Umstand nämlich, dass im »Hier« des Rituals auf
 
symbolische Weise etwas vollzogen wird, das sich auf ein »Dort« im außerrituellen Bereich
 
bezieht, dass die Symbole auf etwas verweisen, das zwar im Ritual nicht anwesend ist, auf
 
das symbolisch-rituelles Handeln jedoch unabweisbar bezogen ist.14 »Meine Brüder, baut
 
draußen weiter daran, wozu wir hier an stiller Stätte den Grundstein gelegt haben« ist eine
 
Formel, die Freimaurer wörtlich oder dem Sinne nach regelmäßig in ihren Ritualen verwenden.
 
Damit wird auf die Notwendigkeit einer steten Entsprechung zwischen dem Auftrag
 
des Rituals und einem Alltagsverhalten verwiesen, das aufgrund der im Ritual vermittelten
 
Wert- und Verhaltensgrundlagen erfolgt. Doch ist die Annahme einer solchen Entsprechung
 
innerhalb der Freimaurerei nicht eine Illusion? Wird das Ritual – statt ein über symbolische
 
Orte und Zeiten hinausweisendes Handlungskonzept zu sein – nicht allzu oft zum Endzweck
 
der Freimaurerei verkürzt, um den sich dann das Hamsterrad administrativer Routinen
 
und persönlicher Auseinandersetzungen dreht?
 
Zur Erklärung des dramatischen Absturzes der Freimaurerzahlen in den USA von vier
 
auf 1,4 Millionen innerhalb weniger Jahrzehnte heißt es in einer hochinteressanten Ursachenanalyse
 
der Masonic Service Association of North America mit dem bezeichnenden
 
Titel IT’S ABOUT TIME! Moving Masonry into the 21st Century:15 »Masonic tradition
 
became locked in ritual as an end, not as a process.«
 
»Locked in Ritual« – kann das Ritual auch zur Fessel werden? Etwa, indem es stets nur
 
auf das nächste Ritual und nicht auf die zu gestaltende Wirklichkeit verweist?
 
Wir sollten darüber nachdenken.
 
Schließlich noch – als eine weitere problematische Dimension, die Ritualen zufallen
 
kann – die strategische Dimension.
 
Rituale können auch dazu verwendet werden, Gruppeninteressen zu fördern und
 
Machtpositionen selbst ernannter Eliten zu festigen. Wie die politische Praxis totalitärer
 
Systeme zeigt, werden regelmäßig Rituale eingesetzt, um die gewünschten politischen Rangordnungen
 
durchzusetzen und die Unterwerfung der Beherrschten unter die Institutionen
 
und Personen der Führung zu verstetigen. Es sind nicht zuletzt die Rituale der Herrschaft,
 
die die Willkür der Unterwerfung emotional, habituell und kognitiv in eine natürliche, von
 
der Vorsehung oder von der Geschichte bestimmte Ordnung verwandeln sollen.
 
Rituale bedürfen folglich stets der Hinterfragung, welchen Interessen sie dienen und
 
mit welchen Auswirkungen auf die Struktur und das Zusammenleben der im Ritual dargestellten
 
Gemeinschaft sie verbunden sind. Dies gilt auch für den Fall, dass sie – wie die
 
Rituale der Freimaurerei – prinzipiell von der Gleichheit aller Mitglieder der Gemeinschaft
 
ausgehen, jedoch nicht selten in Gefahr geraten, diese Gleichheit durch Rangerhöhungsrituale
 
sowie durch aufgefächerte Gradhierarchien direkt oder durch die Auswirkungen einer
 
dysfunktionalen Ritualpraxis indirekt in Frage stellen.
 
Mein Fazit zum Schluss: Die Ritualforschung bietet dem freimaurerischen Ritualdiskurs
 
spannendes Material und viele interessante Fragestellungen. Wir sollten dieses Material
 
14 Vgl. Dücker, Burckhard: Rituale. Formen - Funktionen - Geschichte, Stuttgart/Weimar 2007, S. 33.
 
15 http://www.msana.com/aboutime_foreword.asp.
 
231
 
nutzen und unsere Ritualdiskurse ernsthaft und ohne Tabus führen. Dies schulden wir
 
uns selbst. Dies schulden wir aber auch der uns umgebenden Öffentlichkeit mit all ihren
 
Verständnisschwierigkeiten und Informationsdefiziten.
 
Und wir sollten auch die Rituale der Freimaurerinnen in unsere Betrachtung einbeziehen.
 
Diese Rituale können ja auf einem hohen Stand des rituellen Wissens in einem freieren
 
Milieu ohne Tabus und institutionelle Denkbegrenzungen gestaltet werden. Deshalb
 
bieten die Rituale der Freimaurerinnen, vorausgesetzt unsere Schwestern nutzen diese Gestaltungschance
 
und vermeiden eine Wiederholung masonischer Fehlentwicklungen, einen
 
weiteren Maßstab kritischer Selbstreflexion, den wir nutzen sollten.
 
232
 
»Des Maurers Wandeln, es gleicht dem
 
Leben …« – Überlegungen zur Symbol- und
 
Ritualwelt der Freimaurerei
 
Die Freimaurerei fasst das ihr eigene Menschenbild und ihr Selbstverständnis in drei
 
großen
 
Sinnbild-Komplexen zusammen, die immer wieder in verschiedenen
 
Formen
 
ästhetisch-rituell gestaltet werden: der Symbolik des Lichts, der Symbolik des Wanderns
 
und der Symbolik des Bauens. In der Geschichte des Bundes wurden diese Symbole
 
unterschiedlich verstanden, gestaltet, zusammengefasst und erweitert. Freimaurerei
 
war auch im Hinblick auf ihre Symbolik immer ein Raum, »in dem vieles
 
möglich
 
war« (Monika Neugebauer Wölk), und der dennoch wesentliche Erscheinungsformen
 
und Grundstrukturen gemeinsam hatte. Es gab also gleichzeitig immer die Freimaurerei
 
(Singular) und die Freimaurereien (Plural). Die folgenden Überlegungen verstehen
 
sich als idealtypische Darstellung zur Freimaurerei (Singular), mehr noch, sie spekulieren
 
subjektiv über die Transferbeziehungen zwischen Symbolverständnis und freimaurerischer
 
Praxis, d.h. sie versuchen auszuloten, was sich aus einer erlebnisintensiven und
 
einübungsethisch wirksamen Symbolik für das Verhalten des Freimaurers und die Gestaltung
 
freimaurerischer Institutionen
 
ergibt. Ich folge damit meinem Grundverständnis
 
von Freimaurerei als einer Lebenskunst, die – im Rahmen einer ethisch ausgerichteten,
 
humanitären Freimaurerei – menschliches Miteinander und ethische Lebensorientierung
 
durch Symbole und rituelle Handlungen in der Gemeinschaft der Loge darstellbar,
 
erlebbar und erlernbar macht. Rituale sind »Handlungsformen von Symbolen«
 
(Thomas Luckmann), und nach meinem freimaurerischen Grundverständnis sind es vor
 
allem die Handlungsaspekte des Rituals, die Interesse und ritual-praktische Sorgfalt erfordern.
 
1. Die Symbolik des Lichts
 
Innerhalb der freimaurerischen Symbolwelt veranschaulicht die Lichtsymbolik, mit der begonnen
 
werden soll, den transzendenten Bezug des Freimaurers, seine Rückgebundenheit
 
an einen tragenden Grund seines Seins, den Anker seiner Verantwortung und die Quelle
 
seiner Hoffnung. Licht symbolisiert Lebenskraft und Lebensgrundlage, Sicherheit
 
und vertrauenswürdige
 
Ordnung. In allen Religionen hat die Lichtsymbolik ihren festen Platz. Sie
 
kennzeichnet, oft konkretisiert in den Bildern der sinnlich erfahrbaren
 
Lichtträger – Sonne,
 
Mond, Sterne, Blitz und Feuer –, Mythen und Kulte und gelangt als zentraler Bestandteil
 
der masonischen Bilderwelt auch in das freimaurerische
 
Ritual. »Ohne dich« – so heißt es
 
beispielsweise in Mozarts Freimaurer-Kantate Dir Seele, des Weltalls, o Sonne, – »lebten wir
 
nicht, von dir nur kommt Fruchtbarkeit,
 
Wärme und Licht!«
 
Licht ist in allen Kulturen das wichtigste Medium der Spiritualität. Es erlaubt – dies
 
ist auch die Erfahrung der großen Mystiker – unmittelbare, subjektive und dogmenfreie
 
Zugänge zur Transzendenz, die den Menschen umgibt und die zugleich in ihm selber
 
wohnt.
 
233
 
Licht steht aber nicht nur für Spiritualität, sondern auch für Aufklärung, für den
 
menschlichen Akt der Wahrheitserkenntnis, dafür, dass der Maurer – so will es das Ritual –
 
sich vor Lehren hüten soll, die das Licht der Vernunft nicht aushalten. In der Sprache des
 
Rituals:
 
»Was das Licht für die Augen, das ist die Wahrheit für den Geist des Menschen.
 
Unwissenheit und Vorurteil verhalten sich zu der Wahrheit, wie Finsternis und Dunkel
 
zum hellen Tag.« Es ist diese ausgreifende Bedeutung des Lichts als komplexes Symbol für
 
Lebensquelle, Lebenskraft, moralische Wegweisung und Suche nach Wahrheit, welche
 
die
 
»Lichtgebung« zum zentralen Bestandteil des Aufnahmerituals
 
und die »Lichteinbringung
 
«
 
zum Kern der rituellen Einsetzung einer Loge oder der Weihe eines neuen Tempels macht.
 
Die Beziehungen zur freimaurerischen Alltagspraxis sind leicht erkennbar: Redlichkeit
 
und Wahrhaftigkeit werden angemahnt, der Verzicht darauf, als Wahrheit auszugeben, was
 
eigenes Vorurteil ist. Die Loge will – auch dies ist Grundlage des Rituals – »eine sichere
 
Stätte sein für alle, die Wahrheit suchen«. Wohlgemerkt, für die, die Wahrheit suchen, nicht
 
für die, die meinen, universelle Heilsrezepte zu besitzen und ewige Wahrheiten
 
zu verwalten.
 
Hier ist an ein Wort und eine Warnung Lessings zu erinnern, dass nicht die Wahrheit,
 
sondern die Mühe der Wahrheitssuche den Wert des Menschen ausmacht, und dass – so
 
Lessing wörtlich – »nicht der Irrtum, sondern der sektiererische Irrtum, ja sogar die sektiererische
 
Wahrheit das Unglück der Menschen machen oder machen würden, wenn die
 
Wahrheit eine Sekte stiften wollte«. Hierzu kommt mir auch ein Gedicht Erich Frieds in
 
den Sinn, eines sensiblen Aufklärers unserer Tage: »Zweifle nicht an dem, der dir sagt, er
 
hat Angst – aber habe Angst vor dem, der dir sagt, er kennt keinen Zweifel.«
 
2. Die Symbolik des Wanderns
 
Die Symbolik des Wanderns veranschaulicht den besonderen Charakter der menschlichen
 
Lebensreise. Wandermythen gehören zu den uralten Bestandteilen menschlicher Bewusstwerdung.
 
Wanderepen
 
wie Homers Odyssee erzählen nicht nur das Schicksal von Helden.
 
Sie bezeugen auch die Bestimmung des Menschen, Wanderer zu sein. Auch eine moderne
 
Filmgattung bestätigt immer wieder einen archaischen
 
Befund: Das menschliche Leben ist
 
ein Roadmovie. Der Mensch ist unterwegs, er muss aufbrechen, er verändert sich, er hat
 
Altes hinter sich zu lassen und selbst, wenn er zum Ausgangspunkt
 
zurückkehrt, ist er verändert
 
und hat die Chance, die Veränderung produktiv an sich selbst zu erleben. Rilke hat dieses
 
»Zurückkehren, aber doch Verändertsein« bekanntlich
 
in das schöne Bild vom »Leben in
 
wachsenden Ringen« gefasst: »Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen, die sich über die
 
Dinge ziehn. Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen, aber versuchen will ich ihn.«
 
Freimaurerei hat mit Wanderungen vielerlei Art zu tun: Der Aufnahmekandidat wandert
 
zum Licht, der Lehrling
 
macht »Gesellenreisen«, der Geselle wandert – konfrontiert
 
mit der Unabänderlichkeit des Todes – auf dem Weg zur Meisterschaft, und auch für den
 
Meister wird das »Wandern zwischen Sternen und Gräbern« immer wieder zu Erlebnis
 
und Anstoß. Der Rahmen dieses Wanderns durch die sich durch Wiederholung von Mal
 
zu Mal vertiefenden rituellen Erlebnisse ist das System der drei freimaurerischen Grade
 
Lehrling, Geselle und Meister. Für mich lässt sich dieser Rahmen durch zusätzliche Ritualerfahrungen
 
nicht sinnvoll erweitern.
 
234
 
Die Wandersymbolik hilft erkennen, dass es sich bei den Ritualen der Freimaurer nicht
 
um Verkündigungsrituale oder Rituale der Manifestation nicht zu hinterfragender Überzeugungen
 
handelt, sondern um Erprobungsrituale oder Rituale der Suche, die schrittweise
 
Erkenntnis und korrigierbares Lernen verdeutlichen, was zugleich bedeutet, dass freimaurerische
 
Rituale bei aller Konstanz ihrer Form »offene« und keine hierarchisch vermittelten
 
Rituale sind – oder doch seien sollten.
 
Leben als Wandern zu verstehen, ist auch den Gedanken und Bildern anderer Denksysteme
 
und Ausdrucksformen von Kultur eigen. Die Anschaulichkeit
 
und Intensität der
 
sinnlichen Erfahrung der freimaurerischen Rituale wird allerdings nur selten erreicht. Das
 
freimaurerische Brauchtum ist nun einmal sowohl durch eine besonders sinnreiche Ritualstruktur
 
als auch durch eine besonders eindruckvolle gruppendynamische
 
Qualität des
 
Ritualvollzugs geprägt.
 
Wir Freimaurer erfahren beim Wandern, bei den Reisen, die Essenz unseres Menschseins.
 
Wir erleben,
 
dass wir unterwegs sind zwischen Geburt und Tod. Wir erleben uns im
 
Aufbruch und im Vollbringen. Wir erleben uns aber auch in der Gefährdung,
 
im Scheitern
 
gar und im Sterben.
 
Die Stimmung der »Winterreise« ist uns vertraut:
 
»Fremd bin ich
 
eingezogen, fremd zieh ich wieder
 
aus.« Doch wir erfahren auch schöpferische Freude, wir
 
erleben die Aufforderung zum Neubeginn, die Chance, aufzubrechen
 
zu uns selber, die Gelegenheit,
 
unsere besseren Möglichkeiten
 
auszuloten, insbesondere die Möglichkeit, das zu
 
werden, was wir eigentlich sind: Wir erleben eben nicht nur das »Stirb«, sondern auch das
 
»Werde!« Aber wir erfahren auch immer wieder, dass der Weg, neu zu empfinden, neu zu
 
denken, neu zu handeln und neu zu werden mühsam bleibt, und dass er nichts zu tun hat
 
mit Esoterikschnellkursen fragwürdiger
 
Provenienz,
 
wie sie heute so gern angeboten werden
 
und von denen uns gründlich abzugrenzen
 
eine ganz zentrale Aufgabe freimaurerischer
 
Öffentlichkeitsarbeit – aber auch der »Arbeit nach innen« – sein muss.
 
Als Wanderer erleben wir Maurer uns allein und in Gemeinschaft.
 
Wir werden mit der
 
Notwendigkeit
 
konfrontiert,
 
Einsamkeit auszuhalten und uns – auf uns zurückgeworfen
 
 
selbst zu erkennen.
 
Wir werden dazu angehalten, uns über uns nichts vorzumachen.
 
Doch
 
wir lernen
 
auch, dass Selbsterkenntnis kein Akt narzisstischer Selbstbespiegelung
 
bleiben
 
darf, dass Selbsterkennen und Selbstwerden vielmehr von unseren Fähigkeiten abhängt,
 
auch für den anderen da zu sein, ihn zu begleiten, ihm zu helfen, uns auch von ihm helfen
 
zu lassen und mit ihm zusammen unser Dasein zu meistern.
 
Freimaurerisches Wandern ist nicht nur auf das Erreichen von Zielen angelegt, es ist
 
auch Wandern im Kreise, Weitergehen und Wiederkehr zugleich. Wandern als Kreisen zu
 
verstehen ist von großer anthropologischer Bedeutung. Denn Kreisen heißt, einem Zentrum
 
verhaftet zu bleiben und doch ständig die Perspektive zu verändern. Der Prozess
 
der
 
Selbsterkenntnis ist ein solches Kreisen um die eigene Person, die es von verschiedenen
 
Blickpunkten aus kritisch zu betrachten gilt. Aber auch die Welt enthüllt ihren Charakter
 
nur »schrittweis dem Blicke«, wie es in Goethes »Symbolum« heißt. Und schließlich stellt
 
sich auch unser Bezug zur Transzendenz als ein stetiges Kreisen dar. Wiederum hat Rilke
 
dafür schöne Bilder gefunden, wenn er – ich möchte sagen durch und durch freimaurerisch
 
– dichtet: »Ich kreise um Gott, um den uralten Turm, und ich kreise jahrtausendelang; und
 
ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm oder ein großer Gesang?« Wir wissen
 
nicht, und wir suchen. Wir haben die Wahrheit über Gott und uns selbst nicht parat. Der
 
Turm verschließt mehr als er preisgibt. Das Große im kleinen Bild, im Symbol eben, zu
 
235
 
fassen, bleibt unser Geschäft. Dass es gelingen
 
kann, im Unsicheren, in der Kontingenz,
 
Sicherheit zu gewinnen, ist für mich eine entscheidende Erfahrung gelingender Freimaurerei.
 
Der Diktatur des Definitiven zugunsten schwebender Möglichkeiten zu entgehen, mag
 
unbequem sein, aber es gibt Freiheit.
 
Wandern macht geistig produktiv. Die peripatetischen Philosophen um Aristoteles
 
wussten davon, die im Peripatos, der Wandelhalle, umhergingen, um Gedanken zu entwickeln,
 
die sie sich für Lehr- und Diskussionszwecke mitteilten. Friedrich Nietzsche, der
 
leidenschaftlich wandernde Umwerter aller Werte, hatte nicht nur am Surleifelsen blitzende
 
Einfälle, die sich zu gedankenmächtigen und wortschönen Aphorismen verdichteten.
 
Schließlich: Zur Persönlichkeitsentwicklung durch Wandern hatte schon Goethe in den
 
Schlusszeilen seines Gedichts über die »Perfektibilität« das Fazit gezogen:
 
»Willst Du besser
 
sein als wir, lieber Freund, so wandre!«
 
Wie immer wir es sehen: Das rituelle Wandern berührt den Kern unserer Person. Dass
 
es des Schutzes bedarf, dass es intern bleiben muss, dass es in diesem Sinne »esoterisch
 
«
 
ist, dass umgekehrt eine allzu große und unbedachte Publizität geradezu schamlos wäre,
 
versteht sich wohl von selbst.
 
3. Die Symbolik des Bauens
 
Die Bilderwelt des Bauens schließlich umreißt Inhalt und Ziel unserer Arbeit: Wir Freimaurer
 
bauen am Tempel der Humanität. Wir verstehen Sein und Zeit als sinnvoll zu gestaltende
 
Bauwerke. Wir gehen davon aus, dass unserem Bauen eine wertgebundene
 
Bauidee
 
zugrunde liegt, die wir – ohne jede inhaltlicher Bestimmung, fern ab von der Dogmatik
 
eines kreativen Designs und ohne dass die Loge zur religiösen Vereinigung
 
wird – mit dem
 
Symbol eines universellen Großen Baumeisters umschreiben. Gewiss,
 
wir bauen ein Fenster
 
zur Transzendenz,
 
denn »über sich« hinauszuschauen ist eine Grundbefindlichkeit des Menschen.
 
Doch was der Maurer sieht, wenn er durch dieses Fenster blickt, ist innerhalb der
 
Loge sein Geheimnis, das ihm durch seine Religion
 
(und eben nicht durch die Freimaurerei)
 
vermittelt wird, und es wäre schamlos, ihn danach zu fragen.
 
Wir verstehen uns selbst als Bausteine, deren Auftrag und Schicksal es ist, den Weg
 
vom rauhen zum behauenen Stein zu nehmen, lebenslang und unabweisbar, aber – anders
 
als der immer wieder scheiternde Sisyphos – mit der Hoffnung auf Gelingen und auf der
 
festen Grundlage eines positiv-optimistischen Menschenbildes. Wir bauen eine Heimat für
 
Menschen, eine Heimat, die nicht nur am großen Entwurf des Tempelbaus orientiert ist,
 
die vielmehr vor allem im tagtäglichen Bemühen um menschenwürdige Wohnverhältnisse
 
in den Alltagsgehäusen unserer Mitmenschen ihren Ausdruck zu finden hat.
 
Bauen und Wohnen gehören zusammen. Philosophen wie Martin Heidegger, Ernst
 
Bloch und Otto Friedrich Bollnow, aber auch philosophierende Schriftsteller wie Antoine
 
de Saint-Exupéry haben betont, dass der Mensch wesensmäßig ein Wohnender ist, der auf
 
den Schutz durch künstlich errichtete Mauern angewiesen ist und der baut, um beheimatet
 
zu sein. Für Bloch ist Bauen ein Produktionsversuch menschlicher Heimat, und Heidegger
 
formulierte im Rahmen des viel beachteten »Darmstädter Gesprächs« zum Thema
 
»Mensch und Raum« im Jahre 1951: »Das Wesen des Bauens ist das Wohnenlassen. Der
 
Wesensvollzug ist das Errichten von Orten durch das Fügen ihrer Räume. Nur wenn wir
 
236
 
das vermögen, können wir bauen. Das Wohnen aber ist der Grundzug des Seins.« Das
 
»Nicht-wohnen-Können« umgekehrt, die Obdachlosigkeit, verletzt zutiefst die Würde der
 
davon betroffenen Menschen, nicht nur, weil der Besitz einer Wohnung eine elementare
 
Notwendigkeit für physisches menschliches Überleben ist, sondern auch, weil Haus und
 
Wohnung ganz spezifische kulturelle Identitäten stiften, über die zu verfügen gleichfalls
 
ein Grundanliegen der Menschen ist. Seitdem der Mensch Mensch ist, hat er gebaut,
 
wenn auch – die großen Baulegenden der Religionen geben darüber ebenso Auskunft wie
 
die abschreckenden Beispiele der Baugeschichte – das Maß des Menschlichen oft verfehlt
 
worden ist. Nicht nur einzelne Menschen, auch Gemeinschaften sind auf Raum und
 
Heimat, d.h. auf Verwurzelung an festen Orten angewiesen. Für Logen gilt dies sogar in
 
einem gesteigerten Maße. Ihre Lebenskraft, ihre rituelle, soziale und kulturelle Entfaltung,
 
die sichere Gelassenheit, mit der sie neuen Menschen anzusprechen in der Lage sind, all
 
das hängt davon ab, ob sie Räume besitzen, die Heimat konstituieren. Und von dieser
 
Heimat, diesem Heim her, macht es für uns Freimaurer heute noch Sinn, vom Geheimnis
 
zu sprechen.
 
Unser symbolisches Bauen folgt Regeln und verzichtet doch auf ein festes Bauprogramm.
 
Freimaurerei ist mit Ideologie und Dogma nicht vereinbar, und für den nachdenklichen
 
Maurer taugt kein rigide festgelegter Kurs. Gewiss: Die Freimaurerei hat zentrale
 
Werte, Leitideen, die immer wieder um die Idee des auf Würde und Freiheit angelegten
 
Menschen kreisen und die auch unsere Bilderwelten von Licht, vom Wandern
 
und vom
 
Bauen bestimmen. Aber Ideen sind nun einmal wie Sterne, die nie unmittelbar
 
erreichbar
 
sind und denen wir auch nicht die Pluralität der Auffassungen opfern
 
dürfen, zu der wir
 
Freimaurer uns bekennen. An Ideale darf man sich nur in offenen,
 
der Kritik zugänglichen
 
Suchprozessen annähern. Nicht selten mussten die Menschen erfahren,
 
wie recht der Philosoph
 
Karl Popper mit seiner Feststellung hat, dass »der Versuch, den Himmel auf Erden
 
einzurichten, … stets die Hölle (erzeugt)« und wie ratsam es ist, seiner – sehr freimaurerischen
 
– Empfehlung zu folgen: »Wenn wir die Welt nicht wieder ins Unglück stürzen
 
wollen, müssen wir unsere Träume der Weltbeglückung aufgeben. Dennoch können und
 
sollen wir Weltverbesserer bleiben. Wir müssen uns mit der nie endenden Aufgabe begnügen,
 
Leiden zu lindern, vermeidbare Übel zu bekämpfen und Mißstände abzustellen.«
 
Auch den Freimaurern droht der Einsturz von Gebäuden, wenn sie zu sehr definieren,
 
ideologisieren und polarisieren, wenn Programme und verbandspolitische Profile Vorrang
 
haben gegenüber der einen unverzichtbaren maurerischen Grundsubstanz, bestimmt
 
vom
 
Dreiklang: intellektuelle Redlichkeit, humanitäre Gesinnung und engagierter Mit-Menschlichkeit
 
in allen unseren Beziehungen.
 
Nicht ein festgelegter rigider Plan bestimmt somit das Bauen des Freimaurers. Freimaurerei
 
als Baustil, darauf kommt es an. Und auch dies gilt: Kein abgeschlossener Bau
 
ohne einen neuen Bauauftrag, denn Bauhütten waren nie Selbstzweck, Bauhütten hatten
 
immer einen Auftrag, in Bauhütten wurde und wird immer
 
weitergebaut.
 
Was soll gebaut werden? Und vor allem: Wie sollen wir bauen?
 
Das freimaurerische Ritual gibt umfassend Auskunft: Ein Tempel der Humanität ist
 
es, an dem wir arbeiten, eine Heimat brüderlicher Gesinnung ist zu schaffen, eine Schule
 
edler Menschlichkeit soll begründet und eine sichere Stätte errichtet werden für alle, die
 
Wahrheit suchen. Und die Bausteine, die wir brauchen, sind »Menschen, Menschen,
 
immer
 
neue Menschen«.
 
237
 
Hier wird sie wieder klar erkennbar, die große schöpferische Leistung der Alten, Freien
 
und Angenommenen Maurer, die Idee des Bauens auf die soziale, auf die moralische
 
Welt,
 
auf das Leben selbst zu übertragen, Menschen als Bausteine zu verstehen, die kein passives
 
Material sind, die sich zwar einordnen müssen in den großen Bau der Mitmenschlichkeit,
 
aber nicht unter Zwang, sondern als Ausdruck individueller Verantwortung,
 
verfügend über
 
den Maßstab des Sittengesetzes, der den Freimaurer lehrt, die symbolischen Werkzeuge recht
 
zu gebrauchen und sie anzuwenden im offenen brüderlichen
 
Miteinander auf der vom Ritual
 
dafür bestimmten Grundlage der schönen, reinen Menschenliebe, der Brüderlichkeit aller.
 
Es sind die alten Sprachformen des Rituals, die uns zu ethischer Einübung verhelfen. Sie
 
ernst zu nehmen in ihrer nachdrücklichen Schlichtheit schützt vor einer gar nicht so seltenen
 
Fehlhaltung der Freimaurer: sich berauschen zu lassen vom Klang der eigenen Worte
 
und zu meinen, im Tempel Humanität zu sagen, hieße bereits Humanität zu verwirklichen.
 
Hier droht ständig die große Gefahr einstürzender Alt- und Neubauten, die es zu vermeiden
 
gilt. Hier ist die Falle der Unglaubwürdigkeit angesiedelt, die darin besteht, bei Zweifeln
 
im Inneren und bei Angriffen von außen nicht mit kritischer Prüfung und Korrektur zu reagieren,
 
sondern mit einem Schwall neuer Wörter, Beteuerungen und Apologien zu erwidern,
 
mit denen dann wiederum das Bild der tatsächlichen Freimaurerei
 
verfehlt wird. Die Freimaurer
 
haben aber nicht auf dem Markt der Parolen zu konkurrieren,
 
sie müssen vielmehr
 
mit Inhalten bestehen. Und dies ist mit Arbeit verbunden:
 
Die großen Bauvorgaben der
 
Freimaurerei – Humanität, Brüderlichkeit, Gerechtigkeit,
 
Friedensliebe und Toleranz – treten
 
nur dadurch aus der Welt der Schlagworte heraus,
 
dass sich jeder einzelne Bruder um ihre
 
Konkretisierung bemüht. Wer helfen will, eine humane Welt zu errichten, muss sich ein realitätsnahes,
 
den Dunstkreisen der Stammtische fernes Bild der Wirklichkeit verschaffen und
 
mit anderen Menschen guten Willens um Erkenntnis dessen ringen, was eine humane Welt
 
angesichts menschenfeindlicher
 
Tendenzen heutzutage bedeuten kann und wie eine solche
 
Welt wenigstens ansatzweise zu erreichen wäre. Am Bau einer besseren Welt mitzuwirken mit
 
Sensibilität,
 
Augenmaß, Empathie und Engagement wurde immer schon als Werkaufgabe
 
der Freimaurerei verstanden. Den Inhalt dieser Aufgabe für unsere Zeit auszuloten, die Dimension
 
des Politischen für die Arbeit der Brüder, der Logen und der Großlogen in ihren
 
Möglichkeiten, aber auch in ihren Grenzen eindeutiger zu fassen und umzusetzen, hieran
 
sollte mit geschärftem Bewusstsein für das Mögliche und Nötige viel intensiver gearbeitet
 
werden als bisher.
 
4. Symbolische Ordnung, symbolischer Raum, symbolische Zeit
 
Die genannten drei grundlegenden und komplexen freimaurerischen Bilderzählungen vom
 
Licht, vom Wandern und vom Bauen sind großartige Vorgaben für das auf ihrer Grundlage
 
zu vollziehende dramatisch-psychologische Erleben, das Inhalt unserer Rituale ist, und die
 
Rituale des Lehrlings-, Gesellen- und Meistergrades, die diese Bildwelten aufnehmen und variieren,
 
vermitteln auf überzeugende Weise, was ein freimaurerisches
 
Ritual zu leisten vermag:
 
• Ruhe und Nachdenklichkeit zu fördern,
 
• Erfahrung von menschlicher Entwicklung durch gemeinsamen Mitvollzug der Initiation
 
neuer Brüder und anderer »Übergangsriten« (Beförderungen in den Gesellen- und Erhebungen
 
in den Meistergrad) zu vermitteln,
 
238
 
• ethische Erziehung durch Symbole und rituelle Handlungen zu bewirken,
 
• Erleben von kreativer Öffnung aller Sinne durch die rituelle Multimedialität zu ermöglichen
 
sowie
 
• Impulse zur Auseinandersetzung mit menschlichen Grenzerfahrungen zu geben.
 
Und für mich bestätigt sich immer wieder beim Ritualvollzug, dass freimaurerische Rituale
 
desto überzeugender und erlebnistiefer sind, je näher sie an die universellen Kerne existentieller
 
Menschheitssymbole heranreichen. Doch der dramatische Akt des Rituals ereignet sich
 
keineswegs überall und immer. Er bedarf vielmehr einer festen Ordnung, er bedarf eines besonderen
 
symbolischen Raumes und einer besonderen symbolischen Zeit.
 
Was die Ordnung betrifft, so sind uns die Formen der Symbole und Rituale durch die
 
klare und feste Struktur des freimaurerischen Brauchtums vorgeschrieben. Und es ist gut,
 
dass hinsichtlich
 
der Verbindlichkeit
 
unserer rituellen Formen Konsens in der Bruderschaft
 
besteht. Nur durch den Ausschluss von Willkür lassen sich Desorientierung und Irritation
 
abwehren, nur so kann – im direkten wie im übertragenen Sinne – Ordnung gestiftet
 
werden. Gerade aber diese feste Ordnung
 
in den Formen gewährleistet wiederum Freiheit
 
im Ritualverständnis, und unser Zugang
 
zu Symbol und Ritual kann undogmatisch,
 
offen
 
und kreativ sein. Lessing hat diese Beziehung zwischen fester Bildvorgabe und schöpferischem
 
Nach-Denken in seiner Laokoon-Schrift einmal mit folgenden Worten umrissen:
 
»Dasjenige … allein (ist) fruchtbar, was der Einbildungskraft freies Spiel lässt. Je mehr wir
 
sehen, desto mehr müssen wir hinzudenken können. Und je mehr wir dazu denken, desto
 
mehr müssen wir zu sehen glauben.« Diese subjektiven
 
schöpferischen Annäherungen an
 
ein Ritual, das in fester Form bewahrt wird, müssen wir hüten als kostbaren Schatz in einer
 
Zeit, in der Formen häufig entweder banalisiert, wenn nicht gar zerstört, oder fundamentalistisch
 
eingemauert und sektiererisch übersteigert
 
werden.
 
Schließlich: Im freimaurerischen Ritual gehören symbolischer Raum und symbolische
 
Zeit untrennbar zusammen. Der symbolische Raum wird vom Meister vom Stuhl »geöffnet
 
«. Doch dieser Raum wird erst dadurch zu einem besonderen, von anderen Räumen
 
unterschiedenen Raum, dass gleichzeitig die symbolische Zeit beginnt. »Zum Raum wird
 
hier die Zeit«, so heißt es – wenn auch nicht für das freimaurerische Ritual formuliert, so
 
doch treffend in der Bedeutung – in Richard Wagners Parsifal. Erst durch den Hinzutritt
 
der symbolischen Zeit gewinnt der Raum seinen Charakter als Symbol der Vollendung.
 
Wird nun die Loge als symbolischer Raum geöffnet oder wird die rituelle Arbeit als
 
symbolische
 
Zeit eröffnet?
 
Die großen deutschen Ritualreformer und -autoren waren sich nicht einig, wie die alte
 
englische
 
Formel »I declare the Lodge duly open« korrekt zu übersetzen sei. Friedrich
 
Ludwig Schröder spricht von öffnen, Ignaz Aurelius Feßler – zeitgleich – von eröffnen,
 
und
 
das »Sonnenritual« Johann Caspar Bluntschlis folgt ihm darin, während es im Ritual der
 
Großloge AFuAM wiederum öffnen heißt.
 
Doch was für Worte wir auch immer verwenden, ihr Sinn ist das Entscheidende. Und
 
Sinn der Öffnungsformel kann doch nur sein, dass wir als am Ritual teilnehmende Brüder
 
unsere ganze Aufmerksamkeit im Augenblick des Hammerschlags des Meisters dafür öffnen
 
und dafür schärfen, dass etwas Besonderes geschieht, nichts Magisches freilich, nichts
 
Heiliges im Sinn der Religion, nichts von uns Unabhängiges, sondern etwas, das in uns ist,
 
das von uns ausgehend
 
in uns aktiviert wird. Findet diese Aktivierung nicht statt, bleiben
 
239
 
wir unkonzentriert und abgelenkt, so war der öffnend-eröffnende Hammerschlag des Meisters
 
vergeblich. Wir selbst, die im Tempel versammelten Brüder, sind es nämlich, die für
 
die besondere Qualität von symbolischem Raum und symbolischer Zeit als grundlegende
 
Ordnungssymbole der Freimaurerei verantwortlich sind.
 
»Öffnen« der Loge, Beginn der symbolischen Zeit heißt: Öffnen des Bewusstseins von
 
uns Brüdern für den besonderen Raum, der uns hier umgibt, einen Raum, der uns schützt,
 
der uns Heimat gibt, der insofern unser »Geheimnis« ist – denn Geheimnis meint sprachgeschichtlich
 
nichts anderes als das zum Heim gehörende – und der uns doch zugleich
 
wachen Sinnes mit unseren Mitmenschen, mit den Problemen der Welt, mit Natur und
 
Kosmos und mit unseren Aufgaben, unserer Verantwortung im Hier und Jetzt verbindet.
 
Denn der symbolische Raum der Loge – wir haben es früh gelernt – ist universell und
 
unendlich, wie unsere Aufgabe, Gutes
 
zu tun; reicht er doch von Ost nach West, von Süd
 
nach Nord und vom Mittelpunkt der Erde bis zu den Sternen.
 
Und die symbolische Zeit? »Die Riten sind in der Zeit, was das Heim im Raum ist«,
 
betont der französische Dichter Antoine de Saint-Exupéry. Dies wird von ihm weiter erläutert:
 
»Denn es ist gut, wenn uns die verrinnende Zeit nicht als etwas erscheint, das uns
 
verbraucht und zerstört, sondern als etwas, das uns vollendet. Es ist gut, wenn die Zeit ein
 
Bauwerk ist.« Das Mittel, die Zeit zu gestalten, ist ihre Gliederung durch herausgehobene
 
Haltepunkte. Die symbolische Zeit unserer Tempelarbeit
 
soll ein solcher Haltepunkt sein,
 
kein sozialer Ausstieg,
 
wohl aber eine Atempause im Strom der geschäftigen Zeit, ein festliches
 
und zugleich besinnlich-schöpferisches »Moratorium des Alltags« (Odo Marquard).
 
Symbolischer Raum und symbolische Zeit gehören zusammen. Und sie gehören
 
zu
 
uns, sie sind unsere Heimat, und sie sind unser Geheimnis. An diesem Geheimnis haben
 
nur die Anteil, und können auch nur diejenigen Anteil haben, die dabei sind, wenn der
 
Meister mit dem wichtigsten Hammerschlag der rituellen Arbeit die Loge öffnet
 
und wenn
 
die symbolische Zeit beginnt. Dieses Geheimnis kann tatsächlich nicht verraten werden,
 
man kann es nur miterleben.
 
Immer, wenn Brauchtum und Ritual vernachlässigt oder für Schauzwecke instrumentalisiert
 
wurden, verlor die Freimaurerei ihre identitätstiftende Grundlage. Freimaurer, Logen
 
und Großlogen haben daher nicht zuletzt der Gefahr zu begegnen, das Ritual einer falsch
 
verstandenen Modernität zu opfern. Im Gegenteil: Die schöpferische
 
rituelle Arbeit erst,
 
das Arbeiten mit den großartigen Bilderwelten des Lichts, des Wanderns und des Bauens,
 
sichert den Kern der Freimaurerei, ist Brücke über die Zeiten
 
und übt den Bruder ein in
 
den richtigen Umgang mit sich selbst, mit der Transzendenz,
 
mit anderen Menschen und
 
mit den Dingen der Welt. Kurz: Die oft so unzeitgemäß
 
empfundenen Rituale tragen bestimmend
 
dazu bei, Freimaurerei als sozial tragende und Daseinsorientierung vermittelnde
 
Lebenskultur zu erhalten. Denn Freimaurerei ist nicht mehr und nicht weniger als ethisch
 
orientierte Freundschaft, eingeübt und gefestigt
 
durch eine lichte Symbolik, die uns wandern
 
und bauen, denken und fühlen, leben und sterben lehrt.
 
240
 
Plädoyer für die Säule der Schönheit –
 
Zur ästhetischen Dimension der Freimaurerei
 
Drei Säulen bestimmen die symbolische Struktur des freimaurerischen Tempels. Sie tragen
 
den Bau gemeinsam. Zeigt eine von ihnen Risse, so gerät der Bau ins Wanken. Und doch:
 
Fragte man in den Logen, ob es eine Rangfolge der Säulen gäbe, so lägen Weisheit und Stärke
 
vermutlich deutlich in Front, und die Schönheit hätte Mühe, Schritt zu halten. Auch
 
die Sprache
 
der Rituale weist auf eine solche Nachrangigkeit der Schönheit hin: Während
 
Weisheit
 
und Stärke den Bau »leiten« und »ausführen«, soll Schönheit – ein lediglich ist hier
 
durchaus berechtigt – »zieren« oder »vollenden«.
 
Dass der Schönheit diese eher untergeordnete Bedeutung beigemessen wird, scheint mir
 
nicht gerechtfertigt zu sein. Denn für mich ist Schönheit nach alter Freimaurertradition
 
nicht nur das zentrale Gestaltungsprinzip des Tempelbaus, und zwar auch bezüglich des
 
freimaurerischen
 
Verständnisses von Ethik und Moral, sondern Schönheit ist auch das,
 
was die Freimaurerei
 
von anderen, dem Nachdenken oder dem moralischen Handeln gewidmeten
 
gesellschaftlichen
 
Assoziationen unterscheidbar macht. Deshalb habe ich diese
 
Betrachtung »Plädoyer für die Säule der Schönheit« genannt und einige Gedanken zur
 
ästhetischen Dimension der Freimaurerei formuliert.
 
Dimensionen einer »Königlichen Kunst«
 
Freimaurerei verstand sich von Anbeginn als eine »Königliche Kunst«. Früh schon in der
 
Geschichte des Bundes, zu Beginn des 18. Jahrhunderts, entstand in den Logen – sowohl im
 
Denken als auch in der kommunikativen Praxis der Brüder und oft eher spontan gefunden
 
als bewusst entworfen – das Ideal eines guten moralischen Lebens, die Vision eines auf brüderlichem
 
Miteinander beruhenden menschlichen Glücks1.
 
In seiner Umsetzung in die Logenpraxis verband
 
dieses Konzept in sehr unterschiedlichen
 
nationalen und regionalen Ausprägungen drei Elemente – Geselligkeit, aufklärerisches
 
Denken
 
und rituelle Praxis –, und es fand in der Metapher vom »Tempelbau der
 
Humanität«, an dem der Freimaurer arbeitet und der von den drei Säulen Weisheit, Stärke
 
und Schönheit getragen
 
wird, seinen begrifflich-symbolischen Ausdruck. Leben und Lebensästhetik
 
gehörten für die Freimaurer schon früh untrennbar zusammen, Ethik und
 
Kunst ergänzten sich, moralische
 
Praxis entfaltete sich im ästhetischen Raum von Loge
 
und Gesellschaft.
 
Die Logen der Freimaurerei waren von Anfang an Vereinigungen, die ihre Auffassung
 
vom Menschen, von seinem Verhältnis zur Gesellschaft sowie von den Prinzipien, die
 
sie für ein gelingendes Leben entwickelten, durch Kunst, durch bildhafte Symbole ausdrückten.
 
Diese Symbole waren vielfach dem Handwerk der Steinmetzen und ihren Bilder-
 
und Legendenwelten
 
entnommen und waren somit älter als das »System of Morality
 
«, dessen Veranschaulichung
 
sie dienen sollten. Es flossen in sie auch mannigfaltige
 
1 Vgl. Gutjahr, Ortrud/Kühlmann, Wilhelm/Wucherpfennig, Wolf: Vorwort, in: dieselben (Hrsg.), Gesellige
 
Vernunft. Zur Kultur der literarischen Aufklärung, Würzburg 1993, S. XI.
 
241
 
esoterisch-hermetische
 
Traditionen der abendländischen Kulturgeschichte ein, und es wurden
 
später – insbesondere
 
in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts – für spezifische
 
Hochgradbedürfnisse dazu Symbole
 
und Legenden der Ritterorden, die an sich wenig mit
 
der freimaurerischen Tradition zu tun hatten, zwecks Abrundung der freimaurerischen
 
Symbolik adoptiert.
 
Zu diesen in Form, Inhalt und Herkunft zwar heterogenen, doch im Wesen übereinstimmenden
 
Bilderwelten der Freimaurerei
 
kamen als weitere ästhetische Elemente Sprache und
 
dramatische Gestaltung der Rituale hinzu. Die Sprache der Rituale brachte nicht nur die
 
moralischen Lehren der Freimaurer zum Ausdruck, sie folgte auch bestimmten
 
Regeln
 
des Sprechens und des dramatischen Ablaufs und war durch einen Sprachduktus
 
und
 
Sprachrhythmus bestimmt, der das Ritual wiederum in die Nähe der Musik rückte. Sicherlich
 
ginge es zu weit, Nietzsche paraphrasierend von einer »Geburt der Freimaurerei aus
 
dem Geiste der Musik« zu sprechen. Doch es gibt in den vielfältigen Erscheinungsformen
 
des freimaurerischen Brauchtums keine Rituale – jedenfalls keine gelungenen Rituale – ohne
 
Musikalität, insbesondere ohne Rhythmus, Rhythmus als einer archaischen Orientierungsund
 
Ordnungsform des Menschen. »Rhythm is it«, diese Feststellung Sir Simon Rattles,
 
die ja auch zum Titel eines faszinierenden Filmes über die Aufführung von Strawinskys »Le
 
Sacre du Printemps« mit Berliner Schülern und den Berliner Philharmonikern
 
geworden
 
ist, bringt eine wichtige anthropologische Grundeinsicht treffend auf den Punkt.
 
Hinzu kommt die für das Ritual kennzeichnende Stimmung der Feierlichkeit. Das Ritual
 
hat nun nicht nur Rhythmus in Sprache und Drama, es erzeugt auch ein hohes Maß
 
an Emotionalität.
 
Dass die feierlichen Zusammenkünfte der Freimaurer durch Stimmungen
 
geprägt waren, war nun wiederum ein weiteres Eingangstor der Musik. Bis heute gehört
 
Musik zur Freimaurerei und trägt sehr wesentlich dazu bei, dass die »Königliche
 
Kunst« in
 
ihrer Gesamtheit
 
in der Lage ist, neue Gemütslagen zu entdecken und seelische
 
Bereiche
 
konstruktiv zu erweitern. Musik generiert eine festlich gehobene, eine – dennoch!
 
– optimistische
 
Stimmung, eine Gefühlslage, die positive Empfindungen mit Ordnung und
 
Maß verbindet und die hilft, jene »gesellige Vernunft« zu bewahren, die seit den Tagen
 
der Aufklärung immer wieder kennzeichnend
 
für die Kultur der Freimaurerei gewesen ist.
 
Formen und Inhalte, Emotionalität und Rationalität, Esoterik und Exoterik, Symbole
 
und Gedanken
 
– dies alles bestimmte in unterschiedlichen Mischungen die Vielschichtigkeit
 
der »Königlichen Kunst« und verlieh der Freimaurerei eine bis heute fortwirkende,
 
gleichsam »gesamtkunstwerkliche« Struktur.
 
Kunst und Künstler
 
Die ästhetische Qualität der Freimaurerei, umhüllt von der Arkandisziplin der Logen, hat
 
von Anfang an die künstlerische Phantasie gereizt. Dies gilt für Freimaurer wie Nichtfreimaurer
 
und hat sehr stark mit dem Wechselspiel von Angriff und Apologie zu tun. Bildende
 
Künstler und Literaten außerhalb der Logen attackierten und verspotteten den Bund, während
 
ihn freimaurerische
 
Künstler und Schriftsteller verherrlichten, lobten und verteidigten.
 
Zahlreiche
 
auf Loge und Freimaurerei fokussierte Essays, Romane und Theaterstücke erschienen
 
insbesondere
 
seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Teils ließen ihre Autoren
 
der Phantasie freien Lauf, teils versuchten sie, Für und Wider sorgfältig abzuwägen. Doch
 
242
 
wir erleben auch gegenwärtig eine Welle von Freimaurerromanen von Umberto Ecco bis
 
Dan Brown, was als ein weiterer Beleg dafür gedeutet werden darf, dass spätes 18. Jahrhundert
 
und Postmoderne mancherlei Gemeinsamkeiten entdecken lassen.
 
Was die Mitgliedschaft in Freimaurerlogen betraf, so war sie von Anfang an für Künstler
 
attraktiv. Es war nicht nur das erwähnte Wechselspiel der Formen und Ideen, welches sie
 
reizte, weil es ihre Phantasie beflügelte. Es war sehr wesentlich auch der Umstand, dass
 
die Sozialform »Loge« den Künstlern in einer durch Auflösung des barocken Standesgefüges
 
unsicher
 
gewordenen gesellschaftlichen Umwelt sozialen Halt vermittelte. Parallel
 
zum Typus des freischaffenden Künstlers, wie er im 18. Jahrhundert aufkommt, entsteht
 
die Sehnsucht nach einer neuen gesellschaftlichen Dazugehörigkeit, die auch Mozart in
 
seine Wiener Loge führte. Das Bedürfnis nach standesübergreifender sozialer Integration
 
rührte auch daher, dass Kunstschaffende
 
und ausführende Künstler im 18. Jahrhundert
 
in der Hierarchie der Stände noch ziemlich weit unten
 
standen. Sie suchten menschliche
 
Begegnung von gleich zu gleich, als »bloße Menschen« – so Lessings Formulierung –, »auf
 
der Winkelwaage«, wie die Freimaurer in ihrer Symbolsprache
 
sagen.
 
Wie Mozart konnten sich viele andere Künstler und unter ihnen insbesondere Komponisten
 
in der Loge heimisch fühlen, zumal die Geselligkeit der Freimaurerei im 18. und im
 
19. Jahrhundert
 
viel mehr als in späteren Zeiten eine ausgesprochen »musikalische Geselligkeit
 
« gewesen
 
ist. Umgekehrt interessierten sich die Logen schon früh für die Künstler, die
 
schöpferisch-gestaltenden
 
ebenso wie für die ausführenden. Denn Geselligkeit und Ritual
 
bedurften einer gekonnten
 
Umsetzung des formgebenden und stimmungvermittelnden
 
Faktors Kunst.
 
Freimaurerische Musik
 
Als freimaurerische Kultur voll entfalten konnten sich die Künste in den Logen allerdings
 
erst, als diese – nach der Vorstufe adliger oder gar fürstlicher Tempel- und Gartenanlagen,
 
beginnend in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts – über eigene Logenhäuser verfügten,
 
die im weitesten
 
Sinne, d.h. auch im Sinne von Lebens- und Geselligkeitskultur zu kulturellen
 
Zentren wurden. Die bildenden Künstler konnten nun über Symboldarstellungen für
 
Schurze und Arbeitsteppiche
 
hinausgehen. Es entstanden großformatige Bilder, Reliefs und
 
Ausmalungen
 
von Tempel- und Gesellschaftsräumen. Es entwickelte sich eine spezifische
 
Innen- und Außenarchitektur
 
der Logenhäuser, die einerseits die Stile der Zeit aufnahm
 
(insbesondere
 
Klassizismus,
 
Gründer- und Jugendstil), diese Stile andererseits jedoch durch
 
bildhafte und skulpturale Elemente der freimaurerischen Symbolik anreicherten. Gelegentlich
 
übertrugen
 
Freimaurer im Architektenberuf auch freimaurerische Ideen und Symbole
 
auf die von ihnen gestalteten Profanbauten. Dies lässt sich etwa an dem vom Leipziger Freimaurer
 
Clemens
 
Thieme gestalteten Völkerschlachtdenkmal aufzeigen, wenn auch die These,
 
Thieme habe den Denkmalsbau geradezu als freimaurerischen Tempel gestalten wollen,
 
über das Ziel hinausschießt.
 
Auch die freimaurerische Musik profitierte vom großzügigen Raumangebot der
 
Logenhäuser.
 
Die Musiker freuten sich über die zunehmenden Möglichkeiten der größer
 
und wohlhabender
 
werdenden Logen, Instrumente anzuschaffen und zu installieren, insbesondere
 
Orgeln und hochwertige Klaviere bzw. Flügel. Auf diesen konnten dann gele243
 
gentlich auch europaweit
 
berühmte Freimaurer-Virtuosen wie Franz Liszt ihre Fähigkeiten
 
beweisen.
 
Früh schon wurde in den Logen musiziert und gesungen, zuerst beim heiteren Beisammensein
 
nach der rituellen Arbeit, später – vor allem seit der zweiten Hälfte des 18.
 
Jahrhunderts – auch im Ritual. Die Lieder bei der Tafel waren zunächst oft freimaurerisch
 
adaptierte Volkslieder, teilweise sogar ausgesprochene Gassenhauer. Zeitgenössischen Zeugnissen
 
zufolge waren die frühen Freimaurer durchaus lustige Brüder, Männer, die schon
 
einmal über die Stränge schlugen, wie etwa der Maler und Kupferstecher William Hogart
 
– selbst Freimaurer – auf seinem Stich »Nacht« aus dem bekannten Tageszeitenzyklus
 
zeigt, wo eine empörte Bürgerin über dem lärmend nach Hause schwanken Freimaurer
 
gar das Nachtgeschirr entlädt. Schon der Autor der Konstitutionsurkunde der englischen
 
Freimaurer – der sogenannten »Alten Pflichten« aus dem Jahre 1723 – fühlte sich daher zu
 
Ermahnungen veranlaßt. Im Abschnitt »Vom Betragen, wenn die Loge vorüber ist, die Brüder
 
aber noch nicht auseinander gegangen sind« findet sich das folgende Monitum:2 »Ihr
 
mögt Euch in unschuldiger Lust ergötzen und Euch einander nach Kräften bewirten. Ihr
 
müßt aber jede Ausschweifung vermeiden und keinen Bruder zwingen, über seine Neigung
 
zu essen und zu trinken, oder ihn am Weggehen hindern, wenn ihn seine Angelegenheiten
 
abrufen«, und in einem um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert entstandenen Berliner
 
Freimaurerlied wird die Tugend der Zurückhaltung gar besungen:3
 
»Tobend schwärmen, taumelnd lärmen
 
darf der Maurer nicht;
 
sich mit Anstand freuen, Lasterfeste scheuen
 
ist des Maurers Pflicht.«
 
Freimaurerei als alternative Geselligkeit zur bisher dominierenden höfischen Festkultur
 
musste offensichtlich erst ihre Formen und Regeln finden, was dann vor allem mit den
 
Tafellogen-Ritualen geschah, die seit Mitte des 18. Jahrhunderts in Frankreich entstanden
 
und bald nach Deutschland übernommen wurden. Tafellogen schließen sich gewöhnlich
 
an Aufnahmearbeiten an oder werden an besonderen Festtagen der Loge (Johannisfest, Stiftungsfest,
 
Logenjubiläum) abgehalten.4 Bis in das frühe 20. Jahrhundert hinein waren sie
 
von maurerischer Musik, Instrumentalkunst oder Chorgesang der Loge begleitet, weshalb
 
die Tafelmusik oft sehr reichhaltig war. Für die große Rolle der Musik bereits vor der Tafellogenzeit
 
mag ein Bericht über das Johannisfest der Bayreuther Loge »Zur Sonne« im Jahre
 
1753 zeugen, in dem es heißt: »Daraufhin brachte man eine Reihe weiterer ›Gesundheiten‹
 
aus, allesamt begleitet von Kanonendonner und vom Schein der Feuerwerkskörper und unterbrochen
 
nur von Freimaurerliedern und den Takten der Hofkapelle.«5 Was das Verhältnis
 
2 Text in Lennhoff, Eugen/Posner, Oskar: Internationales Freimaurerlexikon, Wien/München 1932, S. 19.
 
3 Maurice, Florian: Freimaurerei um 1800. Ignaz Aurelius Feßler und die Reform der Großloge Royal York
 
in Berlin, Tübingen 1997, S. 268.
 
4 Lennhoff, Eugen/Posner, Oskar: Internationales Freimaurerlexikon, a.a.O., Spalte 1552f.
 
5 Schindler, Norbert: Freimaurerkultur im 18. Jahrhundert. Zur sozialen Funktion des Geheimnisses in
 
der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft, in: Berdahl/Lüdtke/Medick/Poni/Reddy/Sabean/Schindler/
 
Sider: Klassen und Kultur. Sozialanthropologische Perspektiven in der Geschichtsschreibung, Frankfurt
 
am Main 1982, S. 213ff.
 
244
 
zwischen Loge und Hof betrifft, so fand – wie Norbert Schindler herausgearbeitet hat – offenbar
 
im Ringen um neue Formen der Geselligkeit »hinter den Kulissen wohlabgewogener
 
festlicher Harmonie … ein Machtkampf um symbolische Positionen statt, in dem die Freimaurerloge
 
die Mittel der traditionellen Kultur aufgreift, um sie gegen diese einzusetzen«.6
 
Doch die Freimaurer waren nicht nur heiter und gesellig, sie waren auch ernsthaft und
 
besinnlich, und dieser Wesenszug hat sich gleichfalls in der freimaurerischen Musik niedergeschlagen.
 
Zunächst wurden Kirchenliedern oder Huldigungshymnen freimaurerische
 
Texte unterlegt. Die englischen Brüder Freimaurer sangen beispielsweise nach der Melodie
 
von »God save the King« den Text »Hail masonry divine«.7 Nachdem die Musik zu einem
 
festen Bestandteil auch der freimaurerischen Rituale geworden war, stieg die Zahl der Kompositionen
 
für den Logengebrauch stark an.
 
Freimaurerische Musik musste produziert und aufgeführt werden, und so regte sich schon
 
bald nach dem Entstehen der modernen Freimaurerei durch die Gründung der Londoner
 
Großloge im Jahre 1717 das Interesse der Logen, Musiker in ihre Reihen aufzunehmen. Es
 
entstand die Kategorie der »Musikalischen Brüder«, die sich für Komposition, Arrangement
 
und Ausführung von Ritual- und Tafelmusiken zur Verfügung stellten und in einzelnen Logen
 
einem eigenen Musikmeister unterstanden, der wiederum dem Vorstand der Loge, dem
 
sogenannten »Beamtenrat« angehörte. Vielerorts gab es Chorsänger und Instrumentalisten
 
in den Logen, zahlreiche Logen verfügten zumindest über Pianisten und Streichquartette, zu
 
Beginn des 20. Jahrhunderts erfreute sich das Bläserquartett Dresdner Freimaurer nachgerade
 
überregionaler Berühmtheit, und bis in die Gegenwart hinein gehören bekannte Opernsänger
 
zu den musikalischen Brüdern. Die Logen veranstalteten auch Konzerte für das allgemeine
 
Publikum und trugen auf diese Weise oft wesentlich zum Kulturleben der Städte bei. Die
 
erste Mitteilung über die Aufnahme eines Musikers findet sich übrigens in den Protokollen
 
der »Witham Lodge« im englischen Lincoln bereits am 2. Januar 1732, wo es heißt:8 »Br.
 
Every empfiehlt Mr. Stephan Harrison aus London, Musikmeister, als geeignetes Mitglied
 
und erklärt sich bereit, eine Guinee zu den Aufnahmekosten beizutragen … Im Hinblick
 
darauf, daß Mr. Harrison der Loge von Nutzen sein und zur Unterhaltung beitragen werde,
 
beschließt die Loge, die Aufnahme für 3 Pfund, 13 Schilling, 6 Pence vorzunehmen.«
 
Ihren Gipfel erreichte die freimaurerische Musik zweifellos durch Mozart, der neben
 
der Zauberflöte
 
und dem instrumentalen Höhepunkt seiner »Maurerischen Trauermusik
 
« eine Reihe von Einzelgesängen und Kantaten für seine Wiener Loge komponierte.
 
»Laut verkünde unsre Freude froher Instrumentenschall, jedes Bruders Herz empfinde dieser
 
Mauern Widerhall
 
«, dieses Textbeispiel aus der »Kleinen Freimaurer-Kantate« bezeugt
 
Ethik und Stimmung der Freimaurerei ebenso wie die Schlussstrophe des »Maurergesangs«,
 
der zum Ende der Loge gesungen wurde und in deren zweiter Strophe es heißt: 9
 
»Tugend und die Menschheit ehren,
 
sich und andren Liebe lehren,
 
sei uns stets die erste Pflicht.
 
6 Ebenda.
 
7 Lennhoff, Eugen/Posner, Oskar: Internationales Freimaurerlexikon, a.a.O., Spalte 1077.
 
8 Ebenda, Spalte 1078f.
 
9 Die Texte zu Mozarts Freimaurermusik sind veröffentlicht in: Strebel, Harald: Der Freimaurer Wolfgang
 
Amadé Mozart, Stäfa (Schweiz) 1991, S. 160ff.
 
245
 
Dann strömt nicht allein im Osten,
 
dann strömt nicht allein im Westen,
 
auch im Süd und Norden Licht.«
 
Es ist eine helle, lichte Stimmung, die hier vermittelt wird: Die Welt ist gut, der Mensch ist
 
gut, vom Plan der Schöpfung her zumindest, und wenn er an sich arbeitet, wenn er den rauhen
 
Stein seiner Persönlichkeit formt, dann kann der Bau einer besseren Welt gelingen, und
 
zwar weltweit als Ausdruck einer globalen Hoffnung, denn – so endet die letzte Strophe:
 
»Es umschlinge diese Kette,
 
so wie diese heil’ge Stätte,
 
auch den ganzen Erdenball.«
 
Diese Worte sind Widerspiegelungen freimaurerischer Ideen, doch gleichzeitig auch Ausdruck
 
von Stimmungen: Von »Freude« ist die Rede und vom »Herz des Bruders«, das zuerst
 
da ist und danach erst die Zunge reden lässt.
 
Stimmung10 ist nun – insbesondere Martin Heidegger hat nachdrücklich darauf verwiesen
 
– eine sehr ursprüngliche Seinsart des Menschen. Die emotionale Befindlichkeit des
 
Menschen, seine Stimmung eben, erschließt die Welt noch vor dem theoretischen Verstehen.
 
Stimmungen
 
eröffnen Sinnzusammenhänge und vermitteln Impulse zum Handeln.
 
Insbesondere der Tübinger Philosoph und Pädagoge Otto Friedrich Bollnow (aufgrund
 
eines Vorschlags aus der Kölner Loge »Ver Sacrum« Träger des Literaturpreises deutscher
 
Freimaurer) hat dabei die Bedeutung gehobener
 
Stimmungen wie Glück, Freude, »Festigkeit
 
des eignen Selbst«, Überzeugungsgewissheit,
 
Verbundenheit mit anderen Menschen,
 
Getragensein, Geborgenheit und Vertrauen für die psychische, geistige und moralische
 
Entwicklung des Menschen eindrucksvoll
 
hervorgehoben,
 
vor allem in seiner durchaus für
 
die Freimaurerei heutzutage wiederzuentdeckenden Schrift »Das Wesen der Stimmungen«.11
 
Das Erzeugen solch guter, gehobener Stimmungen ist nun auch ein ganz zentrales
 
inneres Form- und Gestaltungsprinzip der Freimaurerei. Das Herstellen von Stimmungen
 
durch den Zusammenklang von Worten, symbolischen Handlungen, Bildern und Musik ist
 
wohl das wichtigste pädagogische Medium der Freimaurerei bis in die Gegenwart hinein.
 
Freimaurerei
 
bedeutet auch heute sehr wesentlich die Einladung, sich besser zu fühlen, um
 
die Möglichkeit
 
zu erfahren, besser zu werden.
 
Kunst und Lebenskunst
 
Freimaurerei als »Königliche Kunst« war aber nicht nur ein Sammelbecken der Künste und
 
der Künstler. Sie verstand sich von Anfang an auch als Lebenskunst. Die Schönheit, von
 
der das Ritual als einer Säule des Tempels spricht, war nicht nur eine ästhetische, sondern
 
auch eine moralische Kategorie. Der Tempel der Humanität, an dem die Freimaurer bauen,
 
10 Vgl. Stichwort »Stimmung« in, Brockhaus Enzyklopädie, 18. Band, Wiesbaden 1973, S. 145f., sowie die
 
dort angegebene Literatur.
 
11 Bollnow, Otto Friedrich: Das Wesen der Stimmungen, 2., durchgesehene und erweiterte Auflage, Frankfurt
 
am Main 1943.
 
246
 
ist Symbol für ein menschliches Verhalten, das – gewiss – von Weisheit geleitet und durch
 
Stärke vollbracht werden soll, das sich aber erst in Schönheit vollendet. Die Tugenden
 
eines guten Lebens galt und gilt es im Tempel einzuüben, und so waren Bilderwelt, Sprachduktus
 
und Musik der Rituale nicht ästhetischer Selbstzweck, sie waren auch kein bloßes
 
Nebeneinander
 
verschiedener Künste, sie bildeten und bilden in ihrer Gesamtheit vielmehr
 
Einübungsstätte
 
und Einübungsmilieu für ein tugendvolles Verhalten, in dem ethisch orientiertes
 
Denken
 
und moralisches Handeln zusammengeführt werden.
 
Arbeit an der »Säule der Schönheit«
 
Freilich ist die ästhetische
 
Dimension der Freimaurerei in den letzten Jahrzehnten der freimaurerischen
 
Geschichte in starkem Maße verschüttet gewesen. Oft fehlte es an Verständnis
 
dafür, an geeigneten Künstlern und an materiellen Möglichkeiten. Doch inzwischen ist die
 
»ästhetische Dimension der Freimaurerei« zumindest in Teilen unseres Bundes wiederentdeckt
 
worden, teils aufgrund wachsender Einsicht, dass diese Dimension für die Praxis der
 
Freimaurerei von großer Bedeutung ist, teils wegen neuer Paradigmen der freimaurerischen
 
Forschung.
 
Ein paar abschließende Bemerkungen hierzu:
 
Die insbesondere auf den Bielefelder Historiker Reinhart Koselleck zurückzuführende Renaissance
 
der wissenschaftlichen Freimaurerforschung nach dem Zweiten Weltkrieg hat den
 
ästhetischen Bereich weitgehend
 
ausgespart. Für Koselleck und viele Forscher, die ihm folgten,
 
ging es um das »Politikum
 
Freimaurerei« im 18. Jahrhundert, um Wesen und Bedeutung
 
des vom Geheimnis geschützten
 
»moralischen« Innenraums der Logen in einem spätabsolutistischen
 
politischen Umfeld, in dem »die Freiheit im Geheimen« zum »Geheimnis der Freiheit
 
« werden konnte (Koselleck). Dies war und ist eine wichtige, aber eben nur eine partielle
 
Möglichkeit der Betrachtung. Die Entdeckung von Bilderwelt und Ritualen, die Betonung
 
der Esoterik, der sich die Ästhetik der Freimaurerei sehr wesentlich verdankt, als einem legitimen
 
Bestandteil der freimaurerischen Forschung ist insbesondere der Hallenser Geschichtsprofessorin
 
Monika Neugebauer-Wölk zu verdanken. Vor allem im Anschluss an ihre Forschung
 
sowie die Arbeiten ihrer Mitarbeiter erscheint es nun sehr lohnend, den Gesamtbereich
 
der freimaurerischen Ästhetik verstärkt in die freimaurerische Forschung einzubeziehen.
 
Dem kommt entgegen, dass es inzwischen auch eine sich erfolgreich entwickelnde
 
internationale
 
Ritualforschung gibt, in der auch die Freimaurerei
 
mit ihren Symbolen und
 
Ritualen eine größere Rolle spielt.
 
Was die Praxis betrifft, so belegen
 
viele Beispiele aus der Gegenwartsästhetik der Freimaurerei,
 
vor allem was die Innenarchitektur
 
der Logentempel und die musikalische Praxis
 
der rituellen Arbeiten betrifft, zunächst
 
bedauerliche Niveauverluste. Andererseits bezeugen
 
die musische Neuorientierung zahlreicher Logen und nicht zuletzt die vielen Künstler,
 
die sich in der freimaurerischen Künstlervereinigung »Pegasus« als einem herausragenden
 
Forum gestalterisch-kreativer Freimaurerei zusammengeschlossen haben (darunter so bekannte
 
wie der Maler und Bildhauer Otmar Alt) eine nachhaltige Wiederentdeckung
 
der
 
ästhetischen Dimension
 
der Freimaurerei, und es spricht vieles für die These, dass es gerade
 
247
 
diese Besinnung auf ihre ureigenen kulturellen Traditionen ist, was die Freimaurerei in der
 
postmodernen Gesellschaft
 
des 21. Jahrhunderts mit ihrer »neuen Unübersichtlichkeit«
 
(Jürgen Habermas) unterscheidbar
 
sowie lebens- und entwicklungsfähig bleiben lässt.
 
Wenn dies aber so ist, so stellen sich Fragen, die ein Bemühen um Antworten lohnend erscheinen
 
lassen:
 
• Wie können Freimaurer und Freimaurerinnen, Großlogen und Logen heute den Ansprüchen
 
ihres eigenen ästhetischen
 
Erbes genügen? Welche Aufgaben für die bildenden
 
Künste, die Musik und die Verhaltenskultur
 
stellen sich ihnen?
 
• Entspricht die heutige Mitgliederstruktur der Freimaurerei überhaupt den Anforderungen,
 
Kunst in den Logen stimmig zu praktizieren? Und welche Anforderungen sind
 
hier für das Gewinnen neuer Mitglieder erkennbar?
 
• Wo sind Beispiele für erfolgreiche Versuche, Freimaurerei als »Gesamtkunstwerk« inklu-
 
sive
 
ihrer ästhetischen Dimension wirksam lebendig zu halten? Und wie lassen sich die
 
Beispiele
 
verallgemeinern?
 
• Was kann im Hinblick auf die ästhetische Dimension der Freimaurerei von den Logen
 
der Freimaurerinnen gelernt werden? Welche Möglichkeiten und welchen Gewinn lässt
 
ein Ausbau
 
der Kooperation zwischen Männer- und Frauenlogen im »Konzeptions- und
 
Handlungsfeld
 
Ästhetik« erwarten?
 
Darum noch einmal: Drei Säulen hat der Tempel. Schönheit gehört dazu. Als Grundelement
 
der Freimaurerei, nicht als Dekor. Freimaurerinnen und Freimaurer sollten gemeinsam
 
daran arbeiten, dem »Konzeptions- und Handlungsbereich Ästhetik« die ebenso berechtigte
 
wie erforderliche Bedeutung zuteil werden zu lassen.
 
248
 
Begleiter der Zeit: Engagement und Reflexion
 
1971–2010
 
In den zweiten Teil des Bandes habe ich eine Reihe von Texten aufgenommen, die während
 
meiner Zeit als Meister vom Stuhl der Loge Ver Sacrum, Großredner und Redner der Großloge
 
A.F.u.A.M., zug. A.F.u.A.M.-Großmeister, Senatsmitglied der VGLvD und Vorsitzender
 
der Freimaurerischen Forschungsgesellschaft »Quatuor Coronati« entstanden sind. Sie sollen
 
einmal zeigen, wie sich die Entwicklung der Zeit in meiner Wahrnehmung gespiegelt hat,
 
wie ich die Probleme der Freimaurerei jener Jahre perzipiert habe und welches meine Überlegungen
 
hinsichtlich der Entwicklungsperspektiven und Handlungsoptionen der Freimaurerei
 
in Deutschland gewesen sind. Sie dokumentieren auch die Entwicklung meiner persönlichen
 
Sichtweisen im Hinblick auf den Bund. Dabei zeigen sich Akzentverschiebungen und
 
Kontinuitäten, die letztlich auf die Überzeugung hinauslaufen, dass Freimaurerei als ethisch
 
orientierter Freundschaftsbund mit einer symbolisch-rituellen Lehr- und Erfahrungsmethode
 
nicht nur eine bedeutende Vergangenheit, sondern auch eine hoffnungsvolle Zukunft besitzt,
 
wenn sie es versteht, ein klares Konzept mit einer menschlich überzeugenden freimaurerischen
 
Praxis zu verbinden.
 
Die Beiträge sind unverändert und lediglich orthographisch überprüft. Ihre Authentizität
 
ist freilich mit dem Nachteil gelegentlicher Wiederholungen verbunden, wenn auch
 
bekannte Standpunkte oft neu und anders akzentuiert und in veränderte Kontexte eingeordnet
 
sind. Die Texte bedürfen keiner weiteren Einführung. Nur den beiden ersten
 
Beiträgen möchte ich einige Anmerkungen vorausschicken. Sie stammen beide aus dem
 
Jahre 1971 und waren – gleichsam als »68er Spuren« – als Beiträge zu der damals immer
 
intensiver werdenden freimaurerischen Reformdiskussion gedacht, die vor allem in der
 
Großloge A.F.u.A.M. stattfand, für die aber auch Foren in den Vereinigten Großlogen
 
von Deutschland zur Verfügung standen. Mit diesen Beiträgen sollte ein Versuch gemacht
 
werden, einen Ausweg aus den damals bereits deutlich erkennbaren Stagnationstendenzen
 
des Freimaurerbundes aufzuzeigen. Heute würde ich die Akzente anders setzen: Einmal ist
 
die rituelle Komponente der Freimaurerei für mich im Laufe der Zeit wichtiger geworden,
 
und ich bin mittlerweile mehr an einem plausiblen »Gesamtkonzept von Freimaurerei«
 
interessiert, das gleichermaßen Geselligkeit, ethischen Diskurs und Ritual als feste, in dieser
 
Form nur in der Freimaurerei anzutreffende Gesamtheit einbezieht. Zum anderen sehe ich
 
die Grenzen klarer, die einem öffentlichen Engagement des Bundes entgegenstehen. Meine
 
jetzige Position hierzu ist in zahlreichen Beiträgen zu diesem Band dargelegt.
 
Weil ich jedoch meine, dass meine Beiträge von 1971 recht gut die Grenzen bezeichnen,
 
bis an die humanitären Konzepte der Freimaurerei heranreichen können, habe ich
 
sie in diese Sammlung aufgenommen – und auch, weil ich ein bisschen stolz darauf bin,
 
die Gemüter der Brüder Freimaurer mit Gedanken in Wallung versetzt zu haben, die trotz
 
inzwischen eingekehrter Skepsis aus meiner Sicht auch heute noch einiges an Klarheit und
 
Konsequenz für sich haben. Es wäre spannend für mich zu erfahren, wie die gegenwärtige
 
Generation der unter 40-jährigen Freimaurer die Stichhaltigkeit oder Abwegigkeit von »Thesen
 
« und »Plädoyer« beurteilt.
 
249
 
Vier Thesen zur Erneuerung der
 
Freimaurerei (1971)1
 
Ausgangsbasis für eine Erneuerung der Freimaurerei muss die Konkretisierung ihrer Wertpositionen
 
sein. Reformen unseres Bundes sind ebenso wie seine Einordnung in die Gesellschaft
 
nur möglich, wenn die Bezugspunkte für Reform und soziale Aktivität deutlich gemacht
 
und vom Konsens der Freimaurer bestätigt werden. Die Notwendigkeit klarer geistiger
 
Profilierung ist mir auch in Gesprächen mit vielen interessierten und urteilsfähigen Außenstehenden
 
deutlich geworden, die mit Recht auf den unbestimmten, verschwommenen, leerformelhaften
 
Charakter der hergebrachten freimaurerischen Wertvorstellungen hinweisen.
 
Hierauf bezieht sich die erste These:
 
Die Freimaurerei muss die Unverbindlichkeit und Verschwommenheit ihrer hergebrachten
 
Wertvorstellungen überwinden und sich sowohl geistig als auch in ihrer gesellschaftlichen
 
Aktivität als humanitäre, soziale, demokratisch-pluralistische und antiideologische
 
Kraft profilieren.
 
Es bedarf, um es anders zu formulieren, einer – weit präziser als bisher formulierten –
 
sozialethischen
 
Fundierung der Freimaurerei, die ihre traditionelle individual-ethische Haltung
 
zugleich ergänzt und überwindet. Um einem möglichen Missverständnis gleich entgegenzutreten:
 
Es wird kein verbindliches weltanschauliches System oder gar eine einheitliche
 
Ideologie angestrebt. Dies verbietet das Wesen der Freimaurerei, und es wäre erfreulich, wenn
 
sich diese Einsicht überall durchsetzte. Die Absage an eine freimaurerische Einheitsideologie
 
bedeutet aber nicht den Verzicht auf ein klares Artikulieren jener auf das Verhältnis von
 
Mensch und Gesellschaft bezogenen sozialethischen Gemeinsamkeiten, in denen wir übereinstimmen,
 
weil wir Freimaurer sind oder (normativ) in denen die übereinstimmen sollten, die
 
eine bestimmte Form der Freimaurerei, die demokratisch-humanitäre, als die ihnen gemäße
 
Form der Freimaurerei verstehen. Dieses geistige Gut soll in seiner formalen Struktur mit dem
 
in Fribourg/Schweiz lehrenden Philosophen Josef M. Bochenski, der diese Gedanken allerdings
 
in einem anderen Zusammenhang entwickelt hat, folgendermaßen beschrieben werden:
 
• Es muss sich aus einigen wenigen, aber grundlegenden sozialethischen Positionen zusammensetzen,
 
die weder ein weltanschauliches System noch eine Ideologie darstellen;
 
• diese sozialethischen Positionen müssen uneingeschränkt und unbedingt gelten, d.h. verbindlich
 
sein für das Handeln der sich dazu bekennenden Freimaurer;
 
• die sozialethischen Positionen müssen positiv sein, d.h. nicht als Negationen anderer
 
Wertungen in Erscheinung treten;
 
• die sozialethischen Positionen müssen den verschiedenen Weltanschauungen und Glaubensüberzeugungen
 
der einzelnen Freimaurer gemeinsam sein.
 
Die Aufgabe, die sich nun stellt, ist eine dreifache: einmal gilt es, die erwähnten sozialethischen
 
Positionen aufzufinden, zweitens kommt es darauf an, sie in Diskussionen durch
 
1 Dieser Beitrag wurde ursprünglich veröffentlicht in: Die Bruderschaft, Heft 1, 1971, S. 3–6.
 
250
 
Konfrontation mit der Wirklichkeit zu konkretisieren, und drittens gilt es, reformerisch
 
nach ihnen in und außerhalb der Freimaurerei zu verfahren.
 
Die nachfolgend – ebenfalls im Anschluss an J. M. Bochenski – vorgeschlagene Klassifizierung
 
ist nur arbeitshypothetisch zu verstehen. Es handelt sich lediglich darum, Positionen
 
freimaurerischen Wertverständnisses für die Zwecke der weiteren Diskussion zu
 
umreißen. Hierzu dienen auch die Erläuterungen der einzelnen Begriffe.
 
Ich hatte in der ersten These Freimaurerei als humanitäre, soziale, demokratisch-pluralistische
 
und anti-ideologische Kraft umrissen. Über diese Wertpositionen sollte unter Freimaurern
 
Einverständnis bestehen. Die vorläufigen näheren Bestimmungen wären ebenfalls
 
in der Diskussion zu überprüfen:
 
• Humanitär: Die möglichst freie Entfaltung und Selbstverwirklichung des Menschen in
 
der gesellschaftlichen Wirklichkeit von heute ist der höchste freimaurerische Wert und
 
steht folglich
 
im Zentrum freimaurerischer Bemühungen. Da Selbstverwirklichung des
 
Menschen nur in der Gesellschaft erfolgen kann, muss »Arbeit am rauhen Stein« sowohl
 
Selbsterziehung des Einzelnen sein als auch Einsatz dafür sein, dass angesichts konkreter
 
gesellschaftlicher Kräfte Selbstverwirklichung des Menschen möglich wird. Der bei uns
 
vielfach heimische »ethische Narzissmus« der Selbstveredler muss somit durch eine soziale
 
Orientierung des Humanitätsbegriffes überwunden werden. Die geforderte »Öffnung
 
zur Gesellschaft« gehört zum Wesen einer konsequent verstandenen Freimaurerei.
 
• Sozial: Jedem Menschen kommen unveräußerliche Grundrechte zu. Im Hinblick auf diese
 
Grundrechte sind die Menschen gleich. Missbrauch geistiger, politischer und ökonomischer
 
Macht zur Unterdrückung von Minderheiten ist unzulässig. Es gibt für den Freimaurer
 
keine »besseren« sozialen Klassen, Rassen und Religionen (oder doch?). Niemand
 
darf wegen seiner Klassen- und Rassenzugehörigkeit sowie aufgrund seines weltanschaulich-
 
religiösen Bekenntnisses (und sei dieses ein humanitär-atheistisches) am Eintritt in
 
Freimaurerlogen gehindert werden. Soziale Gerechtigkeit gehört zu den Hauptzielen des
 
Freimaurers.
 
• Demokratisch-pluralistisch: Zum Schutz vor unfreiheitlichen Herrschaftsverfassungen
 
bekennt sich der Freimaurer zur demokratisch-pluralistischen Ordnung. Demokratie soll
 
Mitwirkung an der politischen Willensbildung und Kontrolle des politischen Prozesses sichern.
 
Die pluralistische
 
Gesellschaftsverfassung soll vor Machtkonzentration in den Händen
 
weniger und damit vor physischem Zwang sowie psychischer Manipulation schützen.
 
Dabei muss durch umfassende Demokratisierung dafür Sorge getragen werden, dass Pluralismus
 
nicht zu einer ungerechte Machtverhältnisse konservierenden Institution wird.
 
• Anti-ideologisch: Die Tatsachen unserer Welt sind mit den Methoden der empirischen
 
Wissenschaften festzustellen und zu erklären. Vorwissenschaftliche Autoritäten sind als
 
Mittel zur Erkenntnis und rationalen Kommunikation nicht brauchbar.
 
Wie bereits angedeutet, darf es mit der Entwicklung der aufgezeigten, durch explizite Formulierungen
 
aus der traditionellen Wertverschwommenheit herausführenden sozialethischen
 
Positionen nicht sein Bewenden haben. Der nächste Schritt muss zu einer kritischen
 
Reflexion von Freimaurerei und Umwelt führen, um erstens die sozialethischen Postulate
 
durch Konfrontation mit der Wirklichkeit zu konkretisieren und zweitens Entwürfe für Reformen
 
zu erarbeiten.
 
251
 
Hierzu die zweite These:
 
Die Freimaurerei muss bereit sein, ihre eigene soziale Wirklichkeit wie die ihrer gesellschaftlichen
 
Umwelt im Hinblick auf eine Übereinstimmung mit ihren sozialethischen
 
Positionen stets aufs Neue kritisch zu reflektieren.
 
Dieser Prozess der geistigen Auseinandersetzung ist in manchen Logen und vor allem auch
 
durch die »Collegia Masonica« der Großen Landesloge A.F.u.A.M. bereits in Gang gekommen.
 
Oft aber sind die Arbeitskalender der Bauhütten noch schlechte Imitationen von Volkshochschulen.
 
Auch ist die Beschäftigung mit der sozialen Umwelt vielfach noch zu willkürlich,
 
weil in kein begründetes Gesamtkonzept eingeordnet. Ein solches Konzept ist aber –
 
eine Erfahrung, die ich oft gemacht habe – gerade dann notwendig, wenn man geistige Arbeit
 
der Loge unter Hinzuziehung von intelligenten und kritischen Gästen durchführt. Genau
 
dieses aber sollte im Interesse der eigenen geistigen Lebendigkeit dringend erwünscht sein.
 
Wir könnten uns manchen geistigen Schlendrian nicht mehr leisten, würden wir uns mehr
 
dem Gespräch mit kritischen Außenstehenden stellen. Das, was im Bruderkreise als liebgewordene,
 
wenn auch nicht gerade originelle Vorstellung durchgeht, enthüllt sich angesichts
 
einer kritischen Öffentlichkeit nur allzu schnell als hohle Phrase. Deshalb habe ich auch
 
– leider bisher ohne Erfolg – auf dem Würzburger Großlogentag (1969) vorgeschlagen, im
 
Rahmen der »Loge 67« den Dialog mit der Fachwissenschaft herzustellen und institutionell
 
zu verankern. Eins jedoch sollte endlich klar sein: Die Freimaurer können in ihrer Loge, sofern
 
es um Freiheit und Würde des Menschen als Inbegriffen freimaurerischer Humanitas
 
gehen soll, nicht an den gesellschaftlichen
 
und politischen Bedingungen
 
einer freiheitlichen
 
und würdigen menschlichen Existenz vorbeisehen. Daher gehört die in kritischer Radikalität
 
durchgeführte Reflexion von Gesellschaft und Politik zum Wesen humanitärer Freimaurerei.
 
Ein – vorläufig – Letztes zur »kritischen
 
Reflexion«: Die Landesgroßlogentage und die
 
Konvente müssen – dafür ist es längst »Hochmittag« – endlich zu Foren geistiger Auseinandersetzung
 
werden. Namentlich die Konvente erinnern gegenwärtig immer noch mehr an
 
die Hofhaltung konstitutioneller Monarchen als an Hauptversammlungen eines ethischen
 
Bundes. Weitaus mehr Dialog – nach Möglichkeit unter Einschluss profilierter Außenstehender
 
– und weitaus weniger Selbstdarstellung der »Würdenträger
 
«: So wünschte man sich
 
hier die Entwicklung.
 
Kritische Reflexion muss nun auf zwei Ebenen in reformerisches Handeln umgesetzt
 
werden.
 
Zunächst bedarf unser Bund selbst dringend so mancher Reform. Hierzu die dritte These:
 
Die Freimaurerei muss sich in ihrem Aufbau als Muster einer ihren Zielen gestalteten
 
Sozialform verstehen
 
und in einem konsequenten Reformprozess Widersprüche zwischen
 
Leitbild und Wirklichkeit zu überwinden versuchen.
 
Die hier gestellte Aufgabe ist groß, wobei ich in der Frage der Reformbedürftigkeit allerdings
 
Unterschiede zwischen den einzelnen deutschen Großlogen machen würde. Auf drei Ebenen
 
müssten Reformen ansetzen: bei der Konzeption, bei Aufbau und Organisation sowie
 
252
 
beim rituell-bildhaften Ausdruck. Diese Ebenen sind freilich nicht immer voneinander zu
 
trennen.
 
Was die Reform im Konzeptionellen betrifft, so geht es um das, wozu diese Ausführungen
 
ein Beitrag sein sollen: um die Überwindung geistiger Leerformel-Positionen, um
 
die Profilierung als ernst zu nehmende geistige Kraft. Es geht um die Verankerung offener,
 
demokratischer Gesinnung in allen Formen und Institutionen. Es geht umgekehrt um den
 
Abbau von Ideologien (Mysterienbund, geistige Elite) und um die Überwindung autoritärer
 
Gesinnung (Ordo-Konzeption). Es geht darum, endlich deutlich zu machen, dass
 
Freimaurerei ein weltanschaulich offener (also kein »christlicher«) sozialethischer Bund
 
und weder eine Religion, noch ein Religionsersatz, noch eine Einrichtung zur Befriedigung
 
metaphysischer Restbedürfnisse ist.
 
Im Organisatorischen muss Freimaurerei
 
auf dem Prinzip der gleichen Wahl von unten
 
nach oben aufgebaut sein. Berufungs- und Vorschlagsrechte von oben nach unten sowie
 
Kooptationsprinzipien »höherer Gremien« ohne periodische demokratische Kontrolle fördern
 
die Oligarchienbildung und dürfen keinen Platz in freimaurerischen Gemeinschaften
 
haben. (Seien wir ehrlich: Wäre unser Staat nach den Statuten mancher freimaurerischer
 
Organisation aufgebaut, es wäre Zeit zur Emigration.) Die einheitliche deutsche Großloge
 
– auch dies gehört zur organisatorischen Reform – muss von den Johannislogen her und
 
auf ihrer Grundlage geschaffen werden. Hätten wir endlich die Möglichkeit, die deutsche
 
Großloge als Zusammenschluss autonomer Johannislogen aufzubauen, wir hätten die freimaurerische
 
Einheit in kürzester Zeit! Es ist an der Zeit, auf dieser Grundlage, d.h. durch
 
eine Vereinigungsbewegung der Johannislogen, der Großlogenidee neue Impulse zu geben.
 
Und wenn eine solche Bewegung keinen Erfolg bringt, dann sollte man – ehrlicherweise –
 
in Freundschaft auseinandergehen.
 
Im Formalen sollte Reform Streben um zeitgemäßen sprachlichen und bildlichen Ausdruck
 
bedeuten, ein Problem, das mir beispielsweise auch nach der Ritualneubearbeitung
 
der GL A.F.u.A.M. noch nicht gelöst erscheint. Alle Reformen sollten sich hier darauf
 
konzentrieren, im rituellen Brauchtum Wesen und Ziele unseres Bundes zum besseren Verstehen
 
zu bringen. Unser Brauchtum sollte die Aufgabe haben, die existentielle Situation
 
des Menschen in einem gefährdeten Dasein, seine Verwiesenheit auf Gemeinschaft und
 
seinen Auftrag in ihr deutlich zu machen. Bauhüttensymbolik als Ausdruck produktiver,
 
solidarischer Daseinsbewältigung – welche Möglichkeit und wie oft wird sie von romantisierendem
 
Schwulst verdeckt!
 
Auf historische Schaustücke sollte ebenso verzichtet werden wie auf organisatorische
 
Arabesken, die im Erscheinungsbild mehr an Opern der Barockzeit als an einen humanitären
 
Bund erinnern. Auch sollte im Umgang mit »Würdenträgern« Einfachheit walten.
 
»Bruder Großmeister« – warum eigentlich nicht? Wann endlich stehen Männer an der
 
Spitze unseres Bundes, die angesichts längst sinnentleerter Titulaturen und Huldigungsprozeduren
 
sagen: »Liebe Brüder, habt ihr’s nicht ein bisschen schlichter?« Abschied vom
 
Serenissimusgehabe – auch das ist ein Beitrag zu neuer, brüderlicher Form.
 
Das tätige Engagement darf sich aber nicht nur auf die Freimaurerei selbst beschränken. Unser
 
Bund bedarf der Verankerung in und der Konfrontation
 
mit der Gesellschaft. Hierzu die
 
vierte These:
 
253
 
Die Freimaurerei muss den ihrer sozialethischen Grundhaltung entsprechenden
 
Platz in der Gesellschaft suchen und sich für die Verwirklichung ihrer Ziele im gesellschaftlich-
 
politischen Raum engagieren.
 
Damit kann und darf keiner parteipolitischen Stellungnahme der Freimaurerei das Wort
 
geredet werden. Aber im Bereich von Gesellschaft und Politik gibt es ja im pluralistischen
 
System Gruppen verschiedenster Struktur, die sich neben den Parteien oder quer durch sie
 
hindurch für Menschlichkeit in der Welt von heute einsetzen. Hier vermisse ich mit vielen
 
Brüdern nur allzu oft die Stimme und die Mitarbeit unseres Bundes. Warum wirken wir, die
 
wir die Entfaltung und Erhaltung von Freiheit und Würde des Einzelmenschen zu unserem
 
ersten Anliegen machen wollen, nicht mit an zahlreichen hilfreichen Aktivitäten auf diesem
 
Gebiet: Bürgerinitiativen gegen Willkür und Machtmissbrauch starker Gruppen, Umweltschutz,
 
Jugendschutz, Schutz diskriminierter Minderheiten, Hilfsmaßnahmen für Gewissensgefangene
 
(Amnesty International)? Hat es nicht etwas Steriles, sich vorwiegend auf
 
Urteile über die Humanität anderer zu beschränken? Hier liegt eine Fülle echter Aufgaben,
 
die in der Diskussion geprüft und in tätigem Einsatz in Angriff genommen werden sollten.
 
Lasst uns endlich die bequeme, aber unerträglich lähmende Angst vor dem öffentlichen Engagement
 
überwinden. Viele scheinen noch nicht gemerkt zu haben, dass wir nicht mehr
 
dem absolutistischen Staat, sondern der demokratischen Öffentlichkeit gegenüberstehen.
 
Eine Frage zum Schluss: Die Freimaurerei
 
sei, so hört man oft, eine »geschlossene« Gesellschaft.
 
Aber bedarf es nicht vielmehr einer »offenen« Freimaurerei ? Einer Freimaurerei,
 
die offen ist für die Probleme des Menschen, offen für die Gebote der Zeit, offen für Wandlungen
 
und Reformen? Einer Freimaurerei jenseits des Konservatismus der Gralshüter und
 
jenseits utopischer Schwärmerei? Einer sozial engagierten Freimaurerei? Einer Freimaurerei,
 
die nicht die Vergangenheit konserviert, sondern vergangene Hoffnungen einlöst?
 
Es bedarf einer solchen Freimaurerei! Ob allerdings die deutsche Freimaurerei die Kraft
 
zur Wandlung hat?
 
Sicher nur, wenn viele sie wollen und sich zur Arbeit an ihr mit Leidenschaft und
 
klarem Blick die Hände reichen.
 
254
 
Plädoyer für eine verantwortliche
 
Freimaurerei – Hat die Freimaurerei
 
öffentliche Aufgaben und wie sollen sie
 
wahrgenommen werden? (1971)1
 
Die Frage nach den öffentlichen Aufgaben der Freimaurerei ist oft gestellt und oft beantwortet
 
worden. Wenn es sich dennoch als erforderlich erweist, erneut nach Antworten zu
 
suchen, so deshalb, weil bisher kaum Konsequenzen aus den vielen ermutigenden Anstößen
 
gezogen wurden, mit denen deutsche Freimaurer in den letzten Jahren immer wieder versucht
 
haben, den Standort ihres Bundes in der Gegenwartsgesellschaft zu bestimmen. Von
 
dem von Br. Bolle (München) als Gefahr beschworenen »allzu hektisch betriebenen exoterischen
 
Aktivismus« kann jedenfalls keine Rede sein. Im Gegenteil: Es häufen sich in letzter
 
Zeit die Stimmen derer, die sich gegen jede öffentliche Aufgabe der Freimaurerei oder freimaurerischer
 
Gruppen wenden. Zwei Beispiele aus den Diskussionen dieses Jahres:
 
Br. Wiemann (Wuppertal) in einem Leserbrief an die »Bruderschaft«: »Es gibt nicht
 
die Taten der Freimaurer. Tat ist immer nur individuell, und so kann es – anders und auch
 
hier – immer nur Taten einzelner aus freimaurerischem Geist geben.«
 
Und, prononcierter noch, Br. Hoede (Würzburg) in »Euro Mason«: »Ich wehre mich
 
gegen jeden Versuch der Gleichschaltung. Hierzu gehört an erster Stelle die Irrlehre von
 
irgendwelchen Aufgaben des Freimaurerbundes. Aufgaben hat immer nur der einzelne
 
Freimaurer, in seiner Loge, im profanen Leben.«
 
Greifen wir das Problem auf:
 
Öffentliche Aufgaben als wesensgemäßer Auftrag zum Handeln oder als Irrlehre – das ist die
 
Frage, um die es heute geht.
 
Und: Steht bei ihrer Beantwortung Behauptung gegen Behauptung oder gibt es Kriterien
 
für eine eindeutige und verlässliche Antwort – das ist die Vorfrage, die zunächst zu
 
beantworten ist.
 
Kriterien der Prüfung
 
Ich meine, wir haben verlässliche Kriterien, wobei es mir vor allem auf die folgenden fünf
 
anzukommen scheint:
 
1. Die Verfassungen der Großlogen;
 
2. die sozialethischen Werte unseres Bundes;
 
3. die überlieferten Rituale;
 
4. die Tradition unseres Bundes;
 
5. das Wollen der Brüder Freimaurer, die heute Freimaurerei gestalten.
 
1 Einleitungsreferat zum Podiumsgespräch auf dem Braunschweiger Konvent der Vereinigten Großlogen
 
von Deutschland 1971. Dieser Beitrag wurde ursprünglich veröffentlicht in: Die Bruderschaft, Heft 12,
 
1971, S. 210–214.
 
255
 
Prüfen wir die Frage nach den öffentlichen Aufgaben im Lichte dieser Kriterien.
 
Was sich für unsere Frage erstens aus den Verfassungen ableiten lässt, ist für die Alten,
 
Freien und Angenommenen Maurer eindeutig. Die Verfassung dieser Großloge enthält
 
bereits im ersten Artikel die unmissverständliche Formulierung:
 
Die Aufgaben der Freimaurerei sind humanitär: »Sie tritt ein für die Freiheit der Person,
 
für allgemeine Menschenliebe, Brüderlichkeit, Toleranz, Mildtätigkeit und Erziehung
 
dazu.«
 
»Sie tritt ein« kann sinnvoll nur verstanden werden als »sie tritt öffentlich ein«, und
 
zwar da, wo die von ihr bekannten Werte bedroht sind.
 
Diesen Verfassungsauftrag unterstreicht Artikel 4, der die Freimaurerei als ethischen
 
Bund bezeichnet. Ein ethischer Bund hat die Aufgabe, sich zu ethischen Prinzipien zu
 
bekennen und ethische Prinzipien zu verwirklichen. Hier kann es nicht das von Br. Hoede
 
beschworene »Seligwerden nach eigener Fasson« geben, hier darf nicht zur missverständlichen
 
Alibiformel vom »Bund der Ungleichgesinnten« gegriffen werden. Ethik aber als
 
Aufgabe heute ernst nehmen heißt, die individual-ethischen Positionen unseres Bundes
 
zu überwinden, seine sozialethischen Grundlagen zu präzisieren und zu vertiefen sowie
 
gemäß dieser sozialethischen Grundlagen die Gesellschaft so zu verändern zu helfen, dass
 
ethisches Handeln des Einzelnen überhaupt möglich wird.
 
Weiter heißt es im Artikel 4: »Die Freimaurerei nimmt nicht Stellung in parteipolitischen
 
Auseinandersetzungen.« Dieser Passus hieß bis 1967: »Sie nimmt nicht Partei in
 
politischen Auseinandersetzungen.« Die auf dem Münchener Großlogentag beschlossene
 
Verfassungsänderung sollte durch die Abgrenzung vom parteipolitischen Engagement das
 
politische Stellungnehmen der Freimaurerei ermöglichen. Es kann also davon ausgegangen
 
werden, dass eine deutliche Mehrheit deutscher Stuhlmeister im Bereich der GL A.F.u.A.M.
 
den öffentlichen, ja politischen Auftrag der Freimaurerei mit dieser Verfassungsänderung
 
unterstreichen wollte.
 
Eine öffentliche Aufgabe der Freimaurerei
 
ist somit nicht nur keine Irrlehre, sie ist
 
Verfassungsauftrag an die Freimaurerei, jedenfalls an die Brüder der GL A.F.u.A.M. Andere
 
Verfassungen zu prüfen, mag Aufgabe der Diskussion sein. Doch scheinen mir etwa die §§
 
8 und 9 der Ordensregel ebenso im Sinne eines öffentlichen Engagements zu deuten zu
 
sein, wie – wiederum beispielsweise – die Präambel zur Konstitution des AASR.
 
Wie steht es zweitens mit den sozialethischen Werten unseres Bundes? Was lässt sich
 
von ihnen für unser Thema ableiten? Wir umreißen diese Werte gemeinhin mit den Begriffen
 
Humanität, Toleranz und Brüderlichkeit. An ihnen lässt sich das über die Aufgaben
 
eines ethischen Bundes Ausgeführte weiter verdeutlichen. Man kann, so meine ich, als
 
ethischer Bund heute nicht Humanität vom Einzelnen fordern, ohne zu fragen, ob und
 
in welcher Weise der Zustand der Gesellschaft humanes Handeln überhaupt ermöglicht.
 
Man kann nicht Toleranz verlangen, ohne sich zu fragen, wo inhumane Gegenkräfte Toleranz
 
begrenzen, man kann nicht Brüderlichkeit als Tugend preisen in einer Zeit, in der
 
gesellschaftliche Machtverhältnisse vielerorts in der Welt soziale Abhängigkeiten schaffen,
 
die Brüderlichkeit – wenn man überhaupt noch von ihr spricht – zur bloßen Fassade degradieren.
 
Die sozialethische Naivität der Freimaurer des 19. Jahrhunderts lässt sich mit dem
 
Erfahrungsschatz des 20. Jahrhunderts nicht mehr verantworten. Für die Freimaurer des 19.
 
Jahrhunderts, zumal die »altpreußischen«, war Obrigkeit im Sinne Luthers von Gott und
 
als solche nicht unsittlich, für sie war der Staat Verkörperung Hegel’schen Weltgeistes und
 
256
 
konnte als solcher nicht fehlen. Unsittlich war allein der Einzelne. Wir wissen aber heute
 
nicht zuletzt aufgrund des Schocks des »Dritten Reiches«, dass Humanität, Toleranz und
 
Brüderlichkeit bestimmten gesellschaftlichen Kräften stets aufs Neue abgerungen werden
 
müssen. Und wenn ein ethischer Bund, der sich auf Humanität, Toleranz und Brüderlichkeit
 
beruft, nicht teilhaben will an diesem Abringen, wenn er nicht hier seine Aufgabe, seine
 
öffentliche Aufgabe sieht, so verliert er seine Glaubwürdigkeit als ethischer Bund. Das,
 
meine Brüder, was uns die seriöse Öffentlichkeit mehr und mehr vorhält, sind ja längst
 
nicht mehr unsere vermeintlichen Gräueltaten und Verbrechen. Was man kritisiert, ist, dass
 
wir in oft unerträglich penetranter
 
Weise in blütenweißen seelischen Sonntagsanzügen unter
 
Goethe-, Fichte- und Herderbildern paradieren, die Verantwortung für sozial verantwortungsbewusstes
 
Handeln dann aber mit der Vokabel vom »Bund der Ungleichgesinnten«
 
an andere Kräfte der Gesellschaft abschieben.
 
Ich fasse Punkt 1 und 2 zusammen und folgere: Sowohl die Verfassung der Mehrheit
 
deutscher Freimaurer als auch unsere ethischen Werte weisen den Mitgliedern des Bundes
 
öffentliche Aufgaben zu.
 
Wie steht es drittens mit dem Ritual, dem Brauchtum unseres Bundes? Auch von hier
 
aus leitet sich, so würde ich meinen, ein Auftrag zum Wirken in der Gesellschaft ab. Hier
 
denke ich – nicht nur, aber in erster Linie – an Ritus und Symbolik des 2. Grades, des Gesellengrades,
 
der mir geradezu ein Lehrstück gemeinsamen sozialen Handelns in der Gesellschaft
 
zu sein scheint. Das Reisen mit verschlungenen Händen deutet die Gemeinsamkeit,
 
der Weg vom rauhen zum kubischen
 
Stein den Inhalt der Aufgabe an: Gesellen zu sein
 
beim Bau einer brüderlichen
 
Welt, einen Beitrag zur Lösung
 
der Probleme unserer Zeit in
 
produktiver Solidarität zu leisten.
 
Befragen wir viertens die Geschichte unseres Bundes und jenes Dokument, das unsere
 
Tradition im Bewusstsein vieler Freimaurer gleichsam auf wenigen
 
Seiten zusammenzieht,
 
die »Alten Pflichten«. Hier scheint die Antwort deutlich von den bisherigen Ergebnissen
 
abzuweichen. »We are resolved against all politicks« scheint eine klare Aussage zu sein,
 
an der es nichts zu deuten gibt. Und doch wäre es falsch, aus der Ablehnung politischen
 
und gesellschaftlichen Engagements in der Freimaurerei des 18. Jahrhunderts auf den unpolitischen
 
Charakter der Logen in dieser Zeit zu schließen. Wer so unhistorisch urteilt,
 
verkennt den funktionalen Charakter der proklamierten politischen Neutralität ebenso wie
 
den dialektischen Zusammenhang zwischen
 
Geheimnis und Aufklärung.
 
Beides: Geheimnis und Absage an die Politik sichern im absoluten Staat jenen Spielraum,
 
in dem – innerhalb des Arcanums der Logen – bürgerliche Freiheit und soziale
 
Gleichheit in Vorwegnahme der kommenden bürgerlichen Revolutionen erfahren wird. Die
 
Absage an die Politik erst ermöglicht die politische Funktion der Aufklärungsfreimaurerei.
 
Die »Freiheit im Geheimen
 
« wird – so ein Wort des Historikers Reinhart Koselleck – zum
 
»Geheimnis der Freiheit«. Sie wird zum Geheimnis der Freiheit jener »moralischen Internationalen
 
« (Koselleck), als die die Freimaurerei im 18. Jahrhundert wirkt.
 
Lösen wir uns also von der bei uns so beliebten unhistorisch-dogmatischen Bewertung
 
der »Alten Pflichten«, lösen wir uns von den blinden Flecken unseres eigenen Geschichtsbildes
 
für das 18. Jahrhundert sowohl wie für die spätere Zeit. Rezipieren wir endlich die
 
bei uns kaum beachteten Forschungsergebnisse von Historikern wie Koselleck, Habermas
 
und Contiades. Freimaurerei ist nie unpolitisch gewesen. Weder im 18. Jahrhundert als
 
Vorwegnahme bürgerlicher Freiheit noch im 19. Jahrhundert als treue Stütze von Thron
 
257
 
und Altar, und schon gar nicht im 20. Jahrhundert, zumal nach dem Ersten Weltkrieg vor
 
ihrer Auflösung, und wir täten gut daran, den in unserem Bund vor und nach 1933 weit
 
verbreiteten Nationalismus nicht immer zur taktischen Betriebspanne herunterzuspielen.
 
Etwas mehr Problembewusstsein – oder sagen wir schlicht Ehrlichkeit – im Umgang mit
 
der eigenen Geschichte stünde uns wohl an. Wir haben also nicht zu wählen, ob wir an
 
Traditionen politischer oder politisierter Freimaurerei anknüpfen wollen, wir haben zu
 
wählen, an welcher Tradition politischer Freimaurerei wir anknüpfen wollen. Und da meine
 
ich, dass wir jene vergangenen Hoffnungen der Aufklärungsfreimaurerei auf ein freies, würdiges
 
Dasein einzulösen haben, die immer noch und aufs Neue bedroht sind. Wir haben
 
anzuknüpfen an das, was als vorweggenommene bessere Zukunft in unserer
 
Vergangenheit
 
aufleuchtet und etwa in Lessings »Gesprächen für Freimäurer« Gestalt annimmt, was aber
 
die Gegenwart noch nicht eingelöst hat: die Hoffnung auf den von nationalen Schranken,
 
weltanschaulichen Vorurteilen und gesellschaftlicher Unterdrückung befreiten Mensch.
 
Kehren wir zu dieser, ich möchte meinen, eigentlichen Tradition zurück, so weist auch der
 
Blick in die Vergangenheit auf Aufgaben hin, die in der Gesellschaft
 
zu erfüllen sind. Dabei
 
muss uns freilich klar sein, dass wir es nicht mehr mit dem absolutistischen Staat, sondern
 
der demokratischen Öffentlichkeit zu tun haben.
 
Fragen wir fünftens und letztens, was die Freimaurer heute selbst wollen, so ist die
 
Antwort wohl weniger eindeutig. Sicher aber scheint zu sein, dass die Zahl derer wächst,
 
die Freimaurerei als lebendige Kraft in der Gesellschaft wirken lassen wollen. Vom Einsatz
 
dieser Brüder wird es abhängen, ob die deutsche Freimaurerei in ihrer Gesamtheit eine
 
positive Einstellung zu ihren öffentlichen Aufgaben findet.
 
Öffentliche Aufgabe – aber wie?
 
Wie aber, meine Brüder, sollen nun diese öffentlichen Aufgaben der Freimaurerei wahrgenommen
 
werden?
 
Sicher nicht oder nicht allein durch Stellungnahmen der Großlogen zu dieser oder jener
 
Zeitfrage. Bliebe die öffentliche Aufgabe auf Deklarationen ohne eigene Leistung beschränkt,
 
man würde lieber völlig davon Abstand nehmen. Es gilt also, einen umfassenderen,
 
und wenn man so will, auch unbequemeren Ansatz zu wählen. Meines
 
Erachtens
 
kommt es dabei auf dreierlei an:
 
1. auf das klare Profilieren der sozialethischen Grundlagen, die Maßstab der Bewertung der
 
Wirklichkeit und unseres Handelns werden müssen;
 
2. auf das kritische Reflektieren der Gesellschaft im Hinblick auf jene Abweichungen zwischen
 
sozialethischem Postulat und Wirklichkeit, die uns zum Handeln provozieren;
 
3. auf gesellschaftlich relevantes Handeln selbst, wobei zwischen dem Handeln des einzelnen
 
Freimaurers und dem Handeln freimaurerischer Gruppen von der Loge bis zu internationalen
 
Großlogenzusammenschlüssen zu unterscheiden ist.
 
Was das Erste betrifft, so geht es, wie ich es an anderer Stelle ausgeführt habe, darum, »die
 
Unverbindlichkeit und Verschwommenheit unserer hergebrachten Wertvorstellungen zu
 
überwinden und uns sowohl geistig als auch in unserer gesellschaftlichen Aktivität als huma258
 
nitäre, soziale, demokratisch-pluralistische und antiideologische Kraft zu profilieren« (Vier
 
Thesen zur Erneuerung der Freimaurerei). Ich will meine Argumentation jetzt nicht im Einzelnen
 
wiederholen. Ich weise nur ergänzend auf Folgendes hin:
 
Die gewählten Wertpositionen humanitär, sozial, demokratisch-pluralistisch und antiideologisch
 
scheinen mir erstens geeignet, unsere sozialethischen Werte präziser und verbindlicher
 
zu fassen als bisher, und zweitens öffnen sie sich leichter dem Verständnis einer
 
Öffentlichkeit, die ebenfalls um eine neue sozialethische Fundierung ringt.
 
Zwei Beispiele dafür: Der Regierende Bürgermeister von Berlin sprach in seinem Glückwunsch
 
zur 200-Jahr-Feier der Großen Landesloge von den »freiheitlichen, demokratischen,
 
sozialen und pluralistischen Strukturen«, die es zu festigen gelte. Und die Hamburger
 
Tageszeitung WELT unterstrich die Zeitoffenheit der deutschen Freimaurerei
 
– meine Wünsche
 
für die Wirklichkeit nehmend – mit dem Hinweis:
 
»Die Logen sind humanitär, sozial, demokratisch-pluralistisch und antiideologisch
 
strukturiert. Sie leben aus der Evolution der Reformen nach innen, wie nach außen. Sie
 
orientieren sich nicht am Zopf von gestern, sondern an den Aufgaben von morgen.«
 
Insofern halte ich die gewählten Positionen
 
sowohl für die eigene Neuorientierung als auch
 
als Brückenschlag zur Gesellschaft für durchaus geeignet.
 
Der zweite Schritt muss zu einer intensiven
 
Reflexion über die Wirklichkeit führen. In
 
den Logen sollten viel konsequenter Zeitfragen untersucht werden, um herauszuarbeiten,
 
in welchen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens soziale Realität und freimaurerisches
 
Ideal auseinanderklaffen. Tut man dies unter Einschluss der Öffentlichkeit, d.h. mit qualifizierten
 
Gästen, so hat dies zugleich den Vorteil, aus der eigenen Enge auszubrechen und
 
nach draußen hin zu zeigen, wie ernsthaft Freimaurer nach Lösungen
 
wichtiger Zeitfragen
 
suchen. In diesen zweiten Bereich gehört auch das Veranstalten von Preisverleihungen, von
 
Tagungen und das Ausrichten
 
von Podiumsgesprächen, in denen wichtige Probleme des
 
gesellschaftlichen Lebens, insbesondere die Schattenseiten unseres Wohlstandssystems, von
 
verschiedenen Seiten beleuchtet werden können. Es wäre zum Beispiel zu prüfen, ob die oft
 
kritisierte geistige
 
Leere von Großlogentagen und Konventen nicht dadurch überwunden
 
werden könnte, dass ein wichtiges humanitäres Zeitproblem – Friedenssicherung, Umweltschutz,
 
Lage der Jugendlichen, Alten und Kranken – von Freimaurern und Nichtfreimaurern
 
in der Öffentlichkeit gründlich diskutiert wird. Dieses Thema könnte dann zugleich
 
die Jahresaufgabe der deutschen Freimaurer in der Öffentlichkeit umreißen, womit die
 
dritte Ebene, die des gesellschaftlich relevanten Handelns,
 
angesprochen wäre.
 
Auf dieser Ebene gilt es zunächst eine Unterscheidung einzuführen, die bereits
 
Lessing
 
in seinen »Gesprächen für Freimäurer« angedeutet hat. Lessing unterscheidet die
 
konkreten Aufgaben innerhalb der einzelnen Staatsverfassungen, wir würden sagen den
 
Bereich
 
der Parteipolitik, vom Kampf gegen jene Übel, die dem Charakter des Gesellschaftlichen
 
im Allgemeinen eigen sind, und er versteht darunter bekanntlich den Kampf
 
gegen die Trennungen der Menschen in Staaten, Weltanschauungen und soziale Klassen.
 
Im Bereich parteipolitischer Auseinandersetzungen hat sich der Freimaurer als Bürger zu
 
engagieren. Hier handelt nicht die Freimaurerei, und schon Lessing wandte sich nicht
 
ohne Ironie gegen Bestrebungen eines amerikanischen Freimaurers, den Kongress in eine
 
Loge zu verwandeln.
 
259
 
So bleibt das andere Feld der zwar unvermeidlichen, aber nicht unbekämpfbaren Übel
 
als großes Feld der freimaurerischen Öffentlichkeitsaufgabe. Engagement hier verhindert,
 
dass Freimaurerei zur politischen Partei wird, was ihr Ende wäre, und lässt doch zu, dass sie
 
in vielen Fragen parteilich ist. Wenden wir Lessings These von den unvermeidlichen Übeln
 
des Staates
 
als dem Feld der freimaurerischen Taten in eine moderne Sprache, so können
 
wir folgern: Die öffentlichen Aufgaben der Freimaurerei liegen im Schutz des Friedens
 
oder umgekehrt im Kampf gegen den Krieg, sie liegen im Kampf gegen weltanschauliche
 
Intoleranz, Unterdrückung der Meinungsfreiheit
 
sowie Diskriminierung weltanschaulicher
 
und religiöser Minderheiten, und sie liegen schließlich im Kampf gegen soziale Ungerechtigkeit,
 
gegen Not und Unterdrückung. Anders formuliert: Im Kampf gegen Krieg,
 
Intoleranz, Unterdrückung und Hunger gibt es Freimaurerei als »Gemeinschaft der Ungleichgesinnten
 
« nicht – oder Freimaurerei würde sich als ethisch-humanitärer Bund selbst
 
aufheben.
 
Wie soll nun die Freimaurerei ihre öffentliche Aufgabe in dem ihr zugewiesenen Bereich
 
wahrnehmen?
 
Hierfür gibt es verschiedene Möglichkeiten freimaurerischer Gruppierungen und verschiedene
 
Methoden. Was die Gruppierungen betrifft, so sollten zunächst die Logen
 
selbst mit geeigneten Aktivitäten im Sozialleben der Städte weit mehr präsent sein als
 
bisher. Hierher gehören nicht nur Aufgaben örtlicher Karitas, hierzu gehören auch vorbild-
 
und modellhafte Beiträge zur Lösung bestimmter bisher nur unzureichend gelöster
 
sozialer Probleme: Schaffen von Stätten zur Integration deutscher und ausländischer Kinder,
 
Hilfe bei der Betreuung alter Menschen, Mitarbeit im Jugendschutz, bei der Resozialisierung
 
Straffälliger, in den verschiedenen Gremien kommunaler Wohlfahrtspf lege. Eine
 
solche gesellschaftliche Präsenz einer oder mehrerer Logen im Leben einer Stadt hat nicht
 
nur den konkreten humanitären Effekt, dass Not gelindert wird, sie ist auch ein wirksamer
 
Beitrag zur freimaurerischen Öffentlichkeitsarbeit. Und schließlich: Es ist meine Überzeugung
 
aufgrund meiner Kölner Erfahrung, dass auch die Lösung des Nachwuchsproblems
 
zu einem großen Teil davon abhängt, inwieweit Freimaurerlogen im sozialen Leben ihrer
 
Städte ein Begriff sind.
 
Ein sinnvoller weiterer Ansatz freimaurerischer Gruppentätigkeit ist die Gründung von
 
überregionalen spezialisierten Arbeitskreisen. Ich denke an Arbeitskreise freimaurerischer
 
Journalisten,
 
freimaurerischer Juristen, freimaurerischer Pädagogen, freimaurerischer
 
Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler. Das Erarbeiten von Ergebnissen
 
in fachlich kompetenten
 
Gremien,
 
die Zusammenarbeit mit anderen
 
entsprechenden Gruppen und die
 
Umsetzung des Erarbeiteten durch den Einzelnen am Arbeitsplatz sowie durch geeignete
 
Publikationsmedien der Gruppen (Publikationen, Tagungen
 
und dergleichen) dürfte ihre
 
Wirkung auf die Öffentlichkeit nicht verfehlen. Es dürfte unseren Zielen nachhaltigen
 
Einfluss sichern und – nimmt man qualifizierte
 
Nichtfreimaurer gelegentlich
 
oder generell
 
zu diesen Arbeitskreisen
 
dazu – ein guter Weg zu qualifiziertem Nachwuchs sein. Auch
 
hier gilt: Arbeit in der Öffentlichkeit ist die beste Öffentlichkeitsarbeit.
 
Was schließlich die Großlogen betrifft, so sollten sie ihre Aufgabe einmal in einer
 
sinnvollen Koordination der einzelnen freimaurerischen Gruppenaktivitäten sehen. Hierzu
 
wäre ein Amt oder eine Arbeitsstelle für öffentliche Aufgaben sinnvoll und nötig. Die
 
Großlogen sollten weiter ihre jährlichen
 
Zusammenkünfte – wie schon aufgezeigt – mehr
 
als bisher zu Foren des Ringens um Lösungen drängender Zeitfragen machen. Sie sollten
 
260
 
weiter versuchen, in überregionalen kulturellen,
 
gesellschaftlichen und politischen
 
(nicht
 
parteipolitischen) Organisationen
 
in geeigneter Form mitzuarbeiten
 
(Beispiel: Friedensforschung),
 
sie sollten mit Preisverleihungen und schließlich gelegentlich auch mit Stellungnahmen
 
und Resolutionen an die Öffentlichkeit treten. Hierbei ist jedoch wichtig,
 
dass erstens Stellungnahmen wohldosiert abgegeben werden und dass zweitens die Freimaurer
 
zur Lösung
 
der angeschnittenen Probleme selbst in der einen oder anderen Weise
 
beitragen. Das bloße Fordern von anderen ohne eigenen konstruktiven
 
Beitrag wäre in der
 
Tat eine zu bequeme Erfüllung der öffentlichen Aufgabe, im Gegenteil: Die Gefahr, sich
 
der Lächerlichkeit preiszugeben, ist hier sehr groß.
 
So gibt es, wie ich meine, eine Fülle sinnvoller und nötiger Ansätze, sich den öffentlichen
 
Aufgaben der Freimaurerei zu stellen. Wir sollten uns dabei nicht nur an humanitäre
 
Aktivitäten
 
anderer anhängen, sondern unsere
 
eigenen, uns gemäßen Ansätze suchen.
 
Dabei dürfen drei Gesichtspunkte nicht außer Acht gelassen werden: Die freimaurerischen
 
Aktivitäten in der Öffentlichkeit müssen erstens unseren sozialethischen Postulaten entsprechen,
 
sie müssen zweitens ohne Dilettantismus durchführbar sein und sie müssen
 
drittens möglichst viele Brüder Freimaurer beteiligen. Ein Modell, das die Freimaurer hätten
 
ausdenken und verwirklichen können, ist etwa die Arbeit von Amnesty International.
 
Und es ist erfreulich, dass eine wachsende Zahl von Freimaurern, wohl auch mitbedingt
 
durch die Kasseler Preisverleihung, an dieser Arbeit mitwirkt. Aus der Anwesenheit solcher
 
Gruppen aber zu schließen, andere hätten unser humanitäres Erbe übernommen und die
 
Freimaurerei könne sich auf Ritualpflege zurückziehen, ist eine für einen ethischen Bund
 
fatale Konsequenz. Und wir sollten uns auch bewusst sein, dass wir, je mehr wir humanitäre
 
Preise an andere verleihen, desto intensiver auch nach unseren eigenen humanitären
 
Leistungen gefragt werden.
 
Ich fasse zusammen und stelle – aus meiner Sicht und in Erwartung einer lebhaften Diskussion
 
– Folgendes fest:
 
• Erstens: Die Frage, ob es öffentliche Aufgaben der Freimaurer gibt, lässt sich bei gründlicher
 
Prüfung der verschiedenen relevanten Kriterien mit einem eindeutigen Ja beantworten,
 
ja man muss weitergehen: Eine Freimaurerei, die ihre öffentlichen Aufgaben
 
nicht sieht, veruntreut sich gegen ihre Verfassung, ihre Tradition und ihre Ideale.
 
• Zweitens: Die Wahrnehmung der öffentlichen Aufgaben ist unter Wahrung der notwendigen
 
parteipolitischen Neutralität
 
möglich. Sie fordert klare sozialethische Positionen,
 
intensive Reflexion der Wirklichkeit im Lichte dieser sozialethischen Positionen und engagiertes
 
Handeln auf den verschiedenen organisatorischen Ebenen der Freimaurerei.
 
• Drittens: Die öffentlichen Aufgaben sind daher nicht nur, ja nicht einmal in erster Linie
 
eine Angelegenheit der Großlogen. Viele freimaurerische Gruppierungen müssen
 
dazu beitragen, dass die öffentlichen Aufgaben ohne Dilettantismus
 
in Angriff genommen
 
und durchgeführt werden können.
 
• Viertens: Es sollte möglichst bald mit einer Bestandsaufnahme sinnvoller öffentlicher
 
Aufgaben und ihrer Realisierungsmöglichkeiten begonnen werden. Hierzu wäre es wünschenswert,
 
dass Großmeister und Senat ein Amt oder eine Arbeitsstelle für öffentliche
 
Aufgaben schaffen. Es wäre weiter wünschenswert,
 
dass aus diesem Konvent eine Arbeitsgemeinschaft
 
»Freimaurerei und Gesellschaft« hervorgeht, die Logenvertreter und
 
andere interessierte Brüder zusammenfasst, um sinnvolle Ansätze zur Lösung öffent261
 
licher Aufgaben zu erarbeiten und den zuständigen freimaurerischen Gruppen
 
und
 
Gremien vorzulegen. Dieser »Braunschweiger Kreis« könnte informell und ohne jede
 
Hierarchie zu einem Forum brüderlicher Meinungsbildung
 
quer durch die Großlogensysteme
 
hinweg werden und hierdurch auch einen Beitrag zur echten, weil auf gemeinsame
 
Ziele gegründeten und von den Brüdern selbst getragenen Einheit der deutschen
 
Freimaurer leisten.
 
Die deutsche Freimaurerei befindet sich angesichts unzureichender innerer Konsequenz
 
sowie mangelnder Beachtung
 
durch die Öffentlichkeit und rückläufiger Mitgliederzahlen
 
in einer Situation des Scheidewegs. Sie wird sich zwischen dem bequemen und dem unbequemen
 
Weg entscheiden müssen.
 
Der bequeme Weg ist der des Rückzugs auf sich selbst,
 
auf karg dosierte
 
Karitas und unverbindliche Erbaulichkeit, auf Selbstveredelung unter Ausschluss
 
der Öffentlichkeit, während vielerorts die Welt in Not verkommt. Der andere Weg
 
führt in die Öffentlichkeit. Er hat Gefahren und Risiken, wer wollte dies verkennen. Aber er
 
bietet die Chance, Freimaurerei als gestaltende Kraft in unserer Gesellschaft vorzuleben und
 
glaubhaft zu machen. Es ist der unbequeme Weg. Er erfordert von uns allen, Einzelnen und
 
gemeinsam das, was wir oft gedankenlos
 
und unverbindlich über unsere Zusammenkünfte
 
schreiben: Arbeit!
 
262
 
Eine Großloge wird vorgestellt: Leitgedanken
 
zu Standort und Identität der Großloge der
 
Alten Freien und Angenommenen Maurer von
 
Deutschland (1986)1
 
Freimaurerei ist geistig offen und entzieht sich jeder dogmatischen Festlegung. Sie entwickelt
 
sich im Zusammenwirken ihrer Mitglieder, die sich Brüder nennen. Sie kennt kein
 
zentrales Lehramt, das verbindlich festlegen oder interpretieren dürfte, was, wie und wo
 
als Freimaurerei zu gelten habe, und es wäre gut, wenn alle Maurer auf der Erde sich immer
 
hieran erinnern würden. Dennoch ist Freimaurerei nichts Beliebiges oder gar Willkürliches.
 
Ihre Formen- und Ideenwelt kreist um einen zentralen Kern, der am Grundwert der
 
Menschlichkeit orientiert ist, im brüderlichen Miteinander allerdings immer wieder aufs
 
Neue herausgearbeitet und lebendig gehalten werden muss. In diesem Sinne haben drei
 
Mitglieder der Großloge der Alten Freien und Angenommenen Maurer von Deutschland
 
– Klaus Horneffer, Jens Oberheide und ich selbst – auf dem diesjährigen Großlogentag in
 
Limburg eine Reihe von Gedanken zu Standort und Identität humanitärer Freimaurerei in
 
Deutschland vorgetragen und ihren Brüdern zur Diskussion angeboten. Da Freimaurerei
 
zur Information der sie umgebenden Gesellschaft ebenso verpflichtet wie auf lebendige
 
Auseinandersetzung mit ihr angewiesen ist, sollen die »Gedanken« in diesem, vor allem für
 
die Öffentlichkeit bestimmten Spezialheft der »Humanität« publiziert werden. Die Autoren
 
stellen damit ihre Großloge aus eigener Sicht vor. Sie haben es vermieden, ihre Gedanken
 
als Thesen oder gar Leitsätze zu bezeichnen, meinen aber doch, unter sieben Gesichtspunkten
 
die wesentlichen Elemente gegenwärtigen freimaurerischen Selbstverständnisses
 
erfasst zu haben.
 
Der erste Gedanke bezieht sich auf die Stellung des Freimaurerbundes zur eigenen Tradition,
 
zur deutschen Geschichte und zum Miteinander der deutschen Freimaurer in den »Vereinigten
 
Großlogen von Deutschland«, in denen fünf Großlogen zusammenarbeiten. Das
 
Bekenntnis zu den alten und doch immer neuen Werten Würde, Freiheit und Selbstbestimmung
 
des Menschen verbindet sich mit dem Eingeständnis historischer, von deutschen Freimaurern
 
mit zu verantwortender Fehlentwicklungen und der Bereitschaft, hieraus Konsequenzen
 
für Gegenwart und Zukunft zu ziehen. Die kräftige Betonung eigener Identität der
 
Großloge A.F.u.A.M. ist vereinbar mit dem Bekenntnis zur Einheit aller deutschen Freimaurer
 
und mit der Idee einer weltumspannenden Bruderkette.
 
Der zweite Gedanke unterstreicht die für den Freimaurerbund ganz zentrale Einheit von
 
Idee, Gemeinschaft und symbolischem Ausdruck, die zugleich seine Vielgestaltigkeit ausmacht.
 
Diese öffnet für Menschen unterschiedlicher geistiger und emotionaler Ausprägung
 
nicht nur unterschiedliche Zugangsmöglichkeiten zu unserem Bund. Sie erlaubt es auch,
 
auf viele Probleme unserer Zeit Antworten zu geben, die suchende Menschen ansprechen,
 
mit Ideen gegen den Verlust von Sinn anzukämpfen, mit dem Bruderbund der Gefahr der
 
1 Dieser Beitrag wurde ursprünglich veröffentlicht in: Humanität. Das deutsche Freimaurermagazin, Nr.
 
8, Dezember 1986, S. 10–12.
 
263
 
Vereinzelung zu begegnen, mit Symbolen und feierlichen Handlungen Emotionalität zu
 
fördern und der »Entzauberung der Welt« (Max Weber) entgegenzuwirken.
 
Der dritte Gedanke präzisiert die zuvor angesprochene leitende Idee des Freimaurerbundes.
 
Er betont die Notwendigkeit, die Welt immer wieder in redlicher geistiger Arbeit
 
daraufhin zu überprüfen, wo sie nicht menschlich, nicht brüderlich, nicht tolerant ist. Dies
 
soll dem Freimaurer Maßstäbe und Motivation für sein eigenes Handeln vermitteln. Freimaurerei
 
hat kein gesellschaftlich-politisches Programm, denn sie ist keine Partei. Wo Menschenrechte
 
grob verletzt werden, kann und muss sie allerdings Stellung beziehen. Vor allem
 
aber soll die geistige Arbeit von Loge und Großloge Raum und Atmosphäre dafür schaffen,
 
dass der einzelne Freimaurer durch Information, Besinnung auf Grundwerte und vorurteilsbefreites
 
Nachdenken seinen Weg zu verantwortungsbewusster Lebensgestaltung findet.
 
Der vierte Gedanke beschreibt die Arbeit der Loge. Als Bruderbund steht sie im Zentrum
 
freimaurerischen Lebens. Das menschliche, geistige, soziale und kulturelle Miteinander
 
in der Loge allein entscheidet über die Glaubwürdigkeit der Freimaurerei. Wir sind uns
 
bewusst, dass wir unsere hohen Ansprüche nicht erreichen und dass sich auch in den Logen
 
oft egoistische Verhaltensweisen und andere menschliche Unzulänglichkeiten antreffen
 
lassen. Dennoch: Freimaurer bemühen sich stets aufs Neue, denn sie wissen, dass nur die
 
praktizierte ›Königliche Kunst‹ Lebenskraft besitzt.
 
Der fünfte Gedanke unternimmt den schwierigen Versuch, etwas zum Brauchtum des
 
Freimaurerbundes auszusagen. Dieses Brauchtum hat mit seinen Symbolen und feierlichen
 
Handlungen einen ganz besonderen, auf andere Weise nicht zu erfüllenden Auftrag: Es
 
stiftet Gemeinschaft, schafft Raum für Nachdenklichkeit, erzieht, fördert kreatives Erleben,
 
bringt Wandlung und Veränderung zum Bewusstsein, verweist auf Transzendenz. Das
 
»Buch des Heiligen Gesetzes« als eines der Hauptsymbole soll keinerlei religiös-dogmatische
 
Festlegung bedeuten. Es kann vielmehr als Sinnbild für die Gesamtheit der sittlichen
 
Normen und ethischen Werte des Freimaurerbundes verstanden werden.
 
Der sechste Gedanke behandelt die Beziehungen zwischen Freimaurerei, Weltanschauung
 
und Religion. Freimaurerei ist keine Religion, sondern ein ethischer Bund. Menschlichkeit
 
im Diesseits, nicht Jenseitsortentierung ist sein Anliegen. Offenheit für alle weltanschaulichen
 
Überzeugungen, soweit sie redlich sind und sich am Menschen orientieren,
 
gehört zu den unverrückbaren maurerischen Prinzipien. Freimaurerei berührt sich aber insofern
 
mit Religion, als sie in ihrem Brauchtum den Bezug des Menschen zur Transzendenz
 
anspricht. Freimaurerei ist nicht kirchenfeindlich, wohl aber gibt es intolerantes Gehabe
 
von Kirchen, das nicht mit Freimaurerei vereinbar ist.
 
Der siebte Gedanke schließlich spricht das freimaurerische Geheimnis an, das immer
 
noch missverstanden wird. Freimaurerei ist kein Geheimbund. Sie muss sich nicht mehr
 
durch Geheimhaltung schützen wie in Epochen der Verfolgung. Wenn sie am Geheimnis
 
festhält, so, weil es ihr auf Verschwiegenheit ankommt. Verschwiegenheit soll Vertrauen
 
ermöglichen, die einzig verlässliche Brücke von Mensch zu Mensch in einer redselig-indiskreten
 
Gesellschaft. Hierdurch soll das Wirklichkeit werden, was oft als das eigentliche
 
Geheimnis der Freimaurerei bezeichnet wird: das Entstehen brüderlicher Beziehungen zwischen
 
Menschen, die sich – wie es die »Alten Pflichten« schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts
 
gesagt haben – sonst immer fremd geblieben wären.
 
264
 
Als wir unsere Gedanken auf dem Großlogentag 1986 vorgestellt haben, fanden sie Beifall,
 
aber auch Kritik. Manche unserer Gesprächspartner empfanden sie als selbstverständlich
 
oder gar blutleer. Gewiss: Die Gedanken sollten selbstverständlich sein – aber sind sie
 
es auch? Sind lebendige geistige Arbeit, aufrichtige brüderliche Gemeinschaft und sinnerfülltes
 
Brauchtum wirklich Besitz der Logen? Sind sie nicht sehr viel mehr Verpflichtung,
 
die stets aufs Neue erfüllt werden muss? Gerade der Freimaurer mit seinen anspruchsvollen,
 
weil unbequemen Prinzipien muss sich immer wieder auf die zentralen Grundlagen seiner
 
Überzeugung besinnen. Nur so bleibt der Freimaurerbund lebendig und glaubwürdig.
 
Freimaurerei muss mehr sein als Teilbegegnung im besten Seelengewand, einmal wöchentlich.
 
Diese ganze, lebendige Freimaurerei kann nur in einer lebendigen Loge entstehen, sie
 
ist in der Tat nicht in »Gedanken« zu erschöpfen. Was wir allerdings vorschlagen wollten,
 
war eine Orientierungsplattform, war ein Kern, gedacht zum Weiterentwickeln des eigenen
 
maurerischen Selbstverständnisses und zur Klärung des Bildes von Freimaurerei in der Öffentlichkeit.
 
Noch einmal: Leitgedanken sind nicht die Freimaurerei, sie können aber helfen,
 
uns und andere immer wieder an den bleibenden Auftrag unseres Bundes zu erinnern.
 
Leitgedanken der Großloge A.F.u.A.M. von Deutschland
 
1. Die Großloge der Alten Freien und Angenommenen Maurer von Deutschland
 
Die Freimaurer der Großloge der Alten Freien und Angenommenen Maurer von Deutschland
 
bekennen sich zu den auf Würde, Freiheit und Selbstbestimmung des Menschen
 
ausgerichteten Traditionen ihres Bundes. Dieses Erbe zu bewahren und es angesichts der
 
Herausforderungen der Gegenwart in Denken und Handeln neu zu bestimmen, ist wichtigster
 
Inhalt freimaurerischer Arbeit. Damit zieht die Großloge A.F.u.A.M.v.D. zugleich
 
die Konsequenz aus der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, aus der sie hervorgegangen
 
ist. Im Bewusstsein eigener Identität wirkt sie mit den anderen Großlogen im
 
Rahmen der »Vereinigten Großlogen von Deutschland« zusammen und fühlt sich als Bestandteil
 
einer weltumspannenden Gemeinschaft.
 
2. Das Wesen des Freimaurerbundes
 
Das Wesen des Freimaurerbundes besteht in der Einheit von leitender Idee, tragender
 
brüderlicher Gemeinschaft und vertiefendem symbolischen Erlebnis. Als Glieder eines
 
ethischen Bundes treten die Freimaurer für Menschlichkeit, Brüderlichkeit, Toleranz,
 
Friedensliebe und soziale Gerechtigkeit ein. Als Gemeinschaft brüderlich verbundener
 
Menschen ist die Loge Übungsstätte dieser Werte. Als Symbolbund dient die Freimaurerei
 
der Verinnerlichung von Idee und Gemeinschaft. Hierin liegt ihre Besonderheit gegenüber
 
allen anderen Zusammenschlüssen mit verwandten Zielen.
 
3. Die geistige Arbeit
 
Freimaurer wissen, dass die Werte, zu denen sie sich bekennen, immer wieder lebendig gemacht,
 
angesichts vorhandener Gefährdung präzisiert und in stets neuem Bemühen verwirklicht
 
werden müssen. Der Freimaurerbund verzichtet darauf, politische Programme
 
zu formulieren, und nimmt nicht teil an parteipolitischen Auseinandersetzungen. Logen
 
sollen vielmehr Stätten sein, an denen durch Information und gemeinsames Nachden265
 
ken verantwortliches persönliches Handeln vorbereitet wird. Ihre unverändert wichtige
 
aufklärerische Aufgabe erfüllen die Freimaurer der Großloge A.F.u.A.M.v.D. durch Überwinden
 
von Vorurteilen, durch Entwickeln von Sensibilität für Zeitprobleme und durch
 
Bemühen um gemeinsame Wahrheitssuche.
 
4. Die Loge
 
Grundlage freimaurerischen Wirkens ist die Loge. Sie ist Zentrum geistiger Arbeit, Stätte der
 
Begegnung und Ort ernster Besinnung. Für den Erfolg ihrer Arbeit ist offenes, ehrliches und
 
hilfsbereites Miteinander Voraussetzung. Zum Zeichen engster Verbundenheit und Vertrautheit
 
nennen sich die Freimaurer untereinander »Brüder«. Am geselligen Leben der Loge nehmen
 
auch die Frauen der Mitglieder und ihre Familien teil. Trotzdem ist die Freimaurerei
 
aus Tradition ein Männerbund. Sie sieht hierin keinen Widerspruch zur Gleichberechtigung
 
von Mann und Frau, hält vielmehr Vereinigungen, die nur Männer (oder nur Frauen) umfassen,
 
für ebenso legitime wie sinnvolle Formen menschlicher Gemeinschaft.
 
5. Das Brauchtum
 
Der Freimaurerbund besitzt ein überliefertes Brauchtum, dessen Ursprung die mittelalterlichen
 
Bauhütten sind. Die rituellen Arbeiten dienen der Einfügung neuer Mitglieder in
 
die Gemeinschaft, der Vertiefung menschlicher Bindungen innerhalb der Bruderschaft,
 
der Besinnung auf die moralischen Normen des Freimaurerbundes, der Sammlung und
 
Erbauung des einzelnen Bruders. Die freimaurerischen Hauptsymbole sind das Buch
 
des Heiligen Gesetzes, das Winkelmaß und der Zirkel. Sie erinnern an die ethischen Verpflichtungen
 
des Menschen, seine Verbundenheit mit seinen Mitmenschen und seinen
 
Bezug zur Transzendenz. Die Freimaurerei verzichtet auf jede inhaltliche Festlegung religiöser
 
Symbole. Sie überlässt dies der persönlichen Überzeugung des einzelnen Bruders.
 
6. Freimaurerei, Weltanschauung, Religion
 
Freimaurerei ist ein ethischer Bund und weder Religion noch Kirche. Sie will vielmehr
 
Menschen der verschiedensten Weltanschauungen und religiösen Überzeugungen im Bewusstsein
 
verbindender Werte auf der Grundlage einer gemeinsamen Symbolsprache zusammenschließen.
 
Die Zugehörigkeit zu einer Konfessionsgemeinschaft hindert die Mitgliedschaft
 
im Freimaurerbund nicht.
 
7. Das Geheimnis
 
Die Freimaurerei ist kein Geheimbund. Geschichte, Wesen, Ziele, Satzung und Namen
 
der Vorstände von Großloge und Logen sind öffentlich zugänglich. Selbst die Rituale
 
sind oft publiziert worden. Trotzdem halten die Freimaurer an der Verschwiegenheit über
 
die Einzelheiten ihres Brauchtums fest. Dieses Schweigen schützt das Erlebnis und stiftet
 
Vertrauen.
 
Die Leitgedanken wurden verfasst von
 
Hans-Hermann Höhmann, Klaus Horneffer, Jens Oberheide
 
unter Mitwirkung von
 
Gerhard Grossmann, Hans-Joachim Jung, Friedrich Wilhelm Schmidt
 
266
 
1737–1987: Vergangene Hoffnungen
 
einlösen! 250 Jahre Freimaurerei in
 
Deutschland (1987)1
 
Deutsche Freimaurer feiern in Hamburg, und die Öffentlichkeit der Freien und Hansestadt
 
feiert mit. Die Hamburger Bürger, die im Dezember 1737 die Loge »Absalom« als erste
 
Freimaurerloge auf deutschem Boden gründeten, setzten nicht nur einen Markstein in
 
der Geschichte des Freimaurerbundes, sondern leisteten auch einen wesentlichen Beitrag
 
zur Ideen- und Sozialgeschichte der Aufklärung. Dass deutsche Freimaurer mit ihren Hamburger
 
Brüdern dieses Datum feiern, dass die Öffentlichkeit daran Interesse nimmt, hat allerdings
 
nicht nur mit Rückblick auf Vergangenes zu tun. Wichtiger – weil bleibender – ist,
 
dass damals und im weiteren Verlauf der freimaurerischen Geschichte Ideen formuliert und
 
Hoffnungen begründet wurden, die auf die Zukunft bezogen waren.
 
Dimensionen der Hoffnung
 
Die Hamburger Logengründung erfolgte zwei Jahrzehnte nach der Entstehung der Londoner
 
Großloge. Diese wiederum stand im Zeichen der wenig später formulierten »Alten
 
Pflichten«, die in der weiteren Entwicklung der Großen Loge von Hamburg immer einen
 
zentralen Platz eingenommen haben. Das Besondere der »Alten Pflichten« aber war, dass das
 
Sittengesetz anstelle religiös-dogmatischer Bindungen und staatlicher Gesinnungskontrolle
 
zum obersten Maßstab menschlichen Handelns und folglich auch zur Richtschnur für den
 
Freimaurer erklärt wurde. Gewiss empfand sich die Aufklärungsfreimaurerei nicht als politische,
 
in ihren Absichten gegen feudale Gesellschaft und absolutistischen Staat gerichtete
 
Aktionsgruppe. Doch indem die Logen neue Sozialformen nach eigenen Regeln darstellten,
 
indem sie bürgerliche Gleichheit und Offenheit, ja »Freiheit im Geheimen« (R. Koselleck)
 
praktizierten, gerieten sie potentiell mit Staat und Religion in Konflikt. Die »Alten Pflichten
 
« selbst sind ein anschaulicher Spiegel dieser Ambivalenz. Einerseits grenzen sie die Logen
 
von der Politik scharf ab (»Wir wenden uns entschieden gegen jedes Politisieren«), andererseits
 
erklären sie, dass – im Unterschied zu moralischen Verfehlungen – Widerstand gegen
 
die Obrigkeit für sich allein genommen kein Grund zum Ausschluss aus der Loge ist. Im
 
Selbstverständnis der frühen Maurer steht das Sittengesetz eben über politischer Loyalität.
 
Was das Sittengesetz inhaltlich ausmacht, ist allerdings begrifflich immer wieder neu gefasst
 
worden. Menschlichkeit, Brüderlichkeit und Toleranz sind als Ausdruck freimaurerischer
 
Überzeugungen ebenso bekannt geworden wie Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Die
 
genannten Werte waren als Maßstäbe des Sittlichen zunächst immer plakativ und vielfältiger
 
Konkretisierung offen. In der Geschichte des Bundes – und auch außerhalb der Freimaurerei
 
– wurden sie folglich unterschiedlich gewichtet und ausgelegt, was zur Quelle von Konflikten,
 
ja Spaltungen und Neugründungen verschiedener Art geführt hat. Dennoch ist die
 
Idee des Sittengesetzes und der ihm entsprechenden ethischen Werte unverzichtbar. Jede
 
1 Dieser Beitrag wurde ursprünglich veröffentlicht in: Humanität. Das deutsche Freimaurermagazin, Nr.
 
8, Dezember 1987, S. 10–12.
 
267
 
Generation von Freimaurern steht vor der Aufgabe, für sich zu bestimmen, was der Inhalt
 
sein soll. Dies setzt eine anhaltende Bereitschaft voraus, die soziale und politische Wirklichkeit
 
im Lichte ethischer Überzeugungen stets aufs Neue kritisch zu reflektieren.
 
Damit ist Freimaurerei von Anfang an mehr Prozess als Zustand, mehr Anstoß zur Frage
 
als Gewissheit der Antwort. Viele Ausdrucksformen der älteren und neueren Geschichte
 
bringen dies zum Ausdruck: Der Mensch ist »Suchender«, er »geht seinen Weg« durch die
 
Grade des Lehrlings, Gesellen und Meisters, er »misst« sich an Symbolen, soll »vom rauhen
 
zum behauenen Stein werden«. Freimaurerei ist mehr Ethos als Inhalt. Die Große Loge
 
von Hamburg etwa hatte diesen Gesichtspunkt in ihrer Verfassung ausdrücklich verankert.
 
Begriffe wie »Gesinnungsart«, »Lebenskunst«, »Mitarbeit an allem Guten« (aber auch an
 
der Bekämpfung von Übeln), »Förderung von menschlicher Glückseligkeit« (aber auch
 
Erziehung zu Pflichtbewusstsein) bringen den methodischen Ansatz zum Ausdruck. Mit
 
Hamburg verbunden ist auch Gotthold Ephraim Lessing, der in seinen »Gesprächen für
 
Freimäurer« einen weiteren Wesenszug des Bundes umriss. Freimaurer kämpfen gegen die
 
unvermeidlichen Übel der Welt, indem sie die politisch-gesellschaftlichen Trennungen zwischen
 
den Menschen überwinden helfen, die ohne Zerstörung der Gesellschaft prinzipiell
 
nicht aufhebbar sind – hier ist Lessing im Vergleich zu Marx der weitaus größere Realist
 
–, die aber dennoch nichts Positives darstellen. Freimaurer überwinden Gräben, und das
 
Mittel, das sie dazu anwenden, ist die Freundschaft. Leitmotivisch heißt es gleich zu Beginn
 
von Lessings Schrift: »Nichts geht über das laut denken mit einem Freunde«. Freimaurerei
 
»beruht auf dem gemeinschaftlichen Gefühl sympathisierender Geister«, Freimaurerei ereignet
 
sich nur, wo Freundschaft ist. Damit ist zugleich die »wahre Ontologie« der Loge aufgezeigt,
 
die, will sie lebendig sein und Kraft entfalten, ein Freundschaftsbund zu sein hat.
 
Das Sittengesetz, das aufgezeigte methodische Vorgehen und die Idee vom Menschen
 
als dem Freund, dem Mitmenschen stehen schließlich auch im Zentrum des gleichfalls als
 
Gabe der Geschichte überkommenen freimaurerischen Brauchtums. Dieses Brauchtum hat
 
mit seinen Symbolen und feierlichen Handlungen einen ganz besonderen, auf andere Weise
 
nicht zu erfüllenden Auftrag: Es stiftet Gemeinschaft, schafft Raum für Nachdenklichkeit,
 
erzieht, fördert kreatives Erleben, bringt Wandlung und Veränderung zum Ausdruck und
 
verweist schließlich auf eine übergeordnete Verantwortung des Menschen, auf seinen transzendenten
 
Bezug. Wenn Freimaurer von Beginn an das Symbol des Großen Baumeisters
 
aller Welten als zentrales Symbol verwenden, so erinnern sie daran, dass sinnvolles Leben
 
nur dann gelingen kann, wenn sich der Mensch einer höheren Ordnung verantwortlich
 
und auf diese rückbezogen fühlt. Und das Aufschlagen des Johannes-Evangeliums mit seiner
 
Mahnung, dass »das Leben das Licht der Menschen ist«, mag in einer Zeit umfassender
 
Lebensbedrohung wahrhaft aufrüttelnden Charakter besitzen.
 
Hoffnung in Gefahr
 
Die Geschichte der deutschen Freimaurerei seit 1737 ist nun in keiner Weise ein einheitlicher,
 
kontinuierlicher Prozess gewesen, in dem die aufgezeigten Hoffnungen umfassend
 
hätten eingelöst werden können. Verwoben mit der Geschichte Deutschlands generell gab es
 
Aufschwünge und Stagnation, Verbot und Unterdrückung, ungerechte Verleumdung, aber
 
auch eigene Beteiligung an reaktionär-nationalistischen Rückfällen. Zeiten äußerer Blüte wa268
 
ren zudem nicht immer auch Zeiten geistiger Profilierung und sozialer Lebendigkeit. Phasenweise
 
trat an die Stelle des aufklärerischen Erbes, sich vorwärtstreibend-kritisch zur Gesellschaft
 
in Beziehung zu setzen, die Anpassung an Zeitgeist und politisch-sozialen Status
 
quo. Phasenweise traten auch die Mächtigen den Logen bei und förderten die Tendenz mancher
 
Freimaurer, Logen und Großzogen, sich vor allem als treue Diener von Thron und Altar
 
zu verstehen. Auch erlag man zuweilen der Versuchung, die ständische Struktur der Gesellschaft,
 
die doch ursprünglich im Bund »bloßer Menschen« überwunden werden sollte,
 
in Form differenzierter Hierarchien auf Logen und Großzogen zu übertragen, und dies
 
noch zu einer Zeit, als die feudale Gesellschaft längst von der sozialen Realität überholt war.
 
Dennoch: Es besteht kein Grund zu genereller Distanzierung von der freimaurerischen Geschichte.
 
Immer, bei aller Gefährdung der Hoffnung, war die Idee der Freimaurerei lebendig,
 
und die Logen boten den Menschen Heimat und gaben ihnen Kraft. Das Ringen um die Lebendigkeit
 
der Freimaurerei, das nie nachgelassen hat, schlug sich auch in vielen lebendigen
 
Auseinandersetzungen und auch in einer Reihe von Neugründungen von Logen und Großlogen
 
nieder. Dies ist oft bedauert und als eine Ursache für den zu schwachen Widerstand
 
gegen die Welle des Nationalismus im frühen 20. Jahrhundert diagnostiziert worden. Für
 
uns heute bietet das lebendige Meinungsspektrum der Freimaurerei vor 1933 jedoch viele
 
Anregungen zum Nachdenken über die Freimaurerei der Gegenwart.
 
Mut zur alten Hoffnung
 
Wir sollten nicht von 1737 sprechen, ohne nach 1987 zu fragen. Vergleichen wir die deutsche
 
Freimaurerei der Aufklärungszeit und auch späterer Perioden mit der der Gegenwart,
 
so könnte sich zunächst Resignation einstellen. Große Namen sind selten geworden, große
 
Zahlen fehlen. Aber gibt dies wirklich den Ausschlag? Freimaurerei ging ja immer vom einzelnen
 
Menschen aus. Menschen einander näher zu bringen, die sich sonst fremd geblieben
 
wären (so die »Alten Pflichten«), heißt doch, einzigartige, individuelle Beziehungen zu
 
schaffen. Lessings »laut denken mit dem Freunde« setzt gleichfalls die kleine, überschaubare
 
Gemeinschaft voraus. Schließlich geht es auch im Ritual stets um den Einzelmenschen, seine
 
Würde, seine Anfechtungen, seine Beziehung zum Bruder. Nicht, dass wir an Wachstum
 
desinteressiert sein dürften. Unser Bund hat nicht nur Erbe, sondern auch Auftrag. Zitieren
 
wir diesen Auftrag mit den Worten der alten Hamburger Großlogenverfassung: die
 
Pflege des Wahren, Guten, Schönen im Menschentum; die Verminderung des physischen
 
und moralischen Übels in der Welt; die sittliche Veredelung seiner Mitglieder. Zum Auftrag
 
des Bundes kommt die Suche der Außenstehenden: Wir wissen, dass viele Menschen nach
 
dem streben, was dem Freimaurer, der »seine Kunst recht versteht«, am Herzen liegt: Selbstfindung
 
und Sinnfindung, Nachdenklichkeit, Geborgenheit und Schutz vor Indiskretem,
 
menschliche Offenheit und Freundschaft. Dennoch sollten wir den Mut zur kleinen Zahl
 
und den Wenigen haben. Mehr als äußeres Wachstum zählt innere Lebendigkeit. Gelingt
 
es, die »vergangenen Hoffnungen« im Kleinen einzulösen, werden sich Ausstrahlung und
 
Wachstum von selbst einstellen. Dafür, dass es lebendige Freimaurerei in Deutschland gibt,
 
stehen viele ermutigende Beispiele.
 
Fragt man sich, was eine Loge und Großloge lebendig und ausstrahlungsfähig macht, so
 
deutet die Erfahrung auf vier Prinzipien hin, die mit den Stichworten Qualität, Redlichkeit,
 
269
 
Offenheit und Konsequenz umrissen werden können. Qualität bedeutet, hohe Maßstäbe
 
an uns selbst und unsere Logen anzulegen. Das beginnt mit sorgfältigster Auswahl der
 
Suchenden, setzt sich fort über ein hohes Niveau des rituellen, gesellschaftlichen und
 
geistigen Lebens von Loge und Großloge und fordert von jedem Einzelnen den anspruchsvollen
 
Umgang mit sich selbst und seinem Bruder. Redlichkeit meint vor allem, uns selbst
 
und unseren Bund richtig einzuschätzen. Eine Gemeinschaft, die viel zu geben hat, kann
 
es sich leisten, auch die Fehlentwicklungen von Vergangenheit und Gegenwart einzugestehen.
 
Schließlich gehören Suchen und Irren nun einmal zusammen. Offenheit bedeutet
 
dreierlei: Offenheit für neue Menschen (Qualität vorausgesetzt!), Offenheit für den Bruder
 
in der Loge und Offenheit für die Probleme der Zeit, die den Einzelnen beschäftigen
 
und nach Orientierung suchen lassen. Dies bedeutet keine Politisierung der Logen, kann
 
sich wohl aber als indirekte politische Kraft erweisen, wie dies schon für die Logen der
 
Aufklärungszeit charakteristisch war. Wenn der Freimaurer nach alter Lehre dem Sittengesetz
 
gehorchen soll, wenn er sich zu einem sinnvollen Lebens- und Weltentwurf bekennt,
 
dann sollte er mit seinen Brüdern danach fragen können, wie es um die Verwirklichung
 
seiner Wertvorstellungen in der Realität bestellt ist. Er sollte Orientierung finden, sein Urteil
 
schärfen, Vorurteile ablegen und zu individuellem Handeln motiviert werden können.
 
Schließlich überzeugt Freimaurerei nur, wenn sie konsequent ist. Unser Bund formuliert
 
hohe Ansprüche. Wir sollten so handeln, dass wir bestehen, wenn andere uns selbst mit
 
diesen Ansprüchen messen.
 
Die Vergangenheit, so zeigt der Rückblick auf 250 Jahre Geschichte der Freimaurerei in
 
Deutschland, hat Hoffnungen geweckt. Diese Hoffnungen kreisen um Würde, Freiheit und
 
Selbstbestimmung des Menschen. Die Geschichte hat zugleich den ganzen Reichtum von
 
Ideen, Ausdrucksformen und brüderlicher Gemeinschaft hervorgebracht, der das Wesen
 
unseres Bundes ausmacht. Die Geschichte hat freilich auch die Möglichkeit des Scheiterns
 
aufgezeigt. Hieraus kann der Schluss gezogen werden, dass Freimaurerei durch jede Generation
 
von Freimaurern neu entsteht. Ob 1737 ein Datum mit Glanz ist, hängt davon ab, ob
 
wir in der Lage sind, diesen Glanz zu reflektieren. Worauf es dabei ankommt, haben Horkheimer
 
und Adorno in der Vorrede zu ihrer »Dialektik der Aufklärung« zum Ausdruck
 
gebracht: »Nicht um die Konservierung der Vergangenheit, sondern um die Einlösung der
 
vergangenen Hoffnung ist es zu tun.«
 
270
 
Lessing und die Freimaurerei der
 
Gegenwart (1991)1
 
Immer wieder gehen Freimaurer auf die Suche nach Selbstverständnis und Identität. Dies
 
verwundert nicht. Hängt doch die Entwicklung des Bundes ausschließlich davon ab, ob es
 
gelingt, Freimaurerei überzeugend zu begründen und engagiert zu praktizieren. Diese Aufgabe
 
leistet für uns kein Lehramt und keine verbindliche Ideologie. Viele Ansätze sind möglich
 
und können miteinander konkurrieren. Ich will in diesem Beitrag da auf die Suche gehen,
 
wo längst überzeugende Antworten gefunden wurden: Bei Lessing und seiner in Ernst
 
und Falk vorgenommenen Wesensbestimmung (»wahren Ontologie«) der Freimaurerei. An
 
Lessings Wort angelehnt frage ich: Was ist von den spekulativischen Wahrheiten des großenAufklärers
 
für heute gemeinnütziger und dem Logenleben ersprießlicher zu machen? Ich
 
könnte auch direkter fragen: Hilft uns Lessing bei der Erarbeitung eines freimaurerischen
 
Selbstverständnisses für die Gegenwart?
 
Das Vorhaben einer gegenwartsbezogenen »Lessingnahme« ist als solches keineswegs
 
neu und originell. Immer wieder wurde versucht, Lessing im Allgemeinen und Ernst und
 
Falk im Besonderen für jeweils konkrete freimaurerische Begründungsbedürfnisse zu nutzen.
 
Aus der Schrift in Vorträgen, Tempelzeichnungen und Artikeln zu zitieren, war seit
 
jeher weit verbreitet. Allerdings wurden dabei Gesamtheit und Dialektik des Ansatzes oft
 
verfehlt, so dass von Lessings geschlossenem Entwurf meistens nicht viel mehr übrig blieb
 
als ein Steinbruch für Zitate. »Freimaurerei war immer«, »Freimaurerei ist nichts Willkürliches,
 
nichts Entbehrliches«. Wer von uns kennte und schätzte solche Worte nicht, wer
 
hätte sich ihrer nicht gern und oft bedient. Doch was fast regelmäßig verloren ging, ist die
 
komplexe Vielschichtigkeit des Lessing’schen Freimaurerbegriffes und die eminente Bedeutung
 
von Ernst und Falk als freimaurerkritischer Schrift.
 
Auch (und vielleicht gerade) die humanitäre Freimaurerei war – indem sie Lessing unter
 
Verzicht auf Reflexion zu ihrem Heros machte und es versäumte, den mehrdimensionalen,
 
ja kritisch-widersprüchlichen Charakter seines Freimaurerbegriffes auszuloten, – nur sehr
 
partiell in der Lage, Lessing wirklich produktiv zu rezipieren. Der Autor von Ernst und
 
Falk war sich der drohenden Verständnisschwierigkeiten im Übrigen durchaus bewusst und
 
fasste Claudius gegenüber seine Skepsis in die Worte: »Es sollte mich wundern, wenn es
 
nur einer richtig versteht.«
 
Standortbestimmung erforderlich
 
Wie sinnvoll der Rückgriff auf Lessing für heutige Standortbestimmungen ist, soll später erprobt
 
werden. Doch zuvor ist zu fragen, ob es überhaupt eine »wahre Ontologie«, eine Wesensermittlung
 
der Freimaurerei also, für unsere Zeit geben kann, ob ein Konsens der Brüder
 
hierüber möglich ist, ja ob eine solche Übereinstimmung überhaupt wünschenswert wäre?
 
Zunächst lässt sich wohl feststellen, dass es tatsächlich eine Fülle »wahrer Ontologien« bzw.
 
1 Dieser Beitrag wurde ursprünglich veröffentlicht in: Humanität. Das deutsche Freimaurermagazin, Nr.
 
7, Oktober/November 1991, S. 13–17.
 
271
 
»freimaurerischer Selbstverständnisse« gibt, die mehr oder weniger durchdacht und ausformuliert
 
sind. In jeder Logendiskussion, jedem Heft der »Humanität« treten sie uns entgegen.
 
Die außerordentliche Spannbreite der Definition sollte dabei nicht überraschen. Einmal
 
ist Freimaurerei nicht auf klar bestimmte konkret-operative Aufgaben festgelegt, woraus
 
sich folglich auch keine präzise, von klaren Zielen abgeleitete Bestimmung des Begriffes
 
»Freimaurerei« ergeben kann. Zum andern vertritt die Großloge A.F.u.A.M. eine konzeptionell
 
weitgehend »offene« Freimaurerei, was gleichfalls eine Fülle unterschiedlicher subjektiver
 
Wesensbestimmungen möglich macht. Dies ist im Prinzip durchaus in Ordnung. Schädlich
 
ist nur zweierlei: Erstens die Komplexitätsverkürzung, die mit vielen der gängigen Definitionen
 
wie »Mysterienbund«, »Geisteshaltung«, »Kulturtechnik«, »initiatische Gemeinschaft«
 
etc. verbunden ist, und zum zweiten die ganz und gar unfreimaurerische Neigung, solche Definitionen
 
absolut zu setzen und sie nicht als verschiedene koexistenzfähige Aspekte des vielschichtigen
 
Phänomens »Freimaurerei« zuzulassen.
 
Einerseits diese Vielfalt, andererseits die Notwendigkeit, nach innen und außen ein klares
 
Bild zu entwickeln und glaubwürdig zu sein, macht es erforderlich, immer wieder an einer
 
gemeinsamen freimaurerischen Grundorientierung zu arbeiten. Dies kann allerdings auch
 
ganz anders gesehen werden. Gerade die scheinbar willkürliche, widersprüchliche, ja zuweilen
 
chaotisch anmutende Erscheinungsweise der Freimaurerei repräsentiert für manchen von
 
uns den dringend erwünschten Kontrapunkt zur Zweckrationalität des Alltags. Konsequenz
 
und Glaubwürdigkeit gelten deshalb gelegentlich geradezu als kontraproduktiv.
 
Ich habe durchaus Sympathie für diesen Standpunkt, denn unprätentiöse Buntheit gefällt
 
auch mir besser als anspruchsvolles Pathos ohne konzeptionelle Grundlage und intellektuelle
 
Redlichkeit. Dennoch halte ich den Diskurs um das freimaurerische Selbstverständnis
 
unserer Zeit, ja das Entstehen miteinander diskutierender »Denkschulen« innerhalb unseres
 
Bundes für dringend erforderlich, und zwar erstens wegen der unbefriedigenden Lage der
 
Freimaurerei in Deutschland und zweitens wegen der Zuspitzung von Krisenerscheinungen
 
in der heutigen Welt, mit denen sich der humanitäre Freimaurer – by his tenure – nun einmal
 
auseinanderzusetzen hat.
 
Zur Freimaurerei in Deutschland in aller Kürze Folgendes: Der Bestand unseres Bundes
 
ist nicht unmittelbar gefährdet. Doch muss bedenklich stimmen, dass trotz Dynamik und
 
guter Entwicklung vieler Bruderschaften nicht wenig kleine und überalterte Logen in ihrer
 
Existenz bedroht sind, ja dass man im Einzelfalle auch um ganze Distrikte besorgt sein
 
muss. Sicherlich arbeiten viele Gruppen und einzelne Brüder unserer Großloge intensiv
 
und erfolgreich. Ob allerdings diese Arbeit dem Bund insgesamt zugute kommt, ob innerer
 
Glanz zugleich auch Ausstrahlung nach außen bedeutet, ob die aktiven Maurer auch die
 
gesamte Bruderschaft bereichern, ob sich unsere in besonderem Maße »würdigen Männer
 
von gehöriger Anlage« (Lessing) im Sinne der dringend erwünschten »Elitenzirkulation« für
 
Leitungsfunktionen zur Verfügung stellen oder ob sich nicht allzu oft ein steriles »Ämterkarussell
 
« dreht – das sind durchaus offene Fragen. Sind solche Fragen aber berechtigt, verlangen
 
sie gar dringend nach Antwort, so hilft – meine ich – nur eine verstärkte Selbstverständnisdiskussion,
 
und was wiederum Lessing dabei helfen kann, ist gleich weiter auszuloten.
 
Ich hatte als zweiten Grund für diese Selbstverständniserörterung die Krise der Welt um
 
uns herum genannt. Die moderne Entwicklung seit der Aufklärung hat große Errungenschaften
 
gebracht. Sie hat aber auch zu sich häufenden Problemen geführt, die eine erneute
 
Wende erforderlich machen. Bedrohungen nehmen zu, und Trennungen reißen auf: Tren272
 
nungen zwischen Menschen, Gesellschaften und Kulturen, zwischen Mensch und Natur,
 
innere Trennungen und Entfremdungen des Menschen. Hier kann und darf die Freimaurerei
 
nicht abseits stehen, hier sollte sie am Einlösen ihrer eigenen »vergangenen Hoffnungen«
 
arbeiten, etwa der Utopie der Weltbruderkette, hier sollte sie freimaurerisches Handeln nicht
 
an andere delegieren, sondern ihren Beitrag zum Überwinden der genannten Trennungen
 
leisten.
 
Überwinden von Trennungen aber ist nichts anderes als das große Thema Lessings in
 
Ernst und Falk. Fragen wir also: Was hilft uns Lessing heute, kann seine »wahre Ontologie
 
der Freimaurerei« auch die unsere sein, lässt sich seine Schrift mit Gewinn im Kontext gegenwärtiger
 
Freimaurerei interpretieren?
 
Lessings Argumentation
 
Ausgangspunkt Lessings in Ernst und Falk – und damit zentraler Angelpunkt seiner freimaurerischen
 
Anthropologie – ist die »Glückseligkeit jedes einzelnen Menschen«. Staat und bürgerliche
 
Gesellschaft sind für die Menschen geschaffen, damit »in dieser Vereinigung jeder
 
einzelne von ihnen seinen Teil von Glückseligkeit desto besser und sicherer genießen kann«.
 
Überindividuelle, kollektivistisch-ideologische Staatszwecke lehnt Lessing ab: »Jede andere
 
Glückseligkeit des Staates« – so heißt es weiter (und hier liegt auch der Kern von Lessings Kritik
 
am Preußen Friedrichs) – »bei welcher auch noch so wenig einzelne Glieder leiden und leiden
 
müssen, ist Bemäntelung der Tyrannei. Anders nicht!«
 
Aber Staat und bürgerliche Gesellschaft können nur vereinigen, indem sie die Menschen
 
zugleich trennen. Auch die beste Staatsverfassung kann nicht die Existenz mehrerer Staaten
 
verhindern. Der universelle Weltstaat wäre aufgrund seiner ungeheuren Dimension keiner
 
Verwaltung fähig. Mehrere Staaten aber haben unterschiedliche Interessen, Gewohnheiten
 
und Sitten, folglich unterschiedliche Sittenlehren und deshalb wiederum verschiedene Religionen.
 
Aber nicht nur in verschiedene Völker und Religionen teilt und trennt die bürgerliche
 
Gesellschaft, nein, in Form der unterschiedlichen Stände setzt sie ihre Trennungen gleichsam
 
bis ins Unendliche fort.
 
Diese Trennungen sind schrecklich, aus ihnen folgt das Übel der Welt, und dennoch sind
 
sie – dies sieht Lessing viel realistischer als hundert Jahre später Marx – prinzipiell unaufhebbar:
 
Würde doch ihre Beseitigung Staat und Gesellschaft selbst zerstören. Von Übel ist
 
auch die Rückwirkung der Trennungen auf die Menschen, denn »wenn jetzt ein Deutscher
 
einem Franzosen, ein Franzose einem Engländer … begegnet, so begegnet nicht mehr ein
 
bloßer Mensch einem bloßen Menschen, die vermöge ihrer gleichen Natur gegeneinander
 
angezogen werden, sondern ein solcher Mensch begegnet einem solchen Menschen, die
 
ihrer verschiedenen Tendenz sich bewußt sind, welches sie gegeneinander kalt, zurückhaltend,
 
mißtrauisch macht, noch ehe sie für ihre einzelne Person das geringste miteinander zu
 
schaffen und teilen haben«.
 
Mit der gleichen Notwendigkeit, wie die Menschen den Staat brauchen, wie dann aber
 
Trennungen entstehen zwischen Völkern, Religionen und Ständen, wie diese Trennungen
 
wiederum mit unvermeidbaren Übeln verbunden sind, muss es nun Menschen geben, die
 
durch Taten besonderer Art, Taten nämlich, die überflüssig machen, was man gemeinhin
 
»gute Taten« nennt (und was wir heute als Sozialpolitik bezeichnen), die durch Taten also
 
273
 
die genannten schrecklichen Trennungen so weit als möglich aufheben. Doch nicht alle
 
Menschen sind zu solchen Taten befähigt, nur eine Elite wirkt an diesem guten Werk (am
 
»opus supererogatum«) mit. Diese Menschen, die weisesten und besten eines jeden Staates,
 
aber sind die Freimaurer, die es »mit zu ihrem Geschäft gemacht haben, die Trennungen,
 
durch die die Menschen einander so fremd werden, wieder so eng wie möglich zusammenzuziehen
 
«.
 
Freimaurerei als jetzt und in Zukunft wahrzunehmende gesellschaftliche Funktion und
 
Freimaurerei als reale historische Erscheinung fallen allerdings nicht zwangsläufig zusammen,
 
denn »Loge verhält sich zur Freimaurerei wie Kirche zum Glauben«. Hier setzt der
 
freimaurerkritische Schriftsteller Lessing ein, der eine anregende, aber auch unbequeme
 
Lektüre zur Frage bietet, wie weit die jeweils konkret-historische Freimaurerei von der »Wesenheit
 
« Freimaurerei abfallen und Freimaurerei sich sozusagen von sich selbst entfernen
 
kann. Falk (Lessing) kritisiert aber nicht nur das zu seiner Zeit verwirklichte »konkrete
 
Schema der Freimaurerei«, er stellt auch den Ansatz einer institutionalisierten Freimaurerei
 
überhaupt in Frage, beruhe Freimaurerei doch »im Grunde nicht auf äußerliche Verbindungen,
 
die so leicht in bürgerliche Anordnungen ausarten«, sondern auf dem »gemeinschaftlichen
 
Gefühl sympathisierender Geister«. Freimaurerei ist ein Freundschaftsbund.
 
Trennungen durch und in Freundschaft zu überwinden, über die »wichtigsten Dinge« laut
 
mit dem Freunde nachzudenken, darin bestehen die Taten der Freimaurer. Lessing spricht
 
vom Hang, »in und neben der großen bürgerlichen Gesellschaft, kleinere vertraute Gesellschaften
 
zu bilden« und definiert am Ende seiner Schrift Freimaurerei als die Gesellschaft,
 
»die sich von der Praxis des bürgerlichen Lebens zur Spekulation erhebt, um zu untersuchen,
 
was unter dem Brauchbaren (d.h. dem Tatsächlichen) wahr ist«.
 
Insgesamt lässt Lessings vielschichtiger Begriff von Freimaurerei mindestens vier verschiedene,
 
bis heute fruchtbare Aspekte erkennen:
 
• Freimaurerei »ihrem Wesen nach«, d.h. als gesellschaftliche Funktion, Trennungen zu
 
überwinden, und als solche »ebenso alt wie die bürgerliche Gesellschaft«;
 
• Freimaurerei als Elite der Weisesten und Besten, die die genannte gesellschaftliche Funktion
 
des Brückenschlags zwischen Nationen, Religionen und Ständen ausübt;
 
• Freimaurerei als historisch-konkrete Erscheinung des ausgehenden 18. Jahrhunderts, die
 
von Lessing überwiegend kritisch behandelt wird, und schließlich
 
• Freimaurerei als Freundschaftsbund, als Mitmenschlichkeit im Dialog, (»Nichts geht
 
über das laut denken mit einem Freunde«), als helfende Methode auch, durch Fragen
 
dem Gesprächspartner zu Wissen und klaren Begriffen zu verhelfen.
 
Auf heute übertragen ergeben sich folgende Konsequenzen:
 
Zunächst: Lessings Verständnis der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Trennungen lässt
 
sich auf die Freimaurerei übertragen. Auch der Freimaurerei geht es um den konkreten Einzelmenschen,
 
seine Freiheit und Würde, rituell bestimmt durch seine individuelle Initiation.
 
Um diese zu vermitteln, bedarf es der Vereinigung zur Freimaurergruppe, zur Loge,
 
zur Großloge. Diese Freimauergruppen aber sind wie Staat und Gesellschaft: Sie vereinigen
 
nicht nur, sondern sie trennen auch. Und während sie institutionell-organisatorisch trennen,
 
verändern und verwandeln sie die Menschen in den Logen: Aus bloßen Brüdern werden solche
 
Brüder, Brüder unterschiedlicher Logen mit zuweilen gegensätzlichen Interessen, Brüder
 
274
 
verschiedener Großlogen und Lehrarten, anglophile und frankophile Brüder, Brüder mit hohen
 
Graden und Brüder ohne solche, »reguläre« Brüder und – horribile dictu – »irreguläre«
 
gar und so weiter und so fort. Die Folge ist, dass aufgrund dieser Trennungen alles andere
 
als ein hohes Konfliktpotential innerhalb der Freimaurerei erstaunlich wäre. Deshalb bedarf
 
es immer wieder intensiver Anstrengungen, um die unvermeidlichen, aber keineswegs guten,
 
ja – mit Lessing – durchaus »schrecklichen« Trennungen zwischen den Brüdern zu überwinden:
 
es bedarf permanent der Freimaurerei in der Freimaurerei!
 
Wichtiger sind allerdings die Konsequenzen, die sich aus Lessings Einordnung der Freimaurerei
 
in umfassende gesellschaftliche Zusammenhänge ergeben. Vor allem vier Gesichtspunkten
 
kommt eine aktuelle Bedeutung zu:
 
Erstens: Lessing kann uns helfen, die alte, doch auch für uns entscheidende Frage zu klären,
 
»was und warum Freimaurerei ist, wann und wo sie gewesen, wie und wo sie befördert oder
 
gehindert wird«. Lessings Antwort ist: Freimaurerei ist da lebendig und nur da, wo sie eine
 
gesellschaftliche Funktion wahrnimmt, wo sie mit der Gesellschaft in einer Beziehung von
 
Herausforderung und Antwort verknüpft ist, wo sie durch »wahre Taten«, das heißt Überwindung
 
von Trennungen, langfristig und dauerhaft Gutes bewirkt. Fazit für heute: Die Lebensfähigkeit
 
des Freimaurerbundes kann nur durch Wahrnehmen notwendiger gesellschaftlicher
 
Funktionen gesichert werden. Wir müssen sie bestimmen und ausüben!
 
Zweitens: Lessing macht uns aufmerksam, dass Freimaurerei sich selbst verfehlen kann. Daher
 
ist das jeweilige »heutige Schema« des Bundes immer wieder kritisch zu überprüfen, ja
 
wir müssen uns mit Lessing der bohrend provozierenden Frage stellen, ob Freimaurerei im
 
Sinne seiner »wahren Ontologie« im heutigen Freimaurerbunde überhaupt noch möglich
 
ist. Vielleicht hilft da die schlichte Frage: Möchte ich in einer Gesellschaft leben, die nach
 
dem Modell meiner Loge gestaltet ist? Auch müssen wir – wenn wir Lessing folgen – wohl anerkennen,
 
dass es Freimaurerei auch außerhalb der Freimaurerei gibt, ja dass wir Freimaurer
 
nur ein kleiner Teil dieser Freimaurerei sind, und auch dies nur, wenn wir – mit Lessing – »da
 
herum arbeiten«, nämlich da, wo es gilt, gegen die Trennungen zu arbeiten.
 
Drittens: Institutionen wie Logen, Großlogen, bruderschaftliche Vereinigungen sind – was
 
ihren Charakter als Organisationsformen betrifft – von relativ geringer Bedeutung. Entscheidend
 
ist »das gemeinschaftliche Gefühl sympathisierender Geister«, von Bedeutung allein
 
sind die Taten der Freundschaft. Freimaurer sind vor allem Freunde, die gemeinsam nachdenken,
 
die nicht mit Vorurteilen und Ideologien gegeneinander vorgehen, die kritisch sind
 
und offen. Fazit: Nur Männer aufnehmen, die Freunde sein können!
 
Viertens: Suchen wir schließlich Orientierungen für unser Handeln, so ist es wohl auch hier
 
Lessing gewesen, der bis heute gültige Maßstäbe vorgeben hat:
 
»Über die Vorurteile der Völkerschaft hinweg sein und wissen, wo Patriotismus Tugend zu
 
sein aufhört« – das begründet den Maßstab Frieden.
 
»Den Vorurteilen der angeborenen Religion nicht zu unterliegen und nicht zu glauben,
 
dass alles gut und wahr ist, was man für gut und wahr hält«, das postuliert Toleranz.
 
Verhältnisse zu schaffen, »wo der Geringe sich dreist erhebt«, – das meint und verpflichtet
 
zu Gerechtigkeit.
 
275
 
So sind Friede, Toleranz und Gerechtigkeit zentrale Orientierungen freimaurerischer
 
Verantwortung. Anders formuliert, wo Toleranz, Gerechtigkeit und Frieden in Frage gestellt
 
sind, müssen gesellschaftliche Probleme zu Herausforderungen des Freimaurers werden.
 
Das Rituelle wird von Lessing weitgehend ausgespart. Dies hängt sowohl mit der Intention
 
seiner »wahren Ontologie« zusammen als auch mit dem rituellen Wirrwarr der Zeit
 
und dem fehlenden eigenen Zugang zu Logenveranstaltungen. Nehmen wir jedoch das
 
Ritual als sinnlich-bildhaften Ausdruck, riskieren wir die Gleichsetzung von Ritual und
 
Kunstwerk, so finden wir bei Lessing durchaus eine fruchtbare Deutung des Wechselspiels
 
von Ritual und maurerischer Idee. Lessing sagt nämlich von Laokoon in seiner gleichnamigen
 
Schrift, was (wie von jeder großen Kunst) auch vom Ritual zu sagen ist: »Dasjenige
 
aber ist allein fruchtbar, was der Einbildungskraft freies Spiel läßt. Je mehr wir sehen, desto
 
mehr müssen wir hinzudenken können. Und je mehr wir dazu denken, desto mehr müssen
 
wir zu sehen glauben.«
 
Zusammenfassend: Es lohnt sich, Lessings Ernst und Falk immer wieder neu zu lesen, und
 
zwar im Zusammenhang und nicht selektiv als Sammlung von Zitaten. Seine »wahre Ontologie
 
« kann durchaus die unsere sein. Sein Geist ist undogmatisch frisch, und seine Argumentation
 
hilft wirklich, eigentliches Wesen und konkret realisierte Form der Freimaurerei
 
mit all ihren Ärgerlichkeiten voneinander zu trennen. Lessing formuliert die gültig gebliebenen
 
Ziele der Freimaurerei und vermittelt unverzichtbare Maßstäbe für die erforderliche
 
kritische Selbstaufklärung. Gewiss: Heute fehlt dem Freimaurerbund der Rückenwind des
 
Zeitgeistes, der die Aufklärungsmaurerei so kräftig beförderte, und wir sind selber gefordert,
 
jeder von uns, nach den Maßstäben unserer Ideen und Symbole zu handeln.
 
Wir haben allerdings einen vortrefflichen Lehrer: Lessing!
 
276
 
Herausforderung Deutschland.
 
Überlegungen nach der deutsch-deutschen
 
Vereinigung (1991)1
 
Seit dem 3. Oktober 1990 ist Wirklichkeit, was noch vor einem Jahr niemand erwarten konnte:
 
Die staatliche Einheit der Deutschen in einer neuen, größeren Bundesrepublik ist wieder
 
hergestellt. Uns erfüllt Freude darüber, denn die deutsche Vereinigung bedeutet das Ende
 
von Unfreiheit und ideologischer Bevormundung in den Ländern der ehemaligen DDR,
 
bringt die Rückkehr von Bürgerrechten, gesellschaftlichem Pluralismus und Demokratie und
 
schafft langfristig auch die Voraussetzungen dafür, dass die Deutschen im Osten am hierzulande
 
erreichten
 
Wohlstand teilhaben können. Bei aller Freude des Neubeginns ist allerdings
 
Nachdenklichkeit
 
angebracht, und es verbieten sich platter Überschwang und falsches nationales
 
Pathos. Eine realistische Betrachtung gibt ja kritischen Beobachtern nur allzu recht,
 
die schon frühzeitig feststellten: Die Einheit ist erreicht, aber die eigentliche Vereinigung in
 
einem möglichst homogenen politisch-sozialen Lebensraum mit gleichen Entfaltungsmöglichkeiten
 
und übereinstimmenden materiellen Bedingungen, eingeordnet in ein vereintes
 
Europa und offen für die globalen Probleme unserer Zeit, ist eine von den Deutschen noch
 
zu leistende Aufgabe, ist eine Herausforderung, die Antwort, die Verantwortung verlangt.
 
Herausforderung für den Bürger und Bruder
 
Deutschland als Herausforderung – dies gilt auch für uns Freimaurer, und so hat der vorige
 
Großlogentag in Königswinter der Bruderschaft der Großloge A.F.u.A.M. aus gutem Grund
 
zur Bearbeitung das Jahresthema aufgegeben: »Die deutsche Vereinigung als Herausforderung
 
für das Denken und Handeln des Freimaurers«.
 
Dieses Thema hat viele Aspekte, zunächst für den Bruder als Bürger, dann aber auch
 
für den Bruder als Freimaurer.
 
Wie immer, so ist auch hier der Bürger in uns aufgerufen,
 
nach eigener Verantwortung zu handeln. Eine Großlogenmeinung zur deutschen Vereinigung
 
gibt es nicht. Was es aber gibt, wozu uns unser Jahresthema einlädt und wofür die
 
Logen den Rahmen bieten können, ist das Gespräch über die deutschen Dinge, das »laut
 
denken mit dem Freunde«. Hierdurch kann dem einzelnen Bruder geholfen werden, sich
 
ein Urteil zu bilden und sich auf politisches Handeln vorzubereiten. Hierdurch kann zu
 
jener Sensibilität für politisch
 
Nötiges und Mögliches beigetragen werden, auf die es vor
 
allem ankommt, um die Probleme der deutschen Vereinigung in den Griff zu bekommen.
 
Hierdurch kann patriotisch oberflächlichen wie desinteressierten oder gar resignierenden
 
Einstellungen entgegengewirkt werden.
 
Kurz: Es gibt zwar kein »Deutschlandbild« der Freimaurerei, aber die Loge hat die
 
Chance, sich als »sichere Stätte« für Nachdenken und Diskurs über das Woher und Wohin
 
Deutschlands in Europa und in der Welt zu bewähren. Einige Aspekte aus meiner Sicht
 
sollen im Folgenden zu einem solchen Diskurs beigesteuert werden.
 
1 Dieser Beitrag wurde ursprünglich veröffentlicht in: Humanität, Das deutsche Freimaurermagazin, Nr. 1,
 
Januar/Februar 1991, S. 9–12.
 
277
 
Aspekte der politischen Vereinigung
 
Der deutsch-deutsche Vereinigungsprozess hat viele Ebenen und vollzieht sich in unterschiedlichen
 
Geschwindigkeiten. Bei der Angleichung politischer Institutionen verläuft die
 
Entwicklung zweifellos am zügigsten. Die staatliche Einheit ist hergestellt. Formen und Verfahren
 
der parlamentarischen Demokratie sind in die neuen Bundesländer übernommen
 
worden.
 
Parteien haben sich gebildet. Wahlen wurden durchgeführt. Eine andere Frage ist
 
freilich, ob sich Politikfähigkeit und Bürgerbewusstsein ebenso schnell entwickeln konnten
 
wie die Institutionen der Demokratie, denn die lange Zeit der Diktatur bedeutete ja eine
 
ebenso lange Abwesenheit von eigentlicher Politik im Sinne des Gegeneinanders und Miteinanders
 
unabhängiger
 
politischer Kräfte. Hier sind sicher noch Lernprozesse erforderlich.
 
Anlass zu Überheblichkeit
 
und Misstrauen unsererseits besteht freilich nicht: War es doch
 
vor allem der vernehmliche
 
Protest mutiger Bürger, der den krisengerüttelten Spät-Totalitarismus
 
des Honecker-
 
Regimes so schnell und gründlich zum Einsturz brachte.
 
Die deutsche Vereinigung markiert nicht nur einen Wendepunkt in der politischen Entwicklung
 
der ehemaligen DDR. Sie bedeutet auch eine historische Zäsur für die Menschen
 
in der alten Bundesrepublik. Die demokratische Identität hierzulande lebte ja seit dem
 
Ende des Zweiten Weltkrieges in starkem Maße vom Ost-West-Gegensatz. Jetzt kommt
 
für ganz Deutschland die Stunde der Bewährung einer von den Denkmustern des Kalten
 
Krieges unabhängigen,
 
sich gleichsam selbst tragenden demokratischen politischen Kultur.
 
Der Zusammenbruch
 
des real existierenden Sozialismus hinterlässt zwar tiefe Spuren,
 
vermag aber nicht deutsche Politik langfristig mit positiven Inhalten zu füllen. Ob ganz
 
Deutschland in demokratischem
 
Sinne zukunftsfähig ist, darauf kommt es an. Dazu gehört
 
vieles und ich nenne nur einige zentrale Elemente: die endgültige Anerkennung der heutigen
 
Grenzen, das Bekenntnis, dass vom Boden Deutschlands nie wieder Krieg ausgehen
 
darf, und die entschlossene Festigung
 
des sozialen Rechtsstaats, dessen Bürger sich alle
 
Rückfälle in vor- und undemokratische Mentalitäten versagen.
 
Deutschland in Europa und der Welt
 
Das demokratische Deutschland ist zugleich ein europäisches Deutschland. Die alte Bundesrepublik
 
war auf dem Weg nach Europa, zum Binnenmarkt 1993, zur politischen Union.
 
Für das vereinigte Deutschland muss diese europäische Orientierung in einem erweiterten
 
Sinne selbstverständlich werden. Die Verankerung im Westen muss bleiben, vor allem als
 
Verankerung Deutschlands in westeuropäischer politischer Kultur. Doch zugleich gilt es,
 
die europäische Mittellage als Brücke nach Zentral- und Osteuropa zu nutzen. Die Länder
 
Osteuropas,
 
in denen der spättotalitäre Staatssozialismus zusammenbrach, gehören zu Europa
 
und sie brauchen, um politisch und wirtschaftlich zu überleben, die Hilfe des Westens.
 
Wenn Vaclav Havel, zur Zeit der Unterdrückung engagierter Bürgerrechtler und heute Präsident
 
der Tschechoslowakischen Föderativen Republik, für die frei gewordenen Länder in der
 
Mitte und im Osten unseres Kontinents eine »Rückkehr nach Europa« ankündigt, so muss
 
klar sein, dass es eine solche Rückkehr ohne westliches Entgegenkommen nicht geben kann.
 
Hierzu gehört wirtschaftliche Hilfe, insbesondere aber auch das Öffnen westeuropäischer
 
Institutionen
 
für die Länder Zentral- und Osteuropas. Ein solches Verhalten liegt nebenbei
 
278
 
auch im wohlverstandenen Selbstinteresse des Westens; denn die politisch höchst unerfreulichen
 
Alternativen
 
wären politische
 
Destabilisierung mit der Gefahr
 
autoritärer Rückfälle,
 
neuer Nationalismus,
 
ökonomisch-ökologische Dauerkrise und Anschwellen einer europäischen
 
Ost-West-Völkerwanderung. Europa ist dabei weit zu fassen. Auch hier ist dem
 
Wort des Bundespräsidenten nichts hinzuzufügen: Die Westgrenze der UdSSR darf nicht
 
zur Ostgrenze Europas werden. Dauerhafte Reformchancen haben die Republiken der sich
 
auflösenden Sowjetunion nur, wenn sie von europäischer politischer Kultur geprägt und in
 
europäische
 
Institutionen einbezogen werden.
 
Offenheit für Europa meint zugleich ein offenes Europa in einer sich verändernden
 
Welt. Die gesamteuropäische Dimension hat diese Welt einerseits für Deutschland größer
 
gemacht. Andererseits wird diese Welt zusehends kleiner, zunehmender Problemdruck lässt
 
die Länder der Welt zusammenrücken. Der in Anbetracht der Golfkrise wieder unsicherer
 
gewordene Friede, die zunehmende Wohlstandspolarisierung in reiche und arme Völker,
 
die drohende globale Umweltkatastrophe: All das erfordert über die deutsche und europäische
 
Verantwortung
 
hinaus auch eine globale Verantwortung, und der Zusammenbruch des
 
»real existierenden
 
Sozialismus« bedeutet nicht, dass die ihm überlegenen Strukturen und
 
Instrumente gegenwärtiger
 
westlicher Politik und Wirtschaft zur Bewältigung der vor uns
 
liegenden globalen Oberlebensprobleme
 
wirklich ausreichen.
 
Schwerwiegende Wirtschaftsprobleme
 
Im Vergleich zur politischen Vereinigung
 
erweist sich die wirtschaftliche Vereinigung, d.h. die
 
Angleichung von Wohlstand, Arbeitswelt und Sozialverhältnissen
 
in den neuen Bundesländern
 
als weitaus schwieriger. Wie zu vermuten war, hat die Währungs-
 
und Wirtschaftsunion als
 
Schock gewirkt, dem nun die Therapie zu folgen hat. Die bürokratische Planwirtschaft hat
 
eine verheerende ökonomische Erbschaft hinterlassen: niedrige Arbeitsproduktivität,
 
fehlende
 
Wettbewerbsfähigkeit, veraltete Produktionsanlagen, heruntergewirtschaftete
 
Infrastruktur,
 
Regionen am Rande der ökologischen Katastrophe. Jetzt geht es um den schwierigen Aufbau
 
eines Wirtschaftssystems sozialer Marktwirtschaft, und dieser erfordert
 
Zeit. Insbesondere
 
muss eine wettbewerbsfähige
 
Eigentumsstruktur entstehen,
 
und die Menschen müssen lernen,
 
sich in einer Marktwirtschaft zurechtzufinden. Wir im Westen müssen bei diesem Prozess helfen.
 
Die Teilung – so wurde oft und richtig gesagt – ist nur durch Teilen zu überwinden.
 
Nicht zuletzt aber bedarf es beim sich belebenden deutsch-deutschen
 
Miteinander in der
 
Wirtschaft einer verbindlichen ökonomischen
 
Ethik. Man vermittelt nicht Sympathie für
 
die Marktwirtschaft und Wissen um ihr Funktionieren, indem man seine Mitbürger in den
 
neuen Bundesländern – wie es leider nicht selten geschieht – zunächst erst einmal über den
 
Tisch zieht.
 
Die menschliche Dimension
 
Eine wirkliche deutsch-deutsche Vereinigung ist vor allem auch eine menschliche Vereinigung.
 
Die Menschen
 
in den neuen Bundesländern sind unsere Mitbürger. Sie kommen
 
nicht als Bittsteller. Sie erwarten nicht mehr als jene selbstverständliche menschliche Soli279
 
darität, über die in reichem Maße zu verfügen die Menschen
 
im Westen ja stets behauptet
 
haben. Diese deutsch-deutsche Grundsolidarität darf nicht in dem Moment abbröckeln, wo
 
mehr verlangt wird, als Kerzen in die Fenster zu stellen. Die Menschen im Osten haben es
 
schwerer als wir. Sie müssen sich persönlich und gesellschaftlich neu orientieren. Die alten
 
Ordnungen zerfallen und damit verschwinden Möglichkeiten der Identifizierung
 
– sei es in
 
Übereinstimmung oder im Protest. Die alten Systeme sozialer Sicherung entfallen, Eigentumsverantwortung
 
muss gelernt werden.
 
Doch die Menschen in den neuen Bundesländern
 
haben auch viel einzubringen:
 
Solidarität,
 
menschliches Zusammenrücken,
 
persönliche Verlässlichkeit, Gesinnungstreue und
 
eine bei uns oft verloren gegangene Bürgerkultur. Ich halte gar nichts von der These einer
 
kranken, neurotischen Gesellschaft im Osten unseres Landes, und ich mag es nicht, wenn
 
man die Bürger der ehemaligen DDR im Kollektiv auf die psychoanalytische Couch verfrachtet.
 
Es sind Menschen so wie wir. Sie haben ihre Erfahrungen,
 
Schicksale, Ängste und
 
Hoffnungen genauso wie wir.
 
Aufbau der Freimaurerei: engagiert und ehrlich
 
Während es bisher um den Diskurs mit dem Bürger ging, ist jetzt die Herausforderung des
 
Bruders als Freimaurer angesprochen. Seit einer Reihe von Monaten schon gehen Brüder
 
unserer
 
Großloge in die neuen Bundesländer, um Menschen für unsere Idee zu gewinnen,
 
neue Brüder zu finden und Logen zu gründen. An anderer Stelle dieses Heftes wird darüber
 
ausführlich
 
berichtet. Wir gehen in die ehemalige DDR, weil wir ein Angebot für die Menschen
 
haben, weil wir meinen, ihnen
 
als Freimaurer helfen zu können, und weil es dort Menschen
 
gibt, die versprechen, prächtige Freimaurer zu werden! Gewiss können wir beim Aufbau
 
des Bundes an das historische Erbe der Freimaurerei anknüpfen und Logen von Rang
 
und Namen wiederbeleben wie Goethes »Amalia« zu Weimar.
 
Aber dies ist nicht der Grund für unsere
 
Arbeit, und wir dürfen auch gar nicht da
 
anfangen,
 
wo wir 1935 aufgehört haben: bei einer weitgehend nationalistisch angepassten
 
Freimaurerei,
 
in einigen Fällen gar mit Großlogenführungen auf verzweifelter Suche nach
 
einem Platz für unseren Bund im NS-System. Wir sollten der Gesellschaft im Osten
 
Deutschlands, die zur Bewältigung ihrer Vergangenheit nichts so nötig braucht wie die
 
Wahrheit, keine eigenen Lebenslügen zumuten. Im Gegenteil: Der deutsche Neubeginn
 
sollte auch von uns als Chance historisch-kritischer Aufarbeitung genutzt werden. Wer
 
Zukunft will, muss auch erinnern wollen und darf am Verdrängen nicht allzu hartnäckig
 
Gefallen finden.
 
Es geht um den Aufbau einer veränderten
 
Freimaurerei in einem anders gewordenen
 
Deutschland. Erste erfolgreiche Schritte wurden unternommen, die ersten Suchenden sind
 
zu Brüdern geworden. Wir setzen unsere Arbeit fort, ohne Hektik, aber auch ohne unnötige
 
Verzögerungen. Die Großloge hat die organisatorischen Voraussetzungen
 
geschaffen und
 
gibt Hilfestellung.
 
An Konzepten für eine erfolgreiche
 
Öffentlichkeitsarbeit – insbesondere
 
zum Herstellen einer günstigen lokalen Öffentlichkeit – wird gearbeitet. Die bisherigen
 
Erfahrungen
 
zeigen ein großes Maß an Aufgeschlossenheit für Idee und Wirklichkeit von
 
Freimaurerlogen,
 
die gerade in der ehemaligen DDR als »offene« Männerbünde auch die
 
Familien einbeziehen
 
müssen. Jetzt ist es Aufgabe jedes einzelnen Bruders und jeder Loge,
 
280
 
sich ein örtliches
 
Betätigungsfeld zu schaffen, Menschen
 
für unseren Bund zu gewinnen
 
und nach Kräften auch ganz direkt menschlich-tatkräftig zu helfen.
 
Schließlich ist Freimaurerei als gelebte
 
Mitmenschlichkeit nur da glaubwürdig, wo sich
 
Denken und Empfinden
 
in humanitäres Handeln umsetzen. Gewiss bietet Freimaurerei
 
auch für die Menschen in den neuen Bundesländern kein flächendeckendes Programm
 
zur Bewältigung der Unzahl von Problemen und bedeutet schon gar keinen politischen
 
Aktionismus. Die Radikalität des Freimaurers, wenn es denn eine solche
 
überhaupt gibt, ist
 
eine stille Radikalität in die Tiefe der eigenen Seele. Es geht um eine alte Idee von zeitloser
 
Gültigkeit: Freimaurerei als gelebte Mitmenschlichkeit, der Freundschaftsbund,
 
der Menschen
 
zusammenführt, die sich sonst nicht nähergekommen wären, der nationale, soziale
 
und weltanschauliche Grenzen übersteigt, weil es auf den wirklichen, heutigen
 
Einzelmenschen,
 
den bloßen Menschen, den Menschenbruder ankommt. Es ist die Idee der Loge als
 
Schutzraum für Selbstfindung und Selbstwerdung, der »allen, die Wahrheit suchen
 
«, neue
 
Geborgenheit vermitteln kann.
 
Die Aufgabe, von der staatlichen Einheit zur wirklichen Vereinigung der Deutschen
 
in einem neuen Europa zu kommen, ist groß. Wir wollen unseren Beitrag dazu leisten,
 
denn unsere
 
Überzeugungen und Symbole fordern uns dazu auf. Der Aufbau der Logen
 
in den neuen Bundesländern ist allerdings schwer und erfordert Einsatz. Es geht nicht mit
 
der linken Hand und ein paar schwärmerischen Worten. Es geht nur mit Anstrengung,
 
Ideenreichtum
 
und der Hoffnung auf Freiheit und Gerechtigkeit.
 
In der ehemaligen DDR waren es Menschen mit dieser Hoffnung, die sich entschieden
 
gegen
 
etablierte Ungerechtigkeit
 
gewehrt und mutig nach Gerechtigkeit verlangt haben.
 
Nicht zuletzt ihnen ist es zu verdanken, dass es ein neues Deutschland gibt, vor dessen
 
Herausforderung
 
wir zu bestehen haben.
 
281
 
Enthusiasmus und Verantwortung –
 
Zum 230. Stiftungsfest der Loge »Anna
 
Amalia zu den drei Rosen« in Weimar (1994)1
 
»Das Beste, was wir von der Geschichte haben«, so schreibt Goethe in seinen »Maximen
 
und Ref lexionen«, »ist der Enthusiasmus, den sie erregt.« Versetzen wir uns 230 Jahre zurück.
 
Es ist der 28. Oktober 1764. Die Brüder versammeln sich zur Einsetzung der Loge
 
»Anna Amalia zu den drei Rosen.« Nicht weit von hier findet die Feier statt, im Wittumspalais,
 
dem Sitz der Herzogin Anna Amalia, die Förderin und Namenspatronin der Loge ist.
 
Es liegt kein Protokoll der ersten Arbeit vor und keine Teilnehmerliste. Doch wir wissen,
 
dass Namen mit einem guten Klang in Weimar unter den Maurern der ersten Stunde sind.
 
Kaum vorstellen können wir uns, wie das Ritual gehandhabt wurde. Es ist anzunehmen,
 
dass dabei viel kreative Improvisation geherrscht hat, und Mitglieder heutiger Ritualkollegien
 
– zeitreisend 230 Jahre zurückversetzt – hätten wohl runzelnd ihre Augenbrauen hochgezogen.
 
Doch wir können versichert sein, dass die Regularität der Herzen stimmte, dass
 
der Zauber des Aufbruchs trug und dass eine ansteckende Freude die Stimmung bestimmte.
 
Die Hoffnung auf Aufklärung, auf Unterscheidungsfähigkeit »zwischen Hell und Dunkel,
 
Licht und Finsternis« (so Wielands spätere Definition), die Erwartung einer durch Offenheit
 
und Freiheit geprägten politisch-sozialen Zukunft, das Erlebnis menschlicher Gleichheit,
 
die Möglichkeit, sich jenseits der Schranken von Stand, Nation und Bekenntnis als
 
»bloße Menschen« zu begegnen – all das prägte Bewusstsein und Gefühl der Bruderschaft.
 
»Laut verkünde unsre Freude froher Instrumentenschall,
 
jedes Bruders Herz empfinde dieser Mauern Widerhall.«
 
Gewiss, dieser Text nach Mozarts Noten wurde nicht in Weimar anno 1764 angestimmt,
 
sondern erst 25 Jahre später in Wien. Doch die Töne der Kantate bringen wohl mehr als
 
Dokumente jenen eigentümlichen Zusammenklang von Idee und Stimmung, von Intellektualität
 
und Emotionalität zum Ausdruck, der kennzeichnend gewesen ist für die Frühzeit
 
der modernen Freimaurerei und der auch die Atmosphäre am Weimarer Musenhof bestimmt
 
haben mag.
 
Goethe wird im Jahre 1780 Mitglied der Loge »Anna Amalia«. Es habe ihm beim Reisen
 
allein am »Titel Freimaurer« gefehlt, um mit Personen, die er schätzen lernte, in nähere
 
Verbindung zu treten, so lautet bekanntlich die weltmännisch-pragmatische Begründung
 
seines Aufnahmegesuchs. Eine verständliche Begründung, denn – so konnte die moderne
 
Aufklärungsforschung 200 Jahre später feststellen –: »Im Zeichen des Maurermysteriums
 
entstand das soziale Gerüst der moralischen Internationale, die sich aus den Kaufleuten
 
und Reisenden, den Philosophen, Seeleuten und Emigranten, kurz den Kosmopoliten im
 
Verein mit dem Adel und den Offizieren zusammensetzte. Die Logen wurden zum stärksten
 
Sozialinstitut der moralischen Welt im achtzehnten Jahrhundert« (Reinhart Koselleck).
 
Ein starkes Sozialinstitut war auch die Loge »Anna Amalia«, sowohl im Kontext der
 
sich formierenden deutschen Freimaurerei als auch im gesellschaftlichen Mikrokosmos
 
1 Dieser Beitrag wurde bisher nicht veröffentlicht.
 
282
 
der Weimarer Gesellschaft. Männer wie Goethe, aber auch Herder und Wieland bestimmten
 
geistig-kulturelle Inhalte und Ausstrahlung und vernetzten Weimar mit anderen Zentren
 
der deutschen Aufklärung, ja verschafften ihm einen führenden Platz darin.
 
Viele – aus heutiger Sicht unaufgebbare, und doch leider periodisch immer wieder vergessene
 
– Grundideen unseres Bundes wurden in Weimar formuliert. »Der Freimaurer ist
 
als solcher ein Weltbürger«, so etwa Wieland in einer seiner Logenreden, und – so Wieland
 
weiter – »Freiheit, Gleichheit und Verbrüderung sind die wahren Grundpfeiler unserer Gesellschaft
 
und niemand,
 
der sich das nicht völlig klarzumachen vermag, rühme sich, den
 
Schlüssel zu unserem
 
Geheimnis gefunden zu haben.«
 
Zielvorstellungen und Stimmungslagen der Aufklärung im Denken und Schreiben der
 
Weimarer Brüder, die mit von ihnen entworfene Utopie eines befreiten Menschen in einer
 
nicht durch die Willkür weltlicher und religiöser Herrscher bestimmten, sondern von
 
moralischen Gesetzen geordneten sozialen Wirklichkeit, Humanität – wie Herder erläutert
 
– als Inbegriff von »Menschheit, Menschlichkeit, Menschenrechten, Menschenpflichten,
 
Menschenwürde und Menschenliebe« – all das berechtigt wohl, hier und jetzt jenen Enthusiasmus
 
zu teilen, der – so noch einmal Goethe – das Beste ist, was wir von der Geschichte
 
haben. Und wenn wir an diesem Stiftungsfest – wie immer in unserem Bunde an solchen
 
Schnittstellen
 
der Zeit – in historischer Rückschau Ansatzpunkte suchen für eine in die Zukunft
 
gerichtete Identität von Freimaurerei und Loge: Hier müssen wir sie suchen und hier
 
müssen wir fündig werden, bei der historischen Leistung unserer »Brüder Aufklärer« für
 
die Entwicklung der Humanitätsidee, für die Formulierung des Konzepts der universellen
 
Menschenrechte und für die Bestimmung der Rolle von geistiger wie staatlich-rechtlich
 
institutionalisierter Toleranz als dem regulativen Prinzip einer offenen Gesellschaft.
 
Und wir können noch etwas lernen von unseren frühen Brüdern in Weimar und
 
anderswo, wo unser Bund im 18. Jahrhundert lebte und wuchs: nämlich dass eine Freimaurerei,
 
die etwas zur Zeit und aus der Zeit heraus zu sagen vermag, von der Außenwelt
 
gehört und angenommen
 
wird auf eine Weise, die eine Freimaurerei ohne produktive
 
Spannung zur Gesellschaft
 
nie erreichen kann, oder anders formuliert, dass Größe und
 
Geltung unseres Bundes über das Heute in das Morgen hinein davon abhängt, ob es gelingt,
 
freimaurerische
 
Formen und aufklärerische Inhalte zusammenzuhalten.
 
So weit, so gut. Allein, das bloße und selektive Sich-Berufen auf jene Teile der Geschichte,
 
die zu Enthusiasmus Anlass geben, reicht nicht aus. Geschichte darf nicht zum
 
Selbstbedienungsladen für ideologische Zwecke, zum Materialdepot für die Kulissen gefälliger
 
Selbstinszenierungen werden. Der Umgang heutiger Freimaurer mit der Vergangenheit
 
muß komplex und redlich ausfallen. Wieder führt – so meine ich – Goethe auf die
 
rechte Spur:
 
»Wer nicht von dreitausend Jahren
 
sich weiß Rechenschaft zu geben,
 
bleib im Dunkel unerfahren,
 
mag von Tag zu Tage leben.«
 
»3000 Jahre«, das steht im übertragenen Sinne für die notwendige Vollständigkeit historischer
 
Ref lexion. Und »Rechenschaft« hat mit Sich-Verantworten zu tun. Sich-Verantworten
 
283
 
nicht für das historische Geschehen als solches – das ist die Aufgabe der jeweils Handelnden
 
– wohl aber Sich-Verantworten für den Umgang mit Geschichte.
 
Und wie man den rechten Umgang mit Geschichte verfehlen kann, thematisiert gleichfalls
 
und wohl unübertreff lich Goethe im Dialog zwischen Wagner und Faust:
 
Wagner:
 
»Verzeiht! Es ist ein groß Ergetzen,
 
sich in den Geist der Zeiten zu versetzen;
 
Zu schauen, wie vor uns ein weiser Mann gedacht,
 
und wie wirs dann zuletzt so herrlich weitgebracht.«
 
Faust:
 
»O ja, bis an die Sterne weit!
 
Mein Freund, die Zeiten der Vergangenheit
 
sind uns ein Buch mit sieben Siegeln.
 
Was ihr den Geist der Zeiten heißt,
 
das ist im Grund der Herren eigner Geist,
 
in dem die Zeiten sich bespiegeln.«
 
Das heißt, wenn wir vom Enthusiasmus sprechen, den Geschichte vermittelt, so müssen wir
 
uns redlich fragen, ob es historische Fakten sind, die uns begeistern, oder überlieferte,
 
nicht
 
mehr reflektierte, wenn nicht gar selbstgemachte Geschichtsbilder. Wir müssen
 
den Mut haben,
 
nach der ganzen historischen Wahrheit zu fragen und auch festzustellen,
 
was mit unserem
 
Bund und unseren Logen in jenen Phasen der Geschichte war, auf die nicht das helle Licht der
 
Weimarer Klassik fällt, in denen Freimaurerei gleichsam von sich selbst abgefallen ist.
 
Wer von Weimar spricht, darf von Buchenwald nicht schweigen!
 
Für den notwendigen ehrlichen Umgang mit der Vergangenheit gibt es zwei ganz schlichte,
 
überzeugende Gründe:
 
Erstens: Unredlichkeit im Umgang mit der Vergangenheit ist ein für allemal keine Basis für
 
freimaurerische Lebenskraft im Heute und Morgen.
 
Zweitens: Wir sollten nicht riskieren, früher oder später von Außenstehenden beim Paradieren
 
unter falschen Geschichtsbildern erwischt zu werden.
 
Wir haben also Fragen zu stellen und uns um Antworten zu bemühen, wobei es heute beim
 
Fragen bleibt:
 
Gilt für das 18. Jahrhundert wirklich so eindeutig, was wir über die frühe Blüte der
 
Freimaurerei
 
immer sagen?
 
Gewiss, wir lernen aus den Dokumenten der Zeit, dass die Idee der Freimaurerei viele
 
führende
 
Geister überzeugte, aber wurde die Umsetzung von Freimaurerei in der Logenund
 
Großlogenpraxis nicht von Anfang an des öfteren als kritikwürdig empfunden? Finden
 
wir nicht gerade bei unseren Großen fast regelmäßig eine durchaus gebrochene Einstellung
 
zum Bund? Unter den Weimarern bei Goethe etwa, bei Herder, bei Wieland? Was sonst
 
284
 
hätte Letzteren veranlasst, eine seiner Amalia-Logenreden mit der Frage zu überschreiben:
 
»Wie verhält sich das Ideal der Freimaurerei zu ihrer dermaligen Beschaffenheit?«
 
Und wir haben weiter zu fragen:
 
Wie stand es im 19. und 20. Jahrhundert um unseren Bund? Müssen wir beispielsweise,
 
wenn wir einem führenden Historiker wie Rudolf Vierhaus in seiner positiven Würdigung
 
der Freimaurerei für das 18. Jahrhundert folgen, uns nicht auch damit auseinandersetzen,
 
wenn er für die Wende zum 19. Jahrhundert ein »Versinken in bloßer Honoratiorengeselligkeit,
 
in Pseudomystik
 
und Geheimnistuerei als Ausdruck einer selbst beigelegten, nach
 
außen nicht rechtfertigungsbedüftigen Bedeutsamkeit« konstatiert?
 
Und wie stehen wir heute zur nationalistischen Wende beträchtlicher Teile unseres Bundes,
 
die Mitte der zwanziger Jahre einsetzte, nicht zuletzt in Thüringen und dabei auch hier
 
in Weimar – Stichwort Großlogenwechsel der »Anna Amalia«?
 
Kann es befriedigen, demokratische Überzeugung und Widerstandsbewusstsein gegen
 
den aufkommenden Nationalsozialismus vorwiegend an den Brüdern Carl von Ossietzky
 
und Kurt Tucholsky zu exemplifizieren, wenn deren Großlogen gleichzeitig nach wie vor
 
als irregulär abqualifiziert werden?
 
Dürfen Verbot und Verfolgung der Freimaurerei durch die Nationalsozialisten so nahtlos
 
mit Widerstand gegen den Nazismus gleichgesetzt werden, wie es immer wieder geschieht?
 
Wie gesagt: Ich kann heute und hier nur Fragen stellen. Aber das Jahr 1995 ist bekanntlich
 
ein Jahr der Jahrestage – seit 1925 sind siebzig, seit 1935 achtzig und seit 1945 sind 50
 
Jahre vergangen.
 
Auch wir Freimaurer sollten dieses Jahr zum Anlass nehmen, uns der Geschichte – der
 
deutschen wie der freimaurerischen – zu stellen. Denn insbesondere die Zeitgeschichte,
 
um die es hier vor allem geht, »ist nicht toter Stoff. Wir Nachlebende sind Teil dieser
 
Geschichte,
 
und damit ist Geschichte ein Teil unserer Gegenwart« (Heinz Friedrich). Vielleicht
 
hilft uns eine solche Standortbestimmung in der Geschichte auch dabei, aus dem
 
wenig produktiven Zustand introvertierter, nach außen nicht vermittelbarer Organisations-,
 
Satzungs- und Regularitätsdebatten herauszukommen, den viele von uns gegenwärtig so
 
bedrückend empfinden.
 
Zum Schluss: Stichwort »Gegenwart« und noch einmal Stichwort »Enthusiasmus«. Ich begann
 
mit der Freude des Aufbruchs 1764, vor 230 Jahren. Ich möchte schließen mit jener
 
Freude, die vor fünf Jahren, im Herbst 1989 begann. Damals brach die kommunistische Diktatur
 
zusammen, überall in Osteuropa und auch in der DDR. Mit der Freiheit kehrte die
 
Freimaurerei zurück, und auch in unserer guten Loge »Anna Amalia zu den drei Rosen« wurde
 
wieder das Licht angezündet. Dieses Licht tut, was Lichter überall tun, es wärmt, und es
 
leuchtet. Es symbolisiert die menschliche Wärme, die uns mit unseren Brüdern hier verbindet.
 
Es steht wie das Licht von 1764 aber auch für Aufklärung, für ein genaues Hinschauen
 
auf das, was Weimar heute ist und sein kann, für ein präzises Wahrnehmen der Lebenssituation
 
der Menschen hier und für ein sensibles Umsetzen unserer Aufgaben.
 
Ehrlichkeit und Enthusiasmus schließen sich nicht aus: Wenn Freimaurerei als überzeugend
 
gelebte Mitmenschlichkeit gegenwärtig ist, dann hat das, was 1764 begann, nicht nur Vergangenheit,
 
dann tragen uns Erbe und Auftrag kraftvoll in die Zukunft.
 
285
 
Regularität und Humanität: Freimaurerei vor
 
dem Jahr 2000 (1995)1
 
Interview: Im Gespräch mit Rüdiger Oppers
 
Die Disharmonien im Vorfeld des letzten VGL-Konvents haben in vielen Logen zu Missstimmungen
 
geführt. Kopfschüttelnd haben die Brüder registriert, dass sich die Freimaurerei
 
offenbar intensiver mit ihren vereinsrechtlichen Interna beschäftigt als mit
 
überlebenswichtigen Zeitfragen. Wie wichtig wird das Thema »Regularität« für die Zukunft
 
der europäischen Freimaurerei sein?
 
Das Unerfreuliche an den von dir angesprochenen Missstimmungen, die ja weit hinter den
 
letzten Konvent zurückreichen, war die Art und Weise, wie die Regularitätsdebatte geführt
 
wurde.
 
Erstens: So wichtig einerseits die Festlegung von Grundsätzen und Verhaltensmaßstäben
 
ist, so gefährlich ist andererseits eine unangemessen rigide Fixierung darauf. Sie schafft unnötigerweise
 
Loyalitätskonflikte, die die Bruderschaft stark belasten und lenkt unsere Aktivitäten
 
von dem, was heutzutage für die Freimaurerei wichtig ist, auf Nebenschauplätze
 
um. Dies kostet Energie, die anderswo sinnvoller eingesetzt werden könnte. Freilich schadet
 
nicht nur Rigidität, auch bloße Provokation ist zu vermeiden.
 
Zweitens: Es kann keinerlei Zweifel daran bestehen, dass die Großloge A.F.u.A.M. als Nachfolgegroßloge
 
der humanitären Freimaurerei in Deutschland schon von ihrer Herkunft her
 
die reguläre deutsche Großloge ist. Ziel, Aufbau und Arbeitsweise entsprechen vollkommen
 
der Gesamtheit der in den »Basic Principles« festgelegten Grundsätzen. Für die deutsche
 
Großlogenwirklichkeit insgesamt kann dies mit gleicher Bestimmtheit nicht gesagt werden.
 
Deshalb darf die Diskussion über das, was regulär ist in der Freimaurerei, weder einseitig in
 
der Sache noch politisch-taktisch in der Intention geführt werden. Wenn man eine solche
 
Debatte überhaupt für nötig hält, so müssen alle Aspekte der »Basic Principles« (Willensbildung
 
innerhalb der Großlogen, Unabhängigkeit der blauen Logen, Grenzen religiöser Festlegung)
 
einbezogen und zum Maßstab einer Bewertung unserer Partnergroßlogen und der
 
VGLvD selbst gemacht werden.
 
Ich halte es jedoch für viel wichtiger, dass wir über Regularität in einem wesentlich weiteren
 
Sinne nachdenken und gemeinsam die Regeln bestimmen, die in der Lage sind, Freimaurerei
 
in das kommende Jahrhundert hinein lebensfähig zu halten, und die garantieren, dass wir
 
mit unserer Botschaft die Menschen in Europa überhaupt noch erreichen. Das können wir
 
nicht mit schönen Spruchbändern aus alter Zeit, das können wir nur durch konzeptionelle
 
Überzeugungskraft, intellektuelle Redlichkeit und engagierte Mitmenschlichkeit in der Praxis.
 
Für mich steht und fällt Freimaurerei letztlich mit der Frage, ob sie vor den folgenden
 
drei Maßstäben bestehen kann:
 
1 Interview: Im Gespräch mit Rüdiger Oppers. Dieser Beitrag wurde ursprünglich veröffentlicht in: Humanität.
 
Das deutsche Freimaurermagazin, Nr. 2, März/April 1995, S. 16–20.
 
286
 
• der Universalität der Freimaurerei (d.h. ihrer Offenheit für wirklich alle Männer, wie und
 
wo auch immer),
 
• dem Bekenntnis zu den durch die drei »Großen Lichter« symbolisierten Grundlagen (Brüderlichkeit,
 
Ethik, Transzendenz) und
 
• der im konzeptionellen Selbstverständnis, in der inneren Gestaltung und im äußeren
 
Umgang strikt eingehaltenen und voll angewandten Überzeugung, dass »die Würde des
 
Menschen unantastbar« ist.
 
Muss die Anerkennung einzelner Logen oder ganzer Obödienzen nicht demokratischer geregelt
 
werden können? Immerhin haben die Freimaurer viel zum Entstehen einer europäischen
 
Einigung geleistet. Organisatorisch hinken wir der politischen Entwicklung hinterher. Selbst
 
die äußerst unvollkommene EU erscheint demokratischer als die Großlogenstrukturen auf
 
europäischer Ebene. Schlimmer noch: Es gibt offensichtlich keine Strukturen, die unsere europäischen
 
Großlogen fest miteinander verbinden würden. Wann wird es eine europäische
 
Großmeisterkonferenz mit eindeutigen Zuständigkeiten und Befugnissen geben?
 
Wer sich mit Hierarchien und Entscheidungsstrukturen in Politik und Gesellschaft beschäftigt,
 
wird immer wieder feststellen, dass organisatorische Lösungen regelmäßig nur dann zur
 
Bewältigung anstehender Probleme beitragen, wenn sie den Anforderungen der sich stellenden
 
Aufgaben entsprechen und eine breite soziale Akzeptanz finden. Deshalb – um ein
 
Beispiel aus der Nachkriegsgeschichte der Freimaurerei in Deutschland zu wählen – war die
 
Paulskirchen-VGL von 1949 umso vieles erfolgreicher als die VGLvD von 1958. Für die Entwicklung
 
der europäischen Freimaurerei bedeutet dies, dass auch hier die Impulse vor allem
 
von unten, das heißt aus den Logen, kommen müssen. Basisinitiativen dürften auch hier
 
viel wirksamer sein als kopflastige Institutionen, was nicht heißt, dass nicht auch die Großlogen
 
dazu beitragen können, die europäischen Bruderschaft zusammenzubringen. Dabei
 
stimmen die Entwicklungsmöglichkeiten der Freimaurerei in einem Punkt vollkommen mit
 
denen der Politik überein: Ohne eine breite deutsch-französische Zusammenarbeit geht es
 
nicht. Meine Position hierzu ist, dass mit dem Teil der französischen Freimaurerei, der nach
 
seiner inneren Struktur, seinen Leitideen sowie dem dafür gefundenen symbolischen Ausdruck
 
den Prinzipien der Weltfreimaurerei entspricht, auf brüderlicher Basis wirksam und
 
vielschichtig zusammengearbeitet werden sollte.
 
Für die Diskussion grundsätzlicher und aktueller Fragen des Verhältnisses von Freimaurerei
 
und Gesellschaft in einem offenen Rahmen außerhalb des Rituals, ohne formelle
 
Regelung und ohne jeden Affront gegen die United Grand Lodge of England sollte es
 
auch keine Berührungsängste mit Mitgliedern des Grand Orient de France geben, der nun
 
einmal zur europäischen Tradition der Freimaurerei dazugehört. Regularität ist eine Frage
 
des »Wie-man-ist« und nicht des »Mit-wem-man-spricht«. Auf alle Fälle braucht die europäische
 
Freimaurerei ein Klima geistiger Offenheit. Eine Atmosphäre thematischer Tabus
 
oder gar von Denk- und Sprechverboten darf es in ihr nicht geben. Direkte Gespräche zwischen
 
der Großloge A.F.u.A.M. und der United Grand Lodge of England zur Klärung der
 
anstehenden Fragen scheinen mir dringend erforderlich. Die Magna Charta bietet hierfür
 
bekanntlich ja auch einen Rahmen.
 
287
 
Welches sollten die Themen sein, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen, um die Logen
 
attraktiv für junge Menschen zu machen, die mitten im Leben stehen, Verantwortung
 
übernehmen und als Baumeister an der Entwicklung unserer Gesellschaft mitwirken wollen?
 
Zunächst: Ich bin vollkommen davon überzeugt, dass die Freimaurerei ein Angebot für junge
 
Menschen hat. Sie muss nur besser als bisher in der Lage sein, dieses Angebot an junge
 
Menschen heranzutragen. Dazu müssen wir die Menschen zu uns bringen und mit der Freimaurerei
 
vertraut machen. Dies geht vor allem über den alten, bewährten, doch leider viel
 
zu oft vernachlässigten Weg der persönlichen Einladung aus dem Familien-, Freundes- und
 
Bekanntenkreis. Ich meine jedoch, dass wir auch neue Kommunikationstechniken brauchen,
 
um junge Menschen als potentielle Mitglieder anzusprechen. Wir müssen sozusagen
 
»intelligente Schleppnetze« auswerfen. Entsprechende Aktivitäten der Großloge sind bisher
 
leider immer wieder stecken geblieben, sodass es auch hier vor allem auf eine kreative Arbeit
 
der einzelnen Logen ankommt.
 
Kämen dann junge Menschen zu uns, so müssen aus Gästen Suchende werden. Auch
 
dies gelingt nur durch eine überzeugende und kreativ-interessante Arbeit der Logen. Die
 
Ideen der Freimaurerei werden nur dann Menschen zu uns bringen, wenn wir durch eine
 
»Freimaurerei zum Anfassen« deutlich machen, dass die Logen Brüderbünde sind, die
 
Geborgenheit vermitteln und den Menschen helfen, Wege zu sich selbst und anderen
 
zu finden. Wenn wir vermitteln könnten, dass die menschlichen Beziehungen bei uns
 
stimmen, dass sich Konfliktsfähigkeit und Friedensbereitschaft die Waage halten, dass
 
wir Themen ansprechen, die für Gegenwart und Zukunft der Menschen von Bedeutung
 
sind, und wenn wir deutlich zu machen verstehen, welche Schätze unser altes rituelles
 
Brauchtum in sich birgt, dann brauchten wir um die weitere Entwicklung unseres Bundes
 
nicht zu bangen.
 
Die jungen Menschen von Niveau, die wir brauchen, suchen einen jungen Bund mit
 
Niveau. Das heißt nicht, dass uns unsere Alterstruktur im Wege steht: Junge Menschen
 
suchen durchaus das Gespräch über die Generationen hinweg, wenn es redlich und lebendig
 
ist. Das heißt auch nicht, auf unser bewährtes Erbe zu verzichten. Im Gegenteil:
 
Gerade in einer Zeit, die Aufklärung infrage stellt und in der auch innerhalb unseres
 
Bundes gelegentlich auf sonderbare Weise versucht wird, dieses Erbe abzuschütteln, bleibt
 
die stets neue und kreative Rückbesinnung auf unsere »vergangenen Hoffnungen« eine
 
existenznotwendige Aufgabe.
 
Ganz wichtig ist mir dies: Wenn wir mit jungen Menschen über Freimaurerei sprechen,
 
so müssen wir sie ehrlich und redlich darstellen, auch da wo unsere Geschichte Wege ging,
 
die wir heute kritisch sehen müssen. Von Legenden, wie etwa der einer freimaurerischen
 
Gegenposition zum NS-System, sollten wir Abschied nehmen, endgültig und gründlich.
 
Es gab Mut und Opfer in Einzelfällen, auch bei einzelnen Gruppierungen, aufs Ganze
 
gesehen aber dominierte Anpassung, ja Unterwerfung, vor allem bei den altpreußischen
 
Großlogen. Sollte hier nicht endlich aufgearbeitet werden? 1995 als vielschichtiges Erinnerungsjahr
 
gäbe Gelegenheit dazu.
 
Und in diesem Zusammenhang noch einmal zur Regularität: Dürfen wir uns wirklich
 
noch zumuten, Ergebensheitsadressen an Hitler im Kontext regulärer Freimaurerei zu
 
verstehen, wenn die brüderliche Heimat Carl von Ossietskys, auf den wir uns so gern
 
berufen, gleichzeitig nach wie vor als irregulär eingeschätzt wird?
 
288
 
Gibt es in der deutschen Freimaurerei überhaupt Gremien oder »Brain Trusts«, die einmal
 
wagen, über die Grenzen des jetzt bestehenden und Arrivierten in der Freimaurerei hinauszudenken
 
und die Konzepte für die Zukunft der Freimaurerei im Jahre 2020 entwickeln?
 
Es gibt in der deutschen Freimaurerei viele Brüder, die über ihren Bund nachdenken. Es gibt
 
auch bewährte Plattformen dafür, wie das Collegium und das Forum Masonicum. Freilich
 
gibt es – nicht zuletzt unter den Amtsträgern – auch Brüder, die ein kritisches Nachdenken
 
über Zustand und Entwicklungsnotwendigkeiten der Freimaurerei in Deutschland gar nicht
 
schätzen. Auch drängt gelegentlich kurzatmiges politisch-taktisches Kalkül die notwendigen
 
strategisch-konzeptionellen Überlegungen allzu sehr in den Hintergrund. Was dabei herauskommt,
 
kann oft nicht befriedigen. Ob neue Gremien, z.B. ein wie immer gearteter »Brain
 
Trust«, helfen können, scheint mir zweifelhaft. Auch hier gilt: Neue Gremien helfen nur,
 
wenn sie von neuen und kräftigen Basisimpulsen getragen werden. Wichtiger als neue Gremien
 
zu schaffen, wäre es meines Erachtens, großlogenweite Impulse für ein gemeinsames
 
Nachdenken zu geben. Leider gibt es zu wenig kritisch-kreative »Großlogenöffentlichkeit«.
 
Hätten wir eine solche, so wäre nicht nur die Regularitätsdiskussion befriedigender verlaufen,
 
auch der Prozess hin zu der auf dem Lübecker Großlogentag angenommenen neuen
 
A.F.u.A.M.-Verfassung wäre ergiebiger gewesen. Dann hätten wir nicht Sparzwänge in den
 
Vordergrund gerückt, wir hätten mit der Bestimmung unserer Aufgaben hier und heute begonnen
 
und dann gefragt, welche organisatorischen Strukturen wir brauchen, um unsere
 
Aufgaben besser zu lösen.
 
Zum Beispiel noch einmal Stichwort »Brain Trust«: Wenn man einen solchen für
 
nützlich gehalten hätte, so wäre der Großlogenrat dafür geeignet gewesen. Dann aber hätte
 
er nicht so »verwaltungszentriert« besetzt sein dürfen, dann müsste er als echter Rat vor
 
allem Mitglieder haben, die ohne Einbindung in bestimmte Funktionen konzeptionell
 
und langfristig denken. Dass er dann auch kleiner und somit kostensparender sein könnte,
 
käme hinzu. Doch noch einmal: Besser als das Nachdenken weniger in neuen Gremien
 
wäre wohl das Nachdenken vieler und der lebendige geistige Austausch innerhalb der
 
Bruderschaft: kurz die kritisch-kreative Großlogenöffentlichkeit. Zum Entstehen einer
 
solchen beizutragen ist, so meine ich, eine wesentliche Aufgabe der »Humanität«.
 
Kann die Freimaurerei überhaupt etwas für die Gesellschaft leisten, oder bleibt sie, als einer
 
der letzten noch existierenden westlichen Einweihungswege, nur auf den Einzelnen bezogen?
 
Es wurde oft und richtig festgestellt: Was die Freimaurerei für die Gesellschaft leistet, leistet
 
sie vor allem durch den einzelnen Freimaurer, und der Weg der Initiation ist dabei von zentraler
 
Bedeutung. Dies schließt jedoch nicht aus, ja es impliziert geradezu, dass der Freimaurer
 
politisch-gesellschaftliche Verantwortung trägt. In Deutschland zeigen sich derzeit Tendenzen
 
eines Verfalls der politischen Kultur. Menschenfeindlichkeit, die versucht, sich als
 
»Ausländerfeindlichkeit« ein Image des »Schließlich-kann-man-es-verstehen« zu verschaffen,
 
macht sich breit. Die Gewaltbereitschaft beträchtlicher Teile der Bevölkerung nimmt zu.
 
Die »politische Klasse« Deutschlands reagiert aufs Ganze gesehen hilflos, weil sie nur allzu
 
oft der populistischen Versuchung erliegt, auf Machterhalt statt auf politische Führung mit
 
– wenn es sein muss – unbequemen Vorgaben zu setzen. In einer solchen Situation mannig289
 
faltigen deutschen Missvergnügens könnte dem Freimaurer die Funktion zukommen, sich
 
im Rahmen seiner sicher nicht zu überschätzenden Möglichkeiten verstärkt der politischen
 
Kultur hierzulande anzunehmen. Unser Bund hat aus seiner Tradition das hierfür geeignete
 
geistige Werkzeug erhalten. Ich nenne nur den redlichen Diskurs der Brüder – Lessings »laut
 
denken mit dem Freunde« – und das Konzept einer um Aufklärung bemühten »offenen Gesellschaft
 
«, die sich als Lebenswelt »toleranter Ungleichgesinnter« versteht, in der selbstverständlich
 
Konflikte ausgetragen werden müssen, in der es aber auch Mechanismen zur Lösung
 
von Konflikten geben muss und in der die Menschen als Mitglieder einer universellen
 
Loge verpflichtet sind, ihre Lebensressourcen auch für kommende Generationen zu bewahren.
 
Freilich bedarf die Freimaurerei hierzu die Bereitschaft seiner Mitglieder zu Profil, Konsequenz
 
und zum beharrlichen Bohren dicker Bretter.
 
Nun gibt es auch in der Freimaurerei die »Brüder Bilderstürmer«, die am liebsten gleich
 
in die Politik einsteigen wollen. Tradition und Ritual werden entweder sinnleer verfremdet
 
oder nur noch zu Schauzwecken eingesetzt. Meiner Ansicht nach ist das keine Freimaurerei
 
mehr. Kann die Freimaurerei solche Bestrebungen kompensieren, oder muss sie sich notgedrungen
 
von solchen Einflüssen befreien? Immerhin besteht die Gefahr, dass der wesentliche
 
Kern unseres Bruderbundes, die Initiation, auf dem Weg angeblicher Modernisierung
 
verloren geht.
 
Freimaurerei ist eine untrennbare Einheit von brüderlicher Gemeinschaft, aufklärerisch-humanitärer
 
Ideenwelt und symbolischem Werkbund. Wo immer diese Einheit verloren ging,
 
ging es bergab mit der Freimaurerei. Wenn die Gemeinschaft nicht stimmt, fühlt sich niemand
 
wohl in der Loge; wenn die ideelle Wurzel abstirbt, füllt sich Freimaurerei mit beliebigen
 
Inhalten zwischen religiöser Sekte und politischem Zirkel; wenn Brauchtum und Ritual
 
vernachlässigt oder für Schauzwecke instrumentalisiert werden, verliert die Freimaurerei
 
ihre Grundlage. Es ist also stets der Gefahr zu begegnen, das Ritual einer falsch verstandenen
 
Modernisierung zu opfern. Im Gegenteil: Die schöpferische rituelle Arbeit erst sichert den
 
Kern der Freimaurerei und übt den Bruder ein in den richtigen Umgang mit sich selbst, der
 
Transzendenz, anderen Menschen und den Dingen der Welt.
 
290
 
Kulturpreis Deutscher Freimaurer:
 
Kultur des Erinnerns – Kultur der
 
Kommunikation (1998)1
 
Die Großloge der Alten, Freien und Angenommenen Maurer von Deutschland verleiht heute
 
den »Kulturpreis Deutscher Freimaurer« an zwei Rundfunkjournalisten. Sie würdigt damit das
 
von beiden Preisträgern seit 1993 im Landesfunkhaus Schwerin des Norddeutschen Rundfunks
 
projektierte und gestaltete Hörfunkprojekt »Erinnerungen für die Zukunft«. Ziel des Projekts
 
von Ernst-Jürgen Walberg und Thomas Balzer ist es, DDR-Geschichte darzustellen: die alltägliche
 
und die besondere,
 
die wirkliche und die verfälschte, die verschwiegene und die verdrängte,
 
die typische Mischung
 
der damaligen Lebensmischung also.
 
Menschen mit ihrer unterschiedlichen Individualität und ihrem spezifischen Erleben
 
kommen zu Wort: Frauen und Männer, die in den Bezirken Schwerin, Rostock und Neubrandenburg
 
gelebt und gearbeitet haben; Menschen, die dageblieben sind, und Menschen,
 
die gegangen sind oder vertrieben wurden; Opfer und Täter; »Normalbürger« und Mitläufer;
 
Entscheidungsträger
 
und Mitarbeiter ausführender Organe; Unpolitische und Überzeugte; Widerständige,
 
Anpasser und »Wendehälse«.
 
Ein freimaurerischer Kulturpreis für »oral history« also, für »hörbar gemachte Geschichte«.
 
Das erweitert das Spektrum der Verleihungstradition unseres Kulturpreises und lässt fragen, worauf
 
sich die Überzeugung einer guten, für die deutsche Gegenwart und für den Verleihungsort
 
Magdeburg besonders angebrachten Preisträgerwahl gründet.
 
Kultur ist mehr als die Welt der schönen Dinge. Kultur ist auch nicht nur der Ausdruck des
 
künstlerischen und intellektuellen Schaffens einer Zeit. Kultur bedeutet auch, ja vor allem die
 
Art und Weise des Umgangs der Menschen miteinander, mit der sie umgebenden Gesellschaft,
 
mit ihren Zukunftsentwürfen und mit ihrer Vergangenheit. Es war die Zeit der Aufklärung, in
 
der sich dieses Verständnis von Kultur durchgesetzt hat. Immer stärker wurde Kultur primär als
 
Prozess begriffen, in dem der Mensch seine individuellen Ziele moralisch zu begründen lernt
 
und wo auch für alle Lebensäußerungen von Völkern und Gesellschaften die Gültigkeit des
 
Humanitätsprinzips zu fordern ist.
 
Kultur als moralisch gebundener gesellschaftlicher Prozess – von diesem aufklärerischen
 
Kulturbegriff,
 
dessen zeitgleiches Enstehen mit der Begründung der modernen Freimaurerei ja
 
nicht zufällig ist, haben sich die Freimaurer dieser Großloge bei der Verleihung ihres als Ehrung
 
und als Selbstverpflichtung zugleich verstandenen Kulturpreises immer leiten lassen. Namen
 
von Preisträgern wie Max Tau, Siegfried Lenz, Yehudi Menuhin, Lew Kopelew und Reiner
 
Kunze – um nur einige zu nennen – machen dies deutlich.
 
Kultur als qualitative Eigenschaft des politisch-gesellschaftlichen Prozesses: Im Sinne eines
 
solchen erweiterten Kulturbegriffes wird heute auch von der politischen Kultur eines Volkes
 
gesprochen und darauf hingewiesen, dass ohne eine entwickelte Kultur der Verhaltensstile und
 
Umgangsformen eine stabile und zugleich innovativ-flexible Entwicklung einer demokratischen
 
Gesellschaft nicht möglich ist.
 
1 Laudatio für Ernst-Jürgen Walberg und Thomas Balzer anlässlich der Verleihung des Kulturpreises Deutscher
 
Freimaurer am 22. Mai 1998 in Magdeburg. Dieser Beitrag wurde auszugsweise veröffentlicht in:
 
Humanität. Das deutsche Freimaurermagazin, Nr. 2, März/April 1998, S. 8–11.
 
291
 
Zur Kultur der Umgangsstile beizutragen, war seit jeher ein fester Bestandteil freimaurerischen
 
Selbstverständnisses. Die Loge galt und gilt nicht zuletzt als Ort, an dem sich Menschen
 
mit all ihren ganz spezifischen Individualitäten in Umgangsstile einarbeiten können,
 
deren besondere Qualität individuelles und soziales Leben gelingen lässt: Stile des Umgangs
 
mit sich selbst, mit anderen Menschen, mit den Anforderungen der Umwelt und mit
 
Transzendenz. Nur wenn der einzelne Mensch immer wieder dazu bereit ist, sich in eine so
 
verstandene Kultur der Kommunikation
 
einzuüben, kann er einen Beitrag zum Entstehen
 
und Bewahren einer humanen Welt leisten.
 
Freimaurer, die zu diesem Auftrag stehen, Großlogen, die diesen Auftrag fördern wollen,
 
können
 
auch heute – bescheiden, aber wirksam – zur Entwicklung der politischen Kultur
 
in Deutschland beitragen, insbesondere auch zu den Prozessen der deutsch-deutschen
 
Vereinigung
 
mit all ihren Chancen und Brüchen, mit all ihrem Gelingen und Scheitern,
 
Prozesse, die nicht zuletzt wegen der Brüder Freimaurer hier in den Neuen Ländern eine
 
besondere Verantwortung
 
für uns begründen.
 
Einüben in Umgangsstile, Sensibilität im zwischenmenschlichen Bereich, Handeln aus
 
Verantwortung
 
und mit Augenmaß: All das setzt Redlichkeit und Wahrhaftigkeit voraus,
 
die wiederum
 
Mut zum Erinnern erfordern. Immer wieder bestätigt sich, dass die Qualität
 
der politischen
 
Kultur einer Gesellschaft von der Ehrlichkeit im Umgang mit ihrer Vergangenheit
 
abhängt.
 
Die Vergangenheit jedes einzelnen Menschen wie die Vergangenheit
 
ganzer Gesellschaften
 
sind wie Heimaten und Häuser, in denen sich Menschen einrichten.
 
Ohne einen solchen
 
Bezug zur Vergangenheit kann der Mensch als »unbehaustes Wesen«
 
nicht existieren. Doch sich ehrlich an Vergangenheit zu erinnern, fällt erfahrungsgemäß
 
schwer. Menschen, Gruppen und ganze Gesellschaften neigen dazu, die individuellen und
 
kollektiven Häuser der Vergangenheit je nach Bedarf neu anzustreichen, umzuräumen oder
 
gar ganze Bezirke zu sperren und zu verbotenen Kammern zu erklären. Nicht wirkliche
 
Heimat, sondern zweckdienliche
 
Heimatklischees, nicht verlässliche Wohnungen, sondern
 
Bühnenkulissen sind die Folge. Gefällige Selbstinszenierungen des Vergangenen erweisen
 
sich aber kaum als tragfähige Fundamente für ein zukunftsträchtiges Bauen – »Erinnerungen
 
für die Zukunft«, der Titel des Projekts unserer Preisträger, liefert demgegenüber
 
das für ehrliche Alternativen erforderliche Stichwort.
 
Erinnern an Vergangenes ist in Phasen des politisch-gesellschaftlichen Umbruchs besonders
 
wichtig. Nur allzu leicht ist sonst die Basis für den Neubeginn brüchig, sowohl im
 
Hinblick auf Fakten, die man kennen muss, als – und besonders – auch im Hinblick auf
 
Moral. Zweimal in der jüngeren deutschen Vergangenheit gab es grundstürzende Veränderungen:
 
beim Zusammenbruch
 
des Nazisystems 1945 und bei der osteuropaweiten Implosion
 
des Kommunismus 1989. Jedesmal bekannten sich die Deutschen zur Notwendigkeit
 
einer »Bewältigung der Vergangenheit
 
«, doch jedesmal zeigten sich große Schwierigkeiten
 
damit, und »der Bequemlichkeit
 
des Mitläufertums folgte (jeweils nur allzu rasch) die Beqemlichkeit
 
des Vergessens« (Stefan Wolle).
 
Nach 1945 fiel es den Deutschen schwer, das große Maß ihrer Verstrickung in das
 
NS-System zu akzeptieren. Als »Unfähigkeit zu trauern« haben Alexander und Margarete
 
Mitscherlich das vielschichtige Syndrom des Vergessens und Verdrängens, der fehlenden
 
Bereitschaft zur Auseinandersetzung
 
mit der Vergangenheit beschrieben, ein Syndrom von
 
Teil- und Unehrlichkeit, dem sich auch die deutsche Freimaurerei zu stellen hat.
 
292
 
Nach 1989 wurde innerhalb und außerhalb der zusammengebrochenen DDR mit großer
 
Entschiedenheit
 
die Aufarbeitung der totalitären Vergangenheit, insbesondere der Stasi-
 
Verbrechen,
 
eingefordert. Behörden wurden gegründet, Enquetekommissionen eingesetzt,
 
Forschungsprogramme
 
projektiert und Institute eingerichtet. Und doch sind erneut viele
 
Fehlentwicklungen
 
auszumachen:
 
• westdeutscher Übereifer in Kompensation eigener, im Bezug auf die NS-Vergangenheit
 
versäumter Aufarbeitungserfordernisse nach 1945;
 
• Weiterwirken allzu simpler antikommunistischer Klischees;
 
• Erscheinungen von DDR-Nostalgie in den neuen Bundesländern, Sehnsüchte nach der
 
(vermeintlich) »heilen Welt der Diktatur« (Stefan Wolle);
 
• Symptome einer vielschichtigen »Verabredung des Vergessens« – um eine Kennzeichnung
 
von Joachim Gauck zu verwenden –, mit besonders negativen Folgen für die Anerkenung
 
und Entschädigung der Opfer, oft jeder Gerechtigkeit und Güte bar;
 
• freches Auftrumpfen der politischen Akteure von gestern (über die Wolf Biermann schon
 
1990 bitter spottete: »Sie haben uns alles verziehen, was sie uns angetan …«);
 
• schließlich die Einseitigkeiten der Konzentration auf die oft dürre Analyse totalitärer Systemstrukturen
 
bei gleichzeitigem Vergessen der individuellen Schicksale einzelner Menschen.
 
Das Vergessen einzelner Menschen trägt besonders inhumane Züge, denn es darf und kann
 
doch nicht darüber hinweggegangen werden, dass das, was sich rückschauend zu Geschichte
 
verdichtet, zunächst und vor allem auf den Geschichten der Einzelnen beruht. Gerade der
 
Freimaurer, der von Wert und Würde jedes einzelnen konkreten Menschen ausgeht, muss
 
oder sollte wissen, dass vergessene Opfer doppelt geopfert werden und dass ein Nicht-erinnern-
 
Wollen von in der Vergangenheit erlittenem Unrecht, von Unterdrückung und Gewalt
 
neues Unrecht, ja neue Unmenschlichkeit in der Gegenwart bedeutet.
 
Gewiss: Sich an Wahrheiten zu erinnern kann unbequem sein, es erfordert Mut und
 
die Bereitschaft,
 
auf die erwähnten bequemen »Neuerfindungen der Vergangenheit« zu
 
verzichten. Es ist dem Politikwissenschaftler Stefan Wolle darin zuzustimmen, dass alles,
 
was gemeinhin unter dem Signum von »Aufarbeitung« und »Vergangenheitsbewältigung«
 
rubriziert wird, der natürlichen
 
Gravitationskraft des Alltagsdenkens widerstrebt und dass
 
die »Schlussstrichzieher aller Zeiten« stets den gesunden Menschverstand auf ihrer Seite zu
 
haben scheinen.
 
Hier kommt mir Erich Frieds Gedicht über die »Vorteile der Unwissenheit« in den Sinn:
 
»Nichtwissen
 
tut niemand weh
 
mit Ausnahme derer
 
denen weh getan werden kann
 
weil niemand es weiß.«
 
Wehtun, weil niemand es weiß: Das Projekt »Erinnerungen für die Zukunft«, für das
 
Ernst-Jürgen
 
Walberg und Thomas Balzer heute mit dem »Kulturpreis deutscher Freimaurer
 
« ausgezeichnet
 
werden, will dieser Unmenschlichkeit des Vergessens vieler einzelner
 
293
 
Lebensschicksale
 
entgegenwirken. Es will durch das Sichtbarmachen einzelner Lebensschicksale
 
zugleich aber auch einen Beitrag zum Verständnis der vergangenen DDR-Realitäten
 
leisten, der offiziellen
 
wie der alltäglichen. Es vermittelt dringend erforderliche Information
 
über ein Land, das im Westen Deutschlands immer noch weithin unbekannt
 
geblieben ist, und es dient als sensibler Kompass für die gerade heute in West- wie Ostdeutschland
 
so notwendige richtige Standortbestimmung
 
der SED-Diktatur zwischen
 
Dämonisierung und Verharmlosung. Es macht die Zusammenhänge zwischen der Omnipräsenz
 
der Unterdrückung
 
und der Nischengesellschaft des Alltags sichtbar und verdeutlicht
 
eine auch aus der NS-Zeit bekannte Grundstruktur totalitärer
 
Gesellschaften, dass
 
nämlich in solchen Systemen
 
vermeintliche Harmlosigkeiten des Alltags
 
dämonische Dimensionen
 
und tatsächliche Schrecklichkeiten des Systems gemütlich-alltägliche
 
Seiten
 
besitzen können (Stefan Wolle). Der KZ-Aufseher als Beethoven spielender Familienvater,
 
der Lebenspartner als inoffizieller Stasi-Mitarbeiter, aber auch der Widerständler aus dem
 
System heraus sind Prototypen dieser totalitären Gemengelage.
 
Walberg und Balzer setzen hier an und spüren hier auf. Zu Recht erhalten sie den Preis
 
gemeinsam.
 
Die beiden Journalisten wirken als engagiertes und kreatives Team zusammen.
 
Die gemeinsame
 
Arbeit des älteren und des jüngeren Journalisten, des »Wessis« und des
 
»Ossis«, erwies
 
und erweist sich dabei als besonders fruchtbar.
 
Nicht nur das Projekt als solches, auch die Gestaltungsweise der beiden Autoren überzeugt
 
und ist preiswürdig. Walberg und Balzer gehen mit Sensibilität und Neugier, mit
 
Leidenschaft und Augenmaß an ihre Aufgabe heran. Sie blenden eigene Betroffenheit, ja
 
Ratlosigkeit nicht aus. Sie hören zu, sie sind neugierig, aber nie auf Sensation versessen.
 
Sie fragen und kommentieren
 
nüchtern, doch zugleich empathisch. Sie wollen wirklich
 
Neues erfahren und wissen nicht im Voraus schon Bescheid.
 
Die Darstellungsformen sind vielfältig: Stundensendungen stehen neben Kurzbeiträgen,
 
Dokumentationen
 
wechseln mit langen Interviews, gründlich vorbereitet, eingeordnet
 
in die konkrete
 
Situation der DDR und der Ost-West-Beziehungen, durch Quellenstudium
 
fundiert, nicht selten wirkliche Meisterwerke des zeitgeschichtlichen Journalismus. Das
 
gewählte Medium, das Radio, das in dieser Form wohl nur öffentlich-rechtlich existieren
 
kann, bewährt sich in seiner Qualität. Es dokumentiert nicht nur, sondern bringt den
 
Hörer auch auf seine so überzeugend unspektakulär-altmodische Art zum Nachdenken
 
und regt zum Entwickeln eigener Bilderwelten
 
an.
 
Gespräche, wie Walberg und Balzer sie führen – mit Zeitzeugen, mit Opfern, auch
 
mit Tätern, soweit sie bereit sind zu sprechen – machen nicht nur Geschichte hörbar
 
und mitvollziehbar. Die Gespräche erweisen sich auch als Schritte zur Befreiung der
 
Gesprächspartner aus den Fesseln einer bisher als unabänderlich empfundenen Unterdrückung
 
und zur Stärkung des Selbstbewusstseins (Hildegard Bussmann). Erinnern,
 
um vergessen zu können: Auch diesen Prozess kann der Hörer miterleben und für sich
 
nachvollziehen. Dankbarkeit ist am Platz: Die Zeitzeugen erinnern sich nicht nur für sich
 
selbst, sondern leisten Erinnerungs- und Trauerarbeit
 
auch für die Hörer der Sendungen,
 
auch für uns.
 
Geschichte durch Geschichten lebendig zu machen, an Opfer zu erinnern und Täter
 
zu benennen:
 
Das darf freilich nicht vergessen lassen, dass es bei jeder Diskussion über
 
Schuld und Verstrickung
 
in totalitären Systemen auch um Verhaltensmöglichkeiten der
 
Spezies Mensch, d.h. jedes Menschen, geht und dass – so ein Wort Dietrich Bonhoef294
 
fers – »nichts von dem, was wir im anderen verachten, uns selbst ganz fremd ist«. Diese
 
Ambivalenzen sind oft beschrieben, analysiert und kommentiert worden. Wir Freimaurer
 
stellen sie im rituellen Brauchtum dramatisch
 
dar, und es war die Jüdin Hannah Arendt,
 
die denen, die sich nach 1945 schämten, Deutsche
 
zu sein, zurief, sie schäme sich, ein
 
Mensch zu sein (zitiert nach Peter Steinbach).
 
Doch auch hier – im Bereich menschlich-allzumenschlicher Ambivalenzen und
 
Doppelbödigkeiten
 
– löst nichts so sehr Nachdenklichkeit und Betroffenheit aus wie persönliches
 
Erleben. So mag am Ende meiner Würdigung ein Vorgang aus der Arbeit der
 
Preisträger stehen, den Ernst-Jürgen Walberg im Wortlaut folgendermaßen berichtet:
 
»Im Studio sitzt ein damals 68-jähriger Mann. Er hat einst für die Kampfgruppe gegen
 
Unmenschlichkeit
 
Informationen nach Westberlin geschmuggelt und Flugblätter verteilt
 
in der DDR. Er ist verhaftet und 1952 in Greifswald zu zwölf Jahren Zuchthaus
 
verurteilt worden und zu zehn Jahren Sühnemaßnahmen anschließend ….
 
Sachlich hatte er im Vorgespräch seine Geschichte erzählt. Im Studio bricht er in Tränen
 
aus, der alte Mann bekommt keine Luft mehr – das Angebot, das Gespräch abzubrechen,
 
lehnt er ab: Wenn ich das jetzt nicht erzähle, erzähle ich es nie wieder, sagt
 
er leise. Er ist rehabilitiert
 
worden, inzwischen, als einer der ersten in Mecklenburg-
 
Vorpommern. Und deshalb frage ich ihn ganz am Schluss nach der Bedeutung, die
 
diese Rehabilitation für ihn hat. Diese Rehabilitierung zeigt mir, dass ich damals …
 
(stockt) … richtig gedacht … und gehandelt habe. Zwar ist die Einheit … bedeutend
 
… später verwirklicht worden, aber … ich hab’ sie noch erlebt
 
… (Schluchzen, dann
 
Weinen) …
 
Dieses Interview ist nicht gesendet worden bisher, wir wollten ihn nicht vorführen,
 
den alten Mann mit seinen Schwächen, seiner Trauer, seinem Weinen. Wir waren
 
selbst hilflos, ratlos.
 
Monate später kommt die Information: Dieser Mann war jahrelang inoffizieller Mitarbeiter
 
des Ministeriums für Staatssicherheit.«
 
Zum Schluss und zusammenfassend: Der Kulturpreis Deutscher Freimaurer Magdeburg
 
1998 ist nicht ein Kulturpreis traditionellen Kulturverstehens. Er mag daher auch kein Kulturpreis
 
der Schönheit sein. Doch man sollte nicht vorschnell an der Weisheit der Preisverleiher
 
zweifeln.
 
Die Großloge versteht ihn als einen Kulturpreis der Stärke, der ein gelungenes
 
und bitter notwendiges Engagement zur Förderung der politischen Kultur im vereinigten
 
Deutschland auszeichnen und zugleich zur Fortsetzung eines solchen Engagements
 
provozieren will.
 
Die Verleihung des Preises an Ernst-Jürgen Walberg und Thomas Balzer für ihr Projekt
 
»Erinnerungen für die Zukunft« will auch die Brüder Freimaurer auffordern, redlich mit
 
der Geschichte, ihrer eigenen und der deutschen, umzugehen, den Mut zu haben, sich zu
 
erinnern und zu jener Kultur des Verhaltens beizutragen, die sowohl Erfordernis gesamtdeutscher
 
Gegenwart
 
als auch Überlieferung bester freimaurerischer Tradition ist.
 
Es ist der Kulturpreis einer unbequemen Freimaurerei, die es nicht aufgegeben hat,
 
Fragen an die Zeit zu stellen und sich selbst zu einem verantwortlichen Handeln zu verpflichten.
 
Nach deutschen Wirklichkeiten zu fragen, über sie nachzudenken, Geschichte
 
nachzuarbeiten, ehrlich
 
und redlich, mit Anteilnahme am Einzelschicksal – all das gehört
 
295
 
zur bürgerlichen Verantwortung
 
hinzu, trägt bei zur Bewahrung des Politischen gegenüber
 
den gegenwärtigen gefährlichen
 
Tendenzen hin zu einer oberflächlichen, lediglich
 
scheinpolitischen Event-Gesellschaft und ist Bestandteil jener zivilen Kultur, derer die Demokratie
 
im wieder vereinigten Deutschland so dringend bedarf. Und hier schließt sich
 
der Kreis: Der Historiker Jürgen Habermas
 
hat die Logen des 18. Jahrhunderts einmal als
 
publizistische Enklaven bürgerlichen Gemeinsinns gekennzeichnet, und Lessing spekulierte
 
bekanntlich gar darüber, ob die bürgerliche
 
Gesellschaft überhaupt nicht nur ein Sprössling
 
der Freimaurer sei. Die Loge als Enklave bürgerlichen Gemeinsinns innerhalb der Gesellschaft
 
– wäre das nicht ein Ziel, »recht sehr zu wünschen« auch für unsere Zeit? Und der
 
Weg dahin: könnte er nicht ein innovatives und kreatives »Daherum-Arbeiten« bedeuten,
 
dass der Freimaurerei die ihr von Lessing zugedachte Patenrolle auch heutzutage gelingt?
 
Lieber Ernst-Jürgen Walberg, lieber Thomas Balzer, wir beglückwünschen Sie herzlich
 
zum Kulturpreis Deutscher Freimaurer, aber wir sind weit davon entfernt, gönnerhaft neben
 
ihnen zu stehen. Das, was sie geleistet haben und was sie weiter tun, hat und verdient
 
unseren Respekt,
 
weil es gut ist, aber auch, weil es uns selber angeht. Es lädt uns ein zur
 
Identifizierung, und es hilft uns dadurch, unsere eigene freimaurerische Identität zeitgemäß
 
zu begründen!
 
296
 
Quatuor Coronati: neue Leitung – alte
 
Aufgaben (1999)1
 
Die Forschungsgesellschaft (Forschungsloge) »Quatuor Coronati« will in drei Erscheinungsformen
 
für die Bruderschaft der deutschen Freimaurer wirken: als Forschungsloge, als Wissensloge
 
und als Kommunikationsloge.
 
Forschungsloge
 
Als Forschungsloge fasst »Quatuor Coronati« Brüder aus allen deutschen und aus befreundeten
 
europäischen
 
Großlogen zusammen, die freimaurerische Forschung betreiben und/oder
 
sich für die Ergebnisse freimaurerischer Forschung interessieren. Quatuor Coronati soll dafür
 
den Rahmen schaffen, Kommunikationsmöglichkeiten öffnen – auch mit der »profanen«
 
(besser: »externen«) Freimaurerforschung – und Publikationsorgane (TAU, Quatuor-Coronati-
 
Jahrbuch für Freimaurerforschung)
 
bereitstellen. Diese Forschung soll redlich und solide
 
sein, denn Forschung ist nun einmal
 
Forschung. Diese Forschung soll aber auch Freude
 
machen, soll etwas vermitteln vom Charme jenes kreativen Spiels, das Freimaurerei als Königliche
 
Kunst ja auch ist. Die Forschungsarbeit unserer Brüder soll sich auf viele Felder erstrecken,
 
die für die Entwicklung der Freimaurerei von Bedeutung sind und die immer wieder
 
neu abzustecken sind. Für mich als Sozialwissenschaftler sind dabei Fragen aus den Spannungsfeldern
 
»Loge und Gesellschaft« sowie »Bruder und Loge« besonders wichtig, zumal wir
 
zweifellos zu wenig darüber wissen.
 
Aber schon für die Gründer der Forschungsloge war ganz klar, dass sich »Quatuor
 
Coronati« vor allem mit Geschichtsforschung
 
zu befassen habe, wobei Ritualistik für mich
 
Bestandteil geschichtlicher, genauer kulturgeschichtlicher Forschung ist. Warum ist historische
 
Forschung so wichtig? Die Antwort kann nur lauten: Vor allem aus den Gegenwartsbedürfnissen
 
der Freimaurerei heraus. Freimaurerei kann sich – gerade, wenn sie im Heute
 
leben und kein erstarrtes Relikt der Vergangenheit sein will – nur von ihren historischen
 
Fundamenten her, nur aus ihrer – zuweilen auch schmerzlich gebrochenen
 
– Geschichte
 
heraus entwickeln.
 
Nur Geschichte liefert der Gegenwartsfreimaurerei Legitimation, nur Geschichte schafft
 
Identität,
 
nur Geschichte bietet Zukunftsorientierung, Orientierung auch für die notwendigen
 
Prozesse der Veränderung, vor denen wir stehen. Das Wort des Bielefelder Historikers
 
Jörn Rüsen: »Historische
 
Erinnerung ist ein Lebenselixier« gilt für die Freimaurerei ebenso
 
wie die Feststellung des englischen Historikers F. Powicke, dass Menschen ohne »konstruktiven
 
Ausblick auf die Vergangenheit
 
entweder dem Mystizismus oder dem Zynismus verfallen
 
«. Wir Freimaurer brauchen weder dem Mystizismus noch dem Zynismus zu verfallen.
 
Wenn wir historisch ausblicken, so können wir mit Stolz eine Feststellung des polnischen
 
Philosophen Leszek Kolakowski auf unseren Bund beziehen:
 
»Glücklich sind die, denen ihre
 
1 Am 9. Juli 1999 wurde Bruder Hans-Hermann Höhmann in Weimar zum Meister der Forschungsloge
 
Quatuor Coronati gewählt. Nachstehend veröffentlichen wir Auszüge aus seinen Überlegungen zur Arbeit
 
der Loge. Dieser Beitrag wurde ursprünglich veröffentlicht in: Humanität. Das deutsche Freimaurermagazin,
 
Nr. 5, September/Oktober 1999, S. 24–25.
 
297
 
eigene Tradition den Glauben an die Gemeinschaft der menschlichen Gattung, den Glauben
 
an Toleranz, die Bereitschaft zum Zusammenwirken und den Kritizismus überliefert hat.
 
Andere haben aus der Tradition den National- und Rassenhass, den Fanatismus,
 
den Kult
 
der Gewalt übernommen.«
 
Doch Geschichte als Lebenselixier, als Legitimationsgrundlage, als Identitätsstifter und
 
als Gegenwartsorientierung
 
kann nicht von uns nach dem jeweiligen Gegenwartszweck
 
neu erfunden werden. Bedarfsgerecht gemalte historische Kulissen, zweckorientierte Geschichtslegenden
 
und flache »Geschichtspolitik« spenden ebenso wenig Kraft wie das unref
 
lektierte Verbreiten von Listen
 
mit den Namen prominenter Freimaurer. Kraft im Sinne
 
von Lebenselixier entsteht nur durch ein solides und redliches Bemühen um historische
 
Wahrheit.
 
Das hat Konsequenzen für unsere Arbeit: Wir müssen uns an wissenschaftliche Standards
 
heranarbeiten,
 
auch wenn diese vielleicht gelegentlich unbequem sind; wir sind zu
 
ernsthafter Selbstprüfung
 
und kritischem Diskurs innerhalb unserer Forschungsloge verpflichtet;
 
wir müssen auf die Gefahren ideologischer Entstellungen der historischen Wahrheit
 
hinweisen und zugleich Verzicht leisten, selbst Ideologien oder Legenden zu schaffen;
 
wir brauchen das intensive Zusammenwirken mit der »profanen« (externen) Forschung.
 
Wissensloge
 
Wenn es richtig ist, dass die Lebenskraft der Freimaurerei nicht zuletzt aus ihrem historischen
 
Bewusstsein kommt, und wenn es wiederum zutrifft, dass historisches Bewusstsein
 
auf geschichtliches Wissen und zwar richtiges, geprüftes Wissen angewiesen ist, dann hat,
 
so folgt für mich daraus, »Quatuor Coronati« gewissermaßen als »Wissenloge« die Aufgabe,
 
wesentlich daran mitzuwirken, ein solches Wissen in der deutschen Bruderschaft zu verbreiten.
 
Das können wir über unsere Publikationen und unsere Tagungen (nicht zuletzt unsere
 
Arbeitstagungen) tun, das kann über unsere regionalen und örtlichen Arbeitszirkel erfolgen,
 
das kann in den Logen über alle unsere Mitglieder geschehen, auch wenn nicht jeder von
 
uns selbst aktiv forscht.
 
Seien wir ehrlich: Der Bestand an wirklich verlässlichem Wissen über das Wie und
 
Woher der Freimaurerei ist in der deutschen Bruderschaft relativ niedrig. Historische Erinnerung
 
als Lebenselixier
 
– um noch einmal Jörn Rüsens Kennzeichnung zu verwenden
 
– ereignet sich viel zu wenig. Das bedeutet aber auch, dass wir wesentliche Ressourcen
 
unserer Lebens- und Überlebenskraft nur unzureichend nutzen: nämlich zu wissen, wer wir
 
sind und wohin wir gehen, weil wir wissen, wer wir waren und woher wir kamen!
 
Es ist in der Vergangenheit oft die Frage gestellt worden, ob »Quatuor Coronati«
 
»programmatisch
 
« werden, ob die Forschungsloge Entwürfe freimaurerischer Zukunft liefern
 
solle. Ich bin hier außerordentlich skeptisch, nicht nur, weil wir als Forschungsloge
 
nicht in den Entscheidungsbereich
 
von Logen und Großlogen eingreifen können und
 
dürfen, sondern vor allem, weil nicht ein Defizit an Thesen, Programmen und Aufrufen
 
für die in der Tat offenkundigen Entwicklungsprobleme
 
der deutschen Freimaurerei
 
verantwortlich ist, sondern die zu wenig kernige und kraftvolle Identität der deutschen
 
Bruderschaft insgesamt.
 
298
 
Hier ist aber genau der Platz, wo wir als Quatuor Coronati-Brüder wirken können,
 
wirken können
 
als eine zwar indirekte, aber doch wichtige Kraft (wobei ich beides betone:
 
»indirekt« und »Kraft«): durch unsere Beiträge zu einer produktiven Kultur des historischen
 
Erinnerns, die Identität
 
und Orientierung der deutschen Bruderschaft fördert; durch unsere
 
Beiträge zu den bereits von Lessing unverbesserbar klar gestellten Grund- und Lebensfragen
 
unseres Bundes: »Was und warum
 
die Freimaurerei ist, wann und wo sie gewesen, wie
 
und wodurch sie befördert oder gehindert wird«.
 
Kommunikationsloge
 
Schließlich, aber nicht zuletzt besteht die Arbeit der Forschungsloge im Vermitteln einer
 
intensiven Kommunikation (Quatuor Coronati als »Kommunikationsloge«). Das bedeutet:
 
• Kommunikation der Quatuor Coronati-Brüder untereinander:
 
Durch Arbeitstagungen, durch das Wirken der Zirkel, durch Kommunikation im Internet.
 
Insgesamt geht es um immer neue Ansätze zum »laut denken mit einem
 
Freunde« (Lessing).
 
Die Parallelität von Forschungsloge und Forschungsgesellschaft, wie sie unsere neue Satzung
 
vorsieht, und die Öffnung der Mitgliedschaft in der Forschungsgesellschaft über den
 
Kreis der Freimaurermeister hinaus führen hier zu neuen, bereichernden Möglichkeiten.
 
• Kommunikation zwischen QC und der deutschen Bruderschaft:
 
Hier geht es um das Wirken als »Wissensloge«, um Einsatz für Wissensvermittlung, um
 
Sensibilisierung für zentrale Fragen unseres
 
Bundes, um eine Erweiterung der Mitgliederbasis
 
vor allem auch durch die jungen Meister; hier geht es darum deutlich zu machen,
 
dass die Forschungsloge mit ihrer Offenheit für Brüder aller Systeme, mit ihrem Verzicht
 
auf jedes einengende Profil und ihrer Internationalität eine vorzügliche
 
Stätte brüderlicher
 
Begegnung und kreativer Nachdenklichkeit ist.
 
• Kommunikation mit den Großlogen, die die VGLvD bilden, und den VGLvD selber:
 
Diese sollten mit uns gemeinsam überlegen, wie sie die »Ressource Quatuor Coronati«
 
noch besser nutzen
 
können, von der sie keinerlei großlogenpolitischen Ehrgeiz zu befürchten
 
haben. Es ist bedauerlich, wie unzureichend die Großlogenleitungen den Wert
 
von »Quatuor Coronati« erkennen. Es geht ihnen wohl immer noch mehr um Administration
 
und Interessenbewahrung als um inhaltlich-freimaurerische Arbeit. Verwaltung
 
geht offensichtlich vor Gestaltung. Nur sehr selten sind QC-Vertreter zu Sitzungen des
 
Senats der VGLvD eingeladen worden – obwohl die Forschungsloge mit ihren 1500 Mitgliedern
 
die drittgrößte Vereinigung innerhalb der VGLvD ist.
 
• Kommunikation mit den Brüdern von Forschungslogen im Ausland:
 
Wie groß ist unsere Freude, so viele von ihnen immer wieder unter uns zu haben! Von der
 
Forschung her zum Zusammenwachsen der europäischen Freimaurer beizutragen – auch
 
hierin sehe ich einen wichtigen Aspekt der Arbeit von QC.
 
• Kommunikation mit der »profanen« (externen) Freimaurerforschung:
 
Wir brauchen diesen Kontakt zur inhaltlichen Bereicherung der Forschung und als kritisches
 
Korrektiv in methodologischer
 
Hinsicht. Wir brauchen diesen Kontakt auch, weil
 
»externe« Forscher an manche Frage unbefangener
 
herangehen können als wir selbst. Die
 
Zusammenarbeit sollte über die Geschichtsforschung
 
hinaus zu anderen Disziplinen ausgebaut
 
werden.
 
299
 
• Schließlich Kommunikation mit der Öffentlichkeit:
 
Durch das Veröffentlichen von Forschungsergebnissen,
 
durch öffentliche Vorträge unserer
 
Mitglieder, über eine geeignete Homepage im Internet
 
u.s.w. können wir zur dringend
 
notwendigen Klärung des Freimaurerbildes in der deutschen Gesellschaft beitragen.
 
Über all dies möchte ich mit allen Brüdern im Gespräch bleiben. Es würde mich freuen,
 
wenn das Forum brüderlicher Begegnung, das die Forschungsloge »Quatuor Coronati« bietet,
 
noch besser genutzt würde. Wir wollen durch Forschung, durch das Wecken von Interesse
 
an freimaurerischem Wissen und durch kreative Kommunikation einer erfolgreichen
 
Entwicklung und der Einigkeit der deutschen Bruderschaft dienen.
 
Neue Mitarbeiter sind hochwillkommen!
 
300
 
Toleranz als politisches Prinzip und
 
persönliche Tugend – die Sicht eines
 
Freimaurers (2000)1
 
Wir alle haben erlebt, wie sehr Toleranz in den vergangenen Monaten zu einem bestimmenden
 
Thema der politischen
 
Diskussion in Deutschland geworden ist. Hierfür gibt es
 
zunächst aktuelle Ursachen: Die zunehmende rechtsextremistische Gewalt gegen Ausländer
 
und deutsche Bürger
 
jüdischen Glaubens macht klare Antworten der deutschen Demokratie
 
und ihrer engagierten Bürger erforderlich. So hat die Bundesregierung zu einem »Bündnis
 
für Demokratie und Toleranz – gegen Extremismus und Gewalt« aufgerufen, und so haben
 
politische Gruppen, Kirchen, Intellektuelle und Bürger wiederholt gegen die gewalttätige
 
Intoleranz von Rechts Stellung bezogen, besonders eindrucksvoll auf der großen Berliner
 
Kundgebung vom 9. November 2000, zu der nicht weniger als 200.000 Menschen demonstrierend
 
und protestierend zusammenkamen.
 
Doch auch die jüngsten Diskussionen um Einwanderung, »deutsche Leitkultur«, Nationalstolz
 
und multikulturelle Gesellschaft haben zu intensiven Anstrengungen geführt,
 
Toleranz als politisches Grundprinzip einer weltoffenen Demokratie neu zu bestimmen.
 
Was bedeutet der gegenwärtige hohe Stellenwert der Toleranz im gesellschaftlichen
 
Diskurs der Bundesrepublik?
 
Er signalisiert zumindest eine bemerkenswerte Tendenz zur öffentlichen Sensibilisierung.
 
Doch mir scheint, dass den Reaktionen, die wir beobachten und an denen wir teilhaben,
 
bisher etwas ausgesprochen Defensives anhaftet.
 
Demokratie und Toleranz sollen gegen Intoleranz und Gewalt verteidigt, aber auch
 
vertraute deutsche Verhältnisse gegen ein vermeintliches Zuviel an Toleranz abgeschirmt
 
werden. Fruchtbar werden kann die Toleranzdebatte jedoch wohl nur dann, wenn Toleranz
 
zu einer permanenten politischen Gestaltungsaufgabe wird, wenn sie positiv definiert und
 
aktiv gestaltet wird, wenn es gelingt, den demokratischen Verfassungskonsens um den Toleranzbegriff
 
herum zu erneuern und im Verhalten der Bürger zu verankern.
 
Im Verhalten der Bürger zu verankern – denn es ist ebenso selbstverständlich wie unabdingbar,
 
dass »Toleranz die erste und wichtigste Tugend ist, die geübt werden muss, um
 
das Leben in einer Sozietät nicht nur erträglich, sondern auch effizient zu gestalten … Sie
 
bleibt Bedingung der Möglichkeit von Freiheit und Würde des Menschen als eines sozialen
 
Wesens, sie bleibt gefordert im Zusammenleben von Mann und Frau, sie ist unerlässlich im
 
Verkehr zwischen großen und kleinen gesellschaftlichen Gruppen, gleich, ob es sich dabei
 
um soziale Schichten, um Ethnien und Völker oder um Religionsgemeinschaften handelt«
 
(Ivo Frenzel).
 
Toleranz ist auch eine alte freimaurerische Wertvorstellung. Seit dem 18. Jahrhundert
 
waren es nicht zuletzt Vertreter des Freimaurerbundes, die sich für einen toleranten Umgang
 
der Menschen miteinander über nationale, religiöse und soziale Grenzen eingesetzt
 
haben. Doch das bedeutet nicht, dass Freimaurer allein aus ihrer Tradition heraus auch
 
heutzutage besonders viel von toleranten Prinzipien und Formen der Praxis verstünden.
 
1 Festvortrag zur Preisverleihung beim Wettbewerb »Aktive Toleranz im Zeitalter der Globalisierung« der
 
Loge »Zur deutschen Redlichkeit« in Iserlohn am »Internationalen Tag der Toleranz«, 16. November
 
2000. Dieser Beitrag wurde bisher nicht veröffentlicht.
 
301
 
Auch für sie muss Toleranz wieder mehr sein als ein »moralischer Aufputz« (so Friedrich
 
Nietzsches kritisches Wort), und deshalb müssen auch sie erneut und ernsthaft ihren Beitrag
 
leisten sowohl zur Verstetigung und Vertiefung der Toleranzdiskussion als auch zur
 
Einübung einer toleranten Praxis.
 
Deshalb möchte ich meine Skizze zur »Toleranz als politisches Prinzip und persönliche
 
Tugend« auch weniger als Festansprache verstehen und mehr als Werkstattbericht, als Annäherung
 
an eine komplexe Problematik, die uns auf Dauer beschäftigen wird und muss.
 
Ich möchte vermeiden, gleichsam zum Mitglied einer Bordkapelle zu werden, die besinnliche
 
Weisen spielt, während der Dampfer weiterzieht, wohin er will – auch wenn die Reise
 
unverkennbar in die falsche Richtung geht.
 
Zunächst: Die aktuellen Debatten und politischen Zuspitzungen müssen auf dem Hintergrund
 
der grundstürzenden gesellschaftlichen Veränderungen gesehen werden, die seit
 
den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts Deutschland und die Welt um uns herum
 
erfasst haben.
 
Moderne Gesellschaften
 
sind seit ihrer Entstehung pluralistische Gesellschaften gewesen.
 
Doch in jüngster Zeit hat die Vielfalt der modernen Lebenswelten beschleunigt zugenommen.
 
Dies gilt für die »realen Welten« von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft ebenso
 
wie für die Vielfalt der kulturellen Ausdrucksformen, Verhaltensweisen, Lebensstile, religiösen
 
Überzeugungen und Wertvorstellungen der Menschen. Jede moderne pluralistische
 
Gesellschaft ist daher zugleich eine kulturell differenzierte Gesellschaft. Dies beschreibt ihr
 
Wesen, bedeutet ihren Reichtum, ist aber auch Ursache zahlreicher Konflikte und macht
 
eine gründliche kognitive Aufarbeitung ebenso erforderlich wie die Bereitschaft zu institutionellen
 
Reformen und politischem Engagement der Bürger.
 
Auch die Prozesse, die zur weiteren Auffächerung der Pluralität geführt haben, sind
 
vielschichtig. Ihre Intensität, ihre Gleichzeitigkeit und ihr weltweiter Charakter haben wiederum
 
zur Folge, dass sie schwer beherrschbar sind und weltweit zum Ansteigen von Intoleranz
 
und Gewalttätigkeit führen.
 
Um die erwähnte Komplexität zu umreißen, möchte ich in gebotener Kürze sechs Prozesse
 
nennen:
 
Da ist erstens die Globalisierung, die als Verdichtung und Beschleunigung einer weltweiten
 
Vernetzung von Menschen, Informationen, ökonomischen Prozessen, Kapitalströmen und
 
Kulturen dazu führt, dass mühsam und konfliktreich zusammenwachsen muss, was durchaus
 
nicht immer zusammengehört hat.
 
Da gibt es zweitens das Ende der bipolaren
 
Welt nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion
 
und das Aufbrechen der totalitären Verkrustungen innerhalb des ehemaligen kommunistischen
 
Machtbereichs, was nationale, ethnische und religiöse Konflikte freilegt oder neu
 
entstehen lässt und vielfach geradezu als Übergang vom Wettstreit der Systeme zum Kampf
 
der Kulturen wahrgenommen wurde. Wegfall hegemonialer Kontrollen und zunehmende
 
Intensität innerer Konflikte in vielen Teilen der Welt lösen wiederum Vertreibungs-, Fluchtund
 
Wanderungswellen aus, die nun in den Aufnahmeländern zu Prüfsteinen toleranten Verhaltens
 
werden.
 
Hinzuweisen ist drittens auf die in vielen soziologischen Konzepten unter wechselnden Leitbegriffen
 
beschriebenen sozialen Veränderungen in Deutschland und den anderen westlichen
 
Industrieländern, die alte gesellschaftliche Verhältnisse auflösen und zu neuen sozi302
 
alen Strukturen führen. Auch diese Veränderungen, einerlei ob mehr als Risiko oder mehr
 
als Chance gewertet, erweitern die Vielfalt, führen zu zunehmender Pluralität und erhöhen
 
den Bedarf an Toleranz.
 
In gleiche Richtung wirken viertens die Veränderungen der sozialleitenden Werte. Auch sie
 
werden unterschiedlich gedeutet, erscheinen teils als Werteverfall, teils als Neubegründung
 
von Werten, laufen aber jedenfalls auf eine Pluralisierung von Verhaltensweisen sowie auf eine
 
zunehmende kulturelle Differenzierung hinaus, was wiederum bedeutet, das der Toleranzbedarf
 
wächst.
 
Fünftens ist auf die Folgen der deutschen Vereinigung mit ihren Friktionen und sozialen Verwerfungen
 
zu verweisen, die unter anderen auch dazu beitragen, jene rechtsradikalen Milieus
 
zu generieren, mit denen wir uns zunehmend auseinanderzusetzen haben.
 
Und da ist sechstens schließlich die Zuspitzung der demographischen Prozesse in Deutschland,
 
die tendenzielle Abnahme und Überalterung der Bevölkerung, die partielle Verknappung
 
der Arbeitskräfte, die unser Land – ob gewollt oder ungewollt – zum Einwanderungsland
 
werden lassen, gleichzeitig aber – in Anbetracht beträchtlicher Arbeitslosigkeit und
 
erheblicher Fremdenfeindlichkeit – wiederum den Toleranzbedarf hierzulande erhöhen.
 
Da andererseits in Deutschland wie in vielen anderen Ländern ein weitgehender Konsens der
 
Bürger darüber besteht, auch zukünftig in einer freiheitlichen, sozial verträglichen und zugleich
 
ökonomisch effizienten Welt leben zu wollen – und das nicht nur national, sondern
 
auch im Verhältnis zwischen den Staaten, – stellt sich mit Nachdruck die Frage, was erforderlich
 
ist, damit dies wenigstens in Annäherungen gelingen kann.
 
Wie oft in der Politik lassen sich die Bedingungen leicht bestimmen, aber schwer realisieren.
 
Erforderlich sind Anstrengungen auf drei Ebenen, die miteinander verbunden und aufeinander
 
angewiesen sind:
 
Erforderlich ist erstens der Erhalt und die Weiterentwicklung staatlich-demokratischer Institutionen,
 
die Freiheitsrechten und sozialen Grundrechten entsprechen, die klare Regelmechanismen
 
für politische Entscheidungen zur Verfügung stellen und die verlässlich durchsetzen,
 
dass Verfassung und Recht von allen Bürgern respektiert werden.
 
Geboten ist zweitens das Bemühen um soziale Gerechtigkeit als dem wesentlichen Inhalt und
 
zugleich Fundament der Demokratie. Das demokratische Regelspiel leidet und Konflikte
 
nehmen überhand, wenn das Prinzip Gerechtigkeit zu kurz kommt. Dabei ist nicht Gerechtigkeit
 
im Sinne von Gleichheit anzustreben. Ziel muss vielmehr sein, die vertretbaren Ungleichheiten
 
und die wünschenswerten Gleichheiten in ein produktives und ausgewogenes
 
Verhältnis zueinander zu bringen, ein Verhältnis, in dem der Freiheit des Einzelnen, dem gesellschaftlichen
 
Fortschritt, der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und dem solidarischen
 
Zusammenhalt der Gesellschaft gleichermaßen gedient ist.
 
Notwendig ist drittens die Bewahrung und die Praktizierung von Toleranz. Toleranz ist das
 
unverzichtbare Medium, das die verschiedenen sozialen, weltanschaulichen und ethnischnationalen
 
Gruppen der Gesellschaft verträglich miteinander
 
auskommen lässt und das
 
den politischen Prozess zugleich für Innovationen öffnet. Die UNESCO-Erklärung der
 
Prinzipien der Toleranz vom 16. November 1995 stellt daher überzeugend fest: »Toleranz
 
ist der Schlussstein, der Menschenrechte, Pluralismus, Demokratie und Rechtsstaat zusammenhält.
 
«
 
303
 
Doch bevor ich meine Anmerkungen zur Toleranz fortsetze, möchte ich einige mir heutzutage
 
und hierzulande wichtig erscheinende Zwischenbemerkungen machen: Die genannten
 
Prinzipien – insbesondere Demokratie, freiheitlicher Rechtsstaat und Toleranz – sind sehr
 
wesentlich aus der europäischer Entwicklung der letzten 300 Jahre hervorgegangen. Sie sind
 
im Kern jedoch älter, haben Wurzeln auch in anderen, nichtchristlichen Kulturen – etwa im
 
maurisch-islamischen Spanien vor der Reconquista – und werden mehr und mehr auch zum
 
Bestandteil einer sich formierenden politischen Weltkultur. Deutsche Leitkultur sind sie allerdings
 
über entscheidende Phasen des 19. und 20 Jahrhundert nicht gewesen. Gewiss, die
 
deutsche Tradition der Aufklärung und des Liberalismus vermittelte im 19. Jahrhundert viele
 
Impulse in andere Länder, und Deutschland ist gewiss kein Land, das dem Westen kulturell
 
nicht verbunden gewesen wäre und nicht an seiner Entwicklung teilgenommen hätte. Gleichwohl:
 
Der politischen Wertegemeinschaft westlicher Länder gehörte Deutschland in politisch
 
entscheidenden Phasen der jüngeren Geschichte nicht an – nach 1918 noch weniger als vor
 
1914, und schon gar nicht nach 1933.
 
Insbesondere seit dem Ersten Weltkrieg wurden den »Ideen von 1789« in Theorie und
 
Praxis die »Ideen von 1914« entgegengesetzt. Eigene Beiträge zur Tradition von Aufklärung
 
und Toleranz wurden verleugnet, lange bevor die Nazis Lessings Nathan von den deutschen
 
Bühnen verbannten. »Machtgeschützte Innerlichkeit« trat an die Stelle demokratischer Offenheit,
 
westliche Zivilisation wurde gegenüber deutscher Kultur abgewertet, Gemeinschaft
 
wurde verklärt, Gesellschaft verdammt. Und so waren es nach 1945 – bei allen ihren Verdiensten
 
– nicht primär die Väter des Grundgesetzes, die eine verlässliche Basis für den
 
demokratischen Rechtsstaat schufen, sondern das internationale Umfeld, und es ist nicht
 
zuletzt der Faktor »gelungener Transfer politischer Kultur von außen«, was den Erfolg und
 
die zunehmende Verwurzelung der Demokratie im Deutschland der Nachkriegszeit erklärt –
 
was uns andererseits allerdings auch fragen lässt, wie sicher wir uns unserer politischen Kultur
 
heute eigentlich sein dürfen.
 
Zurück zur Toleranz: Toleranz bestimmt die Prozessqualität der Demokratie. Toleranz
 
hat eine vermittelnde, eine gemeinschaftserhaltende, eine die individuellen und gruppenbezogenen
 
Freiheitsrechte sozialisierende Funktion. Toleranz ist dabei nicht im Sinne von
 
bloßer Duldung zu verstehen (das war schon Goethe zu wenig), sondern im Sinne einer
 
Anerkennung des Gegenübers, die auf der Einsicht beruht, dass andere nicht nur einfach anders
 
sind, sondern dass sie als Menschen ein Recht haben, anders zu sein, und dass gerade in
 
einem flexiblen Miteinander abgegrenzter und doch offener Identitäten der soziale und kulturelle
 
Reichtum (sozusagen das »Lebenselixier«) einer pluralistischen Gesellschaften besteht.
 
Nicht nur Strukturen und politische Auffassungen müssen im Sinne von Anerkennung
 
toleriert werden, sondern auch Kulturen. Kulturen regeln das Verhalten der Menschen und
 
bestimmen ihr Weltbild. Kulturen sind Quellen von individueller und kollektiver Identität,
 
und – Kulturen stiften Heimat! Das müssen wir wissen, wenn wir uns mit den Kulturen
 
der Menschen auseinandersetzen, die zu uns kommen. Fehlende interkulturelle Toleranz
 
zerstört Heimat, entwurzelt Menschen und vergrößert wiederum das Konflikt- und Gewaltpotenzial
 
in unserer Gesellschaft.
 
Toleranz ist das ebenso grundlegende wie unverzichtbare Stilprinzip der Demokratie.
 
Als Stilprinzip kann Toleranz allerdings kaum politisch geregelt und durchgesetzt werden.
 
Gewiss: Der Staat hat institutionelle Voraussetzungen zu schaffen, vernünftige und verlässliche
 
Gesetze insbesondere. Das Gelingen von Toleranz hängt jedoch weitgehend vom to304
 
leranten Verhalten engagierter
 
Bürger ab. Insofern ist Toleranz nicht nur ein unabdingbares
 
politisches Prinzip, sondern auch eine persönliche Tugend,
 
die es überall einzuüben und zu
 
praktizieren gilt.
 
Tugend scheint nun zunächst ein altmodischer Begriff zu sein, der zudem in den
 
1960er und 1970er Jahren mit Kritik an damals als peinlich empfundenen deutschen
 
Sekundärtugenden wie Gehorsam, Sauberkeit und Fleiß abgewertet wurde – wie ja auch
 
die Toleranz als herrschaftsstützende »repressive Toleranz« (Herbert Marcuse) zeitweise in
 
einem eher negativen Licht erschien.
 
Was aber meint der Tugendbegriff wirklich? Wenn wir ihn – auf den Spuren des
 
Aachener Universitätsphilosophen Klaus Hammacher – historisch zurückverfolgen, so
 
begegnen wir bereits bei Aristoteles der Auffassung, dass gute Handlungen nicht aus
 
dem Denken des Guten hervorgehen, sondern aus guten Gewohnheiten. Und selbst der
 
Rationalist Descartes spricht in deutlicher Umkehrung der Vorstellung von einer bloß gedanklichen
 
Auslösbarkeit richtigen Handelns von den Tugenden als den »Gewohnheiten
 
der Seele, die diese zu bestimmten Gedanken veranlassen«. Und so kann wohl auch die
 
Idee der Toleranz nur dann wirksam werden, wenn sie in ein solchermaßen tugendhaftes
 
Verhalten eingebettet ist, das heißt, wenn das Miteinanderauskommen in einer pluralen
 
Welt von jedem einzelnen Bürger im persönlichen Umgang immer wieder eingeübt wird.
 
Tolerantes Verhalten einzuüben, ist nach aller Erfahrung allerdings schwer. Denn uns
 
begegnet immer wieder Fremdes, und das Fremde stört, irritiert und macht Angst. Einen
 
Weg, wie die Idee der Toleranz im toleranten Umgang miteinander umgesetzt werden
 
kann, zeigt Lessing im Nathan. Lessings Weg ist die Anerkennung des ursprünglich Fremden
 
als Freund. »Wir müssen, müssen Freunde sein«, so Nathan zum Tempelherrn, –
 
»Geh, aber sei mein Freund«, so Saladin zu Nathan.
 
Freilich, das Miteinander von Nathan, Tempelherr und Saladin ist für die Beteiligten
 
angenehm, scheinen sie doch – bei allen religiösen Unterschieden – Vertreter einer
 
Kultur und eines Verhaltensstils zu sein. Saladin ist ein Morgenländer nach abendländischem
 
Geschmack (wie ja auch Goethes Suleika eher Marianne von Willemer ist als
 
das Abbild eines wirklichen persischen Mädchens). Um beim »Westöstlichen Diwan«
 
zu bleiben: Goethes »Wer sich selbst und andre kennt, wird auch hier erkennen: Orient
 
und Okzident sind nicht mehr zu trennen« gilt gewiss im Sinne der mit der Globalisierung
 
verbundenen Vernetzungen, doch kaum für konkretes Aufeinandertreffen von
 
Kulturen. Da gibt es Fremdheiten, die uns auch ganz persönlich begegnen, und unsere
 
Einübungsaufgabe besteht darin, mit diesen Fremdheiten zu leben und sie dennoch zu
 
überbrücken; Identitäten zu schonen, kulturelle Heimat zu belassen und dennoch das
 
Miteinander zu versuchen; Grenzen zu respektieren und sie trotzdem zu öffnen; Vermischungen
 
von Kulturen zuzulassen und sich des entstehenden Reichtums zu freuen,
 
beispielsweise durch Wahrnehmung einer so gelungenen Kulturmischung, wie sie etwa
 
das Rheinland repräsentiert.
 
Um zum Beginn zurückzukehren und gleichzeitig zu schließen: Es ist zu hoffen, dass die
 
gegenwärtigen Entwicklungen
 
und Debatten in unserem Lande als folgenreicher »Ruck
 
durch Deutschland« wirken. Das bedeutet, dass es nicht beim Symbolakt des im Mai 2000
 
initiierten »Bündnisses für Demokratie
 
und Toleranz« bleiben darf, sondern dass alle Anstöße
 
in einen anhaltenden Prozess einmünden sollten:
 
305
 
• intensiv über die Grundlagen
 
deutscher Geschichte und Kultur nachzudenken,
 
• sich darüber klar zu werden, in welcher Welt wir morgen leben wollen und welche Voraussetzungen
 
dafür zu erfüllen sind und
 
• sich bewusst zu machen,
 
wie sehr wir dazu der Toleranz bedürfen, der Toleranz, die ganz
 
privat und persönlich im konkreten Miteinander der Menschen beginnt, die sich aber –
 
wenn sie als Anerkennung
 
des anderen in seiner Verschiedenheit praktiziert wird – umgehend
 
in eine unverzichtbare
 
öffentliche Tugend verwandelt.
 
Auch wir Freimaurer müssen Fragen an uns selber stellen:
 
• Ist die Loge wirklich so umfassend, so plural, so lebendig, dass sie zu einer Übungsstätte
 
für anerkennend-aktive Toleranz taugt?
 
• Ist die Vielfalt der Themen, mit denen wir uns beschäftigen, groß genug, um die Chance
 
einer kontroversen Aufarbeitung zu bieten?
 
• Entspricht das freimaurerische Engagement für Toleranz heute der ständigen Berufung
 
auf Teilhabe von Freimaurern an der Entwicklung der Toleranzidee?
 
• Toleranz als persönliche Tugend mit öffentlicher Wirkung, wird sie von uns Freimaurern
 
ausreichend geübt?
 
In seiner Ansprache anlässlich der Gründung des »Bündnisses für Demokratie und Toleranz
 
« am 23. Mai 2000 in Berlin betonte György Konrad, ungarischer Dissident, heute Präsident
 
der Akademie der Künste in Berlin und jüngst mit dem Aachener Karlspreis ausgezeichnet,
 
wie einfach und wie schwer zugleich die Aufgabe ist: »Wo die Idee der zivilen Gesellschaft
 
wie selbstverständlich verankert ist«, so Konrad, »wird Demokratie nicht nur von
 
denen verteidigt, die von Berufswegen dazu berufen sind, sondern auch von denen, die eigentlich
 
einer anderen Arbeit nachgehen. Ein selbstbewusster Bürger verzichtet nicht auf
 
das Recht öffentlichen Nachdenkens. Wenn es die Situation erfordert, dann stellt er sich hin
 
und sagt, was zu sagen ist, und wenn die Gesellschaft im Denken, in der Sprache, in der Argumentation
 
und im Verhalten dem Anspruch der Demokratie gerecht wird, dann finden
 
Extremisten keine Bühne zum Krakelen.«
 
Und György Konrad schloss mit einer Anmahnung des eigentlich Selbstverständlichen:
 
»Der Anspruch auf ein Europa, in dem der Nächste von niemandem getötet, geschlagen
 
oder beleidigt wird, nur weil er ist, wie er ist, sollte doch keine so große Sache sein. Um
 
das zu erreichen, müssen wir nun wirklich keine Engel sein. Engel zu sein, damit hat es da
 
drüben noch Zeit genug.«
 
Aber – und damit komme ich zum Ende – uns einüben in Toleranz, das müssen wir
 
hier und heute.
 
306
 
Lob eines Brückenbauers:
 
Dr. Alois Kehl zum 80. Geburtstag (2003)1
 
Meine Damen und Herren,
 
liebe Schwestern und Brüder,
 
vor allem aber: lieber Herr Kehl!
 
Es ist eine herzliche Freude für uns alle, dass wir heute Ihren achtzigsten Geburtstag mit Ihnen
 
hier im Kölner Logenhaus feiern können. Und wir feiern zugleich Ihre ganz spezifische
 
Zugehörigkeit zu unserem Bund und zu unserer Loge, die in diesem Jahr 35 Jahre besteht,
 
eine Zugehörigkeit, durch die Sie in vielerlei Hinsicht unser Freund und Wegbegleiter geworden
 
sind, deren Wert jedoch gerade auch in der von Ihnen bewahrten Unabhängigkeit besteht.
 
Sie sind zum Begleiter der Freimaurer geworden, ja – wie Sie selbst gern sagen – zum
 
»Bruder im freien Geist«, ohne selbst Freimaurer zu werden.
 
Dr. Kehl hat dieses »außen und zugleich innen Sein« im Bezug auf die Freimaurerei
 
einmal mit folgenden Worten eindrucksvoll beschrieben: »Ich bin Außenstehender, ja. Ich
 
gehöre dem Freimaurerbund nicht an und bin nicht Mitglied in einer Loge. Und doch, meine
 
ich, wenn ich auf meine 30-jährige (jetzt 35-jährige) Verbundenheit mit den Freimaurern
 
zurückschaue, eine gewisse Initiation erlebt zu haben. Keine rituelle natürlich, sondern eine
 
spirituelle. Keine Initiation, die zur Aufnahme führt, sondern eine Initiation in die Geistesgemeinschaft
 
der Freimaurer.«
 
Und er hat diesen speziellen und ihn sehr prägenden Initiationsweg dann weiter beschrieben:
 
»Es begann mit einem Zufall. Der Zufall brachte mich in Kontakt mit der Loge
 
Ver Sacrum in Köln. Dieser Kontakt weckte meine Neugierde. Und indem ich ihr nachgab,
 
kam ich zu guten Kenntnissen. Diese Kenntnisse bewirkten meine Sympathie. Die Sympathie
 
wurde zum Vertrauen. Und aus dem Vertrauen wurde Freundschaft.«
 
Das sind – nicht zufällig wohl – sieben Stufen einer Initiation, erfüllt von freimaurerischer
 
Geisteshaltung und dargelegt in der Sprache eines freimaurerischen Katechismus.
 
Die genannten Stufen vermitteln nebenbei auch eine überzeugende Anleitung, auf welche
 
Weise allein der Weg eines zukünftigen Mitglieds in die Loge gelingen kann, und sie
 
beinhalten damit auch eine beherzigenswerte Empfehlung an uns Freimaurer für den Umgang
 
mit Suchenden: sich Zeit lassen, behutsam Kontakt herstellen, Neugierde wecken,
 
Kenntnisse vermitteln und wieder warten, ob Sympathie entsteht, auf deren Grundlage sich
 
Vertrauen und Freundschaft entwickeln können.
 
Für Alois Kehl und für uns Freimaurerbrüder und -schwestern (denn Dr. Kehl war und ist
 
ja auch ein Brückenbauer zwischen der traditionellen männlichen und der dynamisch-neuen
 
femininen Freimaurerei in Deutschland) hat dieser Initiationsweg zu 35 Jahren Freundschaft,
 
menschlicher Offenheit füreinander und einem nie endenden Gespräch geführt.
 
Lieber Herr Kehl, heute feiern wir mit Ihnen Ihren 80. Geburtstag, und ich freue mich
 
über die Ehre, Ihre Person und Ihr Wirken zu würdigen, wenn es sicherlich auch nur unvoll-
 
1 Laudatio auf einen »Bruder im freien Geist«, 15. September 2003, Logenhaus Köln. Dieser Beitrag wurde
 
ursprünglich veröffentlicht in: TAU, Zeitschrift der Forschungsloge »Quatuor Coronati«, Nr. II, 2003,
 
S. 50–53.
 
307
 
kommene Skizzen sind, die ich vortragen kann und die sich in vielerlei Hinsicht ergänzen
 
ließen.
 
Vom Menschen Alois Kehl, vom Wissenschaftler – und das heißt für uns vor allem vom
 
Freimaurerforscher und intellektuellen Begleiter – sowie vom Priester, vom Mann der Kirche
 
und des Glaubens, gilt es gleichermaßen zu sprechen. Anders gesagt: Vom Freund und Bruder
 
Kehl, vom Dr. Kehl und vom Pater Kehl wird die Rede sein.
 
Wenn ich den Menschen würdige, wie ich ihn erlebt habe und erlebe, so formen sich nachhaltige
 
Eindrücke:
 
• menschliche Zugewandtheit verbunden mit nobler Zurückhaltung, Interesse am anderen,
 
Ernst und Humor, stiller, feiner Humor, Hilfsbereitschaft, Treue, Treue auch zum Bund
 
der Freimaurer, wie sie bei Freimaurern selbst nicht immer erlebbar ist;
 
• Gesprächs- und Kommunikationsbereitschaft, die Fähigkeit zuzuhören und andere Positionen
 
vom eigenen Standpunkt aus anzuerkennen;
 
• aktive Toleranz auf der Basis einer einmal von ihm selbst folgendermaßen formulierten
 
Toleranzmaxime: »Dem anderen die Freiheit geben, die ich mir selbst nehme; aber auch
 
mir selbst die Freiheit nehmen, die ich dem anderen gebe.«
 
Das ist weit mehr als eine abstrakte Formel. Dahinter ist die Fähigkeit zur Liebe erkennbar,
 
verbunden mit dem Mut zur Kritik, wo eigene Überzeugung kritische Stellungnahme
 
erfordert.
 
Und dahinter wird immer wieder die Überzeugung spürbar, dass Wahrheit zu zweit beginnt,
 
dass sie im Dialog gefunden werden muß und dass – nach Lessings Wort – »nichts
 
über das laut denken mit dem Freunde geht«.
 
Und damit komme ich vom Freund, vom »Bruder im freien Geist« Alois Kehl zum Dr.
 
Kehl, zum Freimaurerforscher, zum Historiker, Philosophen und Religionswissenschaftler,
 
zum intellektuellen Begleiter der Freimaurer.
 
An der Universität zu Köln und Bonn als Altphilologe tätig, konnte er uns seine profunden
 
Kenntnisse frühchristlicher Geschichte und Religiosität, aber auch der griechischrömischen
 
Philosophie vermitteln. Als Priester der römisch-katholischen Kirche war und
 
ist er Fachmann für das schwierige Verhältnis zwischen Kirche und Freimaurerei. Aber
 
er ist mehr als bloßer Experte, er ist Brückenbauer und Moderator in einem Konflikt,
 
der zwar in vielerlei Hinsicht historisch verstehbar, vom Wesen der Freimaurer wie der
 
Religion her aber überholt und unbegründet ist. Die Seriosität dieser Mittlerfunktion ist
 
dabei darin begründet, dass seine doppelte Loyalität außer Zweifel steht: als Freund der
 
Freimaurer und als gläubiger Christ sowie als Priester seiner Kirche. Ich werde hierauf
 
später noch einmal zurückkommen.
 
»Laut denken mit dem Freunde«: Wenn man das schöne Buch mit seinen Beiträgen
 
zur Freimaurerei zu Hand nimmt, so wird deutlich, wie sehr das Nachdenken über Freimaurerei
 
und ihre historisch-philosophischen Hintergründe und Begleitphänomene entscheidende
 
Impulse aus Dr. Kehls Mitarbeit in freimaurerischen Einrichtungen erhalten
 
hat, mögen es die Logen sein, die Forschungsloge »Quatuor Coronati« oder die Akademie
 
»Forum Masonicum«. Die intellektuelle Wegbegleitung erfolgte auf der Grundlage
 
einer festen Einbindung in die freimaurerische Gruppe. Nicht zuletzt die Kontinuität
 
der Freundschaft vermittelte Anregung, Brüder und Schwestern fragten, und Alois Kehl
 
308
 
gab Antworten, oder – so wird er es vermutlich lieber hören –, er bemühte sich um Antworten,
 
um Annäherungen an das Wahre, das Vernünftige. Denn es ging Alois Kehl nie
 
um ein Verkünden feststehender Wahrheiten, es ging um ein Vermitteln von Sichtweisen,
 
um ein Erproben von Perspektiven, um rationalen Diskurs, um klare Gedanken, um das
 
unpathetische Wort.
 
Dr. Kehl hat uns geholfen, Freimaurerei in Kontexte einzuordnen und Bezüge zu Umfeldern
 
herzustellen. Er hat mit uns über die mannigfaltigen Einbettungen der Freimaurerei
 
nachgedacht, die sich ja nie außerhalb historischer, geistesgeschichtlich-religiöser und
 
kultureller Zusammenhänge entwickelt hat. Viele seine Beiträge müssten zur Pflichtlektüre
 
jedes Freimaurers werden, etwa der bedeutende Aufsatz über »Symbol und Wirklichkeit«,
 
wobei der Abschnitt »Schwierigkeiten und Gefahren im Umgang mit Symbolen« besonders
 
wichtig ist.
 
Intellektuelle Wegbegleitung, Einordnen in Kontexte, Deuten von Phänomenen, die
 
Bedeutung haben für den Freimaurerbund – hier denke ich etwa an die schönen Arbeiten
 
über »Vertrauen«, über die »heilende Wirkung des Wortes« und über »das Verstehen fremder
 
Kulturen« – die Mitwirkung an unserer Arbeit durch ein parallel zu ihr verlaufendes
 
Philosophieren für und mit uns –, all dies bedeutet ein großes Geschenk für uns.
 
Wir Freimaurer haben ja mit unserem Selbstverständnis ein beträchtliches Problem:
 
Wir können uns nur aus unserer Geschichte heraus legitimieren. Diese Verwiesenheit auf
 
Geschichte führt aber leicht zu Versuchen, Geschichte umzudeuten, selektiv mit ihr zu
 
verfahren, gar Neues zu erfinden und gefällige historische Kulissen für zeitgenössische
 
Stücke zu entwerfen. Kurz: Es schieben sich – befördert durch die Abgeschlossenheit der
 
Loge, das sogenannte »freimaurerische Geheimnis« – innere Bedürfnisse und Innensichten
 
übermächtig in den Vordergrund. Es droht der Verlust einer richtigen, einer vernünftigen,
 
einer realistischen Perspektive. Die Komplexität der Vergangenheit, ihre Gebrochenheiten,
 
ihre Widersprüche, all das, was zusammengenommen ja erst das hervorbringt, was der
 
Historiker Jörn Rüsen das »Lebenselixier historischer Erinnerung« genannt hat, geht verloren.
 
Es drohen Verf lachung und Ideologie. »Deshalb, – so haben Sie einmal ebenso anschaulich
 
wie prägnant gesagt – »müssten die Freimaurer die Fenster des Tempels öffnen,
 
nicht, damit die Welt hineinschauen kann, sondern damit die Freimaurer hinausschauen
 
können«.
 
Sie, lieber Herr Kehl, sind immer ein Lehrer dieses Hinausschauens, ein Anwalt komplexer
 
Sichtweisen gewesen. Sie haben vielfältige Zugänge zum Phänomen Freimaurerei
 
erschlossen, und Sie haben nachhaltig gewirkt, wenn es darum ging, die Freimaurerei zu
 
sich selbst zurückzuführen. Ihre im Buch dokumentierten klärenden Beiträge zu Themen
 
wie »Die Freimaurerei«, »Freimaurerei und Religion« sowie »Der Große Baumeister der
 
Welt« – um wieder die Titel nur einiger Ihrer Publikationen zu nennen – mögen als beispielhaft
 
für dieses Wirken genannt sein.
 
Doch wir verdanken Alois Kehl nicht nur wissenschaftliche Darstellungen und analytische
 
Interpretationen. Wir haben ihm auch für zahlreiche Beiträge zu danken, die
 
»Zeichnungen« darstellen im vollen Sinne des alten freimaurerischen Brauchs, rituelles
 
Geschehen durch Worte der Nachdenklichkeit, der Wegweisung und der Ermutigung zu
 
ergänzen. Wie anders wäre zu verstehen, wenn einmal Sie das Bibelwort vom Licht für
 
die Welt und vom Salz für die Erde folgendermaßen auf die Freimaurerei bezogen haben:
 
»Die Loge ist das Licht, das nicht übersehen werden kann. Der Freimaurer ist wie das Salz,
 
309
 
das, unter die Speise gemischt, nicht mehr zu sehen ist, aber seine Wirkung kann man
 
schmecken. So ist der einzelne Freimaurer vielleicht als Freimaurer gar nicht zu erkennen,
 
aber er wirkt und hilft, dass seine Umgebung ein wenig menschenwürdiger, freundlicher
 
wird.«
 
Wer über den Wissenschaftler und Redner Alois Kehl spricht, wird schließlich seine
 
Sprache, seine Gabe überzeugender schriftlicher und mündlicher Vermittlung zu erwähnen
 
haben. Dr. Kehl schreibt eine wissenschaftliche Prosa von hoher Qualität, er ist ein
 
Meister klarer Begriffe und stringenter analytischer Verknüpfungen. Doch auch und vielleicht
 
in besonderem Maße ist ihm die Kunst der klaren und eindrücklichen mündlichen
 
Vermittlung von Gedanken eigen, die Kunst der wissenschaftlichen und didaktischen
 
Rede, die Begabung zum Philosophieren für andere und vor anderen, die Fähigkeit, Charisma
 
mit Schlichtheit und allem Verzicht auf Prätention und Pathos zu verbinden.
 
Zum Schluss nun einige Worte zum Pater Kehl, zum Mann des Glaubens und der
 
Kirche. Die Freundschaft mit Freimaurern und Freimaurerinnen, die Wertschätzung für
 
unseren Bund und das Gedankengut der Freimaurerei auf der einen und die feste Verankerung
 
im Glauben und in seiner Kirche auf der anderen Seite brachten es konsequenterweise,
 
ja man könnte sagen zwangsläufig mit sich, dass das Bemühen um wechselseitiges Verständnis,
 
dass Aufklärung hüben und drüben, dass Vermittlung zwischen beiden Seiten,
 
Kirche wie Freimaurerei, zu den Hauptanliegen des Freimaurerfreundes und katholischen
 
Priesters Alois Kehl geworden ist. Dabei leitete ihn die Überzeugung, »dass« – ich zitiere
 
– »auch der katholische Freimaurer seine gläubige und katholische Weltanschauung unbeschadet
 
bewahren und dem freimaurerischen Vorstellungsrahmen einfügen kann«. So
 
musste ihn – wie uns Freimaurer – die Erklärung der Unvereinbarkeit von Logen- und
 
Kirchenmitgliedschaft seitens der Deutschen Bischofskonferenz vom 12. Mai 1980 sehr
 
enttäuschen, und er hat publizistisch mit großem Engagement darauf reagiert. Für beide
 
Seiten fair, nobel im Ton und überzeugend in der intellektuellen Qualität der Argumente,
 
stellte er den Feststellungen der Erklärung seine Sicht von Freimaurerei gegenüber: dem
 
Vorwurf der Verschwommenheit das Prinzip der Offenheit, dem Vorwurf der Ersatzreligion
 
das Prinzip der primär ethischen Interpretation der Rituale, dem Vorwurf antireligiöser
 
freimaurerischer Positionen das Prinzip der Absage an dogmatische Festlegungen
 
seitens der Freimaurerei.
 
Freilich hat er in seinen Stellungnahmen auch auf Fehler, Ungeschicklichkeiten und
 
Törichtes auf Seiten der Freimaurer verwiesen, was leider unsererseits nicht so gern gehört,
 
nicht so eifrig zitiert und nicht so redlich aufgearbeitet worden ist.
 
Inzwischen hat sich erfreulicherweise herausgestellt, dass der Dialog trotz aller Rückschläge
 
weitergeht, und die Tatsache, dass das Verhältnis von Freimaurerei und katholischer
 
Kirche nicht von der Agenda kirchlicher Einrichtungen, insbesondere der Ausbildungszentren
 
und Akademien verschwunden ist, ist sicher auch das Verdienst von Pater
 
Alois Kehl und seiner Unerbittlichkeit, für die Freimaurer die faire Chance einzufordern,
 
kirchlicherseits so wahrgenommen zu werden, wie sie sich selbst verstehen.
 
Doch nicht nur in der Auseinandersetzung auf der oberen organisatorischen und
 
weltanschaulichen Ebene, auch in der ganz konkreten menschlichen Beziehung in der
 
Loge ist der Pater Kehl eben auch als Pater Kehl wichtig geworden. An Pater Kehl konnten
 
sich die Brüder gleichsam abarbeiten, die offene, unbewältigte Probleme mit Kirche
 
und Glauben hatten. Mit Einfühlung und Toleranz, doch auch mit festen Standpunkten
 
310
 
half er auch hier zu ordnen, ohne zu bevormunden oder gar zurechtzuweisen. Er hat
 
die seelsorgerische Dimension seines Wirkens in der Loge nie betont und schon gar
 
nicht beansprucht, und doch war und ist diese Dimension vorhanden, zum Beispiel und
 
vielleicht vor allem dann, wenn es nach dem Tod von Brüdern um die Verwirklichung
 
des Wunsches ging, als gläubige Christen nach dem Ritus der katholischen Kirche verabschiedet
 
und bestattet zu werden. Pater Kehl war dann ganz einfach präsent als Mensch
 
und als Priester.
 
Zum Schluss und mit Nachdruck:
 
Lieber Doktor, lieber Pater, lieber Bruder Kehl,
 
die Freimaurer und Freimaurerinnen schulden Ihnen Dank, und sie wünschen Ihnen Glück,
 
Gesundheit, Schaffenskraft und auch weitere Freude an der Königlichen Kunst.
 
Sie gratulieren Ihnen herzlich zu Ihrem hohen Ehrentag, Ihrem 80. Geburtstag, und sie
 
hoffen, dass der Große Baumeister das Seine tut, damit Sie noch lange bleiben, was sie oft
 
und gern von sich gesagt haben: »unser Bruder im freien Geist«!
 
311
 
»Ver Sacrum« – junge Loge in veränderter
 
Zeit (2005)1
 
Im Jahre 2005, in einer Zeit des Umbruchs und der Neuorientierung – Stichwörter: Reformen
 
von Wirtschaft und Gesellschaft, Wertewandel, Globalisierung, fundamentalistischer
 
Terror sowie Gefährdung der internationalen Sicherheit und Stabilität – feiert die
 
Freimaurerloge »Ver Sacrum« die 50. Wiederkehr ihres Gründungsjahrs. Im Jahre 1955, in
 
einer Zeit der Konsolidierung nach Krisen, Umbrüchen und Katastrophen – Stichwörter:
 
Nazi-Diktatur und Zweiter Weltkrieg, Niederlage, Befreiung und Neuaufbau – wurde sie gegründet.
 
Ursprünglich entstanden ist die Loge »Ver Sacrum« als Deputationsloge der Loge
 
»Zum Ewigen Dom«. Das in Namen und Auftrag der damals bestehenden Landesgroßloge
 
Nordrhein-Westfalen seitens der Mutterloge erteilte Konstitutionspatent trägt das Datum
 
des 9. Mai 1949. Am 26. Juni desselben Jahres wurde durch den stellvertretenden Landesgroßmeister,
 
Br. Otto Schulze, das maurerische Licht eingebracht. Erster Meister vom
 
Stuhl war der Kölner Facharzt für Orthopädie Dr. Alfred Habicht, ein menschlich wie
 
fachlich hochgeschätzter Mediziner. Neben ihm sind aus den frühen Tagen der Loge insbesondere
 
auch die Brr. Herbert Buchwald, Rudolf Jardon und Hans Schultheis als wichtige
 
Impulsgeber zu nennen. Große Unterstützung
 
fanden die Gründer-Brüder der Loge
 
bei Dr. Theodor Vogel, dem ersten bedeutenden Großmeister der deutschen Freimaurer
 
nach dem Zweiten Weltkrieg, der von der Idee des »Ver Sacrum«, des Neuaufbruchs der
 
Jungen, begeistert war. Dr. Rudolf Jardon war der geistige
 
Kopf und rituelle Architekt der
 
neuen Loge. Unter seiner Stuhlmeisterschaft wurde »Ver Sacrum« am 30. Oktober 1955
 
eine selbständige, gerechte und vollkommene Loge. Die feierliche
 
Einsetzung nahm Br.
 
Fritz Theiß vor, der Großmeister der »Vereinigten Großloge von Deutschland«. Redner der
 
Festarbeit war der spätere AFuAM- und VGLvD-Großmeister Dr. Hans Gemünd, der mit
 
seiner Zeichnung »Recht auf Freiheit des Denkens« eines der Leitmotive der Entwicklung
 
der jungen Loge ansprach. Die Loge »Ver Sacrum« ist seit ihrer Gründung Mitgliedsloge
 
der heutigen »Großloge der Alten, Freien und Angenommenen Maurer von Deutschland«
 
(GL AFuAM), die wiederum den »Vereinigten Großlogen von Deutschland – Bruderschaft
 
der Freimaurer« (VGLvD) angehört. Im Rahmen der VGLvD trägt die Loge die Matrikelnummer
 
797.
 
Die Loge »Ver Sacrum« wollte von Anfang an junge und jung gebliebene Menschen
 
in eine zukunftsorientierte Freimaurerei einbinden. Dies verdeutlicht auch der gewählte
 
lateinische Logenname, der auf eine altrömische Legende verweist: Eine Stadt wird von
 
tödlichem Unheil
 
bedroht. Um verschont zu werden, versprechen die Einwohner, den
 
Göttern die nächste Generation junger Menschen zu opfern. Die Götter verzichten auf
 
dieses Opfer, verpflichten aber die Jugend der Stadt zum Aufbruch aus den alten Mauern
 
und zur Errichtung einer neuen Stadt. Ludwig Uhland hat diesen Auftrag in seinem Gedicht
 
»Ver Sacrum« mit folgenden Worten umschrieben:
 
1 Dieser Beitrag wurde ursprünglich veröffentlicht in: Ver Sacrum als Auftrag 1955–2005. Festschrift zum
 
50-jährigen Bestehen der Loge, Köln 2005, S. 17–27
 
312
 
… »Nicht lässt der Gott von seinem heil’gen Raub,
 
Doch will er nicht den Tod, er will die Kraft;
 
Nicht will er einen Frühling welk und taub
 
Nein, einen Frühling, welcher treibt im Saft.
 
… Ihr seid das Saatkorn einer neuen Welt;
 
Das ist der Weihefrühling, den er will.«
 
Wie viele Gestaltungsvorschläge für die neue Loge geht auch der Name »Ver Sacrum« auf
 
den großen Anreger der Bauhütte, Br. Rudolf Jardon
 
zurück, der sich bei der Namenswahl
 
an der gleichnamigen Zeitschrift der Wiener Sezession orientierte, einer Vereinigung von
 
Künstlern, die – wie die junge Loge – eigene und zugleich neue Wege gehen wollte. Auch die
 
Gestaltung des Logenbijous durch Br. Jakob Bachem weist mit ihrem eleganten Jugenstildesign
 
auf den Wiener Anstoß hin.
 
Die Loge »Ver Sacrum« hat versucht, den mit ihrem Namen formulierten Auftrag zu
 
erfüllen. Ihre Mitgliederzahl wuchs nach der Gründung an, erreichte in den 1960er Jahren
 
ihren Höhepunkt und beläuft sich gegenwärtig auf 50 Brüder. Der stete Wechsel in der
 
Logenführung, den das Hausgesetz vorsieht – nach längstens drei Jahren muss bei den
 
hammerführenden Beamten ein Amtsübergang stattfinden –, vermittelte der Loge immer
 
wieder neue Impulse für die Gestaltung ihrer Arbeit, wenn es auch manchmal schwerfiel,
 
die geeigneten Nachfolger in den leitenden Beamtenpositionen zu finden und Schwankungen
 
im Aktivitätsniveau der Loge nicht zu vermeiden waren.
 
Die innere Arbeit der Loge wurde und wird geprägt durch kreative Pflege des freimaurerischen
 
Rituals. Das von Br. Rudolf Jardon bereits vor Gründung der damaligen »Vereinigten
 
Großloge von Deutschland«, die am 19. Juni 1949 in der Frankfurter Paulskirche stattfand,
 
auf der Grundlage bestehender Rituale
 
(vornehmlich des Rituals der Großloge »Zur Sonne
 
« in Bayreuth) erarbeitete Ritual des Lehrlings-, Gesellen- und Meistergrades vermittelt auf
 
überzeugende Weise, was ein freimaurerisches
 
Ritual zu leisten vermag: Ruhe und Nachdenklichkeit
 
zu fördern, ethische Erziehung durch Symbole und rituelle Handlungen zu
 
bewirken und Impulse zur Auseinandersetzung mit menschlichen Grenzerfahrungen zu
 
vermitteln.
 
Zu den Grundlagen der Loge »Ver Sacrum« gehört auch die im Hausgesetz festgelegte Beschränkung
 
der Mitgliedschaft auf die alten symbolischen Grade Lehrling, Geselle und Meister.
 
Diese Entscheidung, auf der »Freimaurerischen Ordnung« der Großloge beruhend und im
 
Gestaltungsrecht der Loge als dem zentralen Ort der freimaurerischen Initiation begründet, behindert
 
in keiner Weise den brüderlichen Einklang mit Brüdern und Logen, die mehrgliedrige
 
freimaurerische Systeme bearbeiten. Die Konzentration auf die freimaurerischen
 
Grundgrade
 
ist im Verständnis der »Ver Sacrum«-Brüder positiv, nicht negativ oder abgrenzend
 
bestimmt:
 
Sie ist Ausdruck der Überzeugung,
 
• dass die im Lehrlings-, Gesellen- und Meistergrad thematisierten und symbolisch-drama-
 
tisch ausgestalteten Grundbefindlichkeiten des Menschen vom Leben bis zum Tode den
 
symbolischen Reichtum des Bundes bestimmen,
 
• dass das auf menschliche Grenzerfahrungen ausgerichtete Ritualgut der drei freimaurerischen
 
Basisgrade gegenüber historisierenden, philosophierenden, ideologisierenden
 
313
 
oder dezidiert religiösen Ritualbestandteilen dadurch ausgezeichnet ist, dass die auf seiner
 
Grundlage gestalteten Rituale unverändert aktuell sind, nicht in Konflikt zu veränderten
 
Geschichtsbildern sowie institutionellen oder individuellen Glaubensvorstellungen
 
geraten können und keine Textbestandteile aufweisen, die im Sinne politischer Handlungsaufträge
 
missverstanden werden könnten,
 
• dass das »System der drei Grade« aus der Sicht der »Ver Sacrum«-Brüder die Sinneinheit
 
von Leben und Tod, von Kunst und Wirklichkeit sowie von Reflexion und Handeln auf
 
überzeugende Weise zum Ausdruck bringt, weil es erlaubt, ein kreatives, symbolisch und
 
emotional verzweigtes Ritualerleben in konzentrierte, beständig wiederkehrende Formen
 
zu fassen,
 
• dass die für alle Brüder gleiche Initiationsgrundlage vom Lehrling über den Gesellen zum
 
Meister die Homogenität der Logengruppe bewahrt und vor Konflikten schützt,
 
• dass das auf den drei Basisgraden beruhende Logensystem jederzeit als Modell für eine
 
Ordnung gelten kann, die gemäß demokratischer und pluralistischer Maßstäbe »in der profanen
 
Welt«, d.h. im Leben der Gesellschaft, reproduziert werden könnte, und schließlich
 
• dass die dreigradige Grundform der Freimaurerei viel leichter in die Gesellschaft hinein
 
zu vermitteln ist als komplizierte, hierarchische Gradsysteme und auch kaum dazu angetan
 
ist, Vorurteile und Verschwörungsvorstellungen auf sich zu ziehen.
 
Die praktizierte Ernsthaftigkeit des Ritualvollzugs schloss auch Gespräche im Tempel ein.
 
Br. Rudolf Jardon führte eine Form der Tempelarbeit ein, die er »Collegium Masonicum«
 
nannte und bei der nach der Öffnung der Loge die rituelle Logenordnung aufgehoben wurde,
 
um in fester gedanklicher Ordnung und besonnener Sprache Themen zu diskutieren, die
 
meist den rituellen Kontexten der Freimaurerei entnommen waren. Freilich war die Praxis
 
der »Collegia Masonica« stark von der rituellen Einstellung und Diskursfreude des jeweiligen
 
Meisters vom Stuhl bestimmt und kam im Laufe der Logengeschichte unterschiedlich
 
intensiv zum Zuge.
 
Stets fanden die vielerorts in der deutschen Freimaurerei zur Tradition gewordenen
 
Tempelfeiern
 
mit den Frauen und Lebenspartnerinnen der Brüder statt, wie sich überhaupt
 
die Loge »Ver Sacrum« von Anfang an als »offener« Männerbund verstand, der Partnerin,
 
Familie und Freunde weitgehend in das Gemeinschaftsleben der Loge einbezieht. In
 
jüngster Zeit wurde dann auch versucht, mit den Schwestern der Kölner Frauenloge »Sci
 
Viam« unter Beachtung freimaurerischer
 
Gepflogenheiten gemeinsame rituell-zeremonielle
 
Erlebnisformen zu erkunden.
 
Die rituelle Öffnung der Loge korrespondierte mit der Öffnung der von den Brüdern –
 
oft in Anwesenheit von Gästen und Suchenden – vorgenommenen thematischen Öffnung
 
der Gespräche
 
für Fragen zum Zeitgeschehen und seinen materiellen, ideellen und gesellschaftlichen
 
Grundlagen. So gab es bereits in den 1960er Jahren eine Vortragsreihe »Humanität
 
und Unmenschlichkeit in Deutschland«, im Rahmen derer Fragen wie »Gastarbeiter
 
oder Fremdarbeiter?
 
– Zur Integration von Ausländern in Deutschland«, »Umweltschutz als
 
politische Aufgabe« und »Notstand im deutschen Gesundheitswesen« behandelt wurden.
 
Landtagspräsident Wilhelm Lenz, Bundesinnenminister Gerhard Baum, Staatssekretärin
 
Katharina Focke, Bundesjustizminister Wolfgang Stammberger sowie der hessische Justizminister
 
Johannes Strelitz (die beiden letzteren Freimaurer) sprachen über Grundlagen des
 
Politischen. In einer Vortragsreihe »Freimaurerei von außen gesehen« sollte – so hieß es in
 
314
 
der Ankündigung – »von der üblichen freimaurerischen Selbstbestätigung abgegangen und
 
kritischen Beobachtern außerhalb unseres Bundes (Vertretern von Wissenschaft, Presse,
 
kulturellem Leben, Kirchen usw.) das Wort gegeben werden«. Wie in Köln als historisch katholisch
 
geprägter, allerdings auch bürgerlich-liberaler Stadt kaum anders vorstellbar, wurde
 
in Vorträgen und Diskussionen wiederholt das Verhältnis zwischen katholischer Kirche und
 
Freimaurerei aufgegriffen. Prominente katholische Referenten, die wir bald unsere Freunde
 
nennen durften, waren die Professoren Dr. Herbert Vorgrimler und Dr. Karl Hoheisel sowie
 
Pater Dr. Alois Kehl, unser Wegbegleiter durch viele Jahrzehnte hindurch.
 
Mit der Öffnung zur Zeit verband sich stets auch die Öffnung zur Kultur: Künstler
 
musizierten
 
im Tempel, im Bankettsaal fanden Konzerte junger Sänger und Instrumentalisten
 
statt, Brüder und Schwestern besuchten gemeinsam Opern und Schauspiele.
 
Viele gute brüderliche Erfahrungen hat die Loge »Ver Sacrum« mit ihren zahlreichen
 
Kontakten
 
zu anderen Logen gemacht. Gewiss, nicht alle davon hatten Bestand, einige sind
 
inzwischen abgerissen, andere, die unterbrochen waren, wurden wiederangeknüpft. Gern
 
denken
 
wir an die Zusammenarbeit mit den Logen in Köln, beispielsweise an viele Jahre
 
gemeinsamer
 
Johannisfeste mit der Loge »Freimut und Wahrheit zu Köln«. Höhepunkte
 
waren Auslandsbesuche
 
in England, Luxemburg und den Niederlanden, oder Besuche von
 
Brüdern aus dem Ausland bei uns, etwa die Köln-Reise von Brüdern der Großloge von
 
Maine aus den USA. Zu Beginn der 1970er Jahre gab es einen Partnerschaftsvertrag mit der
 
Loge »Zur Freundschaft« in Kassel
 
(GL FvD) und der Loge »Zur Treue« (GNML 3WK),
 
nachdem die damals jungen Stuhlmeister
 
der drei Logen auf dem Braunschweiger Konvent
 
der VGLvD im Jahre 1972 einen Initiativantrag zur Einleitung nachhaltiger Fortschritte
 
auf dem Wege zur Einheit der deutschen
 
Freimaurerei eingebracht hatten, der freilich am
 
Beharrungsvermögen alter Strukturen scheitern musste. Heute werden Gemeinschaftsarbeiten
 
mit zahlreichen Logen durchgeführt, entweder in Köln oder im Partnerorient, und
 
die gemeinsame Jahresbeginnfeier Kölner Logen unter Einschluss der Schwestern von »Sci
 
Viam« gehört inzwischen zu den markanten Festlichkeiten des Logenjahres.
 
Dass Arbeit und Bruderkreis der Loge »Ver Sacrum« innerhalb der deutschen Freimaurerei
 
beachtliche Resonanz fanden, zeigt die Berufung vieler »Ver Sacrum«-Brüder in
 
Distriktslogen- und Großlogenämter: So stellte die Loge drei NRW-Distriktsmeister, zwei
 
Großredner der GL AFuAM, einen leitenden Meister der Forschungsloge »Quatuor Coronati
 
«, ein Mitglied des Senats der VGLvD, einen zug. Großmeister der GL AFuAM sowie
 
einen Vorsitzenden des Obersten Gerichts der VGLvD. Alle in solche Ämter berufenen
 
Brüder waren stolz auf ihre maurerische Heimat »Ver Sacrum« und deren prägende Kraft.
 
Auch den karitativen Verpflichtungen der Freimaurerei hat sich die Loge »Ver Sacrum
 
« gestellt, und zwar mit der aus brüderlicher und schwesterlicher Spendenbereitschaft
 
hervorgegangenen
 
»Habicht-Schultheis-Stiftung«. Die gemeinnützige Stiftung hat sowohl
 
Brüdern in materieller Bedrängnis geholfen als auch mannigfaltige Unterstützung geleistet,
 
wenn es galt, außerhalb der Loge Not zu lindern, Jugendlichen in ihrer Entwicklung beizustehen
 
und Nachwuchskünstler
 
zu fördern.
 
Insgesamt versuchte die Bruderschaft der unverzichtbaren Einheit der drei Säulen des freimaurerischen
 
Tempels – Weisheit, Stärke und Schönheit – gerecht zu werden:
 
• Weisheit als wertbezogene Vernunft, intellektuelle Klarheit und Redlichkeit der geistigen
 
Vermittlung;
 
315
 
• Stärke als Tatkraft, als das konstruktive Vermögen, Ideen auch umzusetzen, und
 
• Schönheit als Gestaltungsprinzip, dass, ausgehend vom Ästhetischen, von der apollinischen
 
Dimension hinüberreicht in Lebenskunst und Lebenskultur, worin sich ja Freimaurerei
 
– wenn sie gelingt – als »Königliche Kunst« vollendet.
 
Weisheit, Stärke und Schönheit – über alle drei wurde immer wieder nachgedacht, zumal
 
die Freimaurerei mit ihren Säulen ja durchaus ihre Probleme hat. Geht es doch stets darum,
 
Weisheit vor Worthülsen und Plattitüden zu bewahren, Stärke nicht in Kraftmeierei und
 
verbale
 
Kraftakte ausarten zu lassen und Schönheit gegen Hässlichkeit im Umgang miteinander
 
zu schützen. Dass Letzteres gelang, geht u.a. daraus hervor, dass der Ehrenrat der
 
Loge in der 50-jährigen Logengeschichte nicht ein einziges Mal zusammentreten musste.
 
Dass die Loge »Ver Sacrum« mit Stolz, Freude und Bereitschaft zu weiterem Aufbruch
 
auf die ersten 50 Jahre ihres Bestehens zurückblickt, bedeutet nun freilich nicht, dass
 
die Bruderschaft in jeder Phase ihres Bestehens den von ihren Gründern definierten
 
anspruchsvollen Maßstäben vollständig hätte genügen können. Nicht alle Blütenträume
 
konnten reifen. Von den Problemen, die für die Entwicklung vieler Gruppen in modernen
 
(oder »postmodernen«) Gesellschaften kennzeichnend sind – abnehmende Bindungsbereitschaft
 
der Menschen insbesondere –, blieb auch die Loge »Ver Sacrum« nicht verschont.
 
Auch wäre es unrealistisch anzunehmen, dass nicht auch Gruppen und ihre Leiter
 
ihre »Durchhänger« hätten. So gilt das Symbol des »Rauhen Steins« nicht nur für den
 
einzelnen Maurer, sondern auch für freimaurerische Gemeinschaften, und die delphische
 
Aufforderung »Erkenne dich selbst« ist gleichermaßen ein individueller wie ein gruppenspezifischer
 
Appell. Doch das Ausmaß an gelungener Freimaurerei seit Gründung der
 
Loge und die Wirkungskraft des in der Vergangenheit erarbeiteten Logenprofils erwiesen
 
sich stets als gutes Fundament für zukünftiges Wirken, vor allem, weil sie für jene Identität
 
bürgen, aus der heraus die Loge sich entwickelt hat und weiter entwickeln kann. Zukunft
 
braucht Herkunft, diese, insbesondere von dem Gießener Philosophen Odo Marquard
 
wiederholt anregend ref lektierte Feststellung lässt sich – ihm weiter folgend – durch
 
ihre Umkehrung ergänzen: Herkunft ist auf Zukunft angewiesen. Herkunft und Zukunft
 
gehören zusammen. Für die Logen im Speziellen ebenso wie für die Freimaurerei im Allgemeinen
 
gilt, dass sie der chronischen Gefahr der »Herkunftslastigkeit« entkommen und
 
zukunftsfähig bleiben müssen. Doch wo Herkunft mit Freude und Stolz erinnert werden
 
kann, braucht Sorge um Zukunft nicht zu einem handlungslähmenden Gefühl zu werden.
 
Freimaurerei als Gemeinschaft brüderlich verbundener Menschen, Freimaurerei als
 
System ethischer Werte und Überzeugungen, Freimaurerei als Symbolbund: Dies zusammen
 
macht Reichtum und Wesen der freimaurerischen Überlieferung aus und umschreibt
 
auch das Fundament
 
der Loge »Ver Sacrum«. Freimaurerei in diesem Sinne
 
lebendig zu halten und hineinwirken zu lassen in die Gegenwart – engagiert und redlich,
 
ohne Kleinmut, aber auch ohne Überheblichkeit – ist unsere Aufgabe, ist der Auftrag
 
einer Loge, die sich die Geschichte eines Frühlings zum Gründungsmythos gewählt hat,
 
den die Legende als »heiligen Frühling«, als »Ver Sacrum« überliefert hat. Wenn »Frühling
 
« dabei den ständigen Auftrag zum Aufbruch meint, den Schwung auch, den man
 
bei der Arbeit braucht, sowie eine gehörige Portion rheinischer Heiterkeit, dann mag
 
das »heilig« für die Ernsthaftigkeit und die verantwortungsbewusste Rückgebundenheit
 
dieses Auftrags stehen.
 
316
 
Drei Kettensprüche für die Loge »Ver Sacrum«
 
Kettenspruch I. Grad, Aufnahme zum Freimaurerlehrling:
 
Brüder, diese Kette bindet
 
unser Herz und unsern Sinn.
 
Jeder, der hier Heimat findet,
 
findet Kraft zum Neubeginn.
 
Einerlei, woher wir stammen:
 
unter eines Himmels Zelt,
 
bauen wir sie nur zusammen,
 
diese eine bessre Welt!
 
Lasst uns drum zur Arbeit gehen,
 
sorgt, dass Licht ins Dunkel dringt,
 
dass die Menschen sich verstehen
 
und der große Bau gelingt.
 
Kettenspruch II. Grad, Beförderung zum Gesellen:
 
Baut gemeinsam, nicht alleine,
 
Stein auf Stein und Hand in Hand
 
als Gesellen für das eine
 
Ziel, das uns seit je verband.
 
Lasst uns schaffen fest verbunden
 
was dem Leben Wert verleiht,
 
bis die Arbeit vieler Stunden
 
sichtbar wird am Dom der Zeit.
 
Menschen suchen, stets aufs Neue,
 
lautet alter Pflicht Geheiß,
 
dass als Freunde sie in Treue
 
stärken unsern Wirkungskreis.
 
Kettenspruch III. Grad, Erhebung zum Meister:
 
Brüder, lebt das »Stirb und Werde«,
 
fest verwurzelt in der Erde,
 
doch durchdrungen hell von Licht.
 
Botschaft kommt uns von den Sternen,
 
dass wir neu zu leben lernen
 
und die Kette niemals bricht.
 
317
 
Bürgerlicher Bund in nachbürgerlicher
 
Gesellschaft (2008)1
 
»In der Wirklichkeit steht es nicht deswegen schlimm,
 
weil es zu viel, sondern deswegen,
 
weil es zu wenig bürgerliche Gesellschaft in ihr gibt.«
 
Odo Marquard
 
Die Bruderschaft der Großloge A.F.u.A.M. bricht auf und stellt sich neuen Aufgaben. Qualitätsaufgaben
 
sollten es sein. Und wenn eine Formel wie »Ziel 10.000« zunächst auch sehr
 
quantitativ klingt, so steckt – recht verstanden – doch ein sehr anspruchsvolles Qualitätsziel
 
dahinter: Geht es doch um einen Aktivitätsimpuls, der sich vor allem auf überzeugende Konzepte
 
der Freimaurerei und eine gute Gruppenqualität der Bruderschaft auszuwirken hat.
 
Ob dieser Impuls Erfolg hat, ist nicht gewiss. Doch wir haben die Chance, erfolgreich
 
zu sein, wenn wir unsere Ressourcen einsetzen, und das heißt vor allem, wenn wir im
 
Inneren wissen und nach außen vermitteln können, warum Freimaurerei auch heutzutage
 
eine sinnvolle Form der Geselligkeit, des Denkens und der Kommunikation sowie der
 
symbolisch-rituellen Erfahrung ist.
 
Voraussetzungen für Erfolge
 
Wir können Erfolg haben, wenn wir daran arbeiten, die mannigfaltigen Substanz- und Vermittlungsprobleme
 
zu überwinden oder wenigstens zu reduzieren, die uns bisher blockiert
 
haben, und wenn wir flexibel genug sind, auf die gegenwärtigen Strukturen der Gesellschaft
 
zu reagieren, Strukturen, die sich seit der klassischen Zeit der Freimaurerei ja tiefgreifend
 
verändert haben.
 
Freimaurerei ist ein Produkt der bürgerlichen Gesellschaft – so weit so gut.
 
Wie aber kann ein bürgerlicher Bund auch in einer nachbürgerlichen Zeit seine Lebendigkeit
 
und Wachstumskraft behalten. Das ist die Frage, die sich uns stellt.
 
Denn neben manchen hausgemachten Schwierigkeiten sind es ja ohne Zweifel eben
 
diese Strukturwandlungen der Gesellschaft, die heutzutage einer dynamischen Entwicklung
 
der Freimaurerei im Wege stehen.
 
Mit ein paar Beispielen möchte ich dies erläutern:
 
• So setzt etwa die gegenwärtige Heterogenität der Gesellschaft die alten, sehr erfolgreichen
 
Rekrutierungsmuster der Freimaurerei – Mitgliedergewinnung in vertrauten sozialen und
 
familiären Milieus – außer Kraft. Welcher Ersatz steht dafür zur Verfügung? Haben wir
 
ihn bereits gefunden?
 
1 Vortrag auf dem Berliner Großlogentag der GL AFuAM 2008. Dieser Beitrag wurde ursprünglich veröffentlicht
 
in: Humanität. Das deutsche Freimaurermagazin, Nr. 4, Juli/August 2008, S. 22–25.
 
318
 
• So vermittelt die zunehmende freiwillige oder erzwungene Mobilität der Berufs- und
 
Arbeitswelt wenig Motivation zum Eintritt in den Lebensbund Loge. Die Vertreter einer
 
»Generation Praktikum«, was mag sie zu langfristiger Logenmitgliedschaft motivieren?
 
• So bringt die veränderte Struktur der Geschlechterbeziehungen die Freimaurerei als
 
Männerbund unter Begründungs- und Anpassungszwang, denn sie beeinflusst nicht nur
 
die Bindungsbereitschaft der Männer, sondern sie stellt auch die traditionellen Legitimierungen
 
des Männerbundes in Frage. Haben wir den Mut, Freimaurerei als einen »offenen
 
Männerbund« zu leben? Gibt es Konzepte dafür?
 
• So bringen die zunehmenden Optionen, soziale Beziehungen einzugehen, sich unterhalten
 
zu lassen und Geselligkeit zu erleben, die Freimaurerei unter einen erhöhten Konkurrenzdruck.
 
Hält das Programm der Loge diesem Konkurrenzdruck stand?
 
• So scheint Freimaurerei als ethisch begründete und kultisch gestaltete Assoziation
 
manchmal gar in Gefahr, als altmodisch, dogmatisch oder lernunfähig zu gelten. Haben
 
wir überzeugende Antworten darauf? Antworten nicht für das 18. und 19. Jahrhundert,
 
sondern für die Gegenwart?
 
• So ist die Suche nach immer neuen Erlebnissen und spektakulären »Events« mit den »Essentials
 
« der Freimaurerei: Bereitschaft zu dauerhafter Bindung, Führung ethischer Diskurse
 
und Praxis ritueller Einübung in ein wertorientiertes Verhalten kaum vereinbar.
 
Wie finden wir die Menschen, für die diese Verknüpfung nicht gilt? Die trotzdem empfänglich
 
sind für das Angebot der Freimaurerei?
 
• So führt – schließlich – die Kultur der Postmoderne mit ihrem Event- und Erlebnishunger
 
auch zu neuen Formen der Anti-Freimaurerei. Das Dan-Brown-Syndrom geht
 
um und füllt die Regale der Buchläden mit ausschweifenden Romanen und mit Sachund
 
Enthüllungsbüchern niedrigsten Niveaus. Haben wir Antworten in dieser neuen Situation?
 
Diese Skala sorgfältig abzuarbeiten, scheint mir Voraussetzung für Erfolg bei der Umsetzung
 
unserer Pläne, was allerdings nicht jetzt geschehen kann.
 
Chancen der Freimaurerei
 
Jetzt geht es mir um etwas anderes. Die Überzeugung nämlich, dass es verfehlt wäre, in den
 
unbeständig-flüchtigen Verhältnissen der heutigen Moderne nicht auch günstige Voraussetzungen
 
für die Arbeit der Logen auszumachen.
 
Um sie zu nutzen, müssen Anpassungen an den postmodernen Zeitgeist vermieden
 
und Chancen gleichsam »quer zum Zeitgeist« ergriffen werden.
 
Moderne heute bedeutet ja auch Individualisierung:
 
• Nicht alle Menschen sind gleich, und die Zahl derer, die sich den nivellierenden Trends
 
und Tendenzen zumindest partiell entgegenstellen, ist groß genug, um die Mitgliederzahlen
 
der Logen kräftig anwachsen zu lassen.
 
• Menschen suchen Freundschaft, Einbindung und Orientierung;
 
• Menschen interessieren sich für Werte, Aufklärung und intelligenten Diskurs;
 
319
 
• Menschen wollen ihre persönlichen Verantwortungen überdenken;
 
• Menschen sind aufgeschlossen für symbolische und rituelle Erfahrungen;
 
• Menschen wollen teilhaben an Erfahrungsmöglichkeiten für gesellige Kultur und Lebenskunst.
 
Insgesamt:
 
Es gibt Sehnsucht nach Nachdenklichkeit, nach Kontemplation, nach Langsamkeit,
 
nach einem anderen, weniger hektischen Begriff von Zeit, kurz nach Strukturelementen
 
der Freimaurerei.
 
Dazu kommt, dass Anzeichen für die Suche nach und die Etablierung von einer »neuen
 
Bürgerlichkeit« erkennbar sind.
 
Allerdings: Die Freimaurerei muss sich – will sie ihre Chancen nutzen – redlich bemühen.
 
Sie muss sich u.a. darüber klar werden, dass sie schon beängstigend viel »Postmoderne«
 
in sich selbst aufgesogen hat und dass bisher als Fehlentwicklungen der Gesellschaft »da
 
draußen« beschriebene Symptome längst zu Störelementen der inneren Logenbefindlichkeit
 
geworden sind, die zwar sicher nicht dominieren, aber doch eindeutig diagnostizierbar
 
sind.
 
In diesem Sinne möchte ich hinweisen auf:
 
• Relativismus im Verhältnis zu den eigenen traditionellen Werten, insbesondere das Verfehlen
 
notwendiger Standards im Umgang der Brüder miteinander.
 
• Mangelnde Gründlichkeit in der Wahrnehmung der politischen, gesellschaftlichen und
 
kulturellen Probleme der Zeit, ja, unverkennbare Anzeichen für jene Untugenden der
 
Stammtische, die wir so gerne beklagen.
 
• Eingeschränkte Bereitschaft, sich an den Diskursen der Gesellschaft wirklich gehaltvoll
 
zu beteiligen.
 
• Erlebnis/unterhaltungsorientierte Einstellung zur Freimaurerei: Logen-, Ritual-, Gradund
 
System-»Hopping«, Freimaurerei »à la carte«.
 
• Fehlendes Wissen über die Grundlagen des eigenen Bundes, unzureichende Klarheit, was
 
Freimaurerei ist, Unsicherheit im Umgang mit der Öffentlichkeit und unzureichende
 
Sorgfalt bei Auswahl von und im Umgang mit Kandidaten.
 
• Unzureichendes Reagieren schließlich auf die Herausforderungen der neuen »Verschwörungs-,
 
Geheimnis- und Phantastik-Welle«, das von mir schon benannte »Dan Brown-Syndrom
 
«.
 
Zu Letzterem möchte ich auf eine Warnung aus einer Dan Brown-Rezension in der Zeitschrift
 
von »Quatuor Coronati« London verweisen, in der auf die Gefahr neuer, von außen
 
auf uns zukommender maurerischer Fiktionen hingewiesen wird:
 
Der Londoner Bruder schreibt: »Wenn wir nicht die Öffentlichkeit – aus der unsere potentiellen
 
Mitglieder kommen – über die wirkliche Natur und Geschichte der Freimaurerei
 
informieren, werden wir entweder zu einem Schatten unseres vergangenen Ruhmes degenerieren
 
oder uns einem noch schlimmeren Szenario gegenübersehen: der Überschwemmung
 
durch Kandidaten, die nachdrücklich wünschen, dass solche Fiktionen in der Freimaurerei
 
wahr werden.«
 
320
 
Was ist, was will, was kann die Freimaurerei?
 
Grundvoraussetzung für das Überleben der Freimaurerei in der Post- oder Post-Post-Moderne
 
ist die inhaltliche Klärung.
 
Was ist, was will, was kann die Freimaurerei in ihrer komplexen, unauflösbaren dreifachen
 
Erscheinungsweise
 
• als Freundschaftsbund,
 
• als Stätte ethischer Einübung und
 
• als symbolisch-initiatischer Werkbund?
 
Hier werden oft handliche Formeln verlangt.
 
Ich meine freilich, dass Freimaurerei vor allem durch Praxis zu überzeugen hätte und dass
 
sich Freimaurer eher Zeit lassen, ja den Mut zur Umständlichkeit haben sollten, wenn es mit
 
(gesprochenen und geschriebenen) Texten um das Erklären dessen geht, was Freimaurerei
 
ist. Freimaurerei lässt sich nicht im Schnellkurs vermitteln.
 
Vorsicht scheint mir insbesondere geboten mit eindimensionalen Kurzdefinitionen
 
wie »Freimaurerei ist eine Geisteshaltung«, »Freimaurerei ist angewandte Aufklärung« oder
 
»Freimaurerei ist eine religiöse Vereinigung«. Dies ist oft falsch und immer missverständlich.
 
Wenn Kurzdefinitionen erforderlich scheinen, dann sollten solche gewählt werden, die
 
durch Erläuterungen ausbaufähig sind und in denen die durch die Geschichte der Freimaurerei
 
hindurch identifizierbaren Grundelemente des Bundes thematisiert werden, die in
 
ihrer Gesamtheit den Reichtum der Freimaurerei ausmachen: Freundschaft und Geselligkeit,
 
ethische Orientierung und Wertediskurs sowie der rituelle Rahmen einer Initiationsgemeinschaft
 
mit der Stiftung von menschlicher Verbundenheit und moralischer Verantwortung als
 
dem Kern der kultischen Handlung. In diesem Sinne empfehle ich die folgende Definition:
 
»Freimaurerei ist eine Lebenskunst, die menschliches Miteinander und ethische Lebensorientierung
 
durch Symbole und rituelle Handlungen in der Gemeinschaft der Loge darstellbar,
 
erlebbar und erlernbar macht.«
 
Notwendige Klärungen
 
Von hierher kann die Freimaurerei auch ihr Verhältnis zu Politik, Gesellschaft und Religion
 
klären:
 
Angesichts der Tatsache, dass die von der Freimaurerei und um die Freimaurerei herum
 
entwickelten Werte – Menschlichkeit, Brüderlichkeit, Toleranz – längst politisch-gesellschaftliches
 
Allgemeingut geworden sind, besteht der besondere Wert des Bundes in der Methode
 
der fortgesetzten Einübung in eine wertorientierte und wertgebundene Praxis. Die Loge ist
 
keine Aktionsgruppe, aber – und hierdurch erfüllt sie eine wichtige politisch-gesellschaftliche
 
Funktion – eine »sichere Stätte« für Menschen, die in einem konzentrierten, wertorientierten
 
und sensiblen Diskurs Klarheit über handlungsrelevante Fakten und Optionen in der Welt
 
von heute und morgen suchen.
 
321
 
Arkandisziplin heute hätte dann vor allem die Funktion, den Raum für einen solchen
 
Prozess der Selbstwahrnehmung, der Klärung und Abklärung abzusichern. Arkandisziplin ist
 
insofern weit mehr als eine Angelegenheit des Verhüllens, Arkandisziplin ist vor allem eine
 
Angelegenheit des Vertrauens – damit ist sie freilich auch viel stärker von innen gefährdet, als
 
wir meist einzuräumen bereit sind. Man kann auch Geheimnisse zerstören, lange bevor man
 
sie der Öffentlichkeit preisgibt.
 
Um diese Gefährdung gering zu halten, ist Selbstkritik und Arbeit am rauhen Stein bei
 
uns Brüdern im Bund erforderlich, aber auch eine sorgfältige Auswahl der Aufnahmekandidaten:
 
falsche Aufnahmen wirken unvermeidlich als ein Negativ-Multiplikator, der die Substanz
 
des Bundes verschlechtert.
 
Im Verhältnis zu Religion und Kirchen ist hervorzuheben, dass Freimaurerei keine Religion
 
ist, dass ihre Rituale jedoch (zumindest teilweise) einen religiösen Charakter besitzen.
 
Denn sie tragen dazu bei, den Freimaurer in ein das Einzeldasein transzendierendes Sinngefüge
 
einzuordnen.
 
Bei alldem müssen Strukturen und Prinzipien der Großloge A.F.u.A.M. klarer herausgearbeitet
 
werden, als die bestimmenden Eigenschaften der deutschen Großloge, die ganz
 
eindeutig in der Tradition der humanitären deutschen Freimaurerei steht und auch ohne
 
Wenn und Aber den Traditionen der Weltfreimaurerei und dem Geist der »Alten Pflichten«
 
verbunden ist.
 
Im Verhältnis zu Medien und Öffentlichkeit ist Redlichkeit am Platz: Es gab Licht und
 
Schatten, Leistung und Versagen im Entwicklungsprozess der Freimaurerei. Dies einzuräumen,
 
wirkt auf Außenstehende viel sympathischer und interessanter als das unendlich
 
langweilige Posieren als selbsternannte »Weltmeister in Sachen Humanität«.
 
Hierfür sollte das freimaurerische Wissen in der Bruderschaft verbessert werden. Wer
 
nach dem »Wohin« der Freimaurerei fragt, muss über das »Woher« der Freimaurerei Bescheid
 
wissen.
 
Wissen und Fortschritt könnte auch durch den Diskurs der europäischen Freimaurer
 
gefördert werden. Bei internationalen Zusammenkünften sollten nicht Geselligkeit und Repräsentation
 
im Vordergrund stehen, sondern die Verständigung darüber, was europäische
 
Freimaurerei historisch bedeutet hat, vor allem aber, was sie heute und zukünftig bedeuten
 
kann. Das Jahr 2017 steht vor der Tür, und wenn dann an 1717 erinnert wird, sollte es auf
 
eine europäische Weise geschehen.
 
Und ein Letztes: Freimaurer hätten sich – ohne Überforderung eigener Möglichkeiten
 
– viel öfter als bisher an den wichtigen Diskursen der Gegenwart zu beteiligen. Viele davon
 
haben Beziehungen zur freimaurerischen Tradition, mögen sie auf die Weiterentwicklung
 
der Aufklärung im Sinne einer »reflexiven Aufklärung«, auf die »Ethosproblematik«
 
(»Weltethos« war immer schon auch ein freimaurerisches Projekt), auf die Aneignung und
 
Umsetzung von Werten (»Einübungsethik« ist eine alte freimaurerische Tugend) beziehen
 
oder auf die Reflexionen über Lebenskunst, denn Freimaurerei verstand sich ja immer auch
 
– gerade im Sinne von Lebenskunst – als eine »Königliche Kunst«.
 
Um es zuzuspitzen: Besser, als die Stimmen anderer zu prämieren, wäre es, mit eigener
 
Stimme vernehmbar zu sein.
 
Insgesamt hat die deutsche Bruderschaft – davon bin ich vollkommen überzeugt –
 
viele Möglichkeiten, den alten Zauber des »Gesamtkunstwerks Freimaurerei« trotz kräftigen
 
Zeitgeist-Gegenwinds auch zukünftig nach innen und außen wirken zu lassen.
 
322
 
Neue Bürgerlichkeit?
 
Hierzu scheint mir allerdings erforderlich, dass der Bund in Konzeption und Praxis an Profil
 
zulegt. Sich dabei als Teil einer »neuen Bürgerlichkeit« zu begreifen, ist für mich dabei ebenso
 
aussichtsreich wie erforderlich.
 
Freimaurerei war eine Institution der bürgerlichen Gesellschaft. Sie vermittelte und
 
bestärkte einen bürgerlichen Habitus, den der ungarische Sozialphilosoph Georg Lukács
 
einmal so beschrieben hat:
 
»Bürgerlicher Beruf als Form des Lebens bedeutet in erster Linie einen Primat der
 
Ethik im Leben; dass das Leben durch das beherrscht wird, was sich systematisch, regelmäßig
 
wiederholt, durch das, was pflichtgemäß wiederkehrt, durch das, was getan
 
werden muss ohne Rücksicht auf Lust oder Unlust. Mit anderen Worten: die Herrschaft
 
der Ordnung über die Stimmung, des Dauernden über das Momentane, der ruhigen
 
Arbeit über die Genialität, die von Sensationen gespeist wird.«
 
Lukács beschrieb hier im Jahre 1909, wie sehr freimaurerische Lebenssicht mit der bürgerlichen
 
Geselligkeit und der Selbstwahrnehmung des Bürgers identisch gewesen ist.
 
Ich meine, dass eine Renaissance der Bürgerlichkeit in einem solchen Sinne der Freimaurerei
 
gut bekäme.
 
Und wenn der in Gießen lehrende Philosoph Odo Marquard in einem ebenso knappen
 
wie lesenswerten Essay über eine »Philosophie der Bürgerlichkeit« feststellt, dass »die moderne
 
bürgerliche Welt unter der Bedingung ihrer ›Entzweiung‹ erneut durchdacht werden«
 
muss, so beschreibt er ein Projekt, innerhalb dessen ich mich als Freimaurer durchaus
 
aufgehoben fühle. »Denn« – so schließt Marquard seinen Text – »die Kontraposition zur
 
einen – der totalitär nationalsozialistischen – Verweigerung der Bürgerlichkeit ist nicht die
 
andere – totalitär sozialistische – Verweigerung der Bürgerlichkeit, sondern die Verweigerung
 
dieser Bürgerlichkeitsverweigerung: die insofern ›konservative‹ Option für die bürgerlichliberale
 
Demokratie«.
 
Zur totalitär nationalsozialistischen und zur totalitär sozialistischen ist inzwischen auch
 
die postmoderne Verweigerung der Bürgerlichkeit getreten. Auch dieser hätte sich die Freimaurerei
 
zu verweigern. Dazu gehört, dass sie ihre Rolle und ihre Wirkungsmöglichkeiten in
 
einer Position neuer Bürgerlichkeit »quer zum Zeitgeist« begreift und ihre Chancen mit dem
 
ganzen Charme einer alten europäischen Kulturform intelligent und offensiv wahrnimmt.
 
323
 
Dan Browns »Verlorenes Symbol«:
 
Freimaurerei zwischen Fiktion und
 
Wirklichkeit (2010)1
 
Vieles in einem
 
Im September 2009 erschien nach »Illuminati« und »The Da Vinci Code« unter dem Titel
 
»Das verlorene Symbol« Dan Browns lang erwarteter Folgeroman, der dritte mit dem Harvard-
 
Professor Robert Langdon als Chefermittler und als Deuter vieler Symbole und Geheimnisse.
 
Ob es ein gutes Buch ist, mag in diesem Zusammenhang dahingestellt bleiben. Doch
 
sicher ist es ein komplexes, ja überladenes Buch, in dem verschiedene Handlungsstränge, Milieus
 
und Projektionsflächen zueinander in Beziehung gesetzt und zuweilen arg gewaltsam
 
ineinander verwoben werden.
 
Das Buch ist vieles in einem:
 
• ein Thriller, in dem die Protagonisten von der Abenddämmerung bis zum Sonnenaufgang
 
durch Washington hetzen, um Verbrechen zu begehen oder zu verhindern;
 
• eine Familiensaga mit einem kreativen Bruder-Schwester-Verhältnis (Peter und Katherine
 
Solomon) und einer bis zum tödlichen Hass entgleisten Vater-Sohn-Beziehung (Peter Solomon
 
und Mal’akh);
 
• eine Ontologie des Bösen, die beschreibt, wie Mal’akh durch viele Transformationen hindurch
 
auf dem Wege dunkler Magie seinem Credo folgt: »Wer in der Lage ist, Weisheit zu
 
verbreiten, muss zerstört werden«;
 
• ein reichhaltiges Kompendium abendländischer Esoterik in all ihren Facetten und Verzweigungen,
 
mit Porträts vieler ihrer Exponenten und oft schillernden Vertreter;
 
• eine reichlich scientology-nahe Einführung in die Wissenschaft der sogenannten »Noetik«,
 
der noch unerschlossenen Kraft des menschlichen Bewusstseins;
 
• eine Apotheose der Stadt Washington als eines Heilsplatzes der Weltgeschichte;
 
• eine Hommage an die amerikanische Freimaurerei, insbesondere die Hochgradfreimaurerei
 
des Schottischen Ritus; und
 
• schließlich auch eine Verkündigung der persönlichen Heilsbotschaft Dan Browns, denn ist
 
nicht zu bezweifeln, dass die Beschwörung von Licht und Hoffnung am Ende des Buches
 
nicht nur für seinen Helden Robert Langdon gilt, sondern auch für den Autor selbst.
 
Mit dem Augenblick des Erscheinens setzte ein nie da gewesener Run auf das Buch ein. Die
 
englische Ausgabe wurde in der ersten Woche nach der Veröffentlichung am 15. September
 
2009 zwei Millionen Mal verkauft. Allein in Großbritannien ging der Thriller in den ersten 36
 
Stunden mehr als 300.000 Mal über den Ladentisch, mehr als bei allen anderen Hardcover-Romanen
 
für Erwachsene auf der Insel. Zahlreiche Blitzübersetzungen in andere Sprachen folgten,
 
1 Vortrag, gehalten am 25. Oktober 2010 in der Frankfurter Loge »Zur Einigkeit«. Dieser Beitrag wurde
 
ursprünglich veröffentlicht in: TAU, Zeitschrift der Forschungsloge »Quatuor Coronati«, Nr. II, 2010,
 
S. 90–100.
 
324
 
u.a. ins Chinesische, Japanische und Koreanische. Auch in Deutschland schnellte das Buch
 
umgehend auf die Bestsellerlisten, wobei es sich günstig auf den Verkauf auswirkte, dass das
 
Erscheinen der eilig angefertigten Übersetzung mit der Frankfurter Buchmesse zusammenfiel.
 
Bald gab es publizistische Sekundäreffekte, denn im Gefolge des Romans erschienen
 
unverzüglich mehr als ein Dutzend Bücher, die sich anschicken, dass oft verworren dunkle
 
Original zu erklären: »Secrets of the Lost Symbol«, »Unlocking the Masonic Code«,
 
»Decoding the Lost Symbol«, »Deciphering the Lost Symbol« und wie sie alle heißen
 
mögen, knapp 2000 Seiten erklärende Literatur. Auch der Lübbe Verlag, in dem die deutsche
 
Fassung erschien, brachte Anfang 2010 zwei Sekundärbücher heraus: »Die Wahrheit
 
über Das Verlorene Symbol« von Dan Burstein und Arne de Keijzer, eine Übersetzung aus
 
dem amerikanischen Englisch und (als sogenanntes »offizielles Sachbuch«) »Das verlorene
 
Symbol. Der Schlüssel zu Dan Browns Bestseller« von Henrik Eberle, der als Historiker am
 
Lehrstuhl für Zeitgeschichte der Universität Halle/Wittenberg tätig ist. Insbesondere dieses
 
Buch ist empfehlenswert für alle, die sich mit Dan Browns Puzzle und seinen Hintergründen
 
eingehender beschäftigen wollen – wenn, so muss man allerdings mittlerweile ergänzen,
 
überhaupt noch Interesse daran besteht.
 
Dan Brown und seine Kritiker
 
Bestseller haben nicht selten eine geringe Halbwertszeit. Bald war es mit dem Medienhype vorbei,
 
das Buch verschwand wieder aus den Bestsellerlisten und gebrauchte Exemplare sind inzwischen
 
in großer Zahl für wenig Geld beim Buchversender Amazon und anderswo zu haben.
 
Dass sich die Attraktivität des »Verlorenen Symbols« verbraucht zu haben scheint, hängt sicher
 
mit der komplizierten Materie des Buches selbst zusammen, die die Lektüre anspruchsvoll und
 
sperrig macht, mit der schon erwähnten Mischung aus Thriller, Familiengeschichte, philosophischer
 
Spekulation, amerikanischer Geschichte, abendländischer Esoterik und Freimaurerei.
 
Hier drei enttäuschte Stimmen der deutschen Fangemeinde aus dem Internet:
 
»Habe bis jetzt alle Dan Brown Bücher gelesen und mich dementsprechend mega mäßig
 
auf das neue Buch gefreut – muss (aber) leider sagen, dass ich ziemlich enttäuscht war
 
… Hoffentlich wird der nächste Dan Brown wieder so ein Burner wie seine Vorgänger!«
 
»Ein neuer Brown. Ein neuer Langdon. Brown behält seine Stereotypen bei – großes Geheimnis
 
…, noch größeres Geheimnis, Geheimbund, größtes Geheimnis, böse Geheimdienstler,
 
Geheimnis der Menschheit – Ende. Spannend ist es, ja. Und unterhaltsam.
 
Doch zum guten Roman fehlt eine ganze Menge.«
 
»Dieses Buch ist eine Aneinanderreihung scheinbar bedeutungsschwerer, dabei doch
 
völlig inhaltloser Plattitüden. Man müsste eine Strichliste machen, wie oft Brown Begriffe
 
wie ›die Alten‹, ›das Wissen der Alten‹, ›die alten Mysterien‹ usw. wiederholt. Leider
 
hat sich mir in keinster Weise erschlossen, was genau er damit meint. Ein bisschen
 
Gruseln, ein bisschen Pseudowissenschaft, ein bisschen Pseudophilosophie hübsch
 
durchgequirlt – fertig ist der Thriller. Mein Fazit: Daumen eindeutig nach unten!«
 
325
 
Doch für die Wirkung des Buches ist nicht nur »Volkesstimme« von Bedeutung. Relevant
 
ist vor allem, was von drei anderen Lesergruppen zum »Verlorenen Symbol« gesagt wird:
 
• den professionellen Literaturkritikern, die das Buch als Buch nehmen, und – soweit sie
 
überhaupt Notiz nehmen – im Allgemeinen herzlich schlecht finden,
 
• den Kulturjournalisten, vor allem denen der Feuilletons wichtiger Zeitungen, die Dan
 
Browns Roman nicht als literarisches Produkt, sondern als Symptom eines sich ausbreitenden
 
postmodernen Obskurantismus werten, den es zu entlarven gelte, und
 
• natürlich – von den Freimaurern, die darüber zu befinden haben, ob und wie sie sich in
 
Dan Browns Freimaurerbild wiederentdecken können, ob das Buch die Freimaurerei verzerrt,
 
die Öffentlichkeit irreführt und Interessenten abschreckt oder ob es als willkommenes
 
Werbegeschenk für den Bund zu begrüßen ist.
 
Anders als in den USA, wo sich die Literaturkritiker großer Zeitungen eingehend – teils positiv,
 
teils negativ – mit dem Buch beschäftigt haben, gab es in Deutschland nur wenige
 
Stimmen, und ich beschränke mich darauf, eine drastische zu zitieren. So befand Dennis
 
Scheck in der ARD-Literatursendung »Druckfrisch« folgendermaßen:
 
»Nach Vatikan und heiligem Gral knöpft sich Dan Brown nun die Mysterien der
 
amerikanischen Freimaurer vor …, doch sein drittes Buch mit dem Symbologen Robert
 
Langdon ist so fad und überraschungslos wie eine Mahlzeit in einer amerikanischen
 
Imbisskette.«
 
Und dann beförderte er das Buch mit Wut und Verachtung in seine symbolische Abfallkiste.
 
Im Unterschied zum flapsigen Dennis Scheck hat das »Verlorene Symbol« die Kulturjournalisten
 
der »Süddeutschen Zeitung«, der FAZ und der »Zeit« regelrecht aufgeregt, nicht wegen
 
vorhandener oder nichtvorhandener literarischer Qualität, sondern wegen seiner unverkennbaren
 
ideologischen Botschaft. Die Darlegungen der Autoren scheinen mir bezeichnend zu
 
sein auch für die deutlich ins Negative tendierende Beurteilung der Freimaurerei in Teilen
 
der gegenwärtigen intellektuellen Öffentlichkeit hierzulande, die – so meine ich – von der
 
Freimaurerei ernst genommen und reflektiert werden müsste.
 
Deshalb ein paar Passagen aus den erwähnten Artikeln:
 
Thomas Steinfeld schreibt in der »Süddeutschen Zeitung« vom 17. September 2009
 
unter der Überschrift »Das blasse Böse«:
 
»Auch wenn es sich hier nur um einen ›Thriller‹ und also pure Erfindung handelt, so ist
 
die paranoide Geschichtswissenschaft, aus dem diese Erfindung gemacht ist, doch alles
 
andere als bedeutungslos. Wer das Buch bis zum Ende liest, gelangt zu einer Epiphanie.
 
Die geheimste aller geheimen Botschaften der Freimaurerei wird entschlüsselt, die Lehre
 
liegt offen da: Gott ist alle Menschen, alle Menschen sind göttlich, die Freimaurerei ist
 
der Weg zu dieser Erleuchtung …
 
Ein seichter, vulgärer Pantheismus bildet den Schluss auch dieses Thrillers, und danach
 
geht über Washington die Sonne auf. Ihr erster Strahl lässt die Spitze des Washington
 
Monument, des höchsten Obelisken der Welt, aufleuchten. Und Robert Langdon
 
326
 
›dachte an die Wissenschaft, an den Glauben, an den Menschen. Er dachte daran, wie
 
jede Kultur, jedes Land zu jeder Zeit doch immer einer gemeinsamen Vorstellung gewärtig
 
war. Wir haben alle einen Schöpfer‹ …
 
Die Katholische Kirche hat sich immer wieder gegen die Romane Dan Browns gewehrt.
 
Man beginnt sie zu verstehen. Denn so spricht kein Heide. So spricht die Konkurrenz.«
 
Lorenz Jäger schreibt in der FAZ vom 18. September 2009 (Überschrift »Die geheime Pforte
 
zu den letzten Geheimnissen«):
 
»Langdon, und mit ihm Brown, sieht jede antikisierende politische Ikonographie als
 
Hinweis auf alte Mysterien … Natürlich wird auch diesmal die überkonfessionelle freimaurerische
 
Lehre als ›Toleranz‹ gerechtfertigt, überhaupt sind (die Freimaurer) bei Dan
 
Brown ganz harmlose Gesellen, die sich hauptsächlich der Organisation praktischer
 
Wohltätigkeit widmen. Und dafür die Geheimnisse, Einweihungsgrade, Verkleidungen,
 
Riten, Schweigepflichten? Dafür die esoterischen Lehren der Hochgrade? Dafür ›Großmeister-
 
Architekt‹ (der zwölfte Grad), ›Meister des Neunten Bogens‹, ›Großer Auserwählter
 
und Vollkommener Maurer‹, ›Ritter des Degens‹, ›Prinz von Jerusalem‹ und ›Ritter
 
vom Osten und Westen‹, am Ende ›Ritter Kadosch‹ (mit Racheschwur gegen Papst
 
und König) und ›Souveräner General-Großinspekteur‹ wie Peter Solomon? Alles nur
 
Philanthropie und Veredelung des eigenen inneren Menschen? Die guten Leute, die diese
 
Ansicht ernsthaft vertreten, glauben sich kurioserweise den ›Verschwörungstheorien‹
 
intellektuell haushoch überlegen.«
 
Schließlich Dieter Hildebrandt in der Zeit vom 20. Oktober 2009 (Überschrift »Die Welträtsel
 
tragen Frack. Dan Browns neuer Thriller ist große Unterhaltung und kesser Obskurantismus«):
 
»Machen wir uns nichts vor: Dies wird keine Rezension. Dies wird die notgedrungene
 
Beschreibung einer medialen und globalen Lawine …
 
Die nervöse Spannung, die … von der Lektüre ausgeht, die geradezu peinigende Ungeduld,
 
die man als Leser empfindet, gehen nicht von den Reißerqualitäten des Buches aus,
 
sondern vom fortwährenden Tanz um den heißen Brei, um eine Melange aus raunenden
 
Andeutungen und ›unfassbaren‹ Verheißungen. ›Es gibt eine verborgene Welt hinter der,
 
die wir alle sehen. Für uns alle‹, heißt eine von Hunderten kursiver Beschwörungen …
 
Das wahre Wissen, das Missing Link zwischen moderner Wissenschaft und antikem
 
Mystizismus, die versunkene Erkenntnis – all das wird uns hier geheimnisvoll in Aussicht
 
gestellt. Doch Browns Buch ist ein Investmentzertifikat völlig irrealer Werte.
 
Die Marotte, unserer Welt und Wissenschaft, dem ständigen Prozess von Trial and
 
Error, ein unentdecktes Allwissen aus frühester Zeit gegenüberzustellen, eine uns aus
 
den Labyrinthen der modernen Wissensgesellschaft erlösende Dauerwahrheit, ist blendender
 
Bluff, kessester Obskurantismus und genau die reaktionäre Verschwörung, die
 
das Buch aufzudecken vorgibt.«
 
Hier verbindet sich Buchkritik mit einer direkten oder indirekten Kritik an der Freimaurerei,
 
Dan Brown wird mit masonischen Realitäten vermischt, und es entsteht eine Argumenta327
 
tionslinie, die aufgrund ihrer Subtilität von Freimaurerseite viel ernster genommen werden
 
muss als manche plumpe »Verschwörungstheorie«.
 
Was die Freimaurer sagen
 
Doch nun zu den Freimaurern. Vor dem Erscheinen gab es bei ihnen durchaus Befürchtungen,
 
in welche Ecke der Autor die Freimaurer wohl stellen würde. Doch die Sorgen schienen umsonst
 
gewesen zu sein: Man freute sich über das positive Freimaurer-Bild Dan Browns, vermutete
 
ein zunehmendes gesellschaftliches Interesse an der Freimaurerei und äußerte die Hoffnung,
 
dass der »Dan Brown-Effekt« letztlich auch zu steigenden Mitgliederzahlen in den Logen führt.
 
Vor allem von Freimaurern in den USA wurde das Buch begrüßt. So schrieb etwa Christopher
 
Hodapp, Freimaurer und Verfasser freimaurerischer Bücher, in einer Danksagung,
 
die er seinem Buch »Deciphering the Lost Symbol« voranstellte: »Dank schließlich an Dan
 
Brown, der die Welt an das erinnert hat, was die Freimaurer sind, woran sie glauben und
 
warum sie wichtig für die Gesellschaft bleiben.«
 
Auch Dan Brown selbst zeigte sich vom Nutzen seines Buches für die Freimaurerei
 
überzeugt. Kurz vor dem Termin der Veröffentlichung meinte er in einem Interview mit
 
Associated Press: »Ich denke, dass es eine enorme Anzahl von Menschen geben wird, die an
 
der Freimaurerei interessiert sind, wenn das Buch erscheint.«
 
Und kurz nach dem Erscheinen des Buches im September 2009 sagte er weiter: »Die
 
Welt wird einsehen, dass mein neues Buch, Das Verlorene Symbol, eine ehrfürchtige Darlegung
 
der freimaurerischen Philosophie ist.«
 
Doch von welcher Freimaurerei ist im »Verlorenen Symbol« die Rede, und was sind für
 
den Autor die Grundannahmen der von ihm erwähnten freimaurerischen Philosophie?
 
Wenn man genau hinschaut, so stehen in Browns Buch zwei zwar miteinander verbundene,
 
aber doch zu unterscheidende Spielarten von Freimaurerei nebeneinander:
 
• die zu Beginn des 18. Jahrhunderts entstandene moralisch-symbolische Freimaurerei der
 
drei englischen Zunftgrade Lehrling, Geselle und Meister sowie
 
• die später entstandene, vor allem in den USA sehr populäre, gegenüber dem Ausgangsmodell
 
rituell stark erweiterte und esoterisch ausgebaute, 33 Grade umfassende Hochgradfreimaurerei
 
des sogenannten Schottischen Ritus.
 
Alle freimaurerischen Protagonisten des Buches gehören diesem System an. Peter Solomon, der
 
Direktor der Smithsonian Institution, Warren Bellamy, der Architekt des Kapitols, Colin Galloway,
 
der Dompropst und auch der Bösewicht Mal’akh, der sich seine Mitgliedschaft freilich erkauft
 
hat, sind Mitglieder des obersten, des 33. Grades, dem konsequenterweise auch das im Prolog
 
geschilderte Einweihungsritual zugeordnet ist. Und gleichsam als Hommage an den Schottischen
 
Ritus wies Dan Brown auf seiner Homepage darauf hin, dass die Ziffern des Erscheinungsdatums
 
des Romans, des 15.9.09, zusammengerechnet (15 + 9 + 9) die Zahl 33 ergeben.
 
Die Leitung des Schottischen Ritus akzeptierte die Anerkennung. Allerdings wies das »Scottish
 
Rite Journal« in seiner Ausgabe von November/Dezember 2009 auf eine Reihe von Fehlern
 
in Dan Browns Roman hin:
 
328
 
• So sei das Rotwein-Trinken aus dem Totenschädel bei Mal’akhs Aufnahme kein authentischer
 
Ritualbestandteil, es sei vielmehr einer nach ihrer Veröffentlichung oft antifreimaurerisch
 
verwendeten Schrift aus den 1880er Jahren entnommen.
 
• Der Schottische Ritus werde in den USA von zwei Obersten Räten geleitet, nicht von dem
 
von Brown genannten einen in Washington. Das im Buch ausführlich beschriebene
 
»House of the Temple« sei Hauptquartier des Schottischen Ritus der Südlichen Jurisdiktion,
 
die ihren Sitz in Washington D.C. habe.
 
• An der Spitze des Obersten Rates stehe der »Souveräne Großkommandeur« und nicht wie
 
bei Brown der »Höchste ehrwürdige Meister«, den es unter dieser Bezeichnung nicht
 
gäbe, und der 33. Grad werde nicht in einer örtlichen Loge zelebriert.
 
• Der von Brown viel beschworene »Zirkumpunkt« sei ein Symbol unter anderen und habe
 
nicht die ihm im Roman zugeschriebene zentrale Bedeutung.
 
• Schließlich sei das Emblem des Schottischen Ritus ein doppelköpfiger Adler und kein
 
Phoenix.
 
Der generell positive Tenor Browns gegenüber der Freimaurerei des Schottischen Ritus wurde
 
jedoch sehr beifällig aufgenommen. Kurz nach dem Erscheinen des Buches lud die Leitung
 
des Ritus den Autor zu einer Vortragsveranstaltung ein. Dieser musste seine Teilnahme
 
wegen der Präsentation des Romans anderswo absagen, schrieb aber einen Brief an den
 
Vorstand des Ritus, der auf der Homepage Ritus veröffentlicht wurde und in dem es heißt:
 
»In den vergangenen Wochen wurde ich wiederholt gefragt, was mich so an der Freimaurerei
 
anzöge, dass ich sie zu einem zentralen Gegenstand meines Buches gemacht
 
hätte. Meine Antwort ist immer dieselbe: In einer Welt, wo Menschen darum
 
kämpfen, wessen Definition von Gott die richtige ist, kann ich kaum ausreichend
 
meinen tiefen Respekt und meine Bewunderung zum Ausdruck bringen, die ich einer
 
Organisation gegenüber empfinde, in der Menschen unterschiedlichen Glaubens
 
das ›Brot miteinander brechen‹ in einer Verbindung von Brüderlichkeit, Freundschaft
 
und Kameradschaft.«
 
Doch gehen wir noch einmal zurück zu der für Dan Brown so anziehenden Hochgradstruktur.
 
Grade und Hochgrade
 
33 Grade, das bedeutet in der Tat einen hohen Aufwand an Symbolik, der von der frühen
 
Freimaurerei gar nicht zu leisten war, und so ist vieles von dem, was bei Dan Brown als genuin
 
freimaurerisch erscheint: Hermetik, Kabbalistik, Zahlenmystik, Alchemie, Rosenkreuzertum
 
und Tempelritterromantik in vollem Maße erst für die späteren Hochgradsysteme
 
spezifisch und nicht von Beginn an freimaurerisch im ursprünglichen Sinne. Es handelt
 
sich vielmehr um Bestandteile einer allgemeinen religiösen – präziser religiös-esoterischen
 
– Tradition der abendländischen Kultur und kam zu einem großen Teil erst mit dem Entstehen
 
der Hochgradsysteme
 
gegen Ende des 18. Jahrhunderts in die Freimaurerei hinein,
 
nachdem es von der vorromantischen Erinnerungskultur entdeckt bzw. wiederentdeckt
 
wurde.
 
329
 
Spuren dieser Entdeckung sind im Geistesleben des späten 18. Jahrhunderts reichlich
 
aufzuspüren. So schreibt etwa der alte Goethe in seinem Erinnerungsbuch »Dichtung und
 
Wahrheit« nicht ohne Spott und Distanzierung über die Weltanschauung seiner jungen
 
Jahre: »Der neue Platonismus lag zum Grunde; das Hermetische, Mystische, Kabbalistische
 
gab auch seinen Beitrag her, und so erbaute ich mir eine Welt, die seltsam genug aussah.«
 
Etwas anderes kam hinzu: Durch den Verlust an gesellschaftlichem Einfluss auf Seiten
 
des Adels, bedingt durch die Herrschaftsstrukturen des späten Absolutismus, und das
 
gleichzeitige Entstehen einer an Einfluss gewinnenden bürgerlichen Oberschicht, konvergieren
 
adlige und bürgerliche Interessen. Damit entstehen nun auch soziale Gründe für den
 
Aufstieg der freimaurerischen Hochgrade, denn sie versprechen dem Adel gesellschaftliche
 
Kompensation für erlittene Funktionsverluste, d.h. Wiederherstellung alter Reputation,
 
und sie versprechen dem aufsteigenden Bürgertum eine neue adelsgleiche oder zumindest
 
adelsähnliche Reputation, was dann auch in den Titeln der Grade zum Ausdruck kommt:
 
»Ritter der Sonne«, »Prinz von Jerusalem«, »Erhabener Prinz des königlichen Geheimnisses
 
« usw. usf.
 
Wenn sich nun auch Dan Brown letztlich an der Hochgradfreimaurerei orientiert, so
 
tritt das gleichsam klassische englische Verständnis der Freimaurerei bei ihm doch nicht
 
gänzlich zurück, und Robert Langdon hält sich, bevor er unter der Leitung von Peter Solomon
 
auf den letzten 100 Seiten des Romans seinen eigenen esoterischen Initiationsweg
 
einschlägt, zunächst durchaus an das englische Modell.
 
Blenden wir uns – der Erläuterung halber – kurz in ein Seminar des Harvard-Professors ein:
 
»Mein Onkel ist Freimaurer«, meldete sich eine junge Frau zu Wort. »Meiner Tante
 
ist das gar nicht recht, weil er nicht mit ihr darüber redet. Sie sagt, die Freimaurerei
 
wäre irgendeine Art von seltsamer Religion.«
 
»Ein weitverbreitetes Missverständnis.«
 
»Wieso?«
 
»Wenden wir den Lackmustest an«, erwiderte Langdon, »wer von Ihnen hat Professor
 
Witherspoons Kurs in Vergleichender Religionswissenschaft belegt?«
 
Mehrere Studenten hoben die Hände.
 
»Gut. Können Sie mir die drei Voraussetzungen nennen, die es braucht, um aus einer
 
Ideologie eine Religion zu formen?«
 
»VGB«, meldete eine Frau sich zu Wort »Versprechen, glauben, bekehren.«
 
»Richtig«, bestätigte Langdon. »Religionen versprechen Erlösung, glauben an eine
 
ausgefeilte Lehre und bekehren Ungläubige.«
 
Er hielt inne. »Nichts davon trifft auf die Freimaurerei zu. Freimaurer versprechen
 
keine Erlösung; sie besitzen keine bestimmte Glaubenslehre und versuchen auch
 
nicht, Menschen zu konvertieren. Um genau zu sein: Diskussionen über Religion
 
sind innerhalb der Logen verboten.«
 
»Die Freimaurerei wendet sich gegen die Religion?«
 
»Im Gegenteil. Eine der Voraussetzungen, Freimaurer zu werden, ist der Glaube an
 
eine höhere Macht. Freimaurerische Spiritualität unterscheidet sich von den institutionalisierten
 
Religionen insofern, als Freimaurer diese höhere Macht nicht näher definieren
 
und ihr keinen Namen geben. Statt ihr eine definitive theologische Identität
 
330
 
wie Gott, Allah, Buddha oder Jesus zu verleihen, benutzen die Freimaurer eher allgemeine
 
Begriffe wie ›Oberstes Wesen‹ oder ›Allmächtiger Baumeister aller Welten‹.
 
Deshalb können Freimaurer unterschiedlichster Religionszugehörigkeit zusammenkommen.
 
«
 
»Hört sich ein bisschen weit hergeholt an«, sagte jemand.
 
»Oder einfach nur erfrischend aufgeschlossen?«, bot Langdon an. »In einem Zeitalter,
 
in dem sich die unterschiedlichsten Völker gegenseitig umbringen, weil sie darüber
 
streiten, wessen Definition von Gott die bessere ist, könnte man sagen, dass die
 
Tradition der Toleranz und Aufgeschlossenheit, wie sie von den Freimaurern propagiert
 
wird, eher empfehlenswert ist.«
 
Langdon ging auf dem Podium auf und ab.
 
»Außerdem steht die Freimaurerei Menschen sämtlicher Rassen, Hautfarben und Glaubensrichtungen
 
offen. Die Freimaurer sind eine spirituelle Bruderschaft, die keine Diskriminierung
 
kennt.«
 
»Professor Langdon«, meldete sich ein junger Mann mit lockigen Haaren, der in der
 
letzten Reihe saß, »wenn die Freimaurerei keine Geheimgesellschaft ist, kein Unternehmen
 
und keine Religion, was ist sie dann?«
 
»Nun, würden Sie einen Freimaurer fragen, würde er Ihnen antworten: Die Freimaurerei
 
ist ein System moralischer Werte, das von Allegorien verschleiert und durch Symbole
 
erklärt wird«.
 
Dies ist genau die traditionelle englische Definition: »Freemasonry is a peculiar system of morality
 
veiled in allegory and illustrated by symbols.«
 
Bevor nun Peter Solomon, bei Dan Brown der höchste Repräsentant des Schottischen
 
Ritus in Washington, mit einem anders akzentuierten Verständnis von Freimaurerei zu Wort
 
kommen soll, ist nachzutragen, dass es weniger die heutige Struktur und Sichtweisen des
 
Schottischen Ritus sind, von der Dan Brown in seinem Buch ausgeht.
 
Seine Hauptquellen sind vielmehr zwei Autoren des 19. und des 20. Jahrhunderts, die
 
beide im Roman genannt werden: Albert Pike und Manly Palmer Hall.
 
Albert Pike, 1809 bis 1891, war eine ebenso prominente wie schillernde und umstrittene
 
Figur in der Geschichte der amerikanischen Hochgradfreimaurerei. Zu seiner Zeit
 
wurde Pike als der bedeutendste freimaurerische Gelehrte und Autor gefeiert: Seit damals
 
haben sich freilich viele seiner Thesen über die Ursprünge der Freimaurerei und ihrer
 
Zeremonien als definitiv falsch erwiesen. Pike überarbeitete die Grade (4–33) des Alten
 
Angenommenen Schottischen Ritus und veröffentliche 1871 ein knapp 900 Seiten starkes
 
Buch »Morals and Dogma of the Ancient and Accepted Scottish Rite of Freemasonry«,
 
das bis Mitte des 20. Jahrhunderts jedem Freimaurer des Schottischen Ritus auf einer
 
bestimmten Stufe seines Weges durch die Grade überreicht wurde. Heute ist sich die freimaurerische
 
Forschung weithin einig, dass »Morals and Dogma« ein zwar umfangreiches
 
und eindrucksvolles, zugleich aber einigermaßen verworrenes Buch ist, das in vielen Fragen
 
zu falschen Schlüssen kommt. Zudem übernahm Pike einen großen Teil seiner Darlegungen
 
von einem in Bezug auf kulturgeschichtliche Fakten wenig vertrauenswürdigen
 
französischen Autor namens Eliphas Levi, der von 1810 bis 1875 in Paris lebte, u.a. auch
 
Hochgradfreimaurer war und als einer der Wegbereiter des modernen Okkultismus gilt.
 
Levi führte die Freimaurerei auf die antiken heidnischen Mysterien, die Alchemie, die
 
331
 
ägyptischen Mystiker, den Kabbalismus, den Gnostizismus, den Zoroastrismus und den
 
Brahmanismus zurück, und Albert Pike folgte ihm, indem er ihn teils plagiierte, teils interpretierte.
 
Mittlerweile wird Pike auch in den USA kritisch gesehen, und sein Buch wird
 
nicht mehr unter den Mitgliedern des Schottischen Ritus verteilt.
 
Auf Pike wiederum baut ein anderer mystisch-esoterisch orientierter Autor und Freimaurer
 
auf, den Dan Brown an mehreren Stellen des »Verlorenen Symbols« zitiert: Manly Palmer
 
Hall, der von 1901 bis 1990 gelebt hat und seit 1973 dem 33. Grad des Schottischen Ritus
 
angehörte. Halls Hauptwerk »The Secret Teachings of All Ages: An Encyclopedic Outline
 
of Masonic, Hermetic, Qabbalistic and Rosicrucian Symbolical Philosophy«, veröffentlicht
 
1928, ist ohne Zweifel die Hauptquelle Dan Browns gewesen, und Halls Buch ist auch das
 
Motto entnommen, das Dan Brown an den Anfang seines Buchs gestellt hat:
 
»In der Welt zu leben, ohne sich ihrer Bedeutung bewusst zu werden, ist wie in einer
 
großen Bibliothek herumzuirren, ohne die Bücher anzurühren.«
 
Auch der Titel »Das verlorene Symbol« erinnert an ein Buch Manly Halls, die Schrift »The
 
Lost Keys of Freemasonry«. Hall fast die freimaurerische Sendung, wie er sie versteht, in diesem
 
Buch folgendermaßen zusammen:
 
»Es gibt tausende von Maurern, die nur dem Namen nach Brüder sind, denn ihre Unfähigkeit,
 
die Ideen ihrer Kunst zu verstehen, macht sie sprachlos gegenüber den Lehren
 
und Zwecken der Freimaurerei. Ein wahrhaft maurerisches Leben erst bildet den Schlüssel
 
zum Tempel und ohne diesen Schlüssel kann keines seiner Tore geöffnet werden.
 
Wenn diese Tatsache besser verstanden und gelebt wird, wird die Freimaurerei erwachen
 
und das solange vorenthaltene Wort aussprechen. Die spekulative Zunft wird operativ
 
werden und das alte, lange verborgene Wissen wird aus den Ruinen des Tempels auferstehen
 
als die größte spirituelle Wahrheit, die je den Menschen enthüllt wurde.«
 
Zukunft, Wahrheit, Verlorenes Wort. Dies sind nun die Stichworte für die Freimaurerei Peter
 
Solomons, auf die sich die zitierten Kritiken in der »Süddeutschen Zeitung«, der FAZ und
 
der »Zeit« beziehen und die auch im Mittelpunkt eines – zugegebenermaßen bisher nur unzureichend
 
geführten – »Dan-Brown-Diskurses« innerhalb der deutschen Freimaurerei zu
 
stehen hätte.
 
Solomon’s Key
 
Peter Solomon, masonischer Held Dan Browns und Direktor der hochrenommierten Smithsonian
 
Institution in Washington, hat in der Aula der Philipps Exeter Academy einen Vortrag
 
über James Smithson, den Gründer der von ihm geleiteten Einrichtung, und die Gründerväter
 
der Vereinigten Staaten gehalten, und wir wollen in die sich anschließende Diskussion
 
hineinhören:
 
Eine blonde Studentin in den hinteren Reihen hob die Hand.
 
»Ja, bitte?«
 
332
 
»Sir«, sagte sie und hielt ihr Handy hoch, »ich habe im Internet über Sie nachgeforscht,
 
und in der Wikipedia steht, dass Sie ein prominenter Freimaurer sind.«
 
Solomon hielt seinen Freimaurerring hoch. »Die Onlinegebühr hätte ich Ihnen ersparen
 
können.«
 
Gelächter im Saal.
 
»Ja, nun«, fuhr die junge Frau zögernd fort, »Sie sprachen ja gerade von überkommenem
 
religiösem Aberglauben, aber mir scheint, dass es besonders die Freimaurer
 
sind, die überkommenen Aberglauben verbreiten.«
 
Solomon schien unbeeindruckt. »Tatsächlich? Wie kommen Sie darauf?«
 
»Ich habe viel über Freimaurer gelesen und weiß, dass sie einer ganzen Reihe seltsamer
 
alter Rituale anhängen und abwegige Glaubensvorstellungen haben. In einem Onlineartikel
 
steht sogar, dass die Freimaurer an irgendein altes magisches Wissen glauben …
 
das aus Menschen Götter machen kann.«
 
Alle wandten sich der jungen Frau zu und starrten sie an, als hätte sie den Verstand verloren.
 
»In der Tat«, sagte Solomon, »da hat die junge Dame recht.«
 
Die Köpfe der Studenten fuhren herum. Sie musterten Solomon mit großen Augen
 
und verwirrten Blicken.
 
Solomon verkniff sich ein Lächeln und fragte die Studentin: »Stehen dort noch mehr
 
Wiki-Weisheiten über dieses magische Wissen?«
 
Die junge Frau wirkte verlegen, las dann aber von der Website vor. »Um sicherzustellen,
 
dass dieses machtvolle Wissen nicht von den Unwürdigen benutzt werden kann,
 
schrieben die frühen Adepten es verschlüsselt nieder … sie verbargen seine Macht hinter
 
einer metaphorischen Sprache voller Symbole, Mythen und Allegorien. Bis heute
 
umgibt uns dieses verborgene Wissen … es findet sich in unserer Mythologie, unserer
 
Kunst und den okkulten Texten aller Zeitalter. Leider hat der moderne Mensch die Fähigkeit
 
verloren, dieses komplexe Geflecht der Symbole zu entschlüsseln … und die
 
große Wahrheit ist verloren gegangen.«
 
Solomon wartete. »Ist das alles?«
 
Die junge Frau ruckte unbehaglich auf ihrem Sitz. »Nein, da steht noch mehr.«
 
»Das hoffe ich. Bitte, lesen Sie es uns vor.«
 
Die Studentin blickte unschlüssig drein; dann räusperte sie sich und fuhr fort. »Der Legende
 
zufolge haben die Weisen, die die Alten Mysterien vor langer Zeit chiffriert haben,
 
eine Art Schlüssel hinterlassen … ein Passwort, das benutzt werden kann, um die
 
kodierten Geheimnisse wieder zugänglich zu machen. Dieses magische Passwort – als
 
das Verbum significatum bekannt – soll die Macht besitzen, die Finsternis zu vertreiben
 
und die Alten Mysterien zu offenbaren, sodass sie für alle Menschen sichtbar sind.«
 
Solomon lächelte wehmütig. »Ach ja … das Verbum significatum.« Einen Moment lang
 
schaute er ins Leere; dann blickte er wieder auf die junge Frau. »Und wo ist dieses wunderbare
 
Wort jetzt?«
 
Die Studentin wirkte mit einem Mal verschämt. Sie wünschte sich offensichtlich, sie
 
hätte den Gastredner nicht zu einer Diskussion verleitet. Mit unsicherer Stimme las
 
sie zu Ende: »Der Legende nach ist das Verbum significatum tief unter der Erde verborgen,
 
wo es geduldig auf einen Schlüsselmoment wartet, in dem die Menschheit
 
ohne die Wahrheit, das Wissen und die Weisheit aller Zeitalter nicht mehr überleben
 
kann. An diesem dunklen Scheideweg wird die Menschheit das Wort schließ333
 
lich ausfindig machen und in ein wundervolles neues Zeitalter der Erleuchtung eintreten.
 
«
 
Das Mädchen klappte das Handy zu und sank in den Sitz.
 
Nach langem Schweigen hob ein anderer Student die Hand. »Mr. Solomon, Sie glauben
 
das doch nicht etwa?«
 
Solomon lächelte. »Wieso nicht? Unsere Mythologien haben eine lange Tradition magischer
 
Wörter, die Erkenntnis und gottähnliche Kräfte verheißen.«
 
»Aber, Sir«, setzte der Student nach, »Sie glauben doch nicht etwa, dass ein einziges
 
Wort, was immer es ist, die Macht besitzt, uraltes Wissen zu offenbaren und weltweite
 
Erleuchtung zu bringen?«
 
Peter Solomons Miene gab nichts preis.
 
Ȇber meine Glaubensvorstellungen sollten Sie sich nicht den Kopf zerbrechen. Aber
 
denken Sie einmal darüber nach, dass die Verheißung einer bevorstehenden Erleuchtung
 
Teil nahezu jeder Glaubensrichtung oder philosophischen Tradition auf Erden ist …
 
Von den zeitlichen Umständen einmal abgesehen halte ich es doch für bemerkenswert,
 
dass im Lauf der Geschichte die Philosophien aller Zeiten und Kontinente, so grundverschieden
 
ihre Standpunkte sein mögen, sich in einer Sache offenbar einig waren –
 
dass eine große Erleuchtung kommen wird. In jeder Kultur, in jedem Zeitalter, in jedem
 
Winkel der Welt hat sich der Traum des Menschen auf ein und dasselbe Konzept fokussiert:
 
seine Apotheose, die nahe bevorstehende Transformation unseres menschlichen
 
Geistes in sein wahres Potenzial.«
 
Er lächelte. »Was könnte eine solche Synchronizität von Glaubensvorstellungen erklären?«
 
»Wahrheit«, sagte eine leise Stimme in der Menge.
 
Solomon ließ erstaunt den Blick schweifen.
 
»Wer hat das gesagt?«
 
Die Hand, die gehoben wurde, gehörte einem jungen Asiaten, dessen weiche Züge darauf
 
hindeuteten, dass er Nepalese oder Tibeter sein konnte. »Vielleicht gibt es eine universelle
 
Wahrheit, die jeder in seiner Seele mit sich trägt. Vielleicht verbirgt sich in uns allen die
 
gleiche Geschichte, vielleicht als gemeinsame Gensequenz in unserem Erbgut. Vielleicht ist
 
diese kollektive Wahrheit verantwortlich für die Ähnlichkeit in allen unseren Geschichten.«
 
Mit strahlender Miene presste Solomon die Hände zusammen und verneigte sich ehrerbietig
 
vor dem Jungen.
 
»Danke«.
 
Alles schwieg.«
 
Soweit Peter Solomon, soweit das Verbum significatun, soweit Dan Brown und seine Auffassung
 
vom zutiefst esoterischen Wesen der Freimaurerei.
 
Doch was ist nun die im Titel meines Vortrags versprochene Freimaurerei, wie sie wirklich
 
ist?
 
Moral und Lebenskunst
 
Meine Antwort muss zunächst enttäuschen, denn – ich habe es bereits angedeutet – die Freimaurerei
 
im Singular gibt es nicht.
 
334
 
Zwar gibt es bestimmte Grundzüge, die die Freimaurerei als Assoziationstyp insgesamt
 
definieren und unterscheidbar machen, doch in vielerlei Hinsicht war Freimaurerei immer ein
 
Raum, der inhaltlich unbestimmt war.
 
Vor allem waren
 
• die inhaltliche Ausgestaltung der Rituale,
 
• die Organisationsformen der freimaurerischen Systeme, insbesondere im Hinblick auf die
 
unterschiedlichen Dimensionen der Hierarchie und
 
• die Akzentsetzungen innerhalb des freimaurerischen Wertekanons
 
von Anfang weitgehend offen.
 
So bildeten sich beim Weg der Freimaurerei durch die Geschichte drei Grundtypen von Freimaurerei
 
heraus, die sich zwar mischen können (und sich de facto auch gemischt haben),
 
aber doch deutlich unterscheidbar sind:
 
• eine ethisch orientierte Freimaurerei, der es um die Einübung moralischer Standards und
 
ihre Praktizierung sich selbst und der Gesellschaft gegenüber geht,
 
• eine esoterisch orientierte Freimaurerei, bei der die Suche nach höheren Erkenntnissen
 
zum Hauptinhalt geworden ist, und
 
• eine christlich orientierte Freimaurerei, deren Richtschnur die in den Evangelien enthaltene
 
Lehre Jesu Christi ist.
 
In mir haben sie nun einen ausgesprochenen Vertreter einer ethisch orientierten Freimaurerei
 
vor sich, wie sie in Deutschland in der Großloge der Alten, Freien und Angenommenen
 
Maurer zu Hause ist, wie sie mir aber auch fest verankert scheint in der langen Tradition des
 
Eklektischen Freimaurer-Bundes hier in Frankfurt, die ja im Wesentlichen identisch ist mit
 
der Tradition der Loge »Zur Einigkeit«, bei der wir heute zu Gast sind.
 
Für mich bedeutet Freimaurerei vor allem Praxis, und zwar Praxis einer Lebenskunst,
 
die menschliches Miteinander und ethische Lebensorientierung durch Symbole und rituelle
 
Handlungen in der Gemeinschaft der Loge darstellbar, erlebbar und erlernbar macht.
 
Freimaurer wirken durch eine schlichte, aber wirksame Methode: Sie versuchen ganz einfach,
 
den Menschen, so wie er ist, ernst zu nehmen in seiner dreifachen Eigenschaft als einer
 
sozialen, einer moralischen und einer emotionalen Person, die in jeder dieser Eigenschaften
 
ganz spezifische Bedürfnisse
 
hat, und sie bemühen sich in ihren Logen darum, diesen Bedürfnissen
 
gleichzeitig zu entsprechen, und zwar ganz einfach durch den besonderen,
 
auf
 
drei Säulen ruhenden Charakter des Freimaurerbundes: als Gemeinschaft brüderlich verbundener
 
Menschen; als ethisch-moralisch ausgerichteter Bund, der sich an bleibend gültigen
 
Werten und Überzeugungen
 
orientiert, und schließlich, aber nicht zuletzt als symbolischritueller
 
Werkbund, der sein überliefertes Brauchtum, seine Symbole und seine symbolhaften
 
Handlungen zur gefühlsmäßigen, erlebnishaften Vertiefung seiner Überzeugungen nutzt.
 
Dieses dreifache Angebot, von dem die Freimaurer meinen, dass es der Grundsituation
 
des Menschen
 
als dem fragenden, dem suchenden Wesen entspricht, scheint durchaus aktuell
 
zu sein in der heutigen Zeit der gesellschaftlicher Umschichtung, des Wandels vieler
 
sozialleitender Werte und des Aufkommens zahlreicher neuer Bedrohungen der Menschlichkeit
 
sowohl in der individuellen
 
Lebenswirklichkeit
 
jedes einzelnen Menschen als auch
 
in gesamtgesellschaftlicher, ja globaler
 
Dimension.
 
335
 
Dan Browns esoterische Freimaurerei mag ein vielversprechender Romanstoff sein, als
 
Grundlage einer gegenwartstüchtigen und zukunftsfähigen Freimaurerei taugt sie nicht.
 
Literatur
 
Dan Brown: Das Verlorene Symbol, aus dem amerikanischen Englisch übersetzt und entschlüsselt
 
vom Bonner Kreis, Gustav Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach 2009.
 
Albert Pike: Morals and Dogma of the Ancient and Accepted Scottish Rite of Freemasonry,
 
first published 1871, republished 2008 by Forgotten Books.
 
Manly P. Hall: The Lost Keys of Freemasonry (ursprünglich 1923), New York 2006.
 
Christopher L. Hodapp: Deciphering the Lost Symbol. Freemasons, Myths and the Mysteries
 
of Washington, D.C., Berkeley CA 2010.
 
Henrik Eberle: Das Verlorene Symbol. Der Schlüssel zu Dan Browns Bestseller, Köln 2010.
 
Dan Burstein/Arne de Keijzer: Die Wahrheit über Das verlorene Symbol. Dan Browns neuer
 
Roman entschlüsselt, München 2010.
 
Kaum eine bürgerliche Vereinigung existiert so lange wie die Freimaurerei und kaum ein
 
Zusammenschluss ist gleichzeitig derart geheimnisumwoben und mit Mythen unterschiedlichster
 
Art verbunden. Dass es die Logen gab, war der Öffentlichkeit früh bekannt, bekannter
 
jedenfalls, als es die weit verbreitete Vorstellung von einer im Verborgenen wirkenden
 
Geheimgesellschaft vermuten lassen würde. Was aber ihre Mitglieder verband, was den Reiz
 
der Freimaurerei ausmachte, was es mit ihren Ritualen auf sich hatte, das blieb zumeist im
 
Dunkeln. Marcus Meyer untersucht in der vorliegenden Studie die gesamte Geschichte der
 
Bremer Freimaurer von ihren Anfängen im 18. Jahrhundert bis in die Zeit der Reorganisation
 
nach dem Zweiten Weltkrieg. Dabei fragt er vor allem nach der Bedeutung der freimaurerischen
 
Bünde für die Genese und Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft. Er nimmt
 
zugleich in den Blick, mit welchen oft absonderlichen Zuschreibungen die Freimaurer konfrontiert
 
waren, und analysiert die ebenfalls mitunter unrealistische Selbstwahrnehmung des
 
Männerbundes. Diese erste kritische Darstellung der Bremer Freimaurerei darf nach dem
 
großen Erfolg der 2006 im Bremer Landesmuseum für Kunst und Kultur – Focke-Museum
 
gezeigten Ausstellung »Licht ins Dunkel – die Freimaurer und Bremen« auf großes Interesse
 
hoffen.
 
Marcus Meyer
 
Bruder und Bürger
 
Freimaurerei und Bürgerlichkeit
 
in Bremen
 
360 S., 45 Abb.
 
ISBN 978-3-8378-1019-6
 
19,90 �
 
</poem>
 

Aktuelle Version vom 8. November 2012, 21:53 Uhr