Traktat: Weisheit der Mysterien

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Weisheit der Mysterien

von Alfried Lehner


Tempelarbeit - Gottesdienst?

Viele Fragen kreisten ja immer darum, ob das, was bei den Tempelarbeiten der Freimaurer oder anderer Initiationsgemeinschaften geschieht, nicht doch eine Art Gottesdienst ist. Damit wären jene Gemeinschaften doch in die Nähe der Sekten zu rücken. Nun, rein äußerlich trifft dies schon deshalb nicht zu, weil in diesen Gemeinschaften Gläubige oder Ungläubige (!) jedweder Religion Mitglied sind. Das Kennzeichen des Gottesdienstes einer Religionsgemeinschaft ist es, daß die Gläubigen denselben Gottesbegriff haben und daß sie sich zum Zwecke der Anbetung ihres Gottes versammeln. Für die antiken Mysterien kann man das nicht sagen; denn das mythische Bewußtsein jener Zeit ließ sich nicht in wenige Dogmen im Sinne der heutigen Großreligionen fassen.

Die Gottesvorstellungen wurden durch zahlreiche unterschiedliche Mythen tradiert, die auch für ein und denselben Gott viele Varianten aufwiesen. Es herrschte eine Gedankenfreiheit, welche die heutigen Religionen nicht kennen. Allein diese Tatsache macht es reizvoll, die alten Mysterien einmal zu zelebrieren, soweit wir sie rekonstruieren können, um ihre Wirkung auf unsere Psyche zu erfahren. Dabei stellen wir fest, daß diese alten Formen innerlich frei machen, weil sie sich der Symbole bedienen. Symbole sind nicht streng auslegbar, sondern wir reflektieren mit ihnen. Wir schauen mit ihrer Hilfe in unser Inneres, lernen uns selbst erkennen und erfahren durch uns die Welt und das Göttliche in einer Wahrheit, die uns keine vorgekaute Dogmatik vermitteln kann.

Schauspiel

Das was bei den Mysterien geschah, kann man als ein Schauspiel bezeichnen, bei dem der Myste, der Initiand, d. i. der Einzuweihende, die Hauptrolle spielt. Er spielt gewöhnlich das Schicksal eines Gottes, einer Göttin nach, so wie es in den Mythen überliefert ist. In Eleusis wurde die "Kore" (wörtl.: das Mädchen), d. i. die Tochter der Demeter von Hades geraubt und in die Unterwelt entführt. Der Name De-meter wurde bereits in der Antike als Erdmutter (griech. ge-meter) gedeutet. Sie ist die Große Mutter, die spätere römische Ceres, die Spenderin des Lebens und der Vegetation, die im zweiten Jahrtausend vor Christus, von Kreta ausgehend, große Verehrung in der mediterranen und vorderasiatischen Kultur genoß. "Als Kornmutter schenkte sie den Lebensunterhalt, als Erdmutter aber war sie zugegen im Wachsen, blühen und gedeihen, aber auch im Welken und Absterben der Natur. Im Erdenschoß birgt sie das Abgestorbene und sendet neues Leben empor."

Im Bereich des Heiligtums von Eleusis, wo die Mysterien gefeiert wurden, ist noch heute eine Höhle zu sehen, die Grotte des Hades, der Eingang zur Unterwelt, dem Reich der Toten. Dorthin also wird das Mädchen Persephone, die Tochter der Erdmutter entführt, um die Gemahlin des Hades zu werden.

Weisheit der alten Kulturen

Hier kommt die Weisheit der alten Kulturen zum Ausdruck: Ohne Tod gibt es kein Leben. Die Verwesungsprozesse auf dieser Erde haben den Hauptanteil an der CO2-Produktion, der Lebensgrundlage der Pflanzenwelt, welche allem höheren Leben den Sauerstoff aufbereitet. So muß derjenige, der diese Schöpfung und das Leben und damit das Wesen der Gottheit ganz erfahren will, das Vergehen mit einbeziehen. In dem herrlichen Homerischen Hymnus an Demeter aus dem 7. Jh. v. Chr. wird erzählt, wie die Große Mutter sich in Schmerz um die Tochter verzehrt, suchend durch die Lande zieht und alles Wachsen und Gedeihen auf der Erde unterbindet. Auf dem Olymp finden zähe Verhandlungen unter den Göttern statt, Demeter wird bekniet, doch die Schöpfung nicht untergehen zu lassen; sie aber besteht auf der Rückgabe ihrer Tochter. Nun wird der Götterbote Hermes in die Unterwelt entsandt, um Hades zur Herausgabe der Tochter zu bewegen. Er spricht zu ihm:

"Hades, Dunkelgehaarter, Herrscher über die Toten!
Vater Zeus befiehlt, die erlauchte Persephonaia
Sollte ich zu ihm bringen, herauf aus dem Erebos, daß sie
Ihrer Mutter vor Augen stehe, und diese dann endlich
Nicht den Unsterblichen weiter grausig zürne und grolle.
Plane sie doch gewaltige Untat, wolle die schwachen
Völker der erdgeborenen Menschen vernichten, indem sie
Samen im Boden verkommen läßt [...]."

Hades stimmt scheinheilig zu, gibt aber zuvor Persephone "einen honigsüßen Kern der Granate zu essen". Dieser bewirkt, daß die Kore von nun an zwar zwei Drittel des Jahres bei ihrer Mutter verweilen darf, ein Drittel jedoch bei ihrem Gatten in der Unterwelt verbringen muß. Dieser Rhythmus entspricht dem griechischen Vegetationszyklus. Wenn Persephone mit ihrer Mutter über die Erde schreitet, erblüht diese und trägt reichlich Frucht. Hält sie sich bei ihrem Gatten in der Unterwelt auf, ruht alles Wachsen und Gedeihen. In der Wandlung von "Stirb und Werde" besteht diese Schöpfung.

"Aßest du aber,
Mußt du wieder zurück in die bergenden Schluchten der Erde,
Jährlich von den Jahreszeiten drunten ein Dritteil,
Zwei aber dann bei mir und den andern Unsterblichen weilen.
Wenn die Erde sich schmückt mit buntesten, duftenden Blumen,
Wie sie der Frühling bringt, dann wirst du aus dämmrigem Düster
Wiederum auferstehn, - ein Wunder für Götter und Menschen.

So spricht die Große Mutter zu ihrer Tochter, und wir fühlen die staunende Ehrfurcht der Alten vor der Schöpfung und ihre Urahnung vom Vergehen und Wiederauferstehen.

Götterraub

Man kann sich vorstellen, daß jenes Nachspielen des Mythos - ein Menschenraub, oder besser: Götterraub - für den Mysten bei seiner Einweihung durchaus auch Erschreckendes mit sich brachte. Vielleicht rühren daher die Gerüchte, daß bei den Prüfungen während der Einweihung die Initianden in große Gefahr kamen, ggf. sogar den Tod fanden.

Die Arie mit Chor aus Mozarts Zauberflöte "O Isis und Osiris" deutet auf diese Anschauung hin: "...doch sollten sie zu Grabe gehen ..". Es scheint wahrscheinlicher, daß es sich hier nur um symbolische Prüfungen handelt, vor allem aber um die "Schrecken des Numinosen", der auf dem Wege zu jeglicher Erleuchtung nicht ausbleibt und der sich im christlichen Mythos z. B. in den drei Versuchungen des Christus durch den "Versucher" manifestiert.

Das rituelle Umschreiten der Mitte

Wenn wir das Mysterium der Schöpfung erfahren wollen, müssen wir auch die dunkle Seite durchschreiten. Beim rituellen Umschreiten der Mitte, der Circumambulatio mancher Rituale ist dies der Norden, diejenige Himmelsrichtung, in welcher auch die Sonnengottheit die Unterwelt durchschreitet. Die drei Versuchungen des Christus im Matthäusevangelium sind hier durchaus als verschlüsselte tradierte Weisheitslehren zu verstehen: Unser Lebensweg ist ein Weg zum Licht des Geistes. Das führt uns die Evolution vor Augen, die aus der Urmaterie stufenweise zum Leben voranschritt, einem Leben mit immer mehr Geist, vielleicht bis zu den Engeln.

Es gilt, unsere Sendung in diesem Leben zu erkennen. Die Mysterien können dazu verhelfen. Dann aber gibt es kein Zurück mehr. Wer etwas als richtig erkannt hat, kann diese Wirkung der Frucht vom Baum der Erkenntnis nicht mehr ungeschehen machen. Er wird aus dem Paradies der instinktiven Geborgenheit verstoßen und muß von nun an immer abwägen, welches Handeln das richtige für ihn ist. Das ist die eigentliche "Erbsünde": das Abgesondertsein vom instinkthaften Handeln des Tieres. Natürlich haben wir aus unseren früheren Evolutionsstufen noch jene Anlagen mitgebracht, die sich am Vordergründigen, am Nächstliegenden orientieren.

Dann geht es nur um das Füllen des Bauches, um das fleischliche Überleben und um die Hackordnung. Genau das sind die drei Versuchungen, die der Gottessohn - es gibt ihn in zahllosen Mythen, also nicht nur in der christlichen Tradition! - durchschreiten muß, will er das Leben der Sterblichen erlösen, d. h. lösen vom Verhaftetsein am Irdischen. Diesen Einweihungsweg geht auch der Myste.

Wurzel im kosmischen Geschehen

Untersucht man die Götterschicksale in den Mythen genauer, so stellt man fest, daß sie wohl alle ihre Wurzel im kosmischen Geschehen haben. Das Schicksal des Sonnengottes ist es nun einmal, täglich zu Grabe zu gehen, um am anderen Morgen eine Auferstehung zu feiern. Im Jahreslauf gilt das gleiche mit dem Herbst und Frühjahrspunkt. Nach der Entführung in die Unterwelt verbleibt der Sonnengott wie die Kore Persephone während der unfruchtbaren Jahreszeit im Hades, um im Frühjahr wieder aus dem Totenreich aufzuerstehen.

Dasselbe geschieht im lunaren Kult des Mondes, und es spricht alles dafür, daß die Worte des christlichen Glau¬bensbekenntnisses - "niedergefahren zur Hölle, am dritten Tage auferstanden von den Toten..." hier ihre Wurzeln haben: drei Tage ist Neumond. Interessant ist die jüngste Änderung, in welcher das Wort Hölle ersetzt wurde durch "in das Reich des Todes". Das Wort Hölle war doch nichts anderes als das germanische Hel für die Unterwelt. Es handelt sich einfach um das Reich der Nacht, die andere, unsichtbare Seite der Schöpfung.

Hell und Dunkel

Durch ihre Drehung liefert uns die Erde - die Große Mutter - ein Symbol für diese Wesenheit der Schöpfung. Die Welt der Erscheinungen ist nicht die ganze Welt. Diese besteht aus Hell und Dunkel, aus dem Sichtbaren und Unsichtbaren, wie es das fernöstliche Symbol des Tai Gi in so wunderbarer Weise manifestiert. In der freimaurerischen Symbolik wird diese Wesenheit im musivischen Pflaster wiedergegeben - ein Erbe ganz früher indischer Symbolik. Das Schachbrett verkörperte dort das Weltganze, in welchem die Kräfte des Lichtes mit den Kräften der Finsternis in stetem Kampfe stehen (die weißen und schwarzen Figuren des Schachspiels). So findet man denn auch in den fernöstlichen Pagoden bereits dasselbe Symbol in der Mitte des Fußbodens, welches für die Steinmetzen zum Meßgrund geworden ist. Man kann die Maße für das Gotteshaus nur aus den Proportionen der Schöpfung gewinnen.

Indem der Myste also das Schicksal des Gottes nachvollzieht, geschieht seine Einweihung, die zu einer Erleuchtung führen kann, weil er nicht ein von Menschen erdachtes Drama spielt, sondern das, was die Natur uns vorlebt: das heilig öffentlich Geheimnis, wie Goethe es nennt. Jeder kann es sehen. Ob er es zu erfahren vermag, bleibt ein Geheimnis. Wer aber im Mysterium eins wird mit dem kosmischen Geschehen, oder wie die Alten formuliert hätten, mit dem Einweihungsweg der Götter, der erfährt über die Seele, über das Gemüt - nicht über den Ver¬stand - etwas von den Urwahrheiten der Schöpfung und vom Geheimnis des Lebens. Das dar¬aus eine Sinnfindung werden muß, leuchtet ein. Und dieser Sinn wird dann eben nicht im Festklammern am Irdischen, im Hadern mit dem Schicksal gefunden, sondern in der Erkenntnis der Wandlung als Wesenheit der Schöpfung. Der Erleuchtete hat dann teil am Ganzen - am Sichtbaren - wie am Unsichtbaren, und seine Wanderung über diese Erde in diesem Leben ist nur ein Teil des Ganzen.

Höhlengleichnis

Man kann somit sagen, daß alle sogenannten Rituale, welche sich in irdischen Handlungsanweisungen, in Morallehren erschöpfen, oder diese zum Schwerpunkt haben, genau das Gegenteil bewirken, was echte Rituale zu schenken vermögen. Jene Moralrituale verweisen nämlich auf das Diesseitige, das Sichtbare, das Vergängliche. Dieses aber ist aus der Sicht des Ganzen das wirklich Dunkle, wie Platon in seinem Höhlengleichnis schlüssig dargelegt hat. Solche "Rituale" darf man durchaus in die Nähe der schwarzen Magie rücken; denn eine echte Einweihung führt über die Elemente hinaus zum Licht des Geistes.

Morallehren

Dieser Fehler wurde in der Geschichte der Freimaurerei oft begangen. Die weiterführenden Grade mancher Systeme sind Protobeispiele hierfür. In manchen Lehrarten haben die Freimaurer die Tatsache, daß der Mensch durch rituelles Tun gewissermaßen moralischer wird, dahingehend ausgewertet, daß sie die Morallehren gleich expressis verbis in das Ritual geschrieben haben. Morallehren aber gehören an den Verstand. Es ist gefährlich, solche über das Gefühl zu vermitteln.

Dies geschah auch bei den Reichsparteitagen und geschieht überall, wo Diktaturen ihre Nationalfeiertage begehen. Der Verstand soll ausgeschaltet werden, und gleich einer Hypnose wird dem "Einzuweihenden" über die Emotio im echten Wortsinne "eingetrichtert", daß er für seinen Führer notfalls sein Leben hinzugeben habe. So muß der Suchende, der sich einem Initiationsbund anschließt, immer wach sein und prüfen, ob das, was dort geschieht, wirklich ein Weg zum Licht ist, der ihn innerlich frei macht und nicht an Menschen oder menschliche Heilslehren bindet.

Siehe auch