Tolstoi
Graf Lew (Leo) Nikolajewitsch Tolstoi wurde am 9. September 1828 auf dem riesigen Familiengut Jasnaja Poljana im Gouvernement Tula geboren. Er geht zuerst den üblichen Weg eines russischen Adligen: Studium, Erwerb des Offizierspatentes und Reisen durch Europa. Nach seiner Rückkehr lebte er in Moskau und auf Jasnaja Poljana, wo er seine großen Romane schrieb. Den ersten selbstbiographischen Arbeiten folgten die Erzählungen "Der Überfall" 1852, "Die Kosaken" 1852, "Sewastopoler Erzählungen" 1855. Hier zeigt sich schon die Grundrichtung seiner Arbeiten: Die Menschen der höheren Gesellschaftsklasse, der er selbst angehörte, werden in ihrer sittlichen Fragwürdigkeit der Gediegenheit des einfachen Volkes gegenübergestellt. Mit den Romanen "Krieg und Frieden" (1864-1869) und "Anna Karenina" (1873-1876) erwarb er Weltruhm. In den folgenden Jahren wurde der Zwiespalt in Tolstois Wesen, der ihn vom erdverbundenen Menschen hin zur Transzendenz führte, immer deutlicher. Ende der 1870er Jahre kam es zu seiner "Bekehrung"; er schrieb dann religiös geprägte Traktate, die einen einfachen Lebensstil forderten und die stark auf die sozialen Strömungen in Rußland einwirkten. Tolstoi gab so einen Anstoß zu den großen sozialen Umwälzungen unserer Zeit. Bewirkt hat er es weniger durch seine sozialen Theorien, sondern als unabhängiger, unbestechlicher Geist, der auf die Mißstände einer extrem ungerechten Gesellschaftsordnung aufmerksam machte. Tolstoi starb am 20. November 1910.
- Der Freimaurerei stand Tolstoi recht aufgeschlossen gegenüber. Am 20. März :1905 schrieb er von Jasnaja Poljana an einen deutschen freimaurerischen :Schriftsteller: "Ich danke sehr für die Sendung Ihres freimaurerischen :Buches, es freut mich sehr, daß ich, ohne es zu wissen, meiner Gesinnung nach :ein Freimaurer bin. Ich habe immer von Kindheit an für diese Organisation :große Achtung gehabt und glaube, daß die Freimaurerei viel Gutes für die :Menschheit geschaffen hat".
In seinem vierbändigen Roman "Krieg und Frieden" schildert Tolstoi die russische Freimaurerei der Zeit des Napoleonischen Feldzuges in Rußland. In dem Fürsten Andre Bolkonski und in Pierre Besuchow entfaltet Tolstoi das für ihn charakteristische Motiv der Suche nach dem Sinn des Lebens. Eingewoben in die Schilderung Rußlands während der Invasion der Franzosen bis zu ihrer Niederlage, verflochten in die Beschreibung von Einzelschicksalen und Charakteren, wird die Aufnahme und Bewährung des Protagonisten Pierre als Freimaurer herausgearbeitet. Diese Schilderung setzt im 2. Buch zweiter Teil oder, bei durchgehender Zählung, im fünften Teil ein (manche Übersetzungen lassen einen Teil der freimaurerischen Textstellen weg). Pierre macht bei einer Reise nach Petersburg eine Zwangspause auf der Station Torschok. Hier lernt er den Freimaurer Osip Alexejewitsch Basdjejew kennen. Sie kommen ins Gespräch über die Freimaurerei, und Basdjejew definiert seine freimaurerische Haltung: "Ich würde niemals zu behaupten wagen, daß ich die Wahrheit kenne", sagte der Freimaurer, der durch seine bestimmte und feste Redeweise Pierre immer mehr und mehr in Erstaunen setzte."Kein Mensch kann allein bis zur Wahrheit vordringen. Nur Stein auf Stein, unter der Mitwirkung eines jeden aus den Millionen von Geschlechtern vom Stammvater Adam bis auf unsere Zeit, kann jener Tempel errichtet werden, der dem großen Gott eine würdige Stätte sein soll". Im folgenden Kapitel wird dann stimmungsvoll und detailliert Pierrres Aufnahme in den Bruderbund geschildert. Quelle: Internetloge
Seite 108
Auszug
Mit bebendem Herzen und leuchtenden Augen blickte Pierre dem Freimaurer ins Gesicht und hörte ihm zu; er unterbrach ihn nicht und fragte ihn nicht; aber er glaubte mit ganzer Seele das, was ihm dieser fremde Mann sagte. Glaubte er nun den Vernunftbeweisen, die in den Worten des Freimaurers enthalten waren, oder glaubte er, wie es Kinder tun, dem Ton der festen Überzeugung, dem herzlichen Klang seiner Rede, dem Zittern der Stimme, das ihn mitunter beinahe am Weitersprechen hinderte, oder diesen blitzenden Greisenaugen, die in derselben unwandelbaren Überzeugung alt geworden waren, oder dieser [109] Ruhe, dieser Festigkeit, diesem Bewußtsein der eigenen Bestimmung, Eigenschaften, die aus dem ganzen Wesen des Freimaurers hervorleuchteten und auf Pierre im Gegensatz zu seiner eigenen Niedergeschlagenheit und Hoffnungslosigkeit einen besonders imponierenden Eindruck machten; jedenfalls hegte er von ganzem Herzen den Wunsch, zu glauben, und empfand ein freudiges Gefühl der Beruhigung, der geistigen Wiedergeburt und der Rückkehr zum Leben.
»Er wird nicht mit dem Verstand begriffen, sondern durch das Leben«, sagte der Freimaurer.