Traktat: Die arabische Freimaurerei
Die arabische Freimaurerei
von Alan Oslo
Die Templer hatten bei ihrer Gründung im Jahre 1118 die Enzyklopädie des Wissens der alten Pythagoreer - die 42 Traktate des ägyptischen Gottes Thot, inzwischen durch Beifügung der Traktate über Magie, Astrologie, Alchimie, den Bau des Salomonischen Tempels etc. auf 50 Traktate angewachsen - angeeignet.
Diese waren aber auf Griechisch. Und Griechisch war seit der Kirchenspaltung vom Jahre 1054 als heidnische Sprache der Antike aus dem ganzen Abendland verbannt worden. Christliche Studien stützten sich ausschließlich auf die latei¬nische Fassung der Bibel, die Vulgata. Erst durch die Renais¬sance des 15. Jahrhunderts kam das Griechische ins Abend¬land zurück. Auf welchem Wege sind die Templer also zu diesem Geheimwissen gekommen? Folgen wir heute daher den Weg der Tradierung der esoteri¬schen Quellen.
Die Gemeinschaft des Pythagoras hat nahezu hundert Jahre in Süditalien gebraucht, um die 42 Traktate Thots ins Griechi¬sche zu übertragen und zu codieren. So entstand die erste griechische Enzyklopädie des Wissens, genannt Poimandres nach dem Titel des ersten Traktats. Codiert wurden sie drei¬fach durch das „Magische Quadrat", den „Strahlenden Be¬cher" und das „12-teilige Täfelchen", um die drei Stufen der letzten Erkenntnis nicht gleichzeitig preiszugeben. Die Griechen in Alexandria wollten die griechische Fassung der Thot-Traktate studieren, ohne sich einem Mönchsorden für immer anschließen zu müssen. Sie setzten Thot dem Her¬mes gleich, da dieser der Schutzherr des Weissagens, der Li¬teratur und der Künste war. Und so hieß dieser Gott Hermes Trismegistos (der dreimal Große).
Nun bezeichneten sie alle unter Verschluss gehaltenen Wissenschaften als „hermetische Kunst".
Damit bestanden damals zwei griechische Fassungen der Thot-Traktate - bei den Pythagoreern und den Hermetikern, eine ordensgebundene und eine „weltliche".
Die Hermetiker hatten keine Einweihungszeremonie, ihr Metier waren Allegorie und Symbolik. Ihr Hauptsymbol war das „Siegel Salomons" (lebt noch im profanen Juden- oder Davidstern weiter): es besteht aus zwei Dreiecken, einem weißen und einem schwarzen; das weiße Dreieck mit der Spitze nach oben symbolisiert das Feuer, das schwarze mit der Spitze nach unten das Wasser. Die beiden Dreiecke stre¬ben zwar in entgegen gesetzte Richtungen, sind aber durch die Kraft, die sie zusammengeführt hat, unauflöslich mitein¬ander verbunden. Diese „stärkste aller Kräfte" ist die Wissen¬schaft des Adepten; sie hat die Macht, die Gegensätze zu ver¬binden, den Elementen zu befehlen und das Unsichtbare sichtbar zu machen. Die beiden ineinander verflochtenen Dreiecke stellen die Verbindung des Festen mit dem Flüchti¬gen dar, den roten Philosophenstein (lapis philosophorum, Stein der Weisen).
So trafen sich in Alexandria Therapeuten, Gnostiker und Hermetiker in der Verehrung Salomons als Haupt allen Wis¬sens. Auch wenn die hermetischen Schriften von den Schrif¬ten der Königlichen Kunst sowie der jüdischen Apokalyptik getrennt blieben, so strebten erleuchtete Geister danach, alle diese Quellen des Geheimwissens zu erfahren. Die christlichen Evangelien und die hermetischen Schriften sind miteinander verwandt. Sie wurden in der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts unabhängig voneinander geschrie¬ben bzw. verbreitet; ihre Verfasser haben ohne Abstimmung vergleichbare Ideen und Ausdrucksweisen entwickelt. Diese Ähnlichkeit machte auf die frühen Führer der Kirche einen tiefen Eindruck. Zusammen mit den sibyllinischen Büchern riefen sie Hermes Trismegistos als Zeugen ihrer Wahrheit an. Im zweiten und dritten Jahrhundert gab es sogar einen ge¬heimen gnostischen Hermeskult mit eigenen Einweihungsze¬remonien. Hermes wurde als Allgeist verehrt, als derjenige Demiurg, der die Welt geschaffen hat und sie als Logos durchdringt; er wurde mit dem Erlöser identifiziert, dem Mitt¬ler zwischen Gott und der Welt, die er vom verderblichen Einfluss der Planeten befreite. Aus der Hermetik und der Gnostik entstand die griechisch-orientalisch-esoterische Leh¬re vom Christentum. Die Duldung des Christentums durch die Kaiser ließ die Bischöfe der allgemeinen Kirche davon ausgehen, dass die esoterische Frühkirche nicht mehr vonnöten sei.
Erst recht nicht die Hermetiker. Die Kirchenväter begannen, zumal in Alexandria, sich als staatserhaltende Macht zu fühlen und gingen mit entsprechendem Elan gegen die Hermetiker vor. 389 ließ Patriarch Theophilos von Alexandria, um die für ihn pseudotheologische Konkurrenz der Gnostiker und Hermeti¬ker ein für allemal auszuschalten, einen Teil der Alexandrinschen Bibliothek, das Serapeion, mit 200 000 Bänden ver¬brennen. Die meisten Hermetiker wanderten aus nach Süd¬westarabien und Persien, weit weg von der Intoleranz der er¬starkenden christlichen Kirche.
In Arabia felix, dem heutigen Jemen, fanden die Hermetiker Gleichgesinnte unter den Sabäern, die in Astrologie und Eso¬terik recht bewandert waren. In dieser Atmosphäre der Dul¬dung und Unterstützung gelang im Laufe von zwei Jahrhun¬derten die esoterische Übersetzung der 42 Traktate des Poi¬mandres in die arabische Sprache. Unter Berücksichtigung der Zahlen- und Buchstabenmystik brachten es die Hermeti¬ker fertig, dieses umfassende Werk des Geheimwissens zu „arabisieren". Die Königliche Kunst gehörte jedoch nicht da¬zu, da diese eine eigene Entwicklung durchmachte. Für diese neue esoterische Gemeinde benötigte man einen eigenen Na¬men, der sie von anderen unterscheidet, man entlehnte dem griechischen Wort sophia (Weisheit) die Bezeichnung sufi als Sucher nach der Weisheit [Gottes].
Durch innere Unruhen in Südarabien zum Ende des sechs¬ten Jahrhunderts wanderten einige Stämme nach Norden und wurden in Yathrib (dem späteren Medina) sesshaft. Dort gab es bereits christliche Stämme der esoterischen Lehrart (Nestorianer und Monophysiten) sowie Juden aus dem ehemaligen Israel und Alexandria, Hüter der Geheimlehre der Therapeu¬ten. Das esoterische Wissen dreier verschiedener Richtungen traf hier kurz vor dem Auftreten des Islams zusammen.
Die Sufis - wie ihre hellenistischen Vorgänger, die Herme¬tiker - waren weder Mönche noch Anachoreten, sie gaben sich zeitweise der Meditation und Kontemplation hin, ohne sich für dauernd aus der Welt zurückzuziehen. Sie suchten die Selbstveredelung und -Vervollkommnung sowie die Vereini¬gung mit Gott und galten als die einzigen Hüter des Geheim¬wissens in arabischer Sprache. Sufismus entfaltete sich in drei unterschiedlichen Phasen: Askese, eine rein moralische Phase der Selbstreinigung; Eks¬tase, eine emotionale Phase, mit der man die Vereinigung mit Gott durch den ekstatischen Zustand erstrebt; und die Er¬kenntnisphase, in der das Ideal der unmittelbar erfassten Er¬kenntnis oder Gnosis angestrebt wird - die Sophia, die Weis¬heit Gottes.
Die Adepten waren davon überzeugt, dass sie ei¬ne privilegierte innere Kenntnis hatten, die sie Intuition oder Erkenntnis von innen (arabisch kaschf) nannten im Gegensatz zur Offenbarung von außen (arabisch wahi). Die Sufis waren nicht nur Mystiker, sondern auch Eklektiker. Sie postulierten einen Urmythos, der in allen Weltreligionen seinen Ausdruck findet, und sie nahmen infolgedessen von allem das, was sie für ihren eigenen neuen Mythos brauchten.
Am Rande der beiden Großreiche der Römer und Perser trat Anfang des siebten Jahrhunderts ein neuer Prophet in Nord¬arabien auf: Mohammed aus Mekka. Seinem Erscheinen war eine längere Zeit der Einsamkeit als Einsiedler auf dem Berg der Knechte Gottes bei Mekka in Meditation und Askese vo¬rausgegangen. Mohammed war der gnostisch-esoterischen Tradition des Fruchtbaren Halbmonds verpflichtet und unter¬schied in seiner Lehre zwischen Exoterik (isläm) und Esoterik (imäri). Der Koran (arabisch quran „Verkündigung") weist auch hermetische Tradition auf, nicht zuletzt in der wunder¬samen Verherrlichung Salomons und seiner allumfassenden Weisheit. 622 gelang Mohammed die Errichtung des Gottesstaats (al-madinah al-munau.uarah, der erleuchtete Staat, stets fälsch¬lich mit Medina übersetzt) mit sich an der Spitze in der Dop¬pelfunktion als Prophet und Staatsmann (Priester-König wie David). Im esoterischen Iman war er der Stellvertreter Gottes und der „Letzte der Propheten" in Manis Tradition. Auch sein Herrschertitel, amir al-mu 'minin (Oberhaupt der Gläubigen) und nicht amir al-muslimin (Oberhaupt der [Gott] Ergebenen) zeigt deutlich, dass er in der Erlöser-Tradition stand, der in seiner Lehre den Namen mahdi (der [von Gott] Erleuchtete) trägt. Die Gemeinde im Gottesstaat bestand demnach aus Muslimen, die nur den exoterischen Sinn des Korans (ara¬bisch zäher „sichtbar") kannten, sowie Mu'minin, die den esoterischen Inhalt (arabisch bäteni „verborgen") erfassten.
Seit dem Tode des Propheten gelang es seinen Kriegern, in¬nerhalb von zehn Jahren Ägypten, Syrien und Persien zu er¬obern. Damit übernahmen sie - als Araber, nicht als Muslime - die Herrschaft von zwei altehrwürdigen Hochkulturen, die seit der Antike miteinander im Streit lagen und sich dennoch gegenseitig befruchteten: die griechische und die persische.
Der Herrscher dieses arabischen Reiches trug den Titel Kalif als Nachfolger des Gesandten Mohammed im Gottesstaat, während der Nachfolger des Propheten Mohammed in der Gemeinde (ummah) der Gläubigen den Titel Imam trug. Die Kalifen in Damaskus behielten bis 685 das Griechische als Amts- und Kultursprache bei. Dennoch ist es bezeichnend, dass die 28-bändige hermetische Enzyklopädie des Zosimos aus Ägypten aus dem Jahre 300 bereits um 658 ins Arabische übersetzt wurde. Dabei wurde die Königliche Kunst von grie¬chisch chemeia zum chinesischen kim-ya zurückgeführt. Von nun an hieß die Königliche Kunst auf Arabisch - unter Hin¬zugabe des bestimmenden Artikels - al-kimya. Robert von Chester ist es zu „verdanken", dass seit seiner Übersetzung des arabischen Werkes dieser Kunst im Jahre 1144 als Liber de compositione alchimiae die Königliche Kunst den Namen Alchemie erhalten hat.
Nicht nur Juden und Christen glaubten an Heiligkeit und letztendlichen Triumph des königlichen Hauses David durch den gesalbten Messias, die alten Iraner erwarteten den Sao-schyans, einen Heiland, der am Ende der Zeiten aus dem hei¬ligen Samen des Zoroaster entstehen würde. Für die Perser galt der Kaiser als Gott. Davon profitierte Alexander und wurde durch Heirat mit Stateira, der Tochter des persischen Kaisers Dareios III., zum Gott. Der Statthalter Persiens nach der arabischen Eroberung 642 wurde cAli ibn Abü Täleb, Mohammeds Vetter und Schwiegersohn. Mohammed - wenn auch bereits gestorben - war nun der neue Kaiser in den Au¬gen der Perser, ergo müsste er göttlich sein. Sein Blut floss nicht in den Adern seines Vetters, sondern in denen seiner Tochter Fatima (gest. 633), Alis Gattin. Ali begriff die persische Denkungsart und verheiratete sei¬nen Sohn Husain mit der Tochter des letzten persischen Kai¬sers Yazdagird III. Die zwei heiligen Geschlechter vereinig¬ten sich. Der Sohn aus dieser Verbindung, Ali al-Azhar, ver¬band in sich das „heilige Blut" beider und galt in den Augen der persischen Gnostiker seit 690 als Vermittler zwischen Gott und der Welt (imam). Für sie war er „Sohn der Witwe" nach Mani, da seine Mutter seit 680 Witwe des gefallenen Husain war. Sie legten großen Wert auf die geheime Bot¬schaft des Korans, die esoterische Lehre hinter der exoteri-schen Heilsbotschaft. Unter diesem Aspekt machten sie sich den Islam zu eigen und traten geschlossen zu ihm über. Ali, Vorsteher der Gemeinschaft der Gläubigen (ummah), galt ihnen als der erste Imam. Demzufolge sah die Überliefe¬rung seiner Anhänger in ihm den Mitwisser aller Geheimnisse der Schöpfung. Dieses Wissen um das Große Arkanum soll sich dynastisch in der Reihe seiner Nachkommen gehalten haben. Die Anachoreten und Asketen (arabisch hanifen) auf der Suche nach der Weisheit Gottes, die „Zurückgezogenen" (arabisch mu 'tazil), die sich von der Weltlichkeit und Äußer¬lichkeit der islamischen Gesellschaft abwandten, schlossen sich zu Gemeinschaften zusammen und nannten sich „Sucher nach der Weisheit", arabisch süfi.
Da die Parteigänger Alis sowohl unter den Herrschern in Damaskus als auch ab 750 unter den Kalifen von Bagdad un¬terdrückt wurden, gingen sie - wie einst die Essener - in den Untergrund und hielten sich bei Basra im Sumpfgebiet des Schatt al-Arab an der Mündung des gemeinsamen Auslaufs von Euphrat und Tigris verborgen. Dort lebte seit dem fünften Jahrhundert die aus dem Jordantal eingewanderte gnostische Täufersekte jüdischer Herkunft der Mandäer (aramäisch manda, „Erkenntnis") sowie die judenchristliche gnostische Sekte der Elkesaiten (nach dem Gründer Elkesai, auch Elcha-sai, Elchai). Von diesen beiden übernahmen sie die Verhül¬lung der eigenen Überzeugung (arabisch taqiya; wörtlich: „Vorsicht") als religiöses Gebot und fanden dafür eine Bestä¬tigung im Koran (Vers 3,27): „Ob ihr verbergt, was in euren Herzen ist, oder ob ihr es kundtut, Gott weiß es." Darin sahen sie, dass die Verhüllung der eigenen Überzeugung, im Falle, dass ihr offenes Bekenntnis zu Ali und dem esoterischen Is¬lam die Sicherheit des Gläubigen gefährden könne, Gott ge¬fallig sei.
Wie alle Unterdrückten verständigten sie sich untereinander durch geheime Zeichen und geheime Schriften. Und abermals ging die Gnosis mit der Hermetik eine Symbiose ein. Allein aus der Zeit des sechsten Imam, Dscha'far al-Siddiq (gest. 765), wurden diesem eine Reihe hermetischer Werke zuge¬schrieben. Dabei galt dem frommen Mann mit dem Beinah¬men „der Gerechte" (Dieser Beiname bedeutet aber viel mehr, denn er entspricht den Sadduzäern in dem Umfeld Jesu. Sowohl das hebräische als auch das arabische Wort bestand aus den Konsonanten sddq und bezeichnete die buchstaben¬treuen Vertreter des [geschriebenen] göttlichen Gesetzes un¬ter Ablehnung der mündlichen Überlieferung.) die Ergrün¬dung der Geheimnisse der Schöpfung. Jene Triebfeder und nicht eine weltliche Begierde nach Gold brachte ihn in Ver¬bindung mit der Königlichen Kunst. Die Brücken, die dazu hinführten, waren für ihn die Theologie, die Mystik, die Ma¬gie und das Okkulte. Nach seinem Tode galt Dscha'far in der ungeschriebenen Tradition als eine Art Universal-OMailtist.
Er war es, der die hermetischen Traktate in die endgültige Form samt Zahlen-und Buchstabenmystik „islamisierte" - die 50 Traktate der Reinen. Damit bestanden damals zwei arabische Fassungen der Thot-Traktate - inzwischen durch Beifügung der Traktate über Magie, Astrologie, Alchimie, den Bau des Salomoni¬schen Tempels etc. auf 50 Traktate angewachsen - bei den Schiiten und den Sufis, eine ordensgebundene und eine „welt¬liche". Nach dem Tode des sechsten Imams im Jahre 765 spalteten sich dessen Anhänger in zwei Lager: während das eine sich für den älteren Sohn Ismail, der 760 gestorben war, als sie¬benten Imam aussprach, entschied sich das andere für den lebenden Sohn Musa al-Kazim. Die erste Gruppe behauptete nämlich, Ismail sei gar nicht gestorben, sondern „in die Ver¬borgenheit eingegangen". Am Ende der Zeiten werde er als Mahdi (der verheißene Erlöser) wiederkehren und das Golde¬ne Zeitalter einleiten. Von da an wurde diese Gruppe als Is¬mailiten bekannt. Um diese Zeit formulierten sie ihre Doktrin. Organisation und Aktivitäten der Sekte, ebenso Bewahrung und Verbreitung ihrer Lehren waren in den Händen einer Hie¬rarchie von Predigern, die dem unmittelbaren Stellvertreter des Imams, des unsichtbaren Oberen, unterstanden.
Der Imam ist der Mittelpunkt des ismailitischen Systems: der Doktrin und der Organisation, der Loyalität und der Akti¬on. Die Imame sind göttlich inspiriert und unfehlbar, ja selbst göttlich, weil der Imam der Mikrokosmos, die Personifizie¬rung der metaphysischen Weltseele ist. In dieser Funktion ist er der Urquell des Wissens und der Autorität, der esoterischen Wahrheiten, die den Uneingeweihten verborgen sind, und der Gebote, die bedingungslosen Gehorsam fordern.
Der Form nach waren die Ismailiten - wie die Essener vor ihnen - eine Geheimgesellschaft und eine politische Partei mit einem System von Eiden und Initiationen sowie einer nach Rang und Wissen abgestuften Hierarchie. Die sieben Stufen zur Katharsis begannen mit dem Meistern eines Handwerks sowie der Ausbildung an der Waffe; am Ende des zweiten Grades war man ein Streiter Gottes (arabisch fidä 7 = der sich [Gott] aufopfert). Erst nach Abschluss der körperli¬chen sowie geistigen Übungen gelangte man in den dritten Grad, in den inneren Kreis der ikhuän al-safä (der lauteren Brüder, eigentlich der Reinen), die auf einer höheren Initiati¬onsstufe standen als die übrigen, was den Therapeuten bei den Essenern entsprach. Hier wurde die Geheimlehre vermit¬telt.
Die Brüder des dritten Grades hießen rafiq (Genösse, Ge¬fährte), die Brüder des vierten da 'i (Prediger, Prior, Missio¬nar, Lehrer), darüber gab es als fünfte Klasse die al-dä 'i al-kabir (Großprediger, Großprior). Den sechsten Grad erreich¬ten nur wenige Auserwählte, der siebte war dem al-qä'im maqäm (der Stellvertreter [des Imams]) vorbehalten. Die Ik-huan al-Safa, wie die Therapeuten bei den Essenern, waren vom Waffendienst ausgeschlossen. Bis auf eine gemeinsame Mahlzeit und das rituelle Gebet waren sie von den übrigen Brüdern getrennt. Auch untereinander hielten sie auf Distanz, da sie Einzelzellen bewohnten. Und wie die Therapeuten tru¬gen sie weiße Gewänder mit roter Schärpe. Das Geheimwissen wurde mit Hilfe der „esoterischen Aus¬legung" (arabisch ta'wil al-bäten) vermittelt: Neben ihrer buchstäblichen, offenkundigen Bedeutung haben die Vor¬schriften des Korans und der Tradition noch eine zweite -allegorische und esoterische - Bedeutung, die durch den I¬mam enthüllt und den Eingeweihten vermittelt wird. Deshalb wurden die Ismailiten offiziell Bäteni (= die [esoterischen] Ausleger) genannt. Die grundlegende religiöse Pflicht ist die Erkenntnis (Gnosis) des wahren Imams, die Suche nach der Wahrheit. Wiewohl zunächst vergeblich, steigert sie sich schließlich bis zu einem Augenblick blendender Erleuchtung (Illumination), der mystischen Vereinigung mit dem Schöp¬fer. Da ihr Ziel die Wiederauferstehung des Gottesstaats war, waren ismailitische Missionare und Agenten in allen islami¬schen Ländern aktiv.
Im Schutze der esoterischen Bewegung der Imame gründete Maaruf Karkhi (gest. 815) im Süden des Irak um 800 eine Bruderschaft der Baumeister als „anderen" Weg zur Erlan¬gung der esoterischen Erkenntnis (Idries Shah, The Sufis, London 1964; dt. Die Sufis - Botschaft der Derwische, Weisheit der Magier, München 1976, S. 312). Hier sind nicht die Vereinigungen der Handwerker nach dem Vorbild der ministeria des spät- und oströmischen Reiches gemeint. Das Ministerium oder collegi¬um der Spätantike war eine staatliche Organisation, eine Ver¬einigung von Handwerkern, die von Staatsbeamten kontrol¬liert wurde. Byzanz hatte diese Einrichtung mit den somata übernommen, ebenso die Sassaniden in Persien. Nach den arabischen Eroberungen wurde das System beibehalten, und der Statthalter und seine Beauftragten gewährleisteten die Kontrolle der Märkte und die Aufsicht über die Handwerker.
Die Bruderschaft der Baumeister hingegen war keine offi¬zielle Organisation unter staatlicher Kontrolle, sondern eine enge Assoziation, ein regelrechter Geheimbund mit Initiati¬onsriten, geheimen Schwüren, gewählten Häuptern, die „Meister" genannt wurden, beratenden Gremien von Ober¬häuptern und einer Ideologie, die sowohl mystisch als auch sozial war (Maurice Lombard, L 'islam dans sa premiere grandeur [VIII'-XI' siede], Paris 1971; dt. Blütezeit des Islam - Eine Wirtschafts¬und Kulturgeschichte, 8.-11. Jahrhundert, Frankfurt 1991, S. 161f). Die Geheimlehre dieser Ideologie kam aus Südarabien in Form der arabischen Übersetzung der hermetischen Bücher der Sufis. Sie beschränkte sich auf die Vermittlung von höchstem okkulten Wissen an ihre Mitglieder, gab sich welt¬lich, unpolitisch und unreligiös und stand als interkonfessio¬nelle Organisation jedem offen: Muslimen, Christen, Juden und Mazda-Anhängern. Sie entwickelte eine völlig neuartige Ideologie, die auf der Freiheit des Individuums basierte, die formelle Gesetzgebung des herrschenden Islam ablehnte und den relativen Charakter eines jeden Systems von menschli¬chen Beziehungen hervorhob. Sozial und geistig bot diese Korporation ein neues Modell morgenländischer Bruderschaften; sie praktizierte mündliche Information und mündliche Initiation, drückte sich in Anspie¬lungen und Symbolen aus, die den Bauleuten entnommen wa¬ren, rühmte die Erhabenheit und Würde der Baukunst und bezeichnete sie ihrerseits als Königliche Kunst. Die Bruder¬schaft bestand aus vier graden: Lehrling, Geselle, Meister und Eingeweihter. Erst der vierte Grad führte zum Geheimwissen. Wie bei den Hermetikern galt der „Bruderschaft der Königli¬chen Kunst" der Salomonische Tempel als Vollendung allen Strebens nach Perfektion, und sie ließ die Legende von des¬sen Erbauung unter Leitung des Baumeisters Hiram wieder aufleben. Die arabisierte Fassung der 42 Traktate der Hermetiker fand nun eine neue Heimat. Doch die Zeit war für solche gewagten egalitären Gedanken nicht reif, und die politische Lage im Reich der Abbasiden durch die Verfolgung der esoterischen Parteigänger Alis ungesund. Daher hielt man die Bruderschaft geheim, verständigte sich miteinander durch geheime Zeichen und Bezeichnungen. So entlehnte man der allegorischen Ge¬schichte Hirams den Titel >Sohn der Witwe< für den Gründer. Da der Lehrer des Gründers Daud von Tai (gest. 781) gehei¬ßen hatte und Daud das arabische Wort für David ist, be¬zeichnete man den Gründer - den geistigen >Sohn< und Schü¬ler des >David< - als >König Salomons Damit vermied man die Verfolgung wegen >Judaisierung< des Islams. Das Wissen wurde in 99 Stufen aufgeteilt, analog zu den 99 Namen Got¬tes. Nur wer den hundertsten Namen Gottes erfuhr, galt als der Kopf, das Haupt der Weisheit, arabisch Abu al-fihämat.
Seit 870 sicherte sich eine Gruppe Ismailiten, die Qarmaten, die Kontrolle über das heutige Gebiet Kuweit und südlich da¬von am Persischen Golf sowie auf Bahrein und errichtete dort einen Gottesstaat, eine Art Republik, die ihr für mehr als ein Jahrhundert als Basis für die militärische und missionarische Operationen gegen das Kalifat in Bagdad diente. Von hier aus entsandte man eine Mission in den Jemen und weiter nach Nordafrika. Um 900 erschien so ein Ubaidallah im heutigen Tunesien und verkündete, dass er der Erwartete, der Mahdi, Ismails Enkel, sei. Der qarmatische Versuch 903 bis 906, die Macht in Syrien und Mesopotamien zu usurpieren, scheiterte zwar, doch zeigte er eindeutig, dass die Ismailiten schon zu dieser Zeit auf lokale Unterstützung rechnen konnten. Durch einen wohl organisierten Aufstand stürzte Ubaidallah den Statthalter von Ifriqia (das römische Africa und heutige Tunesien) und rief 909 ein ismailitisches Gegenkalifat mit sich als Mahdi aus. Der Gottesstaat war wiederauferstanden. Um die Unterstützung der Berber Nordafrikas zu erlangen, die in einem matriarchalischen System lebten, beriefen sich Ubaidallahs Propagandisten auf Fatima, die Tochter des Pro¬pheten. Seitdem wurde die neue Dynastie als Fatimiden be¬kannt. Ein halbes Jahrhundert lang herrschten die Fatimiden-Kalifen nur im Westen, in Nordafrika und Sizilien. Ihre Ar¬meen bereiteten sich in Tunesien auf die Eroberung Ägyptens vor, den ersten Schritt auf dem Weg zu der Wiedergeburt des göttlichen Kaiserreichs persischer Prägung. 969 eroberten sie in der Tat das Niltal und rückten bald durch den Sinai nach Palästina und Südsyrien vor. Bei Fostat, dem alten Regierungssitz beim heutigen Kairo, ließen ihre Führer eine neue Stadt namens al-Qähira (das heutige Kairo) als Kapitale ihres Reiches erbauen und 972 eine neue Mo¬schee-Hochschule als Zitadelle ihres Glaubens errichten. Ihr gaben sie den Namen des Imams, der 690 am Anfang der ge¬samten Bewegung gestanden hatte: al-Azhar. Hier bildeten sie Missionare aus, um ihren Glauben im In-und Ausland zu verkünden - nach den 50 >Traktate der Rei¬nem, die seitdem unter der Bezeichnung Episteln (oder Send¬schreiben) der Lauteren Brüder bekannt wurden. Das Wissen der Eingeweihten in den vier Graden des inneren Kreises, die Episteln, die 983/84 bereits in der Öffentlichkeit bekannt wa¬ren, beeinflussten das muslimische Geistesleben von Persien bis Spanien tief. Viele Wahrheitssuchende fanden den Weg nach Kairo und kehrten nach angemessener Zeit als geschulte Prediger der ismailitischen Botschaft in die Heimat zurück. So auch der Mathematiker und Astronom Maslama von Madrid (gest. 1007). Er suchte Kairo auf, erhielt seine Instruktion, leistete den Treueid auf den fatimidischen Imam, wurde in die Missi¬on aufgenommen und brachte so die Episteln der Lauteren Brüder um 1000 nach Madrid (Juan Vernet, La Cultura hispanoä-rabe en Oriente y occidente, Barcelona 1978; dt. Die spanisch-arabische Kultur im orient und Okzident, Zürich-München 1984). In seiner Blütezeit umfasste das Fatimidisch-ismailitische Reich Ägypten, Syrien (nördlich bis oberhalb Beirut), Nord¬afrika, Sizilien, die afrikanische Küste des Roten Meeres, den Jemen und Hedschas in Arabien mit den heiligen Stätten Mekka und Medina. Die Bruderschaft der Baumeister, die den Schutz des Staates genoss, verbreitete sich in allen Städ¬ten und Provinzen des Fatimidenreichs, ja über seine Grenzen hinaus. Zumal im nördlichen Libanon, in den Nosairi-Bergen, an der syrischen Küste und in Aleppo ismailitische Herrschaf¬ten bestanden.
350 Jahre arabischer Herrschaft unter einer orientalischen Weltkultur (der Islam nahm weder am Judentum noch am Christentum Anstoß) konnten nicht ohne Wirkung auf das Christentum in Spanien bleiben. Nach all den amtlich verord¬neten christlichen Lehren auf den allgemeinen Konzilien wimmelte es unter den christlichen Untertanen des Kalifen von arianischen, nestorianischen, monophysitischen, mono¬energetischen, monotheletischen, melkitischen und kopti¬schen „Sekten", die nun innerhalb des Großreichs der Araber ungehindert von Ort zu Ort wechseln konnten. Und jede von ihnen hatte in Cördoba als Hauptstadt des arabischen Spanien ein Oberhaupt. Im Laufe der Jahre entwickelte sich das spanische zu einem orientalischen Christentum; die Bibel wurde ins Arabische übersetzt, die romanische Sprache der Christen, wie auch die hebräische der Juden, wurden mit arabischem Alphabet ge¬schrieben, die Liturgie übernahm zahlreiche orientalische E¬lemente. Im Abendland nannte man sie mozarabische Litur¬gie, eine Verballhornung der arabischen Bezeichnung für arabisierte Gruppen: al-'arab al-musta'ribah (die arabisierten Araber) im Gegensatz zu den al- 'arab al- 'äribah (die arabi-sierenden [nomadisierenden] Araber), da das Wort 'arab ur¬sprünglich „Vollnomaden" bedeutete. Nach dem Tode des letzten Kalifen Hischam III. 1031 in Cördoba bemächtigten sich fanatische Berber der Stadt. Die angesehene jüdische Philosophengemeinde rettete sich vor der befürchteten Intoleranz nach Saragossa im Norden, wo der zum Islam übergetretene Jude Abu'l Fadl ibn Hasdaj'und später sein Sohn Minister waren. Eine wohlhabende, gebilde¬te und angesehene Schicht von jüdischen Theologen, Litera¬ten und Kaufleuten hatte sich hier etabliert. Auch Maslamas Schüler al-Karmani (gest. 1065) wandte sich nach Saragossa, um eine ismailitische Zelle zu gründen; somit machte er die gnostischen Episteln dort bekannt. Eine wahre Plejade von Übersetzern trat in Erscheinung, die Werke aus dem Arabischen ins Hebräische übertrugen, unter ihnen Isaak ben Reuben aus Barcelona (gest. 1043) und Sa-lomo ben Juda ibn Gabirol (gest. ca. 1070). Dieser war einer der größten Gelehrten und intellektuellen Figuren des jüdi¬schen Goldenen Zeitalters im maurischen Spanien und ein wichtiger neuplatonischer Philosoph, der in Hebräisch und Arabisch schrieb und die Episteln heranzog. Auch er stammte aus Cördoba. Zu seinem Umkreis gehörte der Übersetzer Ibn Chicaletta aus Saragossa (gest. 1080).
Seit der Kirchenspaltung im Jahre 1054 galt die Orthodoxe Kirche des Ostens als irrgläubig; das Papsttum verbot von da an die Beschäftigung mit dem griechischen Erbe als heidnisch und verfolgte die Gnostiker im Abendland, insbesondere die Bogomilen (seit 935 in Makedonien) sowie die Katharer (seit 1018 im Limousin) als Ketzer. Und obwohl das Credo der mozarabischen Christen sich von dem der lateinischen Kir¬che, wie es vom Papst 1014 nachträglich übernommen wor¬den war, nicht unterschied, galt die Mozarabische Kirche als irrgläubig, da sie sich dem Papst als „Stellvertreter Gottes und Pontifex maximus der Universalkirche" nicht unterstellt hatte. Um diese Kirche zu unterwerfen rief Papst Alexander II. 1063 zum Heiligen Krieg gegen Aragon und versprach allen, die für das Kreuz in Spanien kämpften, allgemeine Verge¬bung ihrer Sünden und begann mit der Aufstellung eines Hee¬res. Der päpstliche Legat hatte strikte Anweisungen bezüglich der Juden erteilt. Der Papst schrieb an die spanischen Bischö¬fe, um sie daran zu erinnern, dass Juden unversöhnliche Fein¬de der Christen seien. Erst nach dem Tode Ferdinands am 27. Dezember 1065 und der Teilung seines Großreichs unter sei¬nen Söhnen stellte der Papst den Heiligen Krieg ein. Dennoch strömten von nun an französische Ritter unablässig über die Pyrenäen, um das Unternehmen fortzufuhren, darunter auch Graf Theobald III. von Blois und der Champagne. 1068 wur¬de es schließlich von Erfolg gekrönt, als König Sancho V. Ramirez von Aragon sein Land der Lehnshoheit des Papstes unterstellte.
Auf Einladung des Grafen von der Champagne eröffnete 1070 der Talmudist Salomo ben Isaak (1040-1105, auch Rab¬bi Schlomo Jitzchaki, bekannt unter dem Akronym Raschi) am Hofe zu Troyes seine Schule für theologische und esoteri¬sche Studien. Nach der Eroberung Toledos durch das christli¬che Kastilien im Jahre 1085 flohen die gelehrten Juden aus Angst vor Verfolgung oder Zwangstaufe an die Schule des gelehrten Raschi nach Troyes. Mit ihnen kam ein gewaltiger Schatz von arabischen und hebräischen Manuskripten dort¬hin, darunter die Episteln der Lauteren Brüder. So trafen alle Fäden in Troyes zusammen: Die Kabbala und die jüdische Apokalyptik sowie essenische Mystik und Gnos-tik kamen über die jüdischen Gelehrten der Esoterik in die Champagne auf Hebräisch; die 42 Bände des ägyptischen Gottes Thot gelangten über die hermetische Übersetzung ins Griechische, dann über die sufische Übersetzung ins Arabi¬sche und in der islamisierten Fassung über Toledo nach Troy¬es; die Königliche Kunst in der arabischen Übersetzung der 28-bändigen Enzyklopädie des Zosimos war nun nach Madrid und Ripoll beim gelehrten Raschi angekommen. Was in Ĭgypten seinen Anfang genommen hatte, kam nun in Frank¬reich wieder zusammen. Und alles auf Arabisch! Zu den Schülern des Raschi in Troyes zählten vier für unse¬re Geschichte sehr wichtige Personen: Stephan Harding (* 1059), Hugo von der Champagne (* 1077, seit 1093 Graf der Champagne), Hugo von Payns (* 1079), Vetter des Grafen, und Andreas von Montbard, der von den Herzögen von Bur¬gund abstammte. Und sie alle lernten nun mitten in Frank¬reich Arabisch. Doch um das Geheimwissen der Episteln zu erfahren, genügte es nicht, Arabisch zu kennen: man müsste für immer Mitglied der Lauteren Brüder sein, nachdem man zum Islam übergetreten war! Hier in Troyes erfuhren sie von dem guten Raschi von der Existenz der Bruderschaft der Baumeister im Nahen Osten, die jedem offen stand, ohne Rücksicht auf seine Religion,' Volkszugehörigkeit oder politischen Hintergrund. Er musste lediglich ein Suchender nach der Weisheit Gottes sein und Arabisch beherrschen. Daraufhin wurde Hugo von Payns da¬mit beauftragt, den Kontakt zur Loge dieser Bruderschaft in Beirut herzustellen.
So hat alles angefangen!