Traktat: Moderne Freimaurerei 1911

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Moderne Arbeitsgebiete der Loge

Vortrag, gehalten auf der Bezirksversammlung des Vereins deutscher Freimaurer zu Essen 1911 von Br Carl Hülter.

Die freimaurerische Lehre ist kein Dogma und wenn es auch eine wohlbegründete Forderung aller derer, welche sich um die K. K. in Grübeln und in Taten bemühen, ist, dass man das innerste Wesen freimaurerischer Lebenserkenntnis nicht antasten, dass man die Ewigkeitswerte dieser edlen, von den besten Männern aller Zeiten ge­förderten Bewegung unberührt lassen möge, so dürfen wir uns doch nicht der Erkenntnis verschließen, dass die Anschauungen über die Wege, welche wir bei der Weiterentwicklung des freimaurerischen Ge­dankens zu gehen haben, flüssig sind und sich guten Teils mit den Anschauungen anderer ethischer Bewegungen berühren. Auch das alte Rüstzeug der K. K. hat ja den Zweck der Menschwerdung, der Bruder­liebe, die selbst im Sünder noch den Menschen sieht und ihn zur Pflicht zu führen sucht, gedient, und wir dürfen, ohne uns in die Gefahr zu begeben, die erprobten alten Waffen zu verlieren, einige neue hinzufügen; ist doch der Kampf gegen Egoismus und Materialis­mus, den wir in erster Linie gegen die Regungen des eigenen Herzens zu führen haben, heute ein ungleich schwererer als früher.

Auf der anderen Seite aber ist der Wunsch nach positiver Arbeit, nach Taten, die des Maurers Ruhm verkünden sollten, auch in früheren Zeiten in den Logen rege gewesen, und wenn diese Arbeit sich in der Ver­gangenheit stilleren, nicht so sehr von des Alltags lärmender Hast umtosten Gebieten zuwenden konnte, so lag dies in der ruhigeren Gestaltung einer Zeit, die zwar auf dem Arbeitsfelde einer großzügigen, von warmer Vaterlandsliebe geleiteten Politik einzig schöne Taten voll­brachte, aber im Wirtschaftsleben doch noch weit entfernt war von den gewaltigen Aufgaben, vor denen heute Staatsmänner und Gelehrte, Auserwählte und Berufene mit fragendem Blicke und bangem Herzen stehen. Aber auch damals, als sich das Leben des einzelnen Menschen noch in einem kleineren, von echtem Bürgersinn veredelten und von der Liebe zur Natur und ihren Gebilden verschönten Kreise vollzog, hat es die Maurer gedrängt, teilzunehmen an den Fragen des öffent­lichen Lebens.

Wir brauchen, um hierfür den Beweis zu führen, keine gedruckten Bücher oder vergilbte Dokumente aus altehrwürdigen Bau­hütten durchzulesen, sondern uns nur an die Stimme des Volkes zu wenden, die, wenn sie auch in der Wiedergabe tatsächlicher Vorgänge nicht immer das Geschichtliche von dem Sagenhaften zu trennen weiß, in Dingen des Empfindens doch stets das Richtige trifft. Wir wissen nun aber alle, dass die Freimaurerei den guten Ruf, den sie in den gebildeten Kreisen der Außenwelt genießt, und die ängstliche Scheu, mit der sie von gewissen Seiten betrachtet wird, in der Hauptsache ihrem wackeren Eintreten für Glaubens- und Gewissensfreiheit in Zeiten kirchlicher Unduldsamkeit verdankt.

Und in der Tat, für geistige Regsamkeit und Freiheit hat die stolze Bewegung, der der kühnste Ver­fechter menschlicher Gewissensfreiheit, Gotthold Ephraim Lessing, stets hohe Sympathien entgegengebracht hat, auch in früheren Zeiten unent­wegt gestritten und es ist ein altes, wenn auch gleichzeitig — man muß sagen leider — modernes Arbeitsgebiet der Freimaurerei, wenn sie den Kampf aufnimmt gegen die unter unseren Augen immer mehr erstarkende Macht jener Finsterlinge, die unser Volkstum und seine freie Geistesbetätigung in mittelalterliche Glaubensfesseln zu schlagen sich bemühen.

Ich sagte, dass der Kampf gegen den Ultramontanismus, zu dem sich erfreulicherweise die deutsche Freimaurerei allmählich zu rüsten scheint, nachdem man der zersetzenden Tätigkeit unserer finstern Widersacher so lange mit verschränkten Armen zugeschaut hat, leider zu den modernen Aufgaben unserer Bewegung gezählt werden müsse. Dieser Ausdruck des Bedauerns ist vollberechtigt, denn wir sollten, auf dem Wege zu den stolzen Höhen einer imponierenden äußeren Kultur, eigentlich jene Strecke hinter uns haben, auf welcher Pfaffen­gezänk und Pfaffenranküne oft die wackersten Taten in ihrer Wirk­samkeit beeinträchtigen. Wenn auch die selbständige politische Macht der streitbaren Kirche wohl für alle Zeiten überwunden ist, so ist die geistige Macht wohl niemals so bedeutend gewesen wie in unsern Tagen; und wie es um den indirekten politischen Einfluß der Kirche gerade in dieser Zeit bestellt ist, das wissen Sie, meine Brüder, wohl alle. Wahrlich, man ist versucht, sich diesen unheilvollen Zuständen gegenüber einem unfruchtbaren, tatenlosen Pessimismus hinzugeben und sich in bezug auf die Weiterentwickelung der Menschheit Albert Mosers Worte zu eigen zu machen: "Und wenn sie jetzt, die Aermste, nach Aeonen Noch fern dem Licht im Dunkel schleicht, Wie lange muß sie dann auf Erden wohnen, Bis sie's erreicht? - "

Wenn ich, meine lieben Brüder, von modernen Arbeitsgebieten der Loge spreche, so will ich mich nicht nur den modernen Dingen im engeren Sinne, will sagen, den rein zeitgemäßen, aus besonderen, gerade für unsere Zeit charakteristischen Zuständen geborenen Not­wendigkeiten für die freimaurerische Tätigkeit zuwenden, sondern ich will auch die Arbeitsgebiete in den Kreis meiner kurzen Darlegungen ziehen, die, wie der Kampf für geistige Freiheit, zu den Ewigkeits­werten aller menschlichen Aufwärtsbewegung gehört. Ich möchte also den Ton mehr auf das zweite Wort als auf das erste legen. Und da stellt sich zunächst ein Arbeitsgebiet dar, welches wohl das wichtigste ist, dem wir unsre Tätigkeit zuwenden müssen und das heute meines Erachtens in durchaus unzulänglicher Weise gepflegt wird.

Ich meine die Vertiefung unserer ethischen Lehren und die Erweiterung des Interesses an dem Wesen der Freimaurerei bei unseren Brüdern. Ich will nicht die Behauptung aufstellen, dass viele Logen nichts anderes seien als gesellige Klubs für Leute, welche noch nicht völlig „casino-reif" seien. Die Sache ist viel zu ernst, sie hat einen viel zu tiefen seelischen Grundton, als dass man sich bei ihrer Besprechung in Aus­fällen gegen diesen oder jenen unerquicklichen Zustand gefallen dürfte. Zudem sind ja auch diese Verhältnisse allgemein bekannt. Aber, wenn dem Neophyten die Binde abgenommen wird, und ich sehe dann in seelisch bewegtem Blicke ernste Manneszähren schimmern, wenn ich dann der Ergriffenheit gedenke, die eine gut geleitete Aufnahme in dem Suchenden erzeugt, dann frage ich mich oft mit tiefer Wehmut, ob hier nicht ein bitterböses Spiel getrieben wird. Mit der augenblick­lichen Seelenstimmung ist nichts gewonnen, und vom Erhabenen zum Lächerlichen ist der Schritt auf keinem Gebiete so kurz wie in unserem Tempel. Allerdings weniger zum Lächerlichen als zum seelisch Tief­traurigen.

Wie gering ist doch der Prozentsatz derjenigen unserer Neu­aufgenommenen, die einen wirklichen Gewinn für den Ausbau ihrer seelischen Güter aus der Zugehörigkeit zu unserem Bunde schöpfen. Wo sind denn bei uns die Männer, die sich in gläubigem Vertrauen an der Menscheit hohe Sendung dem Werke der Humanität vorurteils­los und uneigennützig widmen?

Für mich ist die Zugehörigkeit zum Freimaurerbunde eine so ernste Sache, dass ich mich im Gewühl des Alltags wie in ernsten, stillen Stunden immer wieder frage, ob ich den Schwur, den ich am Altar abgelegt habe, auch wirklich halte. Man stelle sich nur einmal die Stunde der Aufnahme vor. Mit dem tiefen Sinn, mit der beziehungsreichen Deutung 'unseres Rituals ist es nicht getan, diese bilden nur das goldene Gefäß, dem der Suchende den goldenen Inhalt geben soll.

Nur wenn er selbst tief in seiner Seele den furchtbaren Ernst seines Schrittes empfindet, wenn er die große Wahrheit, dass alle Menschen Brüder sind, dass sie aus denselben dunklen Fernen kommen und wieder hingehen in dunkle Fernen, begreift, kann die Aufnahme davor bewahrt bleiben, eine leere Farce zu sein. Nur wer sich in diesem feierlichen Augenblicke vornimmt, in echter Menschen­liebe fortan seinen Lebensweg zu wandern, die besonderen Eigen­schaften seiner Mitmenschen zu erforschen und ihnen nach Möglichkeit gerecht zu werden, der nimmt den Maurerschurz mit reinen Händen in Empfang. Gerade in unserer heutigen Zeit, die auf allen Gebieten des öffentlichen und privaten Lebens so viel Halbheit und Heuchelei zeitigt, in der Geltungshunger und Verlogenheit den ernsten, seelisch reifen Beobachter so oft in trübe Stimmungen versetzen, ist ein von den erhabenen Lehren unserer K. K. wirklich erfüllter und ihnen treu nachlebender Mann ein « Stein unter Steinen", aber ein Edelstein.

Die Forderung größerer Vorsicht bei der Annahme von Meldungen ist so häufig erhoben worden und sie bedeutet ja auch wohl eine selbstver­ständliche Forderung. Aber zu den modernen Arbeitsgebieten der Loge — und hierbei betone ich das Wort „modernen" — gehört meines Erachtens das eifrige Suchen nach Männern, deren seelische Veranlagung in einer Zeit wie der heutigen dafür bürgt, dass das Logenleben nicht in gesellschaftlichen Formen erstarrt, in seichter Geselligkeit aufgeht, sondern dass die hohen Ideale, ohne die jedes Volk, trotz wirtschaftlicher Erfolge, schließlich geistig verödet, eine Pflegestätte finden.

Mag man das Leben des frohen Glaubens an die Wirksamkeit jener Güter, welche wertvoller sind als diejenigen, die es nur vergänglich zieren, entkleiden, mag man den Grundsatz aufstellen, dass das „In magnis voluisse satis est" zu verschwinden und eine kühle Wertmessung des Erfolges an seine Stelle zu treten habe, wohlan, dann aber auch hinweg mit den Kirchen, hinweg mit der ethischen Färbung des Geschichtsunterrichts in den Schulen, fort mit der immer-währenden Ermahnung der heranreifenden Jugend zu seelischen Tugenden, fort auch mit den Freimaurertempeln, auf dass nicht Tausende die Hände wider Euch erheben und Euch zurufen: „Ihr habt uns belogen"! Wenn aber warmherzige Menschenliebe die Anschauungen der Loge leitet und wenn insonderheit diese Anschauungen nicht nur bei einzelnen Brüdern vorhanden sind, sondern von allen geteilt oder doch mitempfunden werden, dann ist wohl auch auf dem Arbeitsfelde der Loge ein Plätzchen frei für die Mitarbeit an den Fragen, welche unser öffentliches Leben bewegen und die Menschen immer wieder in Gegensatz zueinander bringen.

Gewiß wollen wir in der Loge keine Parteipolitik treiben, wir wollen nicht von der hohen Warte, auf der zu stehen wir vorgeben, und, sofern unser Streben echt ist, stehen sollten, hinabsteigen auf die Zinnen der Partei, aber mit der Politik, soweit sie in den Maßnahmen der Staatsregierung zum Ausdruck kommt, können und müssen wir uns wohl beschäftigen. Eine solche Stellungnahme ergibt sich wohl schon mit Notwendigkeit aus dem Standpunkte, den wir gegenüber klerikalen Anmaßungen einzunehmen gezwungen sind. Und was die Parteipolitik betrifft, so ergibt sie sich in ihren wesentlichsten Teilen doch aus den besonderen Forderungen bestimmter Berufskreise, sofern nicht der liebe Eigennutz sie leitet. Wenn wir nun aber auf unserer hohen Warte jeden Eigennutz aus­schalten und den verschiedenen wirtschaftlichen Bewegungen, z. B. auch der Arbeiterbewegung und dem, sogar auf die akademischen Kreise übergreifenden Genossenschaftswesen verständnisvoll und leidenschafts­los zuschauen, so kommen wir gewiß zu einem Standpunkte, auf welchen wir, ohne uns in irgendwelchen Parteihader zu verlieren, mitwirken können an dem Bau der wirklich wertvollen und dauernden Gebilde unseres Staatslebens. Es ist nun sehr leicht zu behaupten, dass der Kampf des Alltagslebens haltmachen müsse vor der Pforte der Bauhütte, dass wir ebenso wie beim Besuche einer Kirche die Sorgen und Mühen des Broterwerbs draußen zu lassen haben, damit unsere Seele emporgehoben werde in reinere und edlere Sphären.

Aber eine so ernste, so mannigfach gestaltete Zeit wie die unserige, klopft zu mächtig an die Pforten aller Hütten und Schlösser, dass der Aufseher an der Türe unseres Tempels nicht dauernd taub bleiben darf, wenn wir nicht in die Gefahr geraten wollen, den Pulsschlag unseres.eigenen Lebens zu überhören. Wir nehmen doch auch den Rucksack, der unseres Leibes Nahrung birgt, mit uns, wenn wir emporsteigen in die herrliche Alpenwelt, um die Wunder der Natur in ihrer reinen Schönheit zu schauen, und diejenigen Kirchen sind stets die am meisten besuchten gewesen, in die die Männer und Frauen, wie eine freie Stunde während der Arbeit — ich denke gerade an Fritz von Uhdes und Eduard von Gebhardts schöne Darstellungen — sie zusammenführte, gingen, um eine Predigt zu hören, in der ihnen die Fragen der Religion durch Vergleiche mit den Dingen ihres täglichen Lebens anschaulich gemacht wurden. Und so sollten auch wir unsere Augen vor den Fragen unserer Zeit nicht verschließen, sondern in unseren Arbeiten auf sie hinweisen; haben wir doch so manchen Bruder unter uns, den das Schicksal auf einen Platz gestellt hat, auf dem er mitwirken kann an der Lösung dieser Fragen. Ist es denn da gleichgültig, ob dieser Bruder weiß, wie sich ein Bund der Humanität zu diesen Fragen stellt, oder ob er in Unkenntnis bleibt und vielleicht eine Stellung einnimmt, die der K.K. schnurstracks zuwiderläuft?

Man wende nicht ein, dass die Frei­maurerei an und für sich eine richtige Beantwortung der großen Fragen, welche unsere Zeit bewegen, verbürge. Wir haben Lehrlinge unter uns, die trotz aller Rituale und Katechismen zeitlebens Lehrlinge bleiben, die aber ein rechtes Wort zur rechten Zeit zu Meistern machen kann. Deshalb lasse man die Ängstlichkeit vor der Behandlung wirt­schaftlicher Fragen fahren und reihe die Belehrung der Brüder über das, was unserem Gesellschaftsleben nottut, wenn es sich gesund ent­wickeln soll, ruhig unter die freimaurerischen Arbeitsprobleme ein.

Wenn wir solchergestalt den Fragen unserer Zeit Verständnis entgegenbringen, die Loge mit dem sittlichen Ernst erfüllen, der allein in den Wirrsalen einer Übergangszeit den ruhenden Punkt reinen Menschentums zu finden weiß, dann werden wir auch den Bedürfnissen unserer Brüder, mehr als es bisher der Fall gewesen ist, gerecht. Zu den freimaurerischen Arbeitsgebieten hat von jeher die Wohltätigkeit gehört. Wohlzutun und mitzuteilen, waren die Träger des weißen Schurzes stets gern bereit. Das soll auch in Zukunft so bleiben, wo ein Bruder oder eine Schwester in Not sitzt, oder wo wir eine arme Familie in Hunger und Verzweiflung wissen, da wollen wir uns dieses alten Arbeitsproblems erinnern und helfend eingreifen, so viel an uns ist.

In diesem Sinne ist auch der Verein Kinderfürsorge eine vor­treffliche, eifrigster Unterstützung durchaus würdige Einrichtung. Aber die Wohltätigkeit hat mit der Verfeinerung des menschlichen Empfindens Kritiker gefunden, welche darauf hinweisen, dass sie oft nur ein er­bärmlicher Notbehelf ist für eine andere, größere und bessere Tätig­keit, dass es weit richtiger sei, die Schäden, welche unsere moderne Gesellschaftsordnung nach der Richtung der ungleichen Entlohnung menschlicher Arbeit zeigt, zu heilen, als sie durch milde Gaben müh­sam und notdürftig zu verkleistern. Und da erscheint es mir nun als die höchste Stufe freimaurerischen Wohltätigkeitssinnes, wenn wir unsere Logen so auszugestalten wissen, dass sie wirklich und wahrhaftig die Stätten werden zu denen unsere Brüder flüchten können aus des Lebens Drang. Sagen Sie nicht, dass das selbstverständlich und wohl in jeder Bauhütte der Fall sei, denn leider finden heute noch sehr wenig Brüder eine volle Würdigung ihres Strebens, ihres Kampfes um einen Platz an der Sonne des bürgerlichen Lebens in der Loge. Heute, wo Bildung und Wissen so wohlfeil sind, begegnen wir tüchtigen, für bedeutende Lebensstellen geeigneten Männern auf Schritt und Tritt.

Aber nicht jedem gelingt es, die seinem Wissen, seinem Fleiße und seinem ernsten Streben entsprechende Lebenshöhe zu erreichen, mancher muß mit der Hütte im Tale zufrieden sein, der sich hinaufsehnt in die freie Höhenluft der Berge. Da ist es nun eine der schönsten Aufgaben eines von den hohen Idealen der K. K. erfüllten Bruderkreises, diesen oft schon in schmerzlicher Resignation ihre Lebensstraße ziehenden Brüdern das Verständnis für die höheren Werte der Mensch­heitsbetätigung zu vermitteln, ihnen den Glauben an die hohe Sendung des Einzelmenschen, deren Erfüllung nicht an äußere Erfolge gebunden ist, wiederzugeben, ihnen zu zeigen, wie sie in sich selbst, in ihren Familien, ein sonniges Eiland schaffen können, um das die Kronen­träger der wirtschaftlichen Erfolge sie im stillen beneiden. Aber die Erweckung dieses idealen Geistes, der des Alltags düstere Nebel ver­scheucht, ist nicht nur in der Loge möglich, sie kann nur dann eine vollgültige sein, wenn auch im profanen Leben dem nicht mit irdischen Gütern gesegneten Freimaurer die Gewissheit zuteil wird, dass ihm die Brüder ihre Hochachtung auch vor Höhergestellten ohne Einschränkung zuteil werden lassen. Man braucht nicht auf der Straße oder im Wirtshause „Mein lieber Bruder" zu rufen, man braucht nicht mit Zeichen und Griff überall die Zugehörigkeit zu unserem Bunde zu dokumentieren, kein Abzeichen an der Uhrkette oder auf der Kravatte zu tragen, aber der Verkehr der Brüder im profanen Leben soll das Gepräge warmer, echter Freundschaft und Herzenseinigkeit tragen, so dass er auch den Fernstehenden empfinden lässt, dass hier Männer mit­einander verkehren, die auf irgend einem schönen und edlen Acker­lande gleiche Furchen ziehen. Daran fehlt es leider häufig in unseren Vereinigungen, ist es doch oft, als ob der Bruder sich des Bruders schäme, und er ihn nur in der Loge, und auch dort vielleicht nur flüchtig, wenn nicht gar widerwillig, kenne. Solche Zustände sind das Erbärmlichste, was einem mit so hohen Idealen erfüllten Bunde be­gegnen kann; ein Logenbruder, der Ranges- und Standesunterschiede in einer Loge zur Schau trägt, sollte mit Schimpf und Schande aus dem Bunde gejagt werden, wenn er auch hundert Ordensbänder frei­maurerischer und profaner Art trüge.

Wenn wir solchergestalt ein wirklich einig Volk von Brüdern sind, dann dürfen wir uns auch hinauswagen in die Welt und an der Belebung und Veredelung unseres Volkstums mitarbeiten, wie es der Verein deutscher Freimaurer im Sinne hat. Hier liegt ohne allen Zweifel ein überaus ergiebiges Arbeitsgebiet vor uns, hier werden, wie die vom Verein herausgegebenen Gutachten beweisen, neue und edle Gedanken geprägt, die wir als echtes Gold hinaussenden können in die verschiedensten Kreise unseres Volkstums, das der Weiterentwicklung seiner seelischen Kräfte sehr bedürftig ist. Ich möchte nun aber dem Gedanken der Volkserziehung, namentlich so weit das Arbeitsgebiet innerhalb der Loge liegt, eine besondere Ausdeutung zuteil werden lassen, die den Gedankengängen unseres Vereins und seiner Gutachten­sammlung keinen Abbruch tut und doch auf eine durchaus notwendige Logenarbeit hinweist.

Ich sprach schon zu wiederholten Malen davon, dass wir Freimaurer als gebildete Männer an den Fragen unserer Zeit teilnehmen müssen und dass die Loge sich einer gewissen Lehrtätigkeit nach dieser Richtung nicht entschlagen kann, wenn sie will, dass diese Teilnahme in freimaurerischem Geiste erfolgt. Man kann nicht ohne weiteres annehmen, dass die Freimaurerei ihre Jünger mit einer so scharf ausgeprägten Auffassung der Lebenswerte erfülle, dass der Anhänger unserer Bestrebungen zu jeder Zeit auf alle diese Fragen eine Antwort habe. Er wird, wenn er sich auch das Wesen der K. K. durchaus zueigen gemacht hat, über manche Erscheinung des öffent­lichen Lebens im unklaren sein und nicht ohne Anleitung wissen, wie er sich zu ihr zu stellen hat. Jeder hammerführende Meister hat Brüder in seiner Werkstätte, die ihn von Zeit zu Zeit über Dinge des öffentlichen Lebens befragen und eine Unterhaltung herbeizuführen wissen, von der der Meister, wenn er nicht gar zu sehr am Althergebrachten hängt, wünscht, dass sie recht weite Kreise seiner Loge hören möchten. Zu diesen Dingen gehören in erster Linie die beiden Begriffe Politik und Religion, die noch von Gustav Freytag als das Gesprächsthema gebildeter Leute bezeichnet wurden, die aber seitdem, und namentlich in den letzten Jahrzehnten, in allen unpolitischen Vereinigungen mit einer so großen Scheu betrachtet werden, dass man glauben sollte, die alte Demagogenriecherei bestände noch.

Da unsere gebildeten Kreise bei jeder Gelegenheit sich bemühen, auf das eifrigste — häufig sogar mit einem gewissen Zorneseifer — die Politik in die politischen Versammlungen, die Religion in die Kirche zu verweisen, jeden anderen Boden aber sorgsam vor der Berührung mit derartigen Fragen zu bewahren, so konnten sich in unserem lieben Vaterlande die Ver­hältnisse so entwickeln, wie wir sie heute vor unseren Augen sehen. Der ultramontane Klerus, der diese beiden heterogenen Dinge in traulicher Vereinigung überall und allerwegen zur Sprache bringt, hat einen Einfluß erlangt, vor dem wir erschauern würden, wenn wir uns nicht in der sogenannten glücklichen Unkenntnis befänden. Vielleicht ist der Vorwurf, den das Ausland uns Deutschen macht, dass wir nämlich trotz aller politischen Kannegießerei ein herzlich unpolitisches, soll heißen politisch unreifes Volk seien, berechtigt, der Grund dafür liegt aber wohl weniger in der Veranlagung als in der Entwicklung unseres Volkes. Mir kommt immer ein Lächeln auf die Lippen, wenn ich in den Zeitungen lese, dass unsere gewerblichen, von tüchtigen, gebildeten Männern angefüllten Kreise sich darüber beklagen, dass in den gesetz­gebenden Körperschaften ihre Interessen nur mangelhaft gewahrt werden und dass im deutschen Parlamente allerlei Komödianten ihr Unwesen treiben. Hat sich dieser Teil unseres Volkes aber nicht über den wirt­schaftlichen Erfolgen, die ihm beschieden waren und noch beschieden sind, völlig der Teilnahme an der Politik entwöhnt, ist er nicht bei jeder Gelegenheit mit der Entschuldigung bei der Hand: »Dafür haben wir keine Zeit"? Ich weiß sehr wohl, dass unser gewerbliches Leben die Arbeitskraft seiner Angehörigen fast bis zum letzten Rest verbraucht, aber es gibt Dinge, für die man unter allen Umständen Zeit haben muß, und meines Erachtens gehört es zu den Aufgaben der Volks­erziehung, gerade die gewerblichen Berufe darüber aufzuklären, dass


sie gar kein Recht haben, der Allgemeinheit ihre Mitarbeit an den Fragen des Staatslebens vorzuenthalten. Wir haben nicht das Recht, dem Staate unsere Mitarbeit an seinen Geschäften vorzuenthalten, bis die Leiter unserer Nation den von klugen Wortführern geleiteten Mehrheitsparteien alle möglichen, der geistigen und leiblichen Wohlfahrt unseres Volkes direkt schädlichen Zugeständnisse machen müssen. Im evangelischen Gemeindeleben haben wir gerade jetzt ein lehrreiches Beispiel von der Wirkung eines jahrelangen Indifferentismus. Weil aus den gebildeten Kreisen niemand Zeit und Lust hatte, sich um die Gemeinderatswahlen zu kümmern, haben Pastoren und Pastorenanhang einen Zustand herbeiführen können, der uns die kirchlichen Oberbehörden auf dem besten Wege zum Papismus zeigt. Dass allen diesen Zuständen gegenüber ein großer ethischer Bund wie die Freimaurer mit ver­schränkten Armen zuschauen müsse, erscheint mir als eine unbillige Konzession an eine unhaltbare Auffassung von dem Wesen unseres Bundes. Lernen die Freimaurer es nicht gutwillig, so wird die Not der Zeit es sie lehren, den Tagesfragen wenigstens eine verständnisvolle Würdigung entgegenzubringen, wenn sie nicht vom Zeitgeiste hinweggefegt werden wollen. Die Kämpfe, welche unsere Brüder in den romanischen Ländern auszufechten haben, werden aller Wahrscheinlichkeit nach uns nicht erspart bleiben, und ich weiß aus dem Munde gebildeter Profaner, dass man auch heute noch auf uns zählt, dass die vox populi auch heute noch eine hinreichend gute Meinung von den Trägern des blauen Bandes hat, um sie als Verfechter des geistigen Fortschritts anzusprechen. „Trotz dem und dem und alledem", wie Bruder Freiligrath sagt.

Weil wir uns nun aber bei der Frage der Volkserziehung am besten an diejenigen wenden, welche noch erzogen werden können, so hat die Freimaurerei ein großes Interesse an der Leitung unserer Schulen. Hier einen direkten Einfluß auszuüben, wird ihr wohl für lange Zeit noch versagt bleiben, denn sie hat nach dieser Richtung den Anschluß verpaßt. Aber einen Einfluß auf jugendfrische, noch nicht von dem unfruchtbaren Pessimismus, der sich aus der Zeitbetrachtung so leicht ergibt, angekränkelte Gemüter auszuüben, ist ihr vielleicht durch die Bewegung beschieden, die in unserm Alumnatverein ihren Ausdruck findet, wenn auch vorerst in bescheidenem Maße. Den Alumnatverein sehe ich als die hervorragendste Schöpfung der zu neuer Tatenfreudigkeit erwachten Freimaurerei an und ihn möchte ich als das ergiebigste Arbeitsfeld im modernen Wirkungsbereiche der Logen bezeichnen. Tragen Sie deshalb, meine lieben Brüder, den Gedanken in Ihre Kreise, dass der Alumnatverein, der junge, deutsche Herzen und Geister mit edlen, gesunden Anschaungen erfüllen, freiheitliche Regungen wecken und weiter entwickeln will, die Unterstützung aller deutschen Logen wert ist. Vorerst werden ja nur wenige Alumnen des Segens dieser Einrichtung teilhaftig werden, und bis zu den Tagen, wo wir uns der freimaure­rischen Heimstätte als eines Gegenmittels gegen jesuitische Jugend­beeinflussung erfreuen können, werden noch viele, viele Jahre vergehen. Vielleicht werden die wackern Bauleute, die das Fundament dieses Baues geschaffen haben und sich nun anschicken, den ersten Pfeiler, das Alumnat in L., aufzurichten, niemals die Kreuzblume auf eine weit­hin ragende Helmspitze setzen. Aber dann mögen sie des ernsten Wollens edlen Kern genießen und vor diesem wie vor so manchem unvollendeten Freimaurer-Dombau stehen und sagen'. » Es war eine Zeit des frühlingsfrischen Werdens. Die Geister wachten auf, ein großes Werk zu schaffen. Ein Torso bleibt es der Nachwelt, aber der Bauriß liegt vor ihren Augen, und einmal ward es doch erstrebt!"

So treten uns, meine lieben Brüder, neue freimaurerische Arbeits­probleme überall entgegen, wohin wir blicken. Sie sind ja nicht eigentlich modern in dem landläufigen Sinne des Wortes, der nur technischen Neuerungen gegenüber, und auch dort nicht stets, eine volle Berechtigung hat. Was in den Geist gelegt ist, das ist ewig, und auf allen Wegen, die wir zu der Menschheit Frommen wandeln, treten uns aus der langen Reihe von Jahrhunderten alte treue Führer der Menschheit in ihrem Ringen nach geistiger Freiheit und seelischer Ver­tiefung entgegen, wie denn ja auch die freimaurerische Volkserziehungs­lehre in unseren Tagen des öfteren wieder auf Comenius hinweist. Ich meine auch, dass all diese Fragen, denen wir auf unseren Baustellen heute begegnen und über die in unseren Kreisen so häufig debattiert wird, ob wir sie als Bausteine in unser Werk einfügen sollen, doch recht eigentlich keine Fragen seien. Wenn wir mit echter Liebe zur gesamten Menschheit und zu jedem einzelnen unserer Brüder erfüllt sind, dann werden wir ganz von selbst auch in der Loge Anteil nehmen an dem bewundernswürdigen und doch so ernsten, oft sogar tieftraurigen Spiel der Kräfte in unserer leidenschaftlich bewegten Zeit. Wie manchen unserer Brüder sehen wir am zerschellten Mäste seines Lebensschiffes stehen, den kein anderer Sturm traf, als der, welchen die Elemente der heutigen Wirtschaftsordnung so oft entfesseln. Ich meine, dass in einer Zeit, welche in weiten Kreisen die wirtschaftliche Selbstbestimmung so gefährdet, dass der Gedanke an ein Recht auf lohnende Arbeit und bildungsgemäße Lebenshaltung aus den Werkstätten der Volkswirtschaftler in die Arbeitsräume nüchterner Gesetzespraktiker gedrungen ist, in einer solchen Zeit auch die Logen sich dem Drängen des Zeitgeistes zur Mitarbeit an den großen sozialen Fragen nicht mehr verschließen dürfen.

Was wir aber auch immer tun mögen, wir wollen es getreu dem inneren Wesen unserer K. K. tun, und in diesem Sinne lassen Sie mich meine Ausführungen, die nur den Wert von Anregungen haben sollen, mit einer Fabel schließen, in der vielleicht einige Brüder die schöne Erzählung Johann Abraham Fröhlichs von den Bienen wiedererkennen werden: An einem schönen Sommertage unterhielten sich arbeitsame Bauleute vor der Türe ihrer Werkstätte über die Tugenden, welche ihre Mitbürger an ihnen lobten und sie stritten darüber, welche Tugend die höchste sei. Sie nannten ihren Fleiß, der schon manch herrliches Bauwerk aufgerichtet habe, sie sprachen von der Eintracht, die unter ihnen herrsche, sie erwähnten ihre Sparsamkeit und Nüchternheit, ihren freien hochgemuten Sinn, ihre Wohltätigkeit, die sie veranlasse, selbst den Rest ihres Eigentums für die Brüder hinzugeben.

»Doch die höchste Tugend ist,"
Rief der Meister in den Zwist,
„Jeder Tugend treu zu leben."