Traktat: Friedrich Holtschmidt: Zur Jahreswende

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Friedrich Holtschmidt: Zur Jahreswende

entnommen aus der freimaurerischen Schrift mit dem ironischen Titel „Ketzer-Reden aus dem verfehmten Tempel“, 1889 gedruckt und verlegt in Leipzig im Verlag von Bruno Zechel


In einer Stadt am Meere, von welcher die Ueberfahrtslinie in ein fernes Land hinaus ging, wohnten einst Brüder, deren Verhältniß zu einander durch einen eigenthümlichen Umstand eine ganz neue Gestaltung gewann. Auf Geheiß ihres Fürsten sollte einer von ihnen in jenem fernen Lande demnächst seinen bleibenden Wohnsitz nehmen. Wer von ihnen dazu bestimmt werden würde, wußten sie noch nicht; sie erwarteten darüber und auch über den Zeitpunkt der Abreise noch ihres Gebieters Befehl. Dieser Befehl konnte stündlich eintreffen. Jeder von ihnen mußte sich zur Reise bereit halten, damit derjenige, welchen die Bestimmung treffen würde, sofort die Fahrt antreten könne. Das für diese Reise bestimmte Fahrzeug lag bereits, gerüstet zur Abfahrt, im Hafen vor Anker.


Die bevorstehende Trennung und die Ungewißheit, wer von dannen ziehen müsse, füllte ganz der Brüder Empfinden. Und wenn sie am Hafen mit einander nun wandelten und sahen dort Boote hinausfahren in die hohe See und auch jenes vor Anker liegende auf den Wogen schwankende, für einen von ihnen gerüstete Fahrzeug, so gedachte Jeder um so mehr und um so inniger mit stiller Wehmuth der Stunde, wann nun auch dieses Boot seine Segel lichten werde.


Die Brüder hatten sonst wohl gehadert mit einander, manchmal um geringer Kleinigkeiten willen sich erbittert und einander entfremdet; aber nun war aller Hader und alle Entfremdung verschwunden. Wer möchte mit seinem Bruder auch wohl hadern, wenn er nicht weiß, ob nicht vielleicht die nächste Stunde denselben schon von dannen führt! In der einen Frage, wer nun hinausfahren müsse und welche die in Schmerz ihm Nachblickenden sein würden, rückte die bevorstehende Trennung ihre Herzen fest und immer fester zu einander; das Bewußtsein des nahen Scheidens heiligte ihre Liebe.


Hinter den Ufern des zeitlichen Lebens liegt das weite Meer der Ewigkeit. Schwarze Barken mit umflorten Wimpeln treiben hinaus in die hohe See zu einem fernen Lande. Wir wohnen am Strande. Es liegt ein Fahrzeug gerüstet vor Anker, welches auch uns den hinwegführen soll, dem die Andern in Liebe und Schmerz dann nachblicken werden. Wir wissen noch nicht, wer es sein wird von uns, aber wir müssen uns Alle gerüstet halten. Der Befehl unseres Gebieters kann jede Stunde eintreffen. Und vernehmlicher noch als sonst hören wir in solcher Nacht der Jahreswende die Wogen jenes Meeres der Ewigkeit branden am Ufer. Ihr Geroll tönt hinein in den Becherklang, mit welchem wir das neue Jahr begrüßen; schallt hernieder tief in unser Herz, um dort eines kommenden Scheidens Bewußtsein zu wecken, alle Härten in ihm zu lösen, es weich und willfährig zu machen der Liebe. Nun sollen unsere Arme sich wieder ausstrecken, den zu suchen, welchen wir im Hader von uns stießen; nun sollen unsere Augen liebevoll wieder anschauen den, auf welchen wir so lange zürnend und grollend geblickt haben; nun soll Frieden sein zwischen uns, Versöhnung und Frieden immerdar, so lange wir noch zusammen sind.

Des Meeres Wellen branden am Ufer. Auf den Wogen schwankt ein zur Fahrt gerüstetes Boot. Wir gleichen jenen Brüdern. Lassen wir uns ihnen auch gleichen in der durch das Bewußtsein des Scheidens geheiligten und gefestigten Liebe!


digitalisiert von Br. Robert Matthees (www.robert-matthees.de)