Freimaurerei im zaristischen Rußland
Freimaurerei im zaristischen Rußland
Quelle: Quatuor Coronati
Autor: Paul Hennings, Hamburg (gestorben am 15. 4. 1965)
Welche Kraft muß in der Idee der Freimaurerei stecken, wenn sie das ertragen und überwinden konnte, was die zweite Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts und der Anfang des neunzehnten ihr zugemutet haben! Diese Auffassung wird mehr als anderswo deutlich in der Geschichte der russischen Freimaurerei.
Die kurze Zeit ihres Bestehens fällt ungefähr zusammen mit der Überfütterung des bis dahin vom übrigen Europa nur schwach beeinflußten Kolosses mit westlichen Gedanken. Nicht nur die geistige Großmacht des freimaurerischen Grundgedankens eroberte hier, zum Teil gegen heftigen Widerstand, ein Stück jungfräulichen Bodens, sondern auch und besonders die Duodezfürsten witterten hier nicht mit Unrecht eine Möglichkeit für ihre kolonialen Machtgelüste. So kommt es, daß die russische Freimaurerei in ihren Anfängen ein tolles Durcheinander ist, dessen Entwirrung um so schwieriger ist, als die Kenntnis der russischen Sprache Bedingung für den Historiker ist; selbst bei Erfüllung dieser Bedingung besteht die weitere Schwierigkeit, daß seit dem Verbot der russischen Freimaurerei fast anderthalb Jahrhunderte verflossen, bis ihre Chronisten ihre russisch geschriebenen Werke im ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts erscheinen lassen konnten; inzwischen ist sicher viel wichtiges Material vernichtet worden oder verloren gegangen.
Aber hier erweist sich die schon erwähnte Speisung der russischen freimaurerischen Gedankenwelt aus ausländischen Quellen als ein Glücksfall für den Historiker: aus den Archiven und Urkunden der deutschen, englischen, französischen und schwedischen Maurerei läßt sich ein zwar nicht lückenloses, aber in den Hauptzügen deutliches Bild der Geschichte der Maurerei in Rußland gewinnen.
Nettelbladt und Friedrichs
Daneben bieten auch Erinnerungen und Briefe der Zeit sowie geschichtliche, kulturgeschichtliche und literaturgeschichtliche Werke zusätzliches Material. Abgesehen von kürzeren Darstellungen in maurerischen Geschichtswerken und Enzyklopädien ist in Deutschland zweimal der Versuch gemacht worden, eine Geschichte der russischen Maurerei zu geben: den ersten hat Nettelbladt in den drei Mecklenburgischen Logenkalendern der Jahre 1835/7 geliefert; ihm war zu wenig belegendes Aktenmaterial zugänglich, und er war zu sehr auf mündliche Uberlieferung angewiesen, als daß er immer hätte zuverlässig sein können.
Auf ihm fußt unter Zusätzen und Berichtigungen aus Petersburger und Moskauer Archiven und besonders aus den Akten der Großen Landesloge zu Berlin der Bruder Dr. Ernst Friedrichs, Professor am Kadettenkorps. 1904 erschien seine „Geschichte der einstigen Maurerei in Rußland", 1907 eine verkürzte Fassung, der eine Geschichte der polnischen Maurerei angefügt war. Aus den Quellenschriften, über die er auf Grund seiner russischen Sprachkenntnisse und seiner Zugehörigkeit zur Großen Landesloge verfügte, hat er die grundlegende Darstellung der Geschichte des russischen Maurertums erarbeitet, die seine zeit- und berufsbedingte monarchistische Haltung und eine Überbetonung des Einflusses der Großen Landesloge auf die russischen Brüder kaum trüben können.
Neben seinen Ausführungen verdanke ich am meisten dem russischen Literaturhistoriker Pypin, dessen Buch über „Die russische Gesellschaft unter Alexander I.w, eine Vorstudie zu seiner geplanten Geschichte der Freimau¬rerei in Rußland, 1894 deutsch erschienen ist. Ähnlich der Geschichte der gesamten Maurerei liegen auch die Anfänge der russischen Maurerei im Dämmerlicht der Sage. Nach ihr soll Peter der Große der als erster bewußt und tatkräftig sein Reich durch westliche Einflüsse zu zivilisieren suchte, während seines Aufenthaltes in England 1698 Freimaurer geworden sein, und keinen geringeren hält die russische Mythe für gut genug, ihn in die Loge einzuführen, als Sir Christopher Wren, den großen eng¬lischen Staatsbaumeister und Maurer. Nach seiner Rückkehr soll dann in Moskau eine Bauhütte errichtet worden sein, deren Stuhlmeister der Gro߬admiral Lefort, des Zaren Ratgeber und Reisebegleiter, und deren erster Aufseher General Gordon, der Unterdrücker des Strelitzenaufstandes war, während Peter selbst sich mit dem Posten des zweiten Aufsehers bescheiden begnügte. Belege hierfür sind aber weder in Rußland noch in England auf¬zufinden. Historischen Boden betreten wir mit der durch die „ Constitution" von 1738 belegten Behauptung, daß ein Kapitän John Phillips 1731 vom englischen Großmeister Lord Lovel zum Provinzial-Großmeister von Rußland ernannt wurde, aber das scheint mehr ein Titel honoris causa gewesen zu sein als praktische Bedeutung gehabt zu haben, denn Logen hat es höchstwahrschein¬lich damals in Rußland noch nicht gegeben, bestenfalls einzelne (auslän¬dischen Logen angehörende) Brüder. Mit etwaigen Versuchen, Bauhütten ins Leben zu rufen, scheint Phillips keinen Erfolg gehabt zu haben, denn schon 1740 wurde er auf Grund einer Verfügung des Großmeisters Lord John Keith durch dessen Bruder, den General Lord James Keith, den späteren preußischen Feldmarschall Friedrichs des Großen, der 1728—1744 in rus-sischen Diensten stand, ersetzt. 1750 tauchen die ersten Logennamen auf: Thory bestätigt in seiner „Latomia", die Behauptung Nettelbladts, daß in dem Jahr in Petersburg eine Loge „Silcnce", in Riga eine Loge „Northstar" gearbeitet hatten. In London waren sie freilich nie registriert, aber das kann mit der von Katharinas Zeit gebotenen Geheimhaltung zusammenhängen. Durch die ständig zunehmende Verbindung mit dem Westen wurde nun all-mählich der Boden für freimaurerisches Wirken bereitet. Und als mit dem Regierungsantritt Katharinas II. die Beschränkungen fielen, die die unter-irdische Arbeit den Logen auferlegt hatte, konnte die Maurerei üppig ins Kraut schießen. Katharina begann ihre Herrschaft als ausgesprochener Frei-geist, allerdings mit dem Vorbehalt, daß ihre absolute Macht durch die neuen Ideen nicht im geringsten beeinträchtigt werden durfte. Sie stand im regen Briefwechsel mit den französischen Lnzyklopädisten; sie erörterte mii d'Alembert, Diderot, Grimm und Voltaire brieflich historische, politische, philosophische und wirtschaftliche Fragen, lud Ausländer zur Niederlassung in ihrem Reiche ein, richtete Krankenhäuser und Schulen ein, kurz: sie nahm den von Peter dem Großen begonnenen Konnex mit dem Westen in ver-stärktem Maße wieder auf. Ihre Ideale, deren Verwirklichung allerdings ihr selbst bei dem geringen Bildungsstand ihres Volkes problematisch erschien, deckten sich mit denen der Freimaurer, und so stand sie ihnen wohlwollend gegenüber. Ob sie tatsächlich den Orden unter ihre besondere Obhut zu nehmen versprach oder gar die Schirmherrschaft über die angeblich gleich nach ihrer Thronbesteigung gegründeten Loge „Klio" übernommen hat. ist fraglich, besonders da die „Kliou nach den zuverlässig geführten „Masonic Reeords" erst 1774 entstanden ist. Für aufschlußreich halte ich lediglich, daß die Sage dies Protektorat einer nach dem englischen System arbeitenden Loge zugesprochen hat und nicht einer Loge anderen Systems. War vor der Zeit Katharinas das Logenleben fast ausschließlich von England beeinflußt, so machten nach der Freigabe zahlreiche Systeme Jagd auf An¬hänger und Adepten. Das erste System, das in das Monopol Finglands ein¬brach, war bodenständig und von rein russischer Herkunft, das „Melesino-System". Graf Melesino, griechischer Herkunft, Generalleutnant in russischen Diensten und Stuhlmcister der schon erwähnten Loge „Silence", fügte den drei symbolischen Graden vier weitere an: als vierten Grad „Das düstere Gewölbe", der auf dem Begräbnis Hirams fußt, als fünften den „Schottischen Meister- und Rittergrad", der unter dem Patronat des Apostels Andreas an die Stelle des Johannisevangeliums die Offenbarung setzt; der sechste oder Philosophengrad, auch „Kammer der Weisheit14 genannt, ist ein bigott-kon-fuses Spiel mit unzähligen Llden und Gebeten, der siebente Grad endlich ist geistlichen Charakters, ein Klerikat; seine Kleidung ist ein Chorhemd unter einem Tempelherrenmantel. Um die Geschichte dieses kurzlebigen Rituals, das über die Grenzen Rußlands wohl nicht hinauskam, vorwegzunehmen: Melesino, der in vier Sprachen mit gleicher Vollkommenheit und mit glän-zender Beredsamkeit eine Loge leiten konnte, scheint — aut Caesar, aut nihil — sehr ehrgeizig gewesen zu sein: als 1782 eine Polizei Verordnung ein Ver¬bot der geheimen Gesellschaften aussprach, von dem die Logen ausdrücklich ausgenommen waren, benutzte er die Gelegenheit, seine Loge aufzulösen und seine Lehrart und die Maurerei überhaupt aufzugeben, da er sich nicht der drohenden Gefahr aussetzen wollte, gegenüber einer vom Fürsten eröff¬neten Provinzialloge ins Hintertreffen zu geraten. Die zweite Bresche in die englische Hochburg schlug die „Strikte Observanz44. Ich brauche über das Wesen dieses ursprünglich politischen Systems, mit dem die verjagten Stuarts unter dem Deckmantel, die Tradition der Tempelritter wieder aufzunehmen und fortzuführen, den englischen Thron zurückzu¬erobern strebten, über die geheimen Oberen des gutgläubigen und opfer¬freudigen, aber in Phantastereien verlorenen Barons von Hund nichts auszu¬führen. Doch muß gesagt werden, daß 1765 Starck und seine Wismarer Loge die Strikte Observanz nach Rußland brachten. Neben einer Reihe von Logen entstanden dann weltliche Ordenskapitel in Petersburg, Riga und einem nicht bekannten Ort in Kurland. Beim zweiten Aufenthalt Starcks in Petersburg entstand das weltliche Ordenskapitel „Phoenix*, dem dann noch ein Klerikat angegliedert wurde. Aber bald erhoben sich Meinungsverschiedenheiten, bei denen Starck den Kürzeren zog: er wurde ausgeschlossen. Er verließ Ru߬land, und die Kleriker mußten sich nach Wismar zurückverziehen. Das tat aber der Strikten Observanz keinen Abbruch, sie breitete sich immer weiter aus, sie behauptete sich in Rußland viel länger als in ihrem Entstehungsland Frankreich, wo sie schnell an Boden verlor, und trug wohl am stärksten zu dem Wirrwarr bei, der die russische Maurerei zerklüftete und schädigte. Ich möchte hier auf den Einfluß der französischen Sektiererlogen auf die russische Maurerei hinweisen, der stärker gewesen zu sein scheint, als die maurerische Geschichtsschreibung, die dies Kapitel sehr kursorisch behandelt, allgemein annimmt. Ich schließe es aus einer Kleinigkeit, die mir aber auf¬schlußreich zu sein scheint: vom russischen Volksmund wurden die Maurer „Farmasonij" genannt, das ist eine Anpassung des Wortes „Francmacon" an die russische Mundgerechtsame. Wir wissen von einer ganzen Anzahl aus Frankreich importierter sich maurerisch gebärdender Gesellschaften, von einigen nur den Namen, wie von der „Societe des Chercheurs" und von der «Académie des Secrets", von anderen etwas mehr, wie z. B. von der „Avignoner Gesellschaft des neuen Israel", die von dem polnischen Aben-teurer Grafen Hrabianka eingeschleppt wurde und sich mit Geisterbeschwö¬rung, Alchimie und chiliastisdien Prophezeiungen beschäftigte. Einige Chro¬nisten wollen in dieser Gesellschaft eine Verschmelzung zweier Vereinigungen aus Avignon sehen, andere rechnen sie zu den Martinisten, deren Mystizis¬mus sich bis in die neueste Zeit in den theosophischen Bünden gehalten haben soll. Unter die Martinisten, die in Rußland sehr viel Anhang hatten, reiht ein Teil der Historiker zwei Männer ein, deren Bedeutung für die russische Maurerei sehr groß ist: es sind Schwarz und Novikov; meistens freilich wer¬den sie als Rosenkreuzer aufgeführt. Es ist hier nicht meine Aufgabe, das Problem zu erörtern, ob die damaligen Rosenkreuzer überhaupt zu den Frei¬maurern gehören, aber die Tätigkeit der beiden genannten Männer war von einem derart starken Geist echten Maurertums beseelt, daß sie schon des¬wegen in der maurerischen Geschichte Rußlands einen Ehrenplatz einnehmen müssen. Novikov war überdies während der drei Jahre, die er aus Sicher¬heitsgründen fern von seinem Wirkungsbereich Moskau in Petersburg zu¬brachte, Bruder einer nach dem Ritual der Großen Landesloge arbeitenden Loge, und Schwarz nahm an den Vereinigungsbestrebungen aller mau¬rerischen Systeme auf dem Wilhelmsbader Konvent teil. Schwarz war Professor an der Moskauer Universität und rosenkreuzerischer Stuhlmeister, Novikov ehemaliger Offizier und Staatsbeamter. Beide betätigten sich zu¬sammen philanthropisch; nach dem Tode Schwarzens 1787 nahm Novikov die ganze Last auf seine Schultern. Ihm besonders verdankte die Moskauer Be¬völkerung Volksschulen, Krankenhäuser, Apotheken, die Medikamente an Arme kostenlos abgaben, öffentliche Leihbüchereien ohne Lesegebühren und vor allem die Versorgung mit Druckerzeugnissen aller Art: einer zweimal wöchentlich erscheinenden Zeitung, satirischen Wochenschriften und beleh¬renden Büchern in ungeheuren Auflagen zu billigsten Preisen. Aber waren der Zarin Katharina schon seine versteckten Angriffe auf sie in den satirischen Blättern ein Dorn im Auge gewesen, besonders, da ihre litera¬rische Gegenwehr seinem Geist nicht gewachsen war, so sah sie darin, daß Novikov eine Gesellschaft gründete, deren Ziel es war, ärmere oder von Mißernten heimgesuchte Gebiete mit Getreide aus besser gestellten Gegenden zu versorgen, einen Eingriff in ihre Rechte, von denen sie allerdings in dieser Hinsicht keinen Gebrauch gemacht hatte. Sie ließ also kurzerhand den un-bequemen Novikov verhaften und ohne gerichtliches Urteil auf die Schlüssel¬burg bringen; seine Druckereien wurden zu Gunsten der Staatskasse ver¬steigert, 18 000 Bücher vernichtet. Er wurde erst nach Katharinas Tod wieder auf freien Fuß gesetzt, aber seine Kraft war gebrochen, sein freier und men¬schenfreundlicher Geist in den Kasematten zerstört. Ihre erbitterten Feinde waren die Uluminaten, die durch maßlose Angriffe gegen die „rosenkreuzerische Sekte, diese Ausgeburt der Hölle, mit ihrem Hang nach ungezügelter Unabhängigkeit von weltlicher und geistlicher Macht" vergeblich Oberwasser zu gewinnen suchten. Wenn ich eine thematische Durchführung dem streng zeitlichen Hin- und Herspringen von echter Maurerei zu unechter und umgekehrt vorgezogen habe und zuerst die Abarten geschlossen kurz skizzierte, so geht aus diesem Hinweis hervor, daß die angeführten Vorläufer des echten Maurertums nicht von der Bildfläche verschwanden, als die echte Maurerei sich mehr und mehr durchsetzte, und daß während der Vorherrschaft der maurerähnlichen weg¬bereitenden Sekten die echte Maurerei schon deutliche Ansätze zeigte. Aber in großen Umrissen gesehen begann das wahre Logenleben erst mit dem Regierungsantritt Katharinas. Daß sich diese nach Rußland und auf den Thron verschlagene, aber schnell den ungewohnten Verhältnissen akklimati¬sierte deutsche Prinzessin von Anhalt-Zerbst beim Beginn ihrer Herrschaft sehr wohlwollend zur Freimaurerei stellte, habe ich schon erwähnt. Eine Ge¬heimhaltung, der Zusammenkünfte und Arbeiten war jetzt nicht mehr nötig, die Vorbedingung für eine gedeihliche Entwicklung des maurerischen Gedan¬kens und Wirkens war gegeben. Alle Systeme profitierten von dieser gün¬stigen Voraussetzung, viele Logen und logenähnliche Vereinigungen ent¬standen; die Aufzählung der Namen und Daten wäre verwirrend. Wesent¬lich ist wohl nur, daß fast während des ganzen ersten Jahrzehnts der katha-rinäischen Epoche, das ich als eine Art Kristallisationszcit ansehen möchte, England das Monopol in der Bildung echter Logen gehabt zu haben scheint. Ein Markstein ist das Jahr 1771: in ihm wurde die erste Loge von einer regulären Großloge anerkannt. Nach allen Berichten mit einer Ausnahme war das die Loge „Zur vollkommenen Flintracht", die sich im Juni 1771 konstituiert hatte, und deren Mitglieder vorwiegend dort weilende englische Kaufleute waren. Diese Priorität Englands wird von Friedrichs auf das entschiedenste bestritten; er bezichtigt den oder die Verfasser der Feststellung der ersten rechtmäßigen Loge in den „Freemasons Calendars" von 1777 und 1778 der bewußten Fälschung aus nationaler Voreingenommenheit. Nach seiner Be¬hauptung, die sich auf Akten der Großen Landesloge stützt, hat die Loge „Zum Apoll" als erste Loge in Rußland das Licht erhalten, schon am 29. März 1771, also drei Monate früher, und zwar von der Großen Landesloge in Berlin, Der Begründer der Loge „Apollo" war von Reichcll, den Friedrichs als den Begründer der wahren Maurerei in Rußland bezeich¬net. Reicheil hatte im Auftrag von Zinnendorf gehandelt, dessen System damit in Rußland mit großem F>folg Fuß faßte. Diese Feststellung möge hier genügen, ich kann hier nicht auf die interessante, wenn auch nicht immer ganz durchsichtige Geschichte Zinnendorfs eingehen, darf sie auch wohl als in großen Zügen bekannt voraussetzen. Der Kampf zwischen der Großloge von England und der Großen Landes¬loge, der aus dem Prioritätsstreit zu einem Autoritätsstreit wurde, ist von Friedrichs in breiter Ausführlichkeit geschildert worden; wir beschränken uns hier auf das Resultat: der Londoner Großloge mußte das exklusive Recht zur Konstituierung anderer Logen in der ganzen Welt zugestanden werden. Vielleicht hängt untergründig mit diesem Streit ein anderer zusammen, der zwischen den englischen und russischen Brüdern ausbrach. Die russischen Logen der Zeit waren vorwiegend Logen des Adels oder doch der oberen Zehntau¬send; einer aus diesen Kreisen, ein Senator Elagin, bemühte sich in Berlin um eine Anerkennung als Großmeister, die ihm versagt wurde, also schickte er einen Unterhändler zur Konkurrenz nach London. Und er bekam sein Patent als Großmeister aller Russen, eingeschlossen alle künftig entstehenden Logen, aber wieder war es eine Anerkennung ehrenhalber: die Autorität über die Logen wurde ihm vorenthalten. Nach endlosen Kontroversen siegte wieder England; Elagin mußte nachgeben. Aber das dämpfte seinen Eifer nicht, er gründete 1774 vier neue Logen. Eine weitere Sorge des Großmeisters war, daß er kein Ritual hatte, denn England gab keine Abschriften aus der Hand. In seiner Not wandte sich Elagin an Reichel!, und merkwürdigerweise riet ihm dieser Bruder der Großen Landesloge, sich in Schweden, in Stockholm zu bemühen. Schweden sah hier wohl eine Möglichkeit, seine beim Tode Karls XII. verloren gegangene politische Großmachtstellung auf dem Um¬wege über die Freimaurerei wenn nicht gar wieder zu erlangen, so doch wenigstens zu verbessern, und riet Reichell und seinem Freunde Rosenberg, eine Fusion zustande zu bringen, dann werde man mit sich reden lassen. Es gelang, Elagin zur Annahme des schwedischen Systems zu bringen, und so sehen wir in Rußland wohl alle Systeme vertreten. 1776 wurde die Natio¬nale Großloge Rußlands gegründet mit Elagin als Großmeister. Die Loge „Apollo", deren Meister vom Stuhl damals Rosenberg war, hatte sich der neuen Großloge nicht angeschlossen, worüber sich Reicheil mit Rosenberg entzweite, worauf sich Reichell völlig von der Maurerei zurückzog. Fürst Trubetzkoj, der ein Großmeisterpatent für die Zinnendorff-Logen anstrebte, war gekränkt durch die Bevorzugung Elagins und wanderte mit seinen Logen nach Moskau aus. Als weiter bei einem Besuch des Bruders Gustav III. von Schweden in einem Toast die Hoffnung ausgesprochen wurde, daß Schweden in der ganzen maurerischen Welt die vorherrschende Stellung einnehmen möge, gab es Widersprüche und Verwicklungen, die dadurch verstärkt wur¬den, daß der Großsekretär Böber der Großloge schwedischer Obödienz, deren Großmeister Fürst Gagarin war, durch ein Rundsdireiben alle Logen auszu¬schließen drohte, wenn sie sich nicht im Laufe von sechs Wochen ange¬schlossen hätten. Das hätte praktisch die Kaltstellung des Zinnendorff-Systems bedeutet, mit dessen Begründer Schweden gebrochen hatte. Noch mehr böses Blut machte es schließlich, daß der schwedische Tronfolger, Her¬zog Karl von Södermanland, zum Vicarius Salomonis der IX. Templer¬provinz ernannt worden war, der auch Rußland eingeordnet war. Diese Wahl stieß, wie auch in Deutschland, in Rußland auf heftigsten Widerspruch, in dem sich auch Gagarin und Elagin einig waren. Trotzdem war Gagarin so enttäuscht, daß er wie vorher Trubetzkoj nach Moskau ins Exil ging, wo seine Großloge sich bald auflöste. Damit war die Vormachtstellung Elagins unbestritten, und sie blieb es bis zum Ausbruch der französischen Revolution, die der russischen Maurerei ein vorläufiges Ende machte. Katharina hatte sich mittlerweile völlig gewandelt. Schon die Widerstände gegen ihre im Grunde nur theoretischen Reformversuche hatten ihr gezeigt, daß sie zu wählen habe zwischen den Idealen ihrer Jugend und einer Einbuße an Macht. Und hier war der geringste Abstrich ihrem Wesen entgegengesetzt. Nur die uneingeschränkte Macht ermöglichte ihr die Günstlingswirtschaft und die mit ihr verbundene Vergeudung von Staatsgeldern, die zuerst durch ungezügelte Sinnlichkeit, dann durch Gewohnheit und schließlich durch die Angst vor dem Tode bedingt waren. Sie war zur Despotin reinsten Wassers geworden und schickte viele ihrer Untertanen in die Verbannung oder ker¬kerte sie ein für Ansichten und Äußerungen, die sie selbst früher gehegt und ausgesprochen hatte. Sie hatte sich den Verdacht einreden lassen, daß die Freimaurerei staatsgefährlich sei, und als nun gar Cagliostro mit den Schwin¬delmanövern seiner ägyptischen Maurerei auch Rußland heimsuchte, konnte sie nicht mehr unterscheiden zwischen Gold und Talmi; sie schrieb drei Lust¬spiele, in denen sie die Königliche Kunst und den Erzzauberer in einen Topf warf. Der Ausbruch der französischen Revolution verwandelte dann ihr Mißtrauen in nackte Furcht. Sie wußte, daß sie kein Verbot auszusprechen brauchte, sie äußerte 1794 den Wunsch der Logenschließung, und ohne Mur¬ren gehorchten die Brüder. Auf Katharina folgte Paul I. Mutter und Sohn hatten einander glühend gehaßt, und Pauls erste Maßnahmen waren diktiert von dem Bestreben, genau das Gegenteil zu tun von dem, was seine Vorgängerin getan und an¬geordnet hatte. Sie hatte die Freimaurerei zum Erliegen gebracht, also, durfte man hoffen, würde er sie wieder aufleben lassen, zumal da er selbst einer regulären Loge angehört haben soll. Wenigstens behaupten dies alle Chro¬nisten einmütig, wenn auch merkwürdigerweise keiner weiß, welcher Loge er angehört hat. Ich kann gegen die Bruderschaft Pauls keinerlei Beweise brin¬gen, aber gefühlsmäßig sträubt sich in mir alles, sie anzuerkennen. Seine Verfügungen sind mit den maurerischen Idealen nur schwer in Einklang zu bringen: er rief sofort die Jesuiten zurück, ließ ihnen völlig freie Hand und räumte ihnen großen Einfluß ein. Nettelbladt schreibt auch den Jesuiten und ihnen allein die Tatsache zu, daß die Logen während der knappen sechs Jahre seiner Regierung nicht wieder eröffnet wurden. Die meisten Historiker haben sich den Bericht des 1805 Rußland bereisenden Deutschen Reinbeck zu eigen gemacht, der schreibt: „Paul berief eine Versammlung bekannter Brü¬der zur Entscheidung, ob die Logen wieder eröffnet werden sollten oder nicht. Dem Plan widersprachen ein paar einflußreiche Mitglieder und Staats¬leute, und man beschloß, eine Weile abzuwarten. Dann erschien der Malteser¬ritter Graf Litter und überredete den Kaiser zu Gunsten des Malteserordens auf Kosten der Freimaurerei. Infolgedessen erschien 1797 ein Erlaß, der alle geheimen Gesellschaften verbot, und obwohl die Freimaurerei nicht ausdrück¬lich genannt war, ließ Paul alle ihm bekannten Stuhlmeister ihm in die Hand geloben, daß sie keine Logen eröffnen wollten. Zum Dank dafür wurden sie zu Malteserrittern gemacht, und am 16. Dezember 1798 machte sich Paul zum Großmeister dieses Ordens." Im März 1801 wurde Paul L ermordet, ihm folgte sein Sohn Alexander I. Auf kaum einen anderen Herrscher der Weltgeschichte sind bei seinem Regie-rungsantritt so große Hoffnungen gesetzt worden wie auf Alexander. Er war genau das Gegenteil von seinem despotischen, unberechenbaren und geistig wohl nicht ganz normalen Vater. Er war auf Betreiben seiner Großmutter Katharina, die gern in ihm unter Übergehung Pauls ihren direkten Nach¬folger gesehen hätte, von dem freigeistigen Schweizer La Harpe erzogen worden, und er enttäuschte auch die gehegten Erwartungen nicht. Er schaffte die körperliche Züchtigung ab, errichtete Gymnasien, reformierte die Uni¬versitäten und gründete neue, lockerte die Zensur und gestattete die Einfuhr von ausländischen Büchern und Journalen. Nur eine Gruppe sah sich in ihrer Erwartung betrogen, die Freimaurer: er erneuerte 1801 das Verbot seines Vaters. Die Gründe für diese seinen übrigen Bestrebungen widersprechende Maßnahme sind nicht belegt. Aber im Vertrauen auf seine durchaus humane Einstellung wagten einzelne Brüder, heimlich wieder zusammenzukommen. Und 1802 nahm die Loge „Les Amis réunis", deren Mitglieder Franzosen waren, in französischer Sprache und nach dem französischen System mit den 33 Clermontschen Graden still die Arbeit wieder auf. Nach einem allgemein angefochtenen Bericht der „Acta Latomorum" soll der Staatsrat Böber, dem wir schon begegnet sind, in einer Audienz dem Kaiser die Ziele des Ordens dargelegt und ihn dadurch so zu begeistern verstanden haben, daß Alexander nicht nur die Erlaubnis zur Aufnahme der Arbeit gab, sondern sogar um Aufnahme in eine Loge bat. Es steht aber fest, daß der Zar nie Freimaurer war; vielleicht war er eine Zeitlang Illuminât. Daß aber eine Fühlungnahme stattgefunden hat, in der die monarchische Haltung der Freimaurerei bekräf¬tigt wurde, scheint mir dadurch wahrscheinlich, daß 1804 oder 1805 die Loge „Zum gekrönten Pelikan" unter Duldung des Kaisers ihre Pforten wieder öffnen konnte unter Voransetzung des erlauchten Namens, so daß sie jetzt „Alexander zum gekrönten Pelikan" hieß. Auch als 1809 die stark ange¬wachsene Mitgliederzahl eine Teilung nötig machte, wurde den neuen Bau¬hütten wieder der Vorspann eines kaiserlichen Namens gegeben, vielleicht auf allerhöchsten Wunsch, vielleicht aus Opportunität: „Elisabeth zur Tu-gend" und „Peter zur Wahrheit". Die offizielle Aufhebung des Verbots folgte dann 1810. Diese drei nach dem Schwedischen System arbeitenden Logen taten sich dann zu einer Großen Direktorialloge „Wladimir zur Ordnung" zusammen, zu deren Großmeister Böber erwählt wurde; 1812 und 1813 traten zwei fran¬zösische Logen in Petersburg und die Logen von Kronstadt und Reval dieser Großloge bei. Aber bald erhoben sich Zwistigkeiten zwischen den Meistern, die nur die drei Johannisgrade anerkennen wollten, und den Hochgrad¬meistern. Nicht wenig trug dazu die Anwesenheit Feßlers bei, der vorüber¬gehend eine Professur für orientalische Sprachen an der Universität Peters¬burg innehatte. Ich fasse mich kurz in der Darstellung der Kämpfe zwischen den Systemen, der Eifersüchteleien und der Abwerbungen und möchte lieber einen Passus aus Pypins Darstellung anführen, der für uns besonders interessant ist, denn er zeigt uns Friedrich Ludwig Schröder aus der Sicht eines russischen Histo¬rikers, der offenbar der Freimaurerei sehr zugetan ist und einige grundsätz¬liche Einwendungen nur eingestreut hat, um der Zensur Sand in die Augen zu streuen. Die Übersetzung der Äußerungen Pypins lautet: „Unterdessen drang in die russischen Logen eine neue Richtung ein, die sich in Deutschland entwickelt hatte und höhere Grade gänzlich ver¬warf, da sich ihre Unzweckmäßigkeit schon lange in verschiedener Weise bemerkbar gemacht hatte. Ein solches System war das neue System Schröders, dem sich auch Ellisen zuwandte. Friedrich Ludwig Schröder (1744—1816) hatte einen sehr bekannten Namen in der Ge¬schichte der Freimaurerei und in der Geschichte der dramatischen Kunst in Deutschland; in der letzteren als bedeutender Schauspieler, Inhaber des Hamburger Theaters und dramatischer Schriftsteller, der die Deut¬schen unter anderem mit Shakespeare bekannt machte. Er war über¬haupt ein Mann, der seine Bildung am meisten sich selbst verdankte, aber in seinem Charakter als Literat und Freimaurer zeigen sich auch nicht wenige Beziehungen zu Lessing und dessen Freund Bode. Diese letzten beiden traten in die Logen ein und suchten der Freimaurerei jenen Sinn des kosmopolitischen Humanismus zu geben, den die dama¬lige Philosophie eingab und der im Geiste der Institution selbst in seiner ersten Form lag. Unter diesen Einflüssen begann auch Schröder seine Wirksamkeit. Damals war der Orden noch ganz in den Händen der Anhänger der „strengen Observanz", der Rosenkreuzer und ähn¬licher Charlatane, und Weishaupt bemühte sich vergebens, den Orden durch sein Illuminatentum zu reformieren. Schröder trat erstens ent¬schieden gegen die höheren Orden auf, weil nach seiner Meinung die drei alten Grade zur Darlegung der Lehre der Freimaurerei vollkom¬men ausreichten; zweitens suchte er eine glaubwürdige oder wenigstens eine nicht zu unwahrscheinliche Geschichte des Ordens festzustellen. Die Werke Schröders über die Geschichte der Freimaurerei nehmen nicht die letzte Stelle in dieser sozusagen rationalistischen Erklärung ihres Ursprungs ein, wie ihn überhaupt seine Tätigkeit in der Literatur und in der Freimaurerei als einen Mann von ernsten und moralischen Uberzeugungen zeigte. Die Bestrebungen Schröders, die Logen zu reformieren, hatten einen bedeutenden Erfolg, und sein System, das man manchmal das „englische" nennt (da es auf diese ursprüngliche Form der Logen zurückkehrte), hatte einen großen Einfluß auf das deutsche Freimaurertum, In seinen Unternehmungen arbeitete er zu¬weilen gemeinsam mit einem ähnlichen Eiferer der freimaurerischen Lehren, Feßler, einem bekannten Schriftsteller, Moralphilosophen und Historiker, dem wir auch in der Geschichte der russischen Logen be¬gegnen und der eine der Sehröderschen ähnliche Reform des Ordens anstrebte. Beide waren ähnlicher Ansicht über die höheren Grade, aber da in denselben noch viele freimaurerische Systeme zur Anwendung kamen, und da es für einen „Meister" wichtig war, überhaupt die historische Entwicklung der Logen und der Freimaurerei zu kennen, so kamen Schröder und Feßler darin überein, für die Brüder des dritten Grades eine besondere Gesellschaft, Abteilung oder, wenn man will, einen besonderen letzten Grad aufzustellen, in dem auch die Geschichte des Bundes und das Wesen der höheren Grade dargelegt werden sollte. Bei Schröder hieß diese Gesellschaft „Vertraute Brüder" oder die „Historische Kenntnisstufe" oder der „Engbund". Bei Feßler folgten nach dem Grade des Meisters die „Weihen" in sechs Abteilun¬gen oder Erkenntnisstufen mit moralphilosophischen Erklärungen." 1815 sah sich die Führung der Großloge „Wladimir" gezwungen, bekannt¬zugeben, daß sie alle von einer regulären Großloge genehmigten Systeme anerkenne. Die Widersprüche, die dieser Beschluß auslöste, führte zur Spal¬tung in zwei Großlogen: vier Logen taten sich zusammen zur Großloge „Astraea", die nach dem englischen System arbeitete, aber das heute fast unbegreifliche Zugeständnis machte, daß jede Loge den symbolischen Graden soviele Grade hinzufügen könne, wie sie wolle. Sechs der „Wladimir"-Logen bildeten eine „Schwedische Provinzialgroßloge von Rußland", die über diesen Bestand anscheinend nicht hinauskam. Die „Astraea" überflügelte sie schnell und hatte erstaunlichen Zuwachs: schon ein Jahr nach der Gründung hatte sie 24 Logen unter ihrer Jurisdiktion, von denen sieben nach dem Schröderschen Ritual arbeiteten und eine nach dem Feßlers. Im Jahre 1820 wurde zum Großmeister der „Astraea" ein Maurer alter Schule namens Kuselev gewählt, der sowohl ein Gegner der neuen Richtun¬gen wie auch der Martinisten mnd Illuminaten war; er sah das Heil darin, die beiden rivalisierenden Großlogen wieder unter einen Hut zu bringen und sie nach der christlich orthodoxen Philosophie auszurichten. Jede andere Maurerei führe, behauptete er, zum Deismus, von ihm zum Materialismus und schließlich zum Atheismus. Da Kuselev dies angestrebte Monopol nicht verwirklichen konnte, verfaßte er eine Reihe von Denkschriften für den Zaren, in denen er die Forderung aufstellte, die Logen müßten sich entweder auf biblischer Basis zusammenfinden oder als staatsgefährlich aufgelöst werden. Wie weit die Anklagen Kuselevs den Kaiser beeinflußt haben, wissen wir nicht, aber es gab auch nicht viel zu beeinflussen. Wir sehen bei Alexander in verstärktem Maße die Entwicklung Katharinas. Aus dem humanen Herrscher war im Laufe der Jahrzehnte ein Frömmler und Mystiker geworden, der der Despotie völlig freie Hand ließ. Verfolgt von Gewissensbissen, die Er¬mordung seines Vaters geduldet zu haben, überzeugt von seiner göttlichen Mission in der Heiligen Allianz und darin bestärkt durch die Einflüsterungen einer Frau von Krüdener, vernachlässigte er seine eigentliche Aufgaben und sah widerspruchslos zu, wie der barbarisch-grausame Arektschewitz, durch den er seinen früheren Ratgeber Br.-. Speranskij ersetzt hatte, die blutbe¬fleckte Knute über Rußland schwang. Er geriet in die Fänge Metternichs, Wöllners und der europäischen Reaktion; der freimaurerfeindliche Kongreß von Verona tat ein übriges: 1822 verbot Alexander alle Geheimgesellschaf¬ten, unter ihnen die Freimaurerei, in Rußland für alle Zeiten. Damit stehen wir nur scheinbar am Ende unseres Themas. Ich denke dabei nicht an die sporadischen, von der Geheimpolizei schnell wieder unterdrück¬ten Versuche der Gründung von Bauhütten in den Jahren 1906 und 1907, von denen Lennhoff berichtet; sie sind zu unbedeutend, als daß sie in einem kurzen Abriß der Geschichte der russischen Maurerei mehr als eine Erwähnung beanspruchen könnten. Ich meine vielmehr das Nachspiel der Tragödie der russischen Maurerei, das die Geschichte als den Dekabristen-aufstand bezeichnet. Nach dem Rußlandfeldzug Napoleons drang die zaristische Armee bis nach Paris vor und hatte Gelegenheit, die westlichen Verhältnisse an Ort und
Stelle kennenzulernen. Besonders das Offizierskorps wurde dadurch zu Ver¬gleichen mit den heimischen Zuständen herausgefordert, und der krasse Unterschied führte im Zarenreich nach der Rückkehr der Armee zur Bildung geheimer Gesellschaften, die eine Verfassung und die Aufhebung der Leib¬eigenschaft als Mindestforderung in ihr Programm schrieben. Da war zuerst, um nur die wichtigsten unter vielen zu nennen, der „Wohlfahrtsbund" der Gardeoffiziere, der eine Nachahmung des deutschen „Tugendbundes" war, und die eigentliche „Geheime Gesellschaft", die aus einem „Nördlichen" und einem „Südlichen" Zweig mit verschiedenen Zielen bestand. Die nörd¬liche Hälfte wollte nur die Forderung nach einer konstitutionellen Regierung verwirklichen, die südliche war radikaler und plante einen Militärputsch, der sich die republikanische Staatsform notfalls auch durch Beseitigung des Herr-schers zum Ziel setzte. Der plötzliche Tod Alexanders am 1. Dezember 1825 und eine Unklarheit über die Thronfolge eines seiner Brüder Konstantin und Nikolaus zwang die Verschworenen zu einem voreiligen Losschlagen. Der Aufstand wurde blutig niederkartätscht, die Haupträdelsführer gehängt und viele Aufrührer nach Sibirien verbannt. Was uns interessiert, ist die Tatsache, daß einmal ein großer Teil der Verschwörer Freimaurer war, andererseits die Geheime Gesellschaft freimaurerischen Charakter hatte. Der Dekabristen-aufstand und die Freimaurerei waren konzentrische Kreise, wenn auch ver¬schiedenen Umfangs. Selbst der monarchistisch denkende Br.\ Friedrichs muß es schweren Herzens bestätigen. Mit der Konstaticrung einer ausgesprochen politischen und revolutionären Betätigung der russischen Freimaurerei muß ich mich heute begnügen; mir scheint, daß die Parallele zur deutschen Widerstandsbewegung des 20. Juli — reine Offiziersrevolte gegen eine uner¬trägliche Despotie — hier offensichtlich ist.