Traktat: Die neue Ethik

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Die neue Ethik

Autor: Dr. Rudolph Penzig


Wäre Ethik nichts als die Wissenschaft von den Normen menschlichen Handelns, wie sie häufig genannt wird, so könnte man von einer „neuen" Ethik im Gegensatz zu einer älteren nur in demselben Sinne sprechen, wie man etwa von der „neuen" Kulturgeschichte gegenüber einer an Stoff ärmerem und an Forschungsmethoden veralteten Geschicht-schreibung redet. Das hieße den Teil für das Ganze nehmen und die Aufgabe der Ethik einfach auf die geschichtliche Darstellung der in den verschiedensten Zeiten und unter allen möglichen Himmelsstrichen einmal lebendig gewesenen Gedanken, Gefühlserlebnisse und Willensrichtungen beschränken, mit denen eine vergangene Menschenwelt sich den von ihr dem einzelnen und der Gesellschaft gesetzten Lebenszwecken anzupassen versucht hat. Nun ist aber Ethik nicht nur Sittengeschichte, sondern ein Teil der Philosophie, und zwar der „praktischen Philosophie", und sie steht neben der Logik, als der Kunstlehre richtigen Den-kens, und der Ästhetik, als der Lehre von der Bildung richtiger Geschmacksurteile, ihrerseits auch da als die Kunstlehre richtigen, das heißt des guten, auf die Verwirklichung der Lebenszwecke gerichteten Willens. Auch von ihr gilt, was Fr. Nietzsche allgemein im Zarathustra von den Philosophen sagt: „Die eigentlichen Philosophen sind Befehlende und Gesetzgeber. Sie sagen: So soll es sein! Sie bestimmen erst das Wohin und Wozu des Menschen. Sie greifen mit schöpferischer Hand nach der Zukunft. Ihr Erkennen ist Schaffen; ihr Schaffen ist eine Gesetzgebung." Der eigentliche Gegenstand der Ethik ist ja nicht was ist, sondern das, was sein soll, und gerade da, wo ihr Gegenstand, der sittliche Wille, verleugnet, verkannt, geringgeschätzt oder verletzt wird, also aus dem Widerspruch des tatsächlich Gegebenen und tiefinnerlichst Gewollten gewinnt sie die Kraft zur Bildung ihrer Ideale, die die grob mechanische Ursächlichkeit der Welt hineinstellt.

Diese Ideale sind aber keineswegs stets die alten, die nämlichen, die bereits eine graue Urzeit, von einer aus Himmelswolken erschallenden Offenbarungsstimme gar nicht zu reden, ein für allemal aufgestellt hätte. Nicht wie ein Kleinod aus einer metaphysischen Welt, eine mystische Gnadengabe, wird der Menschheit das Bewusstsein des „Guten", wohl gar eines „Guten an sich" überliefert, dem blinde Verehrung zu zollen wäre, sondern, auf dem langen und mühseligen Wege der Erfahrung (aufsteigend vom „schnöden" tierischen Selbsterhaltungstriebe alles Lebenden zu immer besserer und höherer Erkenntnis des in Wahrheit Wertvollen), lernte der Mensch immer besser, das Ziel seines tiefsten Wollens und Wünschens mit Namen des „Guten" zu schmücken. Schon Spinoza warnte vor dem Irrtum, als ginge unsere, weiß Gott, woher stammende Erkenntnis des Guten dem Wollen des Guten vorauf; vielmehr nennen wir eben das, was wir wollen, ein Gutes, so oft uns auch dieser unser Wille in die Irre geführt hat. Das sittliche Ideal ist ein Entwicklungs-wicklungsprodukt, wie das menschliche Gewissen. Unsere ganze Menschheitskultur steht ja unter dem Zeichen des Entwicklungsgesetzes, ist ein sich täglich und stündlich, wenn auch für den Blick von uns Eintagsfliegen erst in Jahrhunderten merkbar Sichwandelndes, dem immer neue Aufgaben gestellt werden. Das ist der Grund, warum jeder Menschengeneration, der einen mehr, der anderen minder dringend, die Aufgabe zufällt, eine „neue Ethik" zu schaffen, den Kulturprozeß der Herrschaft über die Natur, hier also der Herrwerdung über die menschliche Natur, die doch auch ein Stück Natur ist, weiter zu

führen. Nicht als ob nun jedesmal alles Alte umgestürzt und ein völlig Neues geschaffen werden müßte; nein, aber das alte durch die Erfahrung von Jahrtausenden als rein bewährte Gold muß allerdings stets wieder in den Schmelz tiegel wandern, um minderwertige Legierungen auszuscheiden und dem verbleibenden das Gepräge der Neuzeit zu geben. Oder ohne Bild: es gilt jedesmal das sittliche Ideal den Bedürfnissen und Forderungen der Lebenden anzupassen. Vor allem aber: Soll Ethik nicht ein totes Wissen bleiben, sondern Lebenskraft entfalten, dann trifft sie wie alles Kulturerbe der Vorzeit das Goethewort: „Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen."

Hier aber ist noch ein weiteres Mißverständnis abzuwehren. Wir sprechen hier von einer neuen Ethik, nicht von neuer Moral. Das heißt nicht vom Inhalt, sondern von der Form. Unter Moral verstehe ich gewissermaßen die photographische Augenblicksaufnahme der zu einer bestimmten Zeit und in einem bestimmten Volksganzen bestehenden sittlichen Einrichtungen, herrschenden Zustände und Lebensgrundsätze, wie sie sich beispielsweise in den teils von der sozialen Sanktion des Rechts, teils der Sitte und des Brauchs getragenen Eigentumsbegriffen, Eheverhältnissen, in der Gesellschaftsgliederung, in Handel und Verkehr, den staatsrechtlichen Beziehungen usw. zu ergeben. Auch diese Moral ist in unaufhörlicher, doch merklicher Wandlung begriffen, weil ja fortwährend aus der der fruchtbaren Unzufriedenheit mit dem, was ist, ein neues Schattenbild des Seinsollenden erwächst. Aber langsame Prozeß — ich möchte ihn mit dem naturschaftlichen Begriffe der Variation vergleichen — vollzieht sich wesentlich in der erstmalig eingeschlagenen Richtung und bessert nur am Inhalt der sittlichen Werturteile mehr oder weniger, ohne doch an ihrer Grundlage dem Endziel, kurz ihrer Form, zu rütteln.

Selbst so einschneidende Wandlungen des sittlichen Bewußtseins, wie sie sich etwa in der Abschaffung der Ausdehnung des Eigentumsbegriffes auf andere Menschen: der Sklaverei, in der veränderten Stellung der Frau, der Bewertung Fremdstämmiger und dergleichen ausdrücken, geben zwar das Bild einer neuen Moral, aber nicht das einer neuen Ethik. Diese bedeutet vielmehr eine grundsätzliche Richtungsänderung des sittlichen Werturteils nach Ursprung und Ziel und ließe sich, wenn man das bekannte Fußleiden jedes Gleichnisses schonend übersieht, nur mit der Mutation des de Vriess auf botanischem Gebiet vergleichen, die nicht durch eine Reihe allmählicher Übergänge, sondern in plötzlichem Umschwung eine neue Art schafft. Es liegt auf der Hand, daass aus einer neuen Quelle und einer neuen Mündung ein anderer Strom entspringen muß, als wenn beim Gleichbleiben von Ursprung und Ziel nur der Flußlauf bald auf neue zu umgehende oder zu überflutende Hindernisse, auf neu auszufüllende Bodensenkungen stößt. Das letztere ist der Fall bei dem Wandel der moralischen Werturteile und Normen, von dem uns die vergleichende Kultur- und Sittengeschichte ein anschauliches Bild gibt.

Den Inhalt der jeweiligen moralischen Forderung, also was Gegenstand der allgemeinen sittlichen Billigung oder Mißbilligung bei einem bestimmten Volksstamm zu gegebener Zeit ist, lernen wir einfach nur aus Erfahrung; für die Ethik bleibt einzig die kahle Tatsache zu registrieren, daß überhaupt und überall und zu allen Zeiten derartige Werturteile gefällt und zu sittlichen Forderungen gestempelt wurden, gleichviel auf welche Weise. Ob in Indien Wit-wenverbrennung sittliche Pflicht war, in Korsika die Blutrache, ob diese Negerstämme jungfräuliche Keuschheit mißachten, andere Wilden ihre alten Eltern erschlagen müssen, ob die Spartaner gesetzlich zur Aussetzung schwacher Kinder gezwungen wurden, ob Knabenliebe oder Vielehe anerkannter Brauch sind, ob politischer Mord oder Bestechung geduldet — ja verherrlicht wurden, ob das Mittelalter Ketzerverbrennung oder Folter für gott-gefällige Werke hielt, ob Zinsnehmen, Völlerei und Unzucht verachtet oder erlaubt werden, usw. — das alles hat mit der Frage der philosophischen Ethik nach dem Ursprung solcher Werturteile und dem Ziel sittlicher Betätigung nicht das geringste zu tun. Aber allerdings hat die Erkenntnis dieser ungeheuren sachlichen Verschiedenheiten sittlicher Bewertung, der nur bei geschichtlich verbundenen und voneinander abhängigen Kulturnationen eine recht spärliche und dürftige Übereinstimmung in ganz wenigen allgemeinen Grundsätzen sittlicher Natur gegenübersteht, ein Ergebnis gezeitigt, das es uns ermöglicht, von einer neuen Ethik zu reden, nämlich die Absage an den dogmatischen Glauben an ein „absolut Gutes" und die Einsicht in die Relativität aller Moral. Damit ist nun aber auch die Frage nach dem Ursprung sittlicher Urteile, die selbst noch für einen Kant nicht existierte, und nach dem Endziel sittlichen Strebens überhaupt erst möglich geworden. Wenigstens ihre wissenschaftliche Behandlung, nachdem sie seit Jahrtausenden der Spielball wildester Phantastik gewesen ist.

Solange das Gute etwas inhaltlich ein für allemal für den Menschen schlechthin Bestimmtes war, ob man es nun

durch Offenbarung mitgeteilten Willen der Gottheit verstand oder als eine, apriorische Vernunftwahrheit, als Gewissensstimme, moralischen eingeborenen Sinn der Menschennatur, oder endlich als einen nicht weiter erklärbaren kategorischen Imperativ", so lange mußten die tatsächlichen Verschiedenheiten der Sittengeschichte völlig unerklärlich bleiben; man half sich, so gut oder schlecht man konnte, indem man die Tugenden der Heiden zu glänzenden Lastern machte, einen ursprünglichen Sündenfall mit erblicher Unfähigkeit zum Guten annahm oder das radikale Böse auch seinerseits verabsolutierte und in das „Tier-Erbe“ der Menschheit seine „fleischlichen Lüste" hineinschob. Die Folge davon war, dass das absolut Gute als Heiligkeit in die Himmelswolken entwich und erst durch Gnadengabe, als erdfremder Import, und wegen der mangelhaften Verpackung in die gründlich verderbte Menschennatur auch nicht ganz unlädiert, eingeschmuggelt werden musste. Das ergab eine religiöse Versöhnungs- und Erlösungs-Ethik, bei der der Mensch „aus eigner Kraft“ nichts tun konnte und wesentlich der leidende Teil blieb, wenn auch Wohltat erleidende.

Erst mit dem Augenblick, da das Gute als das von der Menschheit Gewollte, ja bei gleichbleibenden Verhältnissen trotz aller zeitweiligen Verirrungen als das ernsthaft Gewolltwerden-Müssen erkannt wurde, da tauschte es für den verloren gegebenen Heiligenschein der Absolutheit den unendlichen Vorteil ein, in die Reichweite der Menschheit selbst zu gelangen und die Eigenkraft der Edelsten aller aufeinanderfolgenden Menschengeschlechter aufzurufen, schon hier auf Erden der Weisheit, Güte und Schönheit einen Tempel zu bauen. Das ist die neue Erziehungsethik. Mag auch ihr Ziel erst in unendlicher Ferne blauen und nur ahnend erfaßt werden können — das ist Art und Weise jedes Ideals —, so verliert sich ihr Anfang doch nicht mehr in dem mystischen Dunkel metaphysischer Träumereien, sondert gründet fest auf dem natürlichen Boden menschlichen Seelenlebens, wie ihn uns die psychologische Wissenschaft immer besser erkennen läßt.

Jener in der Variabilität der sittlichen Urteile einzig konstant bleibende Faktor, daß überhaupt das Gefühl die eine Handlung und Eigenschaft billigt, die andere mißbilligt, daß wir angenehm und nützlich, wahr, gut und schön von ihren Gegenteilen unterscheiden, bildet den unerschütterlichen Grundpfeiler, an dem das unendliche Band der Willenserziehung befestigt werden kann. Man gestatte mir hier eine ganz kurze psychologische Erläuterung: Zu allen Dingen, Begebenheiten und Handlungen verhalten wir uns theoretisch entweder erkennend oder bewertend. Das erstere ist Sache des Verstandes, das zweite die des Ge-fühls bzw. Willens. Das verstandesmäßige Erkennen geht über die Wahrnehmung, Vorstellung, Begriff zum Urteil und Schluß und beschäftigt sich ausschließlich mit dem, was

ist, also mit dem Sein, Gewordensein, Werden und Wirken, mit den Bedingungen und Eigenschaften eines materiellen Objektes.

Alles gefühlsmäßige Bewerten wiederum spiegelt den Eindruck wider, den das Erkenntnisobjekt auf mein Ich, also ein Subjekt, macht. Beispielweiese für die Erkenntnis ist ein musikalischer Akkord oder der „goldene Schnitt ein einfaches mathematisches Proportionsverhältnis, für das Gefühl aber ein ästhetisches Erlebnis. Gefühle sind nun entweder lustbringend, das heussr willensbefriedigend, oder unlustbringend, vom Willen gewiesen. Der Wille also, der hinter jedem Gefühl bewertet alle Erkenntnisobjekte von seinem subjektandpunkt aus. Zunächst beantwortet das Gefühl, ohne einer Kritik zu unterliegen, die Fragen: Was ist mir dies oder jenes? Und zwar erst nach rein sinnlichen Gesichtspunkten: Ist dies mir angenehm oder nicht? Dann auch nach verstandesmäßigen Rücksichten: Ist dies mir (vielen, allen) nützlich? Von diesen Gefühlen des Angenehmen und des Nützlichen, die H. Steinthal „pathologisch“ nennt, weil dabei das Subjekt nur leidend ist, unterscheiden sich die sowohl aktiveren, wie auch objektiveren -wennschon ausschließlich auf die Form ihres Gegenstandes gehenden Gefühle des Wahren, Guten und Schönen.

Als die formalen Willensverhältnisse, die das Mannigfaltige zur Einheit zusammenschließen, nennen wir sie auch Ideen. Die logische Idee der Wahrheit bestätigt ohne viel Gefühlswärme: so muß es sein, anders wäre es falsch; die ästhetische Idee des Schönen und die ethische Idee des Guten dekretieren mit starkem Pathos: so sollte es sein, wobei der ästhetische Wille die sinnliche, der ethische die geistig-sittliche Einheitsform im Auge hat; anders wäre häßlich, wäre böse. Der normale Mensch hat der Tat in seinem Innern Urbilder des Wahren, Schönen und Guten, an denen er die erkannte Wirklichkeit mißt. Wir stehen hier mit andächtigem Staunen vor einer Urtatsache des Seins und können höchstens im Hinblick auf den in der gesamten Natur wahrnehmbaren Drang zur hermonischen Übereinstimmung von Form und Inhalt — man denke auch an die chemischen Wahlverwandtschaften der Elemente, die nur auf den „richtigen" Reiz reagieren, an den schon bei Einzellern beobachteten „Rhythmotropismus", an das Prinzip der „gegenseitigen Hilfe" in der Tierwelt — vermuten, daß hier in der Menschheit eine ursprüngliche Anlage alles Seienden aus dem Dunkel des Unbewußtseins in das Licht bewußten Wollens getreten ist. Aber selbst abgesehen von der nicht menschlichen Natur: Auch hier wieder ist der heutige Mensch der glückliche Erbe der Kulturarbeit aller vorhergegangenen Geschlechter, dem nur die Aufgabe obliegt, solchen Ideenbesitz durch eigene Arbeit sich zu eigen zu machen.

Und damit sind wir wieder bei der Erziehungsethik angelangt. Harmonie gefällt, Disharmonie mißfällt — diese allgemeine Erfahrung bietet den Schlüssel zu allen Rätseln auch der sittlichen Welt. Sie erklärt zum Beispiel den, immer natürlich relativen, Wert des Gehorsams, als der schweigenden Unterordnung des Eigenwillens unter einen „höheren" Willen und den der Freiheit als des frohen Bewußtseins von der selbstgewollten Bindung allein an das eigengewählte Gesetz. Man versteht nun, warum Handlungen, die bei einem Volke oder zu einer, gewissen Zeit als grobe Unsittlichkeiten gelten, in anderer Umgebung oder Epoche mit gutem Gewissen als reinste Pflichterfüllung gewertet werden können, weil eben niemals diese oder jene Handlung an sich schon und absolut „gut" oder „böse" ist, sondern als solches nur die erfreuende oder schmerzliche Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung mit einem geltenden Allgemeinwillen ins Bewußtsein tritt. Ja, jetzt erst kann von einer lebendigen Entwicklung der ethischen Ideen die Rede sein, die durch das Dogma von der Absolutheit der Moral, zum Teil absichtlich, totgeschlagen wird.

Selbstverständlich nicht eine Entwicklung, die wie ein Naturprozeß ohne Mitarbeit des Menschen zukäme; vielmehr vollzieht sich unablässig jener Vorgang, dessen klassisches

Zeugnis der tragische Ausgang der Berufung Antigones auf die „ungeschriebenen Gesetze" der Humanität gegen die Willkür des Gesetzesbuchstaben ist: dass der schöpferische Genius einzelner Menschheitsführer die Zukunftsmoral gegen die Gegenwartsmoral ausspielt und schließlich, selbst wenn ihr Prophet dabei zugrunde geht, zum Siege führt. — Aber in unserer demokratischen Zeit ist die Epoche der Heroen, der genialen Religions*- und Moralstifter vorüber. „Der Fortschritt der Ethik vollzieht sich“ (so Jodl in seiner „Allgemeinen Ethik") „nicht bloß durch das Denken, sondern durch das Leben, geradeso, wie der Fortschritt der Ästhetik einseitig bleiben oder stocken müsste ohne den schaffenden Künstler. Schaffender Künstler auf ethischem Gebiet ist jeder wahrhaft gute, wahrhaft um Selbstvervollkommnung, um Vertiefung des sittlichen Bewußtseins seiner selbst und anderer bemühte Mensch." Wer die Augen offen hält, kann die Früchte allgemeiner Erziehungsethik schwerlich heute übersehen. Nicht Zufall ist die Reform unserer Pädagogik, die mehr auf die Geltendmachung göttlicher und menschlicher Autorität verzichtet und in Freiheit zur Freiheit erziehen möchte, die an die Stelle der Lernschule die Arbeitsschule setzt und die Schaffenslust des Kindes begünstigt gegen die passive Aufnahmefähigkeit. Und wie die Prügelpädagogik stets weiter in den Hintergrund gedrängt wird, so siegt allmählich in unserem Strafrecht der Erziehungsgedanke über die Sühne- und Vergeltungstheorie, wird der Wahn vom „geborenen Verbrecher“ oder dem „verlorenen und verdammten" Sünder des Katechismus zurückgedrängt durch die Einsicht in die Gesamtschuld der Gesellschaft auch an den noch so schweren Verirrungen des menschlichen Willens. Das kräftige Leben selbst rüttelt an dem starren Eigentumsbegriff des Kapitalismus, an dem verkalkten Gerüst eines Ehe- und Familienlebens, das, der tieferen seelischen Gemeinschaft von Ehegatten und Kindern entleert, nur noch durch wirtschaftliche Bindungen aufrechterhalten wird, an der Helotenstellung des weiblichen Geschlechts, dem eine doppelte Moral das Vollmenschenrecht verkümmert, usw.

Sind aus der neuen Ethik die „Pflichten gegen Gott" mit Recht verschwunden, weil ein System von Pflichten und Rechten nur gleichgeartete Wesen umfassen kann, und haben sich die „Pflichten gegen sich selbst" zu „Pflichten der Leistungsfähigkeit" gewandelt, so gipfelt heute einerseits der Individualismus in der Idee der harmonischen ethischen Persönlichkeit, andererseits die soziale Richtung unserer Zeit in der Idee der brüderlichen Gemeinschaft aller Träger des Menschenantlitzes. Möglichste Vervollkommnung und Wohlfahrt des einzelnen als Mittel zur möglichsten Vervollkommnung und Wohlfahrt der ganzen Menschheit, das ist nunmehr der Zielpunkt alles sittlichen Strebens, und über ihm steht zwar nicht mehr ein ,,kategorischer", wohl aber der hypothetische Imperativ: Wenn du höchste Befriedigung deines tiefsten Sehnens erleben willst, so entwickle in dir solche Motive und Charaktereigenschaften zur größtmöglichen Vollendung, die nicht nur der allgemeinen Billigung sicher sind, sondern auch der Vollendung der sozialen Gemeinschaft dienen! Das ist der neue Begriff des „Sittlich-Guten“, wie ihn die sozialeudämonistische Entwicklungsethik auf Grundlage des allgemeinen Wohlfahrts- und Fortschrittsprinzips erarbeitet hat. Nicht die persönliche Lust, sei sie auch geistiger Art, nicht das, was man „Glück" nennt, ist dabei das eigentliche Ziel und Motiv des Handelns; aber sie werden auch völlig ausgeschaltet.

Ist Sittlichkeit, wie wir annehmen, das Endziel des menschlichen Willens zum Guten, wie sollte dann nicht das Erreichen oder doch die Annäherung an dies Ziel die höchstmögliche Willensbefriedigung mit sich bringen?

Sagte doch mit den Stoikern auch Spinoza:“-,Beatitudo non praemium virtutis, sed ipsa virtus." „Glücklicher Seelenfriede ist nicht der Lohn für persönliche Tüchtigkeit, sondern nur

ihre innere Seite", könnte man das für uns verdeutschen, oder mit Kantischem Ausdruck: Selbstzufriedenheit quillt aus der Achtung für uns selbst im Bewußtsein unserer sittlichen Freiheit. Jodl, dem ich diese Zitate verdanke, (a. e. 0. S. 268, 270) beschreibt diesen Zustand vortrefflich: „Sich innerlich dem anzupassen oder das in sich zu tragen, was man als den höchsten Wert erkennt; dem, wofür man allein verantwortlich gemacht werden kann, dem Willen, an dem zu arbeiten, was höchster Gegenstand aller menschlichen Bestrebungen ist, das muss nach psychischen Gesetzen von einem Glücksgefühl begleitet sein, welches gewiß nicht das intensivste ist dessen der Mensch fähig ist, aber mit den Vorzügen der Dauer und Stetigkeit auch den verbindet, daß es das einzige ist, dessen Erreichung nur von ihm abhängt. Dies ist die letzte und höchste Sanktion der Ethik, in welcher der humane und der individuelle Gesichtspunkt zusammenfallen.“ So schaff die neue Ethik, indem sie sich mit dem Grundgedanken der Selbsterziehung unter den Entwicklungsgedanken stellt, nicht nur den glücklichen, sondern auch den wertvollen Menschen. Sie kennt nur ein sich immer wandelndes relatives Gutes, weil die soziale Zweckmäßigkeit, an der sie es mißt, selbst mit den Jahrtausenden ein verschiedenes Antlitz zeigt. Sie baut auf den von Irrtümern des Verstandes, von Verirrungen des Gefühls zwar oft genug verdunkelten, aber doch unzerstörbaren Willen zum Guten in jeder Menschenbrust. Sie läßt sich die Fremdgesetzgebung der Autorität einzig als Erziehungsmittel für Unmündige zeitweilig gefallen, strebt aber unentwegt nach der Selbstgesetzgebung der Freiheit. Sie will nichts wissen von der Ohnmacht der \ verderbten menschlichen Natur, die nach Erlösung und Versöhnung wimmert, sondern vertraut auf die auch im Schwächsten noch lebendige Eigenkraft, deren glimmernder Docht durch Gemeinschaftshilfe noch immer wieder zu leuchtender und wärmender Glut angefacht werden kann. Sie sitzt nicht auf dem „alten Dünkel" des Wissens von Gut und Böse, sondern ließ sich durch Nietzsche aufstören mit dem Wort: „Was gut und böse ist, das weiß noch niemand, es sei denn der Schaffende", und macht Ernst mit der Forderung, daß der Mensch sich sein Ideal des Seinsollens selbst setze und schaffe.

Auf dieser unserer Erde soll ein Tempel erstehen, ein Tempel der Humanität, dessen Säulen Weisheit heißen: die Einsicht, gegründet auf Erkenntnis des eigenen Selbst und der Menschenbrüder, Stärke, die in kraftvollem Können die Herrschaft des Guten in der eigenen Brust und in der Welt verwirklicht, und Schönheit, die dem Gemüt in der Form des Sinnbildes das Fernbild harmonischer Vollkommenheit vor Augen stellt.

Das freimaurerische Ideal ist es, das die neue Ethik aus viel Schutt und Schlacken, die Jahrhunderte darüber gehäuft, wieder ans Tageslicht bringt. Wie sagte doch Findel? (Der freimaurerische Gedanke, S. 119) „Alle freimaureirschen Symbole, Handlungen und Lehren ruhen auf allgemeiner und reinmenschlicher Grundlage; sie stehen vom Lehrlingsgrad bis zum Meister- und Vollendungsgrad untereinander im engsten Zusammenhang und bilden ein festgeschlossenes, unschwer erkennbares System der autonomen Moral, humaner Erziehung und Anregung zu gemeinnütziger, auf das Prinzip der Wechselverpflichtung (Solidarität) gestellten Wirksamkeit, eine geistig-sittliche Harmonielehre in vollendeter