Kosmos: Nachdenken
Nachdenken
Intelligence du coeur
Mensch, werde wesentlich!
Reinhard Pusch
„Mensch, werde wesentlich!“ – Mit diesem Appell des MvSt und Kernsatz aus unserem Ritualschatz werden in uns Brüdern Bewusstseins-Ebenen angesprochen, die von Kopf-Intelligenz und Ratio bis hin zu Innenschau und geistigspirituellem Erleben reichen. Das ist die große Freiheit, die die Königliche Kunst uns eröffnet – die Freiheit unserer ganz individuellen Interpretation der Symbole, Wegwahl und Korrektur mit fortschreitender Arbeit am rauen Stein. Die Dramaturgie unserer Rituale – im Folgenden ausgehend vom Lehrlings-Ritual – wird von vielen Brüdern als Aufforderung verstanden, ihren „Geist“, verstanden als „Intellekt“, zu entfalten und nach einer Tempelarbeit mit „guter“ Zeichnung, „klüger“ hinauszugehen, als sie hineingegangen sind.
Vom Anfang meines Weges in und mit der Freimaurerei
seit 1982 bis heute bewegt mich die Frage: Wo wollen
mich Rituale und Symbole berühren und wo öffne ich
mich, um ihre Kraft segensreich auf mich wirken zu lassen?
Ein genaueres Hinschauen und Hinhören, zumal bei
der Aufnahme eines Suchenden – stimmte mich schon
relativ früh kritisch, wenn auch weiter durchaus offen
gegenüber einer moderaten Anwendung des Kopf-Ansatzes
ein. Intellektuelle Brillanz ist in unserer Konkurrenz-Gesellschaft
allemal faszinierender und gewinnbrin-gender
als die uns aus dem Alltageschehen herausführende Innenschau.
Dennoch – ob bei der Vorbereitung des Suchenden, bei
der festlichen Einleitung, bei der Werklehre vor Öffnung
der Loge oder bei der Aufnahmehandlung – immer wieder
wird die Aufmerksamkeit im Ritual auf unser Inneres
gerichtet:
„...was er sucht, vermag er nur in seinem Inneren
zu finden...“ und „...öffnen Sie nun weit Ihr Herz und
vernehmen Sie das Wort, das Sie in die Mitte des Tempels
führt:
Erkenne Dich selbst !
Folge ich dieser zentralen Aufforderung des Rituals und uralten Erkenntnis der Weisen, dann bin ich nicht auf den Kopf fokussiert, sondern auf unser zentrales Organ, das Herz!
Diese Ausrichtung setzt sich bei den Reisen fort, u.a. mit dem Hinweis des MvSt auf das Ziel der Maurerei, nämlich die innere Wandlung des Menschen. Auch die Spitze des Zirkels mit den drei Schlägen des MvSt wird sinnvollerweise nicht am Kopf, sondern auf der Brust angesetzt - „...dort, wo das Herz schlägt“. Wenn man dann noch erfährt, dass das amerikanische Institut „Heartmath“ die Existenz einer real existierenden “Gehirn-Zone“ im menschlichen Herzen entdeckt hat, das aus rd. 40 000 Zellen bestehen soll und dass von dieser auch der Herz-Rhythmus aktiviert wird, bevor beim Embryo das Hirn gebildet wird, schließt sich für mich der Kreis im Bild der Lebens-Spirale.
Er mündet in der von unserem MvSt aus Frankreich mitgebrachten „Metapher“ der „intelligence du coeur“, der Intelligenz des Herzens. Ihr ist nach meinem Verständnis der besondere Fokus unserer Rituale und auch Symbole gewidmet, sehr schön nachvollziehbar am Lehrlings-Ritual, das ja der Aufnahme in den Bund und Hinführung zu den Kernwahrheiten der Königlichen Kunst dienen soll. Diesem Fokus sollten wir Brüder uns sehr viel mehr öffnen, ohne allerdings unsere Kopf-Qualitäten zu vernachlässigen! Im Gegenteil sollten wir sie dienend – der Herzensintelligenz dienend – einsetzen und uns nicht in der Ratio erschöpfen.
Konkret: In der Ritual-Arbeit immer mal wieder ganz bewusst in unser Herz hinein horchen, wenn uns ein Symbol oder eine Symbol-Handlung besonders anspricht – wie fühlt sich das an, was sagt es mir? Und in Alltagssituationen ebenfalls innehalten – was will mein Kopf? Was sagt mir mein Herz? Und im Falle einer Entscheidung, wenn möglich, der Stimme des Herzens folgen … Aus all dem ergibt sich für mich: Das Herz – die Entfaltung unserer Herz-Qualitäten – wird in uns das Unschaubare schaubar machen, uns im Alltag mehr und mehr helfen und uns zu einem fertigen Baustein im Tempel der Humanität und weit darüber hinaus – im Sein – formen. Mensch, werde wesentlich …!
Aufklärererische Spiritualität?
Zur notwendigen Gleichzeitigkeit von Spiritualität und progressivem Denken in der Freimaurerei
Dieter Ney
Für den externen Beobachter erscheint die Freimaurerei
als ein Produkt von Geistesströmungen, die heute schwerlich
vereinbar sind, scheint sie doch in ihrer institutionellen
Gründungsphase ebenso sehr von esoterischen wie
auch von aufklärerischen Ideen bestimmt zu sein. Diese
Heterogenität prägt die Freimaurerei auch heute noch,
aber es wäre eher ein Kennzeichen der Schwäche der
Freimaurerei, wenn man versuchte, diese Heterogenität
zugunsten einer Seite aufzulösen, denn sie ist – als konstitutives
Element – gerade ihre Stärke.
Die Probleme fangen schon an, wenn man versucht zu bestimmen, was die Freimaurerei ist: Religion, emanzipatorische Bewegung, kritische politische Instanz, laizistische Spiritualität, ausgrenzender Geheimbund, elitistischer Zirkel? Angesichts der Tatsache, dass die Freimaurerei irgendwie eine ganze Reihe von Kriterien erfüllt, die all diesen Qualifizierungen Recht geben, wird eine eindeutige Antwort schwer.
Ein Blick auf die Zeit, in der die Freimaurerei sich institutionell entwickelt hat, kann einen guten Hinweis darauf geben, wie eine Antwort aussehen könnte. Im England des 18. Jahrhundert blickte man auf eine Zeit zurück, die zutiefst von politischen Konflikten geprägt war, die zumeist religiöse begründet wurden. Fragen des religiösen Bekenntnisses wurden entsprechend im Rückblick als radikale Bedrohung des Zusammenlebens empfunden, und im Geiste des englischen Pragmatismus legte sich die Lösung nahe, das soziale Konfliktpotential des Religiösen prinzipiell anzuerkennen, aber praktisch durch Ausschluss zu umgehen.
In diesem Sinne lassen sich manche Passagen der Andersonschen Alten Pflichten geradezu als weise Ratschläge interpretieren, die die Gemeinschaft gefährdenden religiösen und politischen Fragen einfach als Thema innerhalb der Logen zu verbieten. Im Lichte eines solchen Pragmatismus erscheint es geradezu natürlich, dass sich die Freimaurerei zu einer religiös unterbestimmten Spiritualität und Moralität entwickelte, gleichsam als friedensdienliche Schrumpfform der Religion und der Politik. Darin erinnert man sich des Spruches, der dem englischen Staatstheoretiker John Locke zugeordnet wird, nach dem der Mensch im Naturzustand dem anderen ein Wolf ist („homo homini lupus est“) und der Staat mit seinen Gesetzen diesem naturalen Kriegszustand entgegen zu wirken habe.
Gleichwohl ist diese These nicht ganz glaubwürdig, denn die zur Entwicklung und Verbreitung der freimaurerischen Ideen notwendige Leidenschaft lässt sich nur um den Preis der Unglaubwürdigkeit mit dem Programm der Mäßigung erklären. Die geschichtliche Kraft der Freimaurerei lässt sich viel einfacher verstehen, wenn man davon ausgeht, dass es ihr gelungen ist, Kräfte zu bündeln ohne sie in Konflikt miteinander zu bringen.
Die historische Konstellation zur Zeit der Institutionalisierung der Freimaurerei war nämlich beileibe nicht allein von der Erfahrung der politisch missbrauchten Religionskonflikte geprägt. Die Gruppen, die sich in den frühen „spekulativen“ (also nicht mehr allein den wirtschaftlichen Interessen der handwerklichen Bauwerker verbundenen) Logen einfanden, waren von sehr unterschiedlichen Leidenschaften geprägt.
Den Bauwerkern ging es wahrscheinlich darum, ihre
kulturellen Eigenarten bewahren zu können, ihre Traditionen
zu pflegen, dies in einer Zeit, in der sie ihre berufliche
Legitimation für ihre kulturelle Sonderrolle aufgrund
der geschichtlichen Entwicklung längst verloren hatten –
die gotischen Kathedralbauhütten waren eine verflossene
Tradition und die aktuellen kirchlichen Bauprojekte standen
spätestens seit der Renaissance unter der Aufsicht
von Bauingenieuren mit einem nicht mehr handwerklichen
Zugang.
Die zweite Gruppe der Menschen, die in die frühen Freimaurerlogen strebten, waren Adelige unter dem Einfluss der Renaissance. Nach dem Untergang des mittelalterlichen „ordo“, der ihre Rolle innerhalb einer gottgegebenen Gesellschaftsordnung bestimmte, fanden sie sich konfrontiert mit der Frage, worin ihre neue gesellschaftliche Stellung bestehen könnte, und sie fanden sie in dem vermeintlich antiken Konzept einer durch Bildung vermittelten privilegierten Selbstwerdung, die anderen sozialen Gruppen aufgrund ihrer ökonomischen Abhängigkeit nicht zugänglich war.
Das leitende Identifikationsobjekt der Adeligen waren die antiken Mysterienkulte, die ihnen die Abgrenzung gegenüber anderen sozialen Schichten in einer Zeit erlaubte, in der die gottgestiftete gesellschaftliche Position als Adelige zunehmend in Frage gestellt wurde. Inhaltlicher Kernbereich dieser antiken Mysterienkulte waren geometrische Überlegungen, die den Adeligen, wenngleich auch nur rudimentär, über ihr adeliges Bildungsprogramm bekannt waren. Andererseits galten die Nachfolger der mittelalterlichen Bauhütten als die letzten Bewahrer der geometrischen Geheimnisse der antiken Mysterienkulte, so lag es nahe, dass die Adeligen auf der Suche nach ihrer neuen Rolle in der Gesellschaft sich an die Maurerlogen wandten. Sie suchten in den Bauhütten die versprengten Reste einer geheimnisvollen geometrischen Weisheitslehre der Harmonie, die ihre gesellschaftliche Stellung neu legitimieren könnte, sozusagen als neuen weisheitlichen Geistesadel.
Die dritte Gruppe, die sich in den frühen Freimaurerlogen einfand, bestand aus Mitgliedern des aufstrebenden Bürgertums. Ihr Selbstbewusstsein speiste sich einerseits aus ihrem wirtschaftlichen Erfolg, andererseits aus den offensichtlichen Erfolgen der neuzeitlichen Wissenschaft, die sich in ihrem empirischen Zugang deutlich abgrenzte von der autoritätsbasierten mittelalterlichen Wissenschaft.
Dass viele bürgerliche Mitglieder von Freimaurerlogen der Neuzeit zugleich beim Aufbau wissenschaftlicher Gesellschaften wie der Royal Society engagiert waren, erstaunt nicht. Prägend war die Idee, dass die Kategorie der Tradition ihre Bedeutung verloren hatte, sowohl in wirtschaftlicher wie in wissenschaftlicher Hinsicht; was zählte, war der Erfolg.
Wenn jemand erkannt hatte, wie die naturwissenschaftlichen Gesetze funktionierten, dann spielte es keine Rolle mehr, welche gesellschaftliche Position er hatte. Im Umkehrschluss ergab sich, dass die gesellschaftliche Bedeutung nichts mehr mit irgendwelchen gottgegebenen Ordnungen zu tun hatte, sondern nur mit der Einsichtsfähigkeit des Einzelnen.
Dieses Paradigma wurde auch schnell auf den ökonomischen Bereich angewendet, mit der Konsequenz, dass das Bürgertum nun auch auf politischer Ebene zunehmend Ansprüche anmeldete. Diese Ansprüche aber konnten sich in einer feudalen Gesellschaft politisch nicht durchsetzen. Entsprechend suchten sich die bürgerlichen Gruppen einen vor staatlicher Kontrolle geschützten Raum, in dem sie sich ihrer neuen, gleichwohl politisch noch unterdrückten Rolle versichern konnten. Und die Bauhütten konnten ihnen einen solchen Raum aufgrund ihrer alten Privilegien bieten.
So erwiesen sich die Bauhütten in England aufgrund einer einmaligen historischen Konstellation zum idealen Ort einer Begegnung von Gruppen mit sehr unterschiedlichen Interessen. Je nach Kultur und Tradition entwickelten sich Freimaurereien in den verschiedenen Ländern sehr unterschiedlich. Die Kernidee der Freimaurerei, die Arbeit des Maurers an sich selbst, wird sehr verschieden interpretiert, mal im Sinne einer Spiritualität ohne enge Bindung an institutionalisierte Religion, mal im Sinne eines an den Werten der Aufklärung orientierten persönlichen Weges, der auch Effekte auf das Selbstverständnis als Bürger in einer Gesellschaft hat, mit entsprechenden politischen Wirkungen; gelegentlich treten Großlogen sogar mit politischen Forderungen in der Gesellschaft auf. Institutionell führte diese ursprüngliche Heterogenität zur Ausprägung von Großlogen mit ausgeprägten Profilen (so in Frankreich und Belgien), in anderen Ländern, in denen vor allem eine zahlenmäßig dominante Großloge existiert, die die Anerkennung der United Grandlodge of England genießt, sind die unterschiedlichen Strömungen in zumeist gemäßigter Form innerhalb einer Großloge zu finden (so in Deutschland und Österreich).
Die vor allem in großen Ballungsräumen anzutreffende Tendenz zu scharfer Profilierung – sowohl auf Großlogen- wie auf Logenebene – mag Vorteile bringen (insbesondere für Menschen, die auf der Suche nach ihrem Platz in der Freimaurerei sind und ihre Entscheidung für eine bestimmte Großloge oder Loge an einer Programmatik festmachen), sie führt aber auch dazu, dass die ursprüngliche innere Vielfalt immer weniger innerhalb einer Loge stattfindet, sondern sich verlagert in programmatisch sich voneinander abgrenzenden freimaurerischen Profilen der Logen und Großlogen, eine Tendenz, die die Universalität der freimaurerischen Idee zunehmend in Frage stellt zugunsten von Gesinnungsgruppen, in denen sich eh nur Menschen treffen, die sich weitestgehend schon einig sind.
Freimaurerlogen sind Arbeitsräume, in denen die Menschen sich der Arbeit an sich selbst widmen wollen und sollen. Diese Selbstentwicklung ist im initiatorischen Weg der Freimaurerei bewusst tief eingebettet in einen heterogenen sozialen Raum mit konfligierenden Interessen der unterschiedlichen beteiligten Personen. Dies soll vermeiden, dass die Selbstbildung zu einer egoistischen Selbstfindung degeneriert.
So war es schon in der Gründungsphase der institutionellen Freimaurerei im England des 18. Jahrhunderts. Das Nebeneinander von Spiritualität und gesellschaftlichem Aufklärertum in den Logen führte und führt hoffentlich weiterhin zu einem fruchtbaren Austausch zwischen freimaurerisch arbeitenden Menschen, zu dessen Förderung sich die frühe Freimaurerei in Form der Alten Pflichten einfache Regeln gegeben hat, die die Destruktivität des Heterogenen mildern sollte.
Nur wenn die Vielfalt in jeder Loge sichtbar ist, wird sie sich das Feuer bewahren, das ihre Stärke ausmacht. Der schwierige Begriff einer aufklärererischen Spiritualität, der offensichtlich Unvereinbares zu enthalten scheint, sollte weiterhin das Programm der Freimaurerei bleiben.