Rezension: Peter J. Gowin – Unbekannte Motive der Freimaurerei
Ein masonischer Spaziergang in die Ferne
Gelesen von Rudi Rabe.
Abgesehen vom Christentum, „mit dem die Freimaurerei in philosophischer und organisatorischer Hinsicht innig verknüpft ist“, ist der Konfuzianismus „die religiös-philosophische Schule von Weltgeltung, welche die größte inhaltliche Verwandtschaft mit der Freimaurerei aufweist.“ Der Konfuzianismus „enthält sich im Großen und Ganzen jeglicher dogmatischen Aussage über letzte Dinge und ist primär Ethik, Staatstheorie und Moraltheorie, mit einem starken Hang zur Praxis. Insbesondere wird Moral nicht auf die Autorität eines höheren Wesens und damit auf das Transzendente zurückgeführt.“ „In seiner Hinwendung zur diesseitigen Welt und zu praktischen Lebensregeln kann Konfuzius für die Freimaurerei als Bezugspunkt dienen, indem beide die Persönlichkeitsentwicklung im diesseitigen Leben betonen. Trotz dieser Parallele ist ... erst selten eine Verbindung zwischen Freimaurerei und Konfuzianismus gezogen worden.“
Durch diesen Buchausschnitt wird klar, worum es geht: Zwar ist die Freimaurerei ein Produkt des christlich-abendländischen Europa und auch Amerikas; das heißt aber nicht, dass ihre „Motive“ – vereinfacht: ihre Leitgedanken – keine Entsprechung in anderen historischen oder gegenwärtigen Kulturen haben.
Damit beschäftigt sich Peter Gowin auf kompakt geschriebenen 70 Seiten: Wo liegen diese Entsprechungen zu anderen Kulturen? Wo liegen sie in der Frühgeschichte? Wo in den Hochkulturen des Zweistromlandes, Ägyptens und Griechenlands? Wo im Alten Testament? Und wo in den fernöstlichen Religionen? Angesichts der Konjunktur, die asiatische Weisheit und Spiritualität seit einiger Zeit im Westen genießt, finde ich persönlich letzteres besonders interessant: siehe oben.
Womit ich keineswegs sagen will, dass die anderen „Motive“ uninteressant wären; die vielen anderen Analogien, welche der Autor auf der Grundlage einer unglaublichen Belesenheit zutage fördert. Daher zur Abrundung zwei Beispiele aus dem alten Griechenland und dem alten Ägypten.
Odysseus: „In der Odyssee ... wird erstmals ein neuer Heldentypus sichtbar, und das Motiv des Intelligenz-Helden entsteht. Odysseus ist – herausgearbeitet als Kontrast zu Achilles – der erste Intelligenz-Held, indem er nicht durch Ehre, Kampf und Adel glänzt, sondern durch seinen wachen Geist und seine Pfiffigkeit.“ „Odysseus unterscheidet sich also vor allem hinsichtlich der bewussten Autonomie seiner Handlungen und ist in dieser Beziehung auch für die Freimaurerei relevant, als Vorbild eines autonom und bewusst handelnden Ich.“
Isis und Osiris: Der eifersüchtige Seth ermordet und zerstückelt Osiris. Isis sucht und findet die Einzelteile, setzt sie zusammen und zeugt mit diesen ihren Sohn Horus. Für die Freimaurerei sind „die folgenden Motive relevant: das Motiv von Tod und Wiedergeburt des Osiris, das häufig für Initiationen verwendet wird; das Motiv der Suche der Isis (im Sinne einer Versinnbildlichung der freimaurerischen Suche); und das Motiv des Horus als Sohn einer Witwe. Auch das Motiv des rituellen Zwiegesprächs, das sich bis heute ... in der Freimaurerei gehalten hat, stammt (möglicherweise) aus diesem ... Mythos.“
Peter Gowins „Unbekannte Motive der Freimaurerei“ (2013) ist eine Fortsetzung seines Buches „Freimaurerei und Persönlichkeitsentwicklung“ (2011). Beide erschienen im Verlag der Sigmund-Freud-Privatuniversität in Wien. Der Autor ist Philosoph, promovierter Naturwissenschaftler und promovierter Psychotherapiewissenschaftler.
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