Rezension: Peter J. Gowin - Freimaurerei und Persönlichkeitsentwicklung

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Neue Forschungspfade

Vorweg: Dieses Buch ist nicht ganz leicht zu lesen. Aber es bietet Gewinn: Auf der Suche nach dem Wesen der Freimaurerei meidet Peter Gowin ausgetretene Trampelpfade. Er geht lieber Wege, die bisher wenig beschritten wurden. Rudi Rabe hat das Buch gelesen.

"Ich erforsche mich selbst" (Heraklit)

Man stelle sich ein großes Ölbild vor, auf dem die Freimaurerei dargestellt wird: ihre Symbole, ihre Rituale, ihre Leitgedanken und ihre gelebten Praxis. Das Tableau wurde schon oft gedeutet, aber immer wieder von denselben Experten: vor allem Kunstgeschichtler, Soziologen und so.

Eines Tages sammelt sich eine andere Gruppe vor dem Gemälde: ein Philosoph mit Kenntnissen in Religionswissenschaft, ein Psychologe mit Schwerpunkt Psychotherapie und ein Kulturwissenschaftler mit einem breiten Horizont. Und jeder analysiert es nun nach den Regeln seiner besonderen Zunft. Es liegt auf der Hand, dass die veränderten Herangehensweisen zu neuen Einsichten führen, die nicht im Vordergrund der üblichen Freimaurerforschung stehen.

Genau das ist die Methodik, die Peter Gowin anwendet: ein studierter „Philosoph, promovierter Naturwissenschaftler und promovierter Psychotherapiewissenschaftler“. In diesem Buch lässt er die vielfältigen Ergebnisse seiner Studien Revue passieren, wobei er zwei Forschungslücken identifiziert.

Forschungslücke 1: Was leisten die ‚Motive’ der Freimaurerei?

Mit dem Wort ‚Motive’ meint der Autor so etwas wie die ‚Leitgedanken’, ‚Mythen’ oder ‚Erzählungen’, die in der Freimaurerei wichtig sind. Etwa: ‚Suche’, ‚Initiation’ oder ‚Tempelbau’. „Während zu freimaurerischen Symbolen durchaus Literatur vorliegt, ist das Studium von Motiven ... weniger weit fortgeschritten.“ Kein Wunder: Symbole wie der Zirkel oder das Winkelmaß sind gegenständlich-manifest, während etwa das Motiv ‚Tod und Wiederbelebung’ ein viel schwerer fassbares mythisches Handlungselement ist. Oder ganz banal: Manche Freimaurer sammeln Zirkel, aber kaum jemand ‚Mythologeme’.

Forschungslücke 2: Wie wirkt die Arbeit am rauen Stein?

Die zweite Forschungslücke betrifft die Persönlichkeitsentwicklung durch Teilnahme an den Logenarbeiten. Ausgerechnet! ... So könnte man sagen, ist doch die Persönlichkeitsentwicklung „zwar allgemein in Verbindung mit Freimaurerei ein häufig benannter Begriff, die wissenschaftliche Erforschung dieses Zusammenhangs spiegelt dies aber nicht wieder.“ Der berühmte ‚raue Stein’ liegt also für die Wissenschaft eher unbeachtet herum; Peter Gowin nimmt ihn in die Hand.

Bevor Peter Gowin versucht, diese Lücken zu schließen, führt er uns durch zwei ‚vorbereitende Seminare’ über einschlägige Teilthemen aus der Philosophie, der Tiefenpsychologie und der Mythologie. Daraus zwei Splitter:

Minimale Transzendenz und alte Utopien

Auch wenn die Freimaurerei keine Religion ist, sorgt die Vorstellung vom ‚Großen Baumeister aller Welten’ für eine „Minimale Verankerung im Transzendenten“, und das obwohl der Baumeister-Begriff völlig unbestimmt ist, ja sogar deswegen: Gerade die „inhaltliche Indeterminiertheit des ‚Großen Baumeisters aller Welten’ rechtfertigt es, von einer ‚Minimalen Verankerung im Transzendenten’ zu sprechen.“ Jedoch: „Die Freimaurerei ist damit zwar im Transzendenten begründet und bezieht ihren Wahrheitsanspruch von dort, sie ist aber darüber hinaus offen.“

Und im Unterkapitel ‚Geschichtsphilosophie’ platziert der Autor die berühmten ‚Alten Pflichten’ dort, wo sie wohl hin gehören: in eine überholte Zeitbedingtheit. Außerdem seien sie „wenig reflektiert und bewegen sich auf einer sehr simplen Argumentationsstufe. Dem Wesen der Freimaurerei näher und eine ihrer Quellen ist ein allgemeiner, auf das weltliche Diesseits gerichtete Fortschrittsglaube, wie er in den rituellen Aufforderungen ‚Menschlichkeit ... im der Welt walten zu lassen’ und einen ‚Tempel der allgemeinen Menschenliebe’ zu errichten ausgedrückt ist. Die Freimaurerei steht in dieser Hinsicht in einer Reihe von Utopien, die mit Platons Idealstaat beginnt.“

Zu 1: Sechs ausgewählte Motive

Entsprechend der ersten Forschungslücke, die Peter Gowin ausgemacht hat, beschäftigt er sich in einem der zentralen Kapitel des Buches ausführlich mit sechs ausgewählten ‚Motiven’ der Freimaurerei: Initiation, Tubalkain (Freimaurerei und Metallurgie), ‚Söhne der Witwe’, der Salomonische Tempel, die ‚Suche’ und die Creatio ex Nihilo. Zwei Beispiele:

‚Initiation’: Der Freimaurer erlebt das zweimal, einmal bei der Aufnahme und einmal bei der Erhebung zum Meister (nicht bei der Beförderung zum Gesellen). Bei genauer Betrachtung stellt sich aber „heraus, dass in ethnologischer und religionsphänomenologischer Hinsicht wesentliche Motive ... nicht präsent sind, dass es sich also nur um eher rudimentär ausgestaltete Initiationen handelt.“

‚Suche’: Das ist ein ganz wichtiges Motiv der Freimaurerei, wissenschaftlich am besten als Persönlichkeitsentwicklung mit offenem Ziel bezeichnet. „Bemerkenswert ist, dass eine Suche in den meisten Initiationsriten und Mysterienkulten als zentrales Motiv“ auftaucht. Beispiele: „Isis sucht Osiris, Demeter sucht Persephone, Orpheus sucht Eurydike, Parzival sucht ein Geheimnis und Faust sucht und strebt sein Leben lang.“

Zu 2: Drei Dimensionen zur Persönlichkeitsentwicklung

Das zweite zentrale Kapitel beschäftigt sich mit der Persönlichkeitsentwicklung: Diese ist das Fazit der Freimaurerei. Sie bedarf dreier Dimensionen: einer rationalen, einer spirituellen und einer sozialen.

Erstens die rationale Dimension: Nachdenken und Reflexion über sich selbst, über existenzielle Themen, etwa den Tod und den Sinn des Lebens. „Darin ist die Freimaurerei der Aufklärung verpflichtet.“ Gowin weißt aber auch darauf hin, "dass eine Interpretation der Freimaurerei, die sich ausschließlich auf das aufklärerische Erbe stützt und die in der Freimaurerei lediglich einen Weg zum konsequenten Einsatz der Vernunft sehen will, wesentlich zu kurz greift: Sie ignoriert die beiden anderen Dimensionen und deren Wirkungen, die mindestens ebenso wichtig sind.“

Zweitens die spirituelle Dimension: Diese „wirkt im wesentlichen durch die Teilnahme am Ritual und durch die ... Einzelsymbole und Motive.“ Das Ritual wirkt über ‚Monotonie’ und über das ‚Geheimnis’. Es ist geprägt durch einen „Verweis auf Transzendentes und ihre prinzipielle Offenheit der Interpretation.“ Auf die Psychologie von C.G. Jung zurückgreifend schreibt Gowin: „Die rituellen Handlungen sind dabei Ausdruck von über-individuellen, transpersonalen Kräften, die im Individuum als Archetypen präsent sind, und die sich in konkreten Ritual manifestieren.“ Damit werde die Außenwelt „besser ‚handhabbar’ und damit interpretierbar.“ Was letztlich mehr Lebenssinn erzeuge. Und: „Ohne diese innere Valenz wäre wahrscheinlich die Freimaurerei heute nicht mehr vorhanden“, zitiert der Autor den bekannten Freimaurerforscher Helmut Reinalter aus dessen Buch ‚Die Freimaurer’.

Verwandtschaft mit der Gruppenpsychotherapie

Drittens die soziale Dimension: Hier sieht Gowin eine Verwandtschaft mit der Gruppenpsychotherapie, besonders „hinsichtlich der äußeren Determinanten wie Regelmäßigkeit, Gruppengröße, Anwesenheit und Frequenz.“ „Eine Freimaurerei des Einzelnen, das heißt, ein Erleben der Freimaurerei ohne den Kontext der Loge, ist prinzipiell unmöglich.“

Besonders wichtig: das sogenannte ‚Geheimnis’: „Es ist wahrscheinlich, dass die Logen als Gruppen heute weit weniger stabil wären… gäbe es das ‚Geheimnis’ als zentralen Legitimationsfaktor nicht, ... und die allgemeine Vermutung, es handle sich primär um einen Schutzmechanismus in Zeiten politischer Verfolgung, ist irrig und muss nicht nur aus Sicht der Psychotherapiewissenschaft, sondern sogar aus der Sicht der Geschichtswissenschaft korrigiert werden.“

Aber es lauern Gemütlichkeit und Faulheit

Alle diese schönen Wirkungen sind aber letztlich nur Angebote der Freimaurerei. Und so weist Gowin gegen Ende seines Buches auch auf die Gefahr regressiver Tendenzen hin: „Eine ... Gefahr für die Persönlichkeitsentwicklung liegt gerade in der Sicherheit und der ‚Gemütlichkeit’ einer intakten Loge. Sie besteht im Nachlassen des Handlungsimpulses, in freimaurerischer Terminologie der ‚Suche’, indem der Einzelne die Gruppe als gruppendynamisch gesicherten Rückzugspunkt für Inaktivität nutzt.“

Und schließlich warnt er, vor der „Begeisterung am eigenen, mit der Mitgliedschaft erworbenen und nun nicht mehr zu hinterfragenden Gut-Sein.“ Und vor einer einseitigen „Identifikation mit dem Hellen, Wahren, Guten und Schönen, während zumindest aus der Sicht der Analytischen Psychologie für Individuation auch die Anerkennung und Integration des persönlichen ‚Schattens’ erstrebenswert wäre.“


Peter J. Gowin, ‚Freimaurerei und Persönlichkeitsentwicklung’, Sigmund-Freund-Privatuniversität Verlag, Wien 2012. Das Buch ist eine überarbeitete und ergänzte Fassung einer Dissertation im Fach Psychotherapie-Wissenschaft. Als Derivat aus dieser Dissertation verfasste der Autor 2013 noch ein zweites Buch: Unbekannte Motive der Freimaurerei

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