Traktat: Die Farbe Blau
Ein Exkurs über die Heilige Farbe des Tempels
Warum ist Blau die Leitfarbe der Johannis-Freimaurerei? – Wer sich im maurerischen Schrifttum auf die Suche nach Quellen zu dieser Frage begibt, findet bald eine Reihe interessanter Hinweise, aber kaum wahrhaft befriedigende Antworten. In der „Symbolik der Mysterienbünde“ von August Horneffer (1924) heißt es zwar: Dem Freimaurer ist die blaue Farbe die heiligste.`` Aber auch: Warum haben die Freimaurer die blaue Farbe gewählt? Historisch lässt sich wenig Sicheres darüber ermitteln. In der Tat: Aus 1346 datiert die erste urkundliche Erwähnung des blauen Bandes, an welchem der englische Hosenbandorden getragen wurde; auch der dänische Elefantenorden von 1458 wurde unter der Bezeichnung „das Blaue Band“ bekannt. Wir wissen, dass das Zunftwappen der englischen Bauhütten einen blauen Grund hatte und dass im Jahre 1745 Himmelblau, Hellblau, Azur- oder Cyanblau als Grundfarbe der Johannismaurerei festgelegt wurde.
Aber warum?
Selbst die in derartigen Fragen im Allgemeinen recht verlässliche Internetseite freimaurerei.de der „Alten Freien und Angenommenen Maurer von Deutschland“ antwortet in ihrer öffentlich zugänglichen Liste häufig gestellter Fragen ziemlich ausweichend: Das alles gibt keine Antwort auf das Warum. Man hat sogar den Eindruck, dass die Farben einfach zur Unterscheidung und nicht im Hinblick auf eine Symbolik gewählt wurden (...).
Dennoch: Warum?
Die maurerische Symbolik und Tradition ist voller machtvoller, überzeugender Bezüge auf die Thora, das Alte Testament – etwa im Zusammenhang mit der Bauhütte, deren Grundriss und Aufbau bewusst an den biblischen Tempel zu Jerusalem gemahnt, und mit Hiram-Abif, dem Baumeister des Tempels und legendären Gründervater des Bundes. Auch die Säulen B und J erinnern an den Tempel der Hebräer:
(1Kö 7,21) Und er richtete die Säulen auf beim Vorraum zur Tempelhalle; und er richtete die rechte Säule auf und gab ihr den Namen Jachin, und er richtete die linke Säule auf und gab ihr den Namen Boas.
War die Antwort auf die Frage nach dem Warum, nach der tieferen Bedeutung der Farbe Blau in der Freimaurerei, womöglich nicht in freimaurerischen Bibliotheken, sondern in rabbinischen Studierstuben zu finden? Immerhin gelten diese als zuverlässige Quelle des alten Wissens über den Tempel zu Jerusalem und seinen Bau. Also lag es nahe, die Untersuchungen mit einem Studium der Hebräischen Bibel fortzusetzen, der Einfachheit halber anfangs unter Zuhilfenahme einer deutschen Übersetzung. Allein – das Resultat der ersten Durchsicht war entmutigend. Das Wort „Blau“ kam dort schlicht nicht vor. Wie war das möglich? Ist nicht Blau die Wappenfarbe des Staates Israel? Trägt nicht jeder gläubige Jude zum Gebet im Tempel einen weißen Umhang oder Schal (tallith) mit blauen Streifen an den Rändern? Kannte die vorliegende Bibelausgabe womöglich bloß aufgrund einer irreführenden Übersetzung kein „Blau“?
Die protestantische Schlachter-Bibel in der revidierten Ausgabe („Schlachter 2000“) erwies sich da als wesentlich ergiebiger. Das Wort „Blau“ erscheint hier gleich mehrere Dutzend Male, vor allem im Zusammenhang mit der Ausstattung des Stiftszeltes, dem nomadisch-transportablen Vorläufer des Tempels (Buch Exodus) und mit dem Bau des ersten Tempels zu Jerusalem vor rund dreitausend Jahren (2. Buch der Chronik, hier zitiert aus einem Sendschreiben des Hiram, König von Tyrus, an Salomon, König Israels):
(2Chr 2,13) So sende ich nun einen weisen und verständigen Mann, Huram Avi (oder: Hiram Abif); er ist der Sohn einer Frau aus den Töchtern Dans, und sein Vater war aus Tyrus. Der weiß mit Gold, Silber, Erz, Eisen, Stein und Holz, mit rotem und blauem Purpur, mit feinem Leinen und mit Karmesin zu arbeiten und versteht alle Arten von Schnitzwerk und weiß jedes Kunstwerk, das ihm aufgegeben wird, auszuführen mit Hilfe deiner Meister und der Meister meines Herrn David, deines Vaters.
Fast alle biblischen Erwähnungen der Farbe Blau nennen Purpur („roter und blauer Purpur“) im Zusammenhang mit Karmesin. Ein großer Teil dieser Textstellen bezieht sich auf die Fertigung des Scheidevorhangs im Tempel, der das Heilige vom Allerheiligsten trennte. Im hebräischen Urtext lautet die Formel t’chèlet ve-argamàn va-karmil. Diese drei Begriffe beschreiben – auch heute noch, im modernhebräischen Sprachgebrauch – die drei Farben Himmelblau, Purpur und Karmesinrot. Ursprünglich sind sie jedoch untrennbar mit den beiden Rohstoffen verbunden, aus denen sie gewonnen wurden: Die Kermes-Schildlaus, aus der bereits seit der Eisenzeit das Karmesin, ein leuchtend blutroter Farbstoff, hergestellt werden konnte, und die Purpurschnecke (murex trunculus, hebr. chilazón). Letztere enthält eine Drüse, deren gelblich-milchiges Sekret sich – auf Wolle aufgetragen und im Sonnenlicht – je nach Intensität der verfügbaren Einstrahlung himmelblau, rötlichblau oder tiefviolett verfärbt.
„Himmelblau“ meint in diesem Zusammenhang im übrigen nicht das bläßlich-helle Azur, das wir in Mitteleuropa meist erblicken, wenn wir im Freien nach oben sehen, sondern wohl eher das satte, dunkle Königsblau des Himmels über dem östlichen Mittelmeer.
Und in diesem übertragenen Sinne steht Blau nun auch gleich im ersten Satz der Bibel: B’reshit barà elohim et hashamàyim v’et haàretz. „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde“ – gleichwie der erste Blick in die Weite, den jedes Neugeborene auf dieser Erde tut, seinen Geist mit der grenzenlose Weite des Himmels – oder auch des Meeres – zurückverbindet. So scheint es kaum verwunderlich, dass Blau in zahlreichen Weltkulturen für Freiheit, Entgrenzung, Ferne, Transzendenz, Ideal, Mäßigung der Leidenschaften, Ausgleichung, Entspannung, Harmonie, Freundschaft, Treue und viele andere Tugenden steht, die im übrigen allesamt der Freimaurerei wohl anstehen. Wir sehen Blau gerne an, nicht weil es auf uns dringt, sondern weil es uns nach sich zieht, bemerkt Goethe in seiner Farbenlehre. An anderer Stelle ibid. nennt er es ein reizendes Nichts. Bis heute führt Blau bei jeder nationalen oder internationalen Umfrage nach der Lieblingsfarbe der Menschen – mit bis zu 45 Prozent