Traktat: Axel Pohlmann: Ein friedfertiger Untertan?
Ein friedfertiger Untertan? Freimaurerei und Politik
Publiziert 28. September 2015 | Von Axel Pohlmann
1723, sechs Jahre nach der Gründung der ersten Großloge, erschien in London eine Druckschrift „Die Verfassungen der Freimaurer, enthaltend die Geschichte, Pflichten, Regeln etc. jener höchst alten und sehr ehrwürdigen Bruderschaft“.
Der zweite Teil besteht aus den „Charges of a Free-Mason“, den „Pflichten des Freimaurers“; er enthält Verhaltensmaßregeln für den Freimaurer, die noch heute im Wesentlichen für uns gelten, und die, über Benimmregeln weit hinaus, auch einiges zur freimaurerischen Ideologie enthalten, wenn auch nicht alles.
Nach dem ersten Abschnitt „Von Gott und der Religion“ folgt der Abschnitt „Von der höchsten und der nachgeordneten staatlichen Obrigkeit“.
„Der Maurer ist ein friedfertiger Untertan der staatlichen Gewalt, wo er auch wohnt und arbeitet, und darf sich nie an Verschwörungen gegen den Frieden und die Wohlfahrt der Nation beteiligen, noch sich pflichtwidrig gegen nachgeordnete Obrigkeiten verhalten. Denn da die Maurerei schon immer durch Krieg, Blutvergießen und Wirren Schaden litt, waren von alters her Könige und Fürsten sehr geneigt, die Zunftgenossen wegen ihrer Friedfertigkeit und Treue zu ermuntern, wodurch sie die Schmähungen ihrer Gegner durch die Tat beantworteten und die Ehre der Bruderschaft förderten, die stets in Friedenszeiten blühte. So dass, sollte ein Bruder zum Rebellen gegen den Staat werden, er in seiner Rebellion nicht unterstützt werden darf, obgleich er als unglücklicher Mensch zu bemitleiden ist. Obwohl die treue Bruderschaft seine Rebellion missbilligen muss und der jeweiligen Regierung keinen Anlass zu politischem Argwohn geben darf, so darf sie ihn doch, wenn er keines anderen Verbrechens überführt ist, nicht aus der Loge ausschließen, und sein Verhältnis zu ihr bleibt unantastbar.“
In einem weiteren Abschnitt geht es um das Verhalten in den Logenräumen, wenn die eigentliche Zeremonie vorbei ist, die Brüder aber noch zusammen sitzen. Ich zitiere daraus.
„Ihr dürft nichts tun oder sagen, was beleidigend ist oder was sonst eine ungezwungene Unterhaltung verhindern könnte, denn das würde unsere Harmonie zerstören und unsere löblichen Absichten vereiteln. Deshalb dürfen keine privaten Streitigkeiten in die Loge getragen werden, noch viel weniger Streitigkeiten über Religion, Nationen oder Staatsverwaltung… Denn wir gehören allen Nationen, Stämmen und Sprachen an, und wenden uns entschieden gegen jedes Politisieren, das noch nie zur Wohlfahrt der Loge gereichte und nie gereichen wird…“
Im Original steht hier „quarrels about state policy“ und sodann „against all politicks“. Die Historikerin Margaret Jacob erläutert dazu: „Wenn sie von ‚politics‘ spricht, so meint die freimaurerische Konstitution die Parteipolitik, das Wüten der Partei, wie es durch die Schaffung einer neuen politischen Nation entstand, als Ergebnis der Revolution von 1688/89. Politik war der Kampf um die Macht zwischen Whigs und Tories, zwischen Hof und Land, sogar zwischen Jakobiten und Hannoverianern, im Kontext eines verfassungsmäßig geschützten Systems von Parlamentswahlen, zu denen etwa 1/5 der männlichen Bevölkerung wahlberechtigt war.“
Also: kein Parteienstreit in der Loge; friedfertige Untertanen; denn die Harmonie ihrer Gemeinschaft und ihre Grundbedingung, die Ordnung, stehen für Freimaurer an der ersten Stelle.
Die Freimaurerlogen waren damals wie heute nicht allein in ihrer Einstellung zum Parteienstreit. Auch andere Vereinigungen, deren Hauptanliegen es ist, Menschen aus verschiedenen sozialen Schichten zusammenzubringen, wie etwa die Service-Clubs – Rotarier, Lions usw. - sehen zu, das Zündmaterial zu vermeiden, das in den individuellen Ansichten der Mitglieder über Religion und Politik unweigerlich steckt.
Merkwürdig ist ja der oben zitierte Passus – der Rebell gegen den Staat darf zwar nicht unterstützt werden, aber er darf auch – wenn er kein Mörder und Brandstifter ist – nicht aus der Loge entfernt werden, nur weil er ein Rebell ist. Das war stets Wasser auf die Mühlen der Verschwörungstheoretiker – eine Freimaurerei, die Revolutionäre in Schutz nimmt, muss eine Freimaurerei sein, die sich selbst die Revolution auf die Fahnen geschrieben hat. Der Schluss ist offensichtlich falsch. Immerhin: dies sowie der Bezug auf die „derzeitige“ Regierung zeigen vielleicht an, dass unsere Freimaurer-Vorväter von der Festigkeit der Institutionen nicht sehr überzeugt waren. Übrigens stand der Rebellen- Passus noch in den Neubearbeitungen der „Alten Pflichten“ im 18. Jahrhundert und verschwand am Beginn des 19. im Bereich der englischen Großloge.
Eigentlich wären wir ja da schon mit unserem Thema durch – keine Politik in den Logen, fertig.
Allerdings scheint das starke Engagement vieler Freimaurer in der Politik im Gegensatz zu den Vorsätzen unserer Gründungsväter – Enthaltung von politischen Auseinandersetzungen – zu stehen.
Gleich am Beginn steht ein Mann wie Sir Robert Walpole, der 21 Jahre lang, gerade in der Zeit der Entstehung der ersten Großloge in England, von 1721-1742, als erster wirklicher Premierminister die britische Regierung unter den ersten beiden Hannover-Königen leitete, Führer der Whigs, ein Friedenspolitiker, der den Aufschwung der Wirtschaft, der Industrie und des Überseehandels sicherte. Er war Freimaurer; in seinem Haus wurde 1731 Franz von Lothringen, der spätere deutsche Kaiser und Mann der Maria Theresia, mit der Freimaurerei bekannt gemacht und entweder dort oder in einer Loge im Haag aufgenommen.
Den preußischen Kronprinzen, den späteren König Friedrich II. den Großen nahm 1738 eine Abordnung der Hamburger Loge auf, die später den Namen „Absalom zu den drei Nesseln“ annahm und als Nr. 1 auch heute noch in unserer Großlogenmatrikel steht. Natürlich war diese Aufnahme ebenso wie die vorangegangene des Franz von Lothringen gewissermaßen ein Public-Relations-Coup – obwohl die Freimaurerei eigentlich eine bürgerliche Anstalt ist, kamen Adelige, ja regierende Fürstenhäuser in großer Anzahl zur Freimaurerei.
Wie vielgestaltig die Freimaurerei war und wie wenig sie sich deshalb in Wirklichkeit zum Substrat von Verschwörungstheorien eignet, sieht man schon daran, dass Kaisern und Königen auf der einen Seite Männer wie die französischen Revolutionäre der ersten Stunde Lafayette, Mirabeau, Sieyès, Marat gegenüber standen, auch sie Freimaurer.
Der 1848er-Revolutionär Robert Blum, in Wien hingerichtet („erschossen wie Robert Blum“, pflegte mein Großvater bei Erschöpfung zu sagen) war Freimaurer, aber ebenso Wilhelm I., der „Kartätschenprinz“ von 1848, der auf die Berliner Revolutionäre schießen ließ, späterer König und Kaiser.
Freimaurer war ein ursprünglich nationalistischer Politiker wie Gustav Stresemann, der sich zum Befürworter des Völkerbundes wandelte, aber auch ein Helfer der NS-Regierung wie Hjalmar Schacht. In der Neuzeit: Salvador Allende und sein Widersacher Augusto Pinochet.
Ein Blick auf unsere Loge Zur alten Linde: Bis zum I. Weltkrieg versammelte unsere Loge einen großen Teil der Honoratioren des städtischen Bürgertums in ihren Reihen, die zugleich die Stadt regierten – wie ein spitzzüngiger Journalist bemerkte: in einem maßvollen Ausgleich eigener und städtischer Interessen. Der Volksmund behauptete vor 1918, die Auswahl der Stadtverordneten erfolge „in der Gesellschaft Casino, in der Loge und in der Weinwirtschaft von Stade“. Etwa ein Zehntel der 653 Brüder, die zwischen 1855 und 1915 aufgenommen wurden, versah öffentliche Ämter. Dazu gehörten 38 Stadtverordnete, 24 unbesoldete Stadträte und Beigeordnete, ein Landtags- und ein Reichstagsmitglied. Auch in den 1920er Jahren gab es politisch tätige Brüder, allerdings wenige. Nach der Wiedergründung der Loge 1947 gab es u.a. drei Mitglieder des Bundestags, die drei verschiedenen Parteien angehörten.
Es sind einzelne Brüder, die sich positiv oder negativ hervorgetan haben – und das in durchaus gegensätzlichen politischen Ansätzen, was zeigt, dass es entgegen allen Verschwörungstheorien keine gemeinsamen politischen Ziele innerhalb der Logenorganisationen gibt. Selten ist das Engagement ganzer Logen oder Großlogen in der Politik, es begegnete uns gelegentlich in Italien und Frankreich, wurde aber von den übrigen Großlogen der ganzen Welt missbilligt.
Allerdings bieten die Freimaurerlogen im 18. Jahrhundert bis zur französischen Revolution als beinahe einzige Organisationsform des Bürgertums, später mit anderen Assoziationen, natürlich einen „geschützten Innenraum“ zum Austausch von Meinungen und Informationen – einen Innenraum, der noch stets Menschen faszinierte oder abstieß, die dazu keinen Zugang haben.
Noch einmal ein kleiner Umweg: Freimaurerei ist nicht Religion, will kein Religionsersatz sein, und dennoch führt sie den „Großen Baumeister aller Welten“ als Symbol, hat ein Vokabular mit religiösen Begrifflichkeiten, wie „Tempel“ und „Altar“, und manche Formen, die an Religionsausübung erinnern. Aber das ist nicht Religion, sondern eher die ständige Anwesenheit eines religiösen Gefühls. Thomas Mann – kein Freimaurer, allerdings von der Freimaurerei bis zu einem gewissen Grad fasziniert, wie der „Zauberberg“ beweist - schrieb 1954 in einem Brief: „Ich habe eine zu tolerante Natur, um glauben zu können, dass Freundschaft zwischen zwei Menschen verschiedener konfessioneller Überlieferung unmöglich sei. Sie ist möglich auf der Grundlage rein menschlicher Sympathie und der Achtung vor der Form des Glaubens, in welcher der andere lebt. Es gibt viele Glaubensformen, aber die Welt des Religiösen ist nur eine, und im Grunde werden alle religiösen Menschen sich untereinander verstehen. Kein Opfer an innerer Freiheit ist dazu nötig; im Gegenteil; die innere Freiheit bewährt sich in der freundschaftlichen Duldung des Überlieferungsgepräges, das die Religiosität des anderen trägt.“ Heute möchte man seufzend hinzufügen: So sollte es sein, so ist es aber leider nicht.
Zurück zum Politischen: Ebenso wie sie keine Religion ist, ist Freimaurerei auch nicht Trägerin einer bestimmten Politik, nicht revolutionär, nicht im liberalen oder in sonstigen Lagern – aber so wie sie Religiosität praktiziert, so praktiziert sie das Politische. Denn ich kann nicht Aufklärung, Vernunft, Anstand, Gerechtigkeit und andere Grundtugenden der Gesellschaft predigen, ohne doch zugleich solche Begriffe auf die Probleme des gesellschaftlichen Lebens herab zu deklinieren. Aber diese konkrete Anwendung wird die Freimaurerei stets ihren Mitgliedern überlassen, denn wenn die Organisation eine Meinung vertreten wollte, müsste sie erst einmal die Meinung ihrer Mitglieder feststellen. Das wäre ein vergebliches Unterfangen, weil die Meinungen der Mitglieder so unterschiedlich sind wie die in der Gesellschaft überhaupt.
Die freimaurerische Organisation muss also vor der konkreten Ausformulierung eigener politischer Ziele anhalten – aber keineswegs davor, Lösungen der großen Probleme zu analysieren und zu besprechen. Dass es dabei Missverständnisse geben kann, müssen wir in Kauf nehmen.
Ich will als Beispiel den Terrorismus nennen, bei dem wir nicht den Staatsterror der französischen Revolutionäre meinen, sondern die von nichtstaatlichen Organisationen und Individuen verübte Gewalt zur Durchsetzung politischer und religiöser Ziele. Es kann in unserer Gesellschaft wie unter Freimaurern natürlich keine Differenzen darüber geben, dass der Terrorismus als gezielte Verbreitung von Angst die Menschenwürde tief verletzt. Aber diese Verurteilung nutzt ja nichts; nachzudenken ist vielmehr darüber, wie ein Mensch zum Terroristen wird und welche Gründe es für diese verachtende und verächtliche Handlungsweise gibt. Dieses gemeinsame Nachdenken im Licht der Vernunft ist natürlich nicht nur Sache der Freimaurer, aber es kommt ihnen jedenfalls zu und steht ihnen gut an; es kann nicht als „Politisieren“ im Sinne der „Alten Pflichten abgelehnt werden.
In der „Frankfurter Allgemeinen am Sonntag“ gab es vor wenigen Jahren „Zehn Empfehlungen“ des Kulturwissenschaftlers Harald Welzer unter dem Titel „Was Sie sofort tun können, um die Welt zu retten“. Die 1. Empfehlung lautete kurz und knapp: „Selber denken“. Und die 9. Empfehlung: „Versuchen Sie irgendwo dazuzugehören, wo Sie stolz sagen können: ‚Wir machen das anders!’ Zum Beispiel eine Kultur der Achtsamkeit entwickeln, Ideen interessanter finden als Erfahrung, nicht auf Kosten anderer leben, oder was Ihnen sonst noch einfällt. Zukunftsfähig zu sein bedeutet das Gegenteil vom ‚business as usual: lernend, fehlerfreundlich, reversibel zu handeln.“
Freimaurer als solche und Logen als solche machen nicht unbedingt „alles anders“. Aber da auch Freimaurer im Leben stehen und durch den ständigen Hinweis ihres Rituals und ihrer Symbolik auf die Anwendung des Kopfes einerseits und des Herzens andererseits mehr Fitness im Umgang mit dem Leben zeigen sollten, kann man Logen im besten Fall durchaus als Ideenlabors ansehen.
Die mitgliederstärkste Vereinigung der Freimaurer in Deutschland ist unsere Großloge der Alten Freien und Angenommenen Maurer von Deutschland. Wir versuchen, anderen und uns selbst Denkanstöße zu geben und gesellschaftliche Fragen zu diskutieren unter dem Titel „Freimaurer im Dialog“ und durch die Verleihung unserer Kultur- und humanitären Preise. Ich erinnere an die Preisverleihung in Dortmund vor drei Jahren an den Verein „Gegen Vergessen – Für Demokratie“ sowie an Veranstaltungen mit Vizekanzler a.D. Müntefering, ebenfalls in Dortmund, sowie mit Journalisten in anderen Städten.
Ich glaube, dass wir einen Beitrag auch in unserer von den Medien beherrschten Kultur leisten können; es ist nur schwierig, Gehör zu finden. Dafür ist aber unsere Chance gerade jetzt groß. Denn das Interesse der Öffentlichkeit an der Freimaurerei ist viel größer als in den Jahren zuvor. Das liegt an der Sinnsuche einzelner Menschen, aber auch an der Neugier auf die Entschleierung wirklicher oder vermeintlicher Geheimnisse. Auch wenn das Interesse durch Dan Browns Bücher ein ganz äußerliches ist, ist es die Chance, Menschen die Freimaurerei näher zu bringen. Gespräche mit Politikern und Journalisten zeigen: Das Interesse besteht weniger für traditionelle Formen und Rituale, sondern eher für das, wofür die Freimaurerei steht. Unsere Antwort muss lauten: Das ist das, wofür der einzelne Freimaurer steht – aber es gibt ein inhaltliches Mindestmaß, das die Freimaurerei als Ganzes einhalten muss, wenn sie sich nicht selbst verraten will. Wir müssen uns den gesellschaftlichen Fragen stellen, als einzelner Freimaurer, als Loge und als Großloge. Wir können das nicht durch gemeinsame Beschlüsse tun, denn hier kann nichts durch Mehrheiten entschieden werden. Aber wir können zeigen, dass die freimaurerischen Ideen Ansätze zur Lösung enthalten, die auf Toleranz, Vernunft und Menschenliebe gründen.
Unser Inneres wollen wir bewahren, aber wir wollen auch nach außen wirken - das sollte der Wahlspruch jedes Freimaurers sein.
Axel Pohlmann, Altgroßmeister
Vortrag zur 160-Jahr-Feier der Loge "Zur Alten Linde" im Dortmunder Rathaus am 13. September 2015