Traktat: Wolfgang Kreis: "Müssen wir schweigen oder müssen wir handeln?"
"Müssen wir schweigen oder müssen wir handeln?"
Von Wolfgang Kreis
Der nachfolgende Vortrag wurde im Rahmen der rituellen Zusammenkunft mehrerer hundert Freimaurer anlässlich des Großlogentages 2016 in Darmstadt vom Großredner der Großloge gehalten. Es sind Gedanken, die viele Freimaurer bewegen und an denen die Öffentlichkeit durchaus teilhaben kann und soll. Nichts daran ist geheim, der Beitrag wird ungekürzt veröffentlicht.
Um mich herum ist es dunkel. Vereinzelt sehe ich helle Flecken aufbrechen. Der Himmel klärt sich auf. Ich sehe vereinzelte Gruppen von Menschen, die diskutieren. Sie reden von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Pressenfreiheit, Menschenrechten.
Sie nennen sich Freimaurer und sie wollen die Welt verändern.
Sie treffen sich im Verborgenen – im Geheimen, denn die herrschende Macht sieht in ihnen eine Gefahr. Eine Gefahr für ihre Privilegien, ihre Einflüsse, ihre Positionen und Machenschaften. Doch die Freimaurer treffen sich trotzdem und einer von ihnen, ein anglikanischer Priester, beschreibt in seinen Alten Pflichten ein Bild von den Freimaurern, das die Herrschenden beruhigen soll. Und das ist ihm zum größten Teil gelungen.
Die Freimaurer hatten Erfolg. Im Stillen vorbereitete Ideen finden sich heute in Verfassungen und Gesetzen der freiheitlichen Demokratien wieder. Natürlich waren das nicht die Freimaurer allein, aber sie haben ihren Beitrag geleistet und mitgeholfen, die Gesellschaft ein wenig aufzuklären und den Menschen die Möglichkeit zu geben, sich aus ihrer Unmündigkeit zu befreien.
Mit wenigen Ausnahmen haben sich Logen als Gesamtheit nicht zu Wort gemeldet. Agiert haben einzelne Brüder, die sich mit vollem Herzen und mit ganzer Kraft der Humanität gewidmet haben, so wie wir es alle als Lehrlinge bei der unserer Aufnahme gelobt haben. So hielten es die Freimaurer der Gründergeneration der modernen Freimaurerei. Und wie sieht es heute aus? Wie können wir heute unserem Gelöbnis gerecht werden?
Es steht keinem Bruder, keiner Loge und auch nicht der Großloge zu, dem einzelnen Bruder vorzuschreiben, für was er sich zu engagieren hat und auch nicht wie er es zu tun hat. Dass er etwas tun soll, kann schon von ihm verlangt werden, wobei eine Kontrolle natürlich nicht stattfindet. Die Loge kann und soll uns Brüdern aber den notwendigen Raum und die notwendige Zeit geben, unser Engagement zu reflektieren, unsere unausgegorenen Ideen mit den Brüdern zu durchdenken und weiterzuentwickeln. Bei den Themen, die dann besprochen werden, darf, ja kann es kein Tabu geben, wenn wir die Beweggründe und Ideen unserer Gründerväter ernst nehmen.
Ich habe schon mehrmals von Brüdern gehört, dass in Logen nicht über Politik und Religion gesprochen werden darf. Schon als Lehrling hat mich diese Aussage irritiert. Wie soll ich als Freimaurer Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Toleranz und Menschenliebe leben und mich dafür einsetzen, wenn ich in der Loge nicht über diese Themen reden darf. Meine Irritation hat sich aufgelöst, als ich die Alten Pflichten las. Dort steht mit keinem Wort, dass wir in der Loge nicht über Politik und Religion reden dürfen. — Wir dürfen uns nicht darüber streiten und das ist etwas ganz anderes. Über Politik und Religion reden, sich austauschen ohne sich in die Haare zu geraten und zu streiten ist natürlich nicht immer einfach, aber genau das wollen und sollen wir Freimaurer in den Logen lernen und die Toleranz und Menschenliebe über die Meinungsverschiedenheit stellen. Was ist so schlimm daran, wenn ein Bruder eine andere Meinung hat als ich. Er bleibt trotzdem mein lieber Bruder.
Es geht um den Diskurs, den Austausch, das Dazulernen, dann sind wir viel besser gewappnet, um unserem Engagement außerhalb der Loge gerecht zu werden.
Wenn wir nicht über Religion reden wollen, so können wir diese einfach ausblenden. Geht dies aber auch mit der Politik. Da stellt sich direkt die Frage, was ist in diesem Sinne Politik. Für mich ist politisch, was uns alle als Gemeinschaft, als Gesellschaft betrifft und womit wir uns als Demokraten beschäftigen sollen, ja müssen, damit unsere freiheitliche Demokratie erhalten bleibt. So verstehe ich den Satz „meine Pflichten gegenüber meiner Familie, meiner Gemeinde, meinem Land und der Gemeinschaft aller Menschen gewissenhaft zu erfüllen“ im Gelöbnis.
Nehmen wir das aktuelle Thema der Flüchtlinge, die nach Europa kommen. – Ist das nun ein humanitäres Thema oder ein politisches? Lässt sich das überhaupt trennen? Wir helfen aus humanitären Überzeugungen, aber diese Hilfe hat auch politische und gesellschaftliche Folgen. Kann dann Politik als Thema in den Logen ausgespart bleiben? –Dürfen wir schweigen, wenn versucht wird, die Errungenschaften der Aufklärung wieder zunichte zu machen? Diese Frage kann jeder Bruder nur für sich selbst beantworten, um danach vielleicht entsprechende Konsequenzen zu ziehen.
Wie sieht nun die Realität zur politischen Abstinenz in den Logen aus? Was finden in unseren Arbeitspläne dazu? Hier einige Themen: „Rechtsextremismus“, „Die Gefährdung der natürlichen Lebensgrundlage ist ungerecht“, „Europa eine Wertegemeinschaft?“, „Flüchtlingskrise“, „Sterbehilfe“, „Das Freihandelsabkommen TTIP“. Ich finde, das sind politische Themen und unsere Arbeitspläne zeigen uns, dass politische Themen de facto in unseren Logen angekommen sind und wir sehr gut damit umgehen können.
Der erste Teil meiner Ausgangsfrage „Müssen wir schweigen oder müssen wir handeln?“ ist somit beantwortet. Wir müssen nicht schweigen. Wir dürfen es tun. Wir müssen es aber nicht. Wir haben die Wahl.
Müssen wir aber handeln?
In unserem Ritual werden wir aufgefordert, uns als Freimaurer zu bewähren. Das würde die Frage bejahen. Was aber heißt das konkret, „sich als Freimaurer zu bewähren“. Im Ritual heißt es weiter: „wehret dem Unrecht, wo es sich zeigt. Kehrt niemals der Not und dem Elend den Rücken.“ Das ist schon etwas konkreter, aber was genau ist das Unrecht? Wann können wir von Not und Elend sprechen? Einerseits sind diese Begriffe zeitlos, auf der anderen Seite sind sie aber auch vom jeweiligen Zeitgeist abhängig, also mit veränderlichen Bedeutungen.
Wenn wir diese Begriffe realistisch und pragmatisch betrachten wollen, also keine Definitionen aus dritter Hand, sondern unsere eigene individuelle Bedeutung aus Überzeugung einbringen wollen, dann ist meiner Meinung nach ein Diskurs zu diesen Begriffen notwendig. Hier bieten sich die Brüdern an, um diesen Diskurs gewinnbringend für alle Beteiligten zu führen. Danach können wir dann handeln. Ob alleine, mit mehreren Brüdern oder als Loge als Ganzes, dass wird sich aus der Situation heraus ergeben. Auch das Wie wird sich ergeben.
Ich finde, unsere Arbeit wäre nur halb getan, würden wir nicht handeln. Das Ritual warnt uns aber auch, in dem es uns sagt „seid wachsam auf euch selbst.“ Wachsam, damit wir unseren Idealen und Werten treu bleiben und auch nicht über das Ziel hinausschießen.