Traktat: H. H. Höhmann: Entwicklung und Arbeitsfelder der Freimaurerforschung
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Prof. Dr. Hans-Hermann Höhmann, Köln
Alt- und Ehrenmeister der Forschungsloge „Quatuor Coronati“Redner der Großloge AFuAM von Deutschland
Dem Geheimnis auf der Spur: Entwicklung und Arbeitsfelder der Freimaurerforschung
Freimaurerforschung – eine unverzichtbare Ressource unseres Bundes
Unter dem Vorzeichen der Corona-Pandemie ist vieles anders geworden in der Freimaurerei, und das muss immer wieder bedacht und berücksichtigt werden. Doch muss auch das weiterhin Gültige, das Unbeschädigte unseres Bundes im Bewusstsein der Brüder gehalten werden, damit die Grundlagen für zukünftiges Gestalten vorhanden bleiben. Zu diesen Grundlagen gehört die freimaurerische Forschung, die dafür sorgt, dass das Wissen um Wesen und Struktur des Bundes entwickelt und vertieft wird. Denn ohne die Grundzüge der Freimaurerei in ihrer historischen Entwicklung und ihrer Verortung in der Zeit zu kennen, kann man sie nicht hineintragen in die Gesellschaft und als Element von Sinn und Ordnung wirken lassen für sich selbst und andere Menschen.
Die Freimaurerforschung in ihren Grundzügen vorzustellen, ist die Aufgabe des folgenden Beitrags. Vielleicht gelingt es mir ja auch, neue Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen für die Wissenschaft von der Königlichen Kunst zu gewinnen. Die Freimaurerei hat ein einfaches Grundprinzip: Menschliche Verbundenheit, ethisches Verhalten sowie die Suche nach Sinn und Orientierung sollen durch Symbole und Rituale in der Gemeinschaft der Loge eingeübt werden. Geschichte, Symbolik und Sozialstruktur der Freimaurerei sind jedoch äußerst facettenreich, vielschichtig und kompliziert. Deshalb ist im Laufe der Zeit – beginnend bereits im späten 18. Jahrhundert – eine multidisziplinäre freimaurerische Forschung entstanden, die versucht, Geschichte, Rituale und Symbole sowie organisatorische Strukturen und soziale Bedingungen der Freimaurerei im internationalen Vergleich analytisch aufzuklären.
Das Motto dafür findet sich in Gotthold Ephraim Lessings Schrift „Ernst und Falk. Gespräche für Freimäurer“ (1778/80): „Ich glaube ein Freimaurer zu sein; nicht sowohl, weil ich von älteren Maurern in einer gesetzlichen Loge aufgenommen worden: sondern weil ich einsehe und erkenne, was und warum die Freimaurerei ist, wann und wo sie gewesen, wie und wodurch sie befördert oder gehindert wird.“
Die Freimaurerische Forschung folgt dem Motto Lessings: Sie will erkennen, was und warum die Freimaurerei ist, wann und wo sie gewesen, wie und wodurch sie befördert oder gehindert wird. Inzwischen wurden viele Tausende von Büchern und Artikeln veröffentlicht, Forschungsgesellschaften und Forschungslogen gegründet, universitäre Forschungsprogramme entwickelt (wie mein Kollege Jörg Bergmann und ich selbst es auch einmal an der Universität Bielefeld versucht haben), ja: es wurden sogar spezielle Lehrstühle in Leiden und (zeitweilig) in Sheffield eingerichtet. Freimaurerische Forschung beruht auf einem doppelten Interesse, dem Interesse von innen und dem Interesse von außen.
Das Interesse von innen beruht auf dem Umstand, dass Freimaurerei von Anfang an ein Geheimnis für die Freimaurer selbst war. Dies galt für ihre Entstehung (Lessings wann und wo gewesen?) ebenso wie für Inhalt und Zweck (was und warum ist Freimaurerei?). Das Interesse von außen existiert in einer gegnerischen, ja bösartigen und einer freundlichen Variante. Gegnerisch und bösartig sind die Versuche, wissenschaftliche Forschung (oder was man dafür hält) im Kampf gegen die Freimaurerei einzusetzen. Dies gilt für kirchliche, insbesondere katholische Sichtweisen, dies gilt für völkische Positionen wie die der Nationalsozialisten: Beschlagnahmtes Logenmaterial sollte in der 1930er Jahren der „wissenschaftlichen Enthüllung des wahren Charakters der Freimaurerei“ dienen.
Die freundliche Variante bildet die universitäre Forschung, die vor allem seit den 1950er Jahren einsetzte und mit Reinhart Kosellecks Dissertation „Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt“ (1959) einen ersten Höhepunkt fand. Es ging um die Erforschung der Freimaurerei des 18. Jahrhunderts, um die Erörterung der Bedeutung der Freimaurerei für den gesellschaftlichen und politischen Wandel, für Entstehung und Entwicklung von Geselligkeit und Freundschaft sowie von esoterischer Kommunikation innerhalb der so populär gewordenen geheimen Gesellschaften. Bielefeld hatte die Rolle eines Zentrums: zu nennen sind Reinhart Koselleck, Rudolf Vierhaus, Johannes Rogalla von Bieberstein, Ullrich Wehler, Stefan Ludwig Hoffmann und Jörg Bergmann, das Forschungsprojekt „Deutsche Freimaurerei der Gegenwart“, das Netzwerk „Freimaurerforschung“ (www. freimaurerforschung.de).
Ich werde später den Gesichtspunkt „externe Forschung“ noch einmal aufnehmen. Zunächst aber zur Innenperspektive: Freimaurerei als Geheimnis für die Freimaurer selbst. Die Entwicklung der Freimaurerei wurde von den Mitgliedern des Bundes zwar immer primär und spontan als Gestaltungsaufgabe verstanden, aber zu Reflexion und Forschung ist es stets nur ein kleiner Schritt gewesen. Gewiss wollten die Brüder – genauer gesagt: die administrativ führenden und konzeptionell tonangebenden unter ihnen – vor allem das Leben ihrer Logen gestalten, Großlogen bilden sowie neue rituelle Erlebnisformen und Grade in die Freimaurerei einführen. Doch in Verbindung damit setzte sehr früh, als Vorstufe zur späteren Forschung, eine intensive Reflexion über Ideenwelt, Rituale, Stilprinzipien und Organisationsstrukturen der Freimaurerei ein. Hierfür gibt es verschiedene Gründe: Zunächst ergab sich für die Freimaurerei bereits dadurch von Anfang an Reflexionsbedarf, dass sie Formen, Zeichen und Riten im Vollzug des historischen „crossovers“ von der operativen zur spekulativen Freimaurerei auf einen ethisch-sozialen Kontext übertrug.
Bereits im siebzehnten Jahrhundert (und noch davor) entstand die Freimaurerei in Schottland, 1717 kam es zur „Großloge von London und Westminster“, 1723 wurde die erste Satzungsurkunde (Konstitutionen, „Alte Pflichten“) veröffentlicht. James Anderson hatte dazu Prinzipien formuliert: Der Freimaurer ist dem Sittengesetz verpflichtet, die Menschen in den Logen sollen gut und redlich sein, und der Bund der Maurer soll Männer in Freundschaft zusammenbringen, die sich sonst nie begegnet wären. Doch Anderson lässt es nicht dabei. Er gibt seinen „Konstitutionen“ eine Chronik der Baukunst bei, in der Wort wörtlich zu lesen ist: „Adam unser Vater, geschaffen nach dem Bilde Gottes, des großen Baumeisters der Welt, muss die freien Künste, insbesondere die Geometrie, in seinem Herzen getragen haben, denn er lehrte sie seine Söhne, und die Familienbeider betätigten sich als Bauleute, bis Noah die Arche baute, die sicherlich nach den Gesetzen der Baukunst errichtet war, und so retteten Noah und seine drei Söhne Kenntnisse der Baukunst in die neue Welt ...“ und so weiter und so fort.
Warum ein solcher Gründungsmythos? Warum eine so fragwürdige Herkunftserzählung? Nun: eine Bauhütte, die Kathedralen baut, die „operativ“ ist und dies von Jahrhundert zu Jahrhundert, braucht keine Begründung, ihr Bauen versteht sich aus sich selbst heraus von allein. Doch eine moralische Werkstatt, eine spirituelle Institution, die neu ist – wie die Freimaurerei zu Beginn des 18. Jahrhunderts – und die sich durchsetzen will in der üppig sprießenden Welt der geselligen Assoziationen Londons, die braucht vor allen Dingen eines: die Reputation eben nicht neu, sondern uralt zu sein – und darum also die Formel: „Adam unser Vater, geschaffen nach dem Bilde Gottes, des großen Baumeisters der Welt, muss die freien Künste, insbesondere die Geometrie, in seinem Herzen getragen haben.“
Dieser, gleichsam „ontologische“ Begründungsbedarf der Freimaurerei wurde bald doppelt verstärkt: zum einen durch Angriffe von außen, die argumentativ begründete Apologien erforderlich machten, zum anderen durch innere Auseinandersetzungen, mit denen um die „echte und eigentliche“ Form der Freimaurerei gerungen wurde. Freimaurerei war zwar durch bestimmte Grundelemente bestimmt, die über Länder und Zeiten hinweg dieselben blieben. Zu diesen Merkmalen der freimaurerischen Grundstruktur gehörten und gehören insbesondere die folgenden vier: (1)die abgeschlossene, durch verschwiegene Rituale geschützte, in der Regel männerbündische Gruppe, (2)der initiatische Charakter der Rituale, (3)die ins Hermetisch-Esoterische erweiterte und später mit der Schaffung von Hochgradsystemen durch Rittersymbolik überhöhte Bausymbolik sowie (4)ein Kanon von Werten und religiösen Orientierungen, der um unterschiedliche, teils aufklärerisch-humanitär, teils religiös und/oder esoterisch geprägte Begrifflichkeiten wie Menschenliebe, Brüderlichkeit, Duldsamkeit (Toleranz), Gottesfürchtigkeit, Glauben und Erleuchtung kreist. Die genannten Elemente erwiesen sich aber schon früh als sehr unterschiedlich ausgestaltbar.
Das heißt, in ihren Zielen, Formen und Ritualen erwies sich die Freimaurerei bei aller Übereinstimmung in den genannten Grundelementen zugleich als „Raum, in dem vieles möglich war“ (Monika Neugebauer-Wölk) und um dessen Ausfüllung kontinuierlich gerungen wurde. So gab es nie nur eine Freimaurerei, sondern viele! Warum dieser Prozess der Differenzierung? Vor allem wegen der unterschiedlichen Motivationen für die gesellschaftliche Nachfrage nach Freimaurerei! Da existierten: religiöse Motive: die Suche nach einer alternativen, lichten, esoterischen Religiosität; philosophische Motive: die Nutzbarkeit der Loge als Stätte des Aufklärungsdiskurses; soziale Motive: die Chance von sozialer Einbindung, Selbstverwirklichung, Statuserhöhung sowie politische Motive: indirekt „Freiheit im Geheimen als Geheimnis der Freiheit“ (Koselleck) und direkt ökonomische und politische Projekte der „Strikte Observanz“ und Konzepte der Illuminaten als Träger radikaler Aufklärungspolitik. Reflexion und Forschung.
In Zeiten von Krisen freimaurerischer Systeme und der Suche nach neuen Formen wird der Bedarf an Modellen und ihrer analytischen Begründung besonders dringlich. Für die Krise der deutschen Freimaurerei unter dem Vorzeichen der „Strikten Observanz“ in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts und die Versuche des Wilhelmsbader Konvents von 1782, die Krise zu überwinden, hat Ernst Traugott v. Kortum, für die polnische Delegation Teilnehmer in Wilhelmsbad, den Zusammenhang zwischen Fehlentwicklungen und analytischen Erfordernissen anschaulich beschrieben: „Die Freimaurerei, diejenige Gesellschaft, welche, so alt sie auch sein mag, doch erst jetzt seitetlichen zwanzig Jahren in mancherlei Bezug besonderes Aufsehen macht, ... wird nun, da sie anfängt, sich ihrer ... Auflösung zu nähern, ein öffentlicher Gegenstand kritischer Untersuchungen, Geschichts-Vergleichungen und historischer Nachspürungen, nachdem sie fast ein ganzes Jahrhundert von der einen Seite gepriesen, von der anderen verdammt wurde, und ihr Ursprung hier von Gott, dort vom Teufel hergeschrieben worden ist, ohne sich für beides auf historische Beweise einzulassen“ (zitiert nach Hammermayer, Ludwig: Der Wilhelmsbader Freimaurer-Konvent von 1782, Heidelberg 1980, S.5).
Seit Ende des 18. Jahrhunderts etabliert sich die Forschung in der Freimaurerei. Sie hat große Bedeutung für die „Reformer“, wie nicht zuletzt Friedrich Ludwig Schröder, denn wenn die „Wiederherstellung der ursprünglichen Freimaurerei“ das Ziel war, so musste man wissen, was die „Ursprüngliche Freimaurerei“ war. Neben die Forschung traten die konzeptionellen Denker:Vier Autoren vor allem sind hier von herausragendem Interesse:Gotthold Ephraim Lessing, Johann Gottfried Herder, Karl Christian Friedrich Krause und Johann Gottlieb Fichte. Das „laute Denken" dieser vier sowie die Rezeptionsgeschichte um sie herum kennzeichnet beinahe schon im Alleingang die gleichsam „goldene Epoche" der Freimaurerdiskurse in Deutschland, deren Niveau kaum je wieder erreicht wurde.
Der „klassische Freimaurerdiskurs" hat mindestens vier übereinstimmende Bezugspunkte: erstens die Faszination der Freimaurerei, die alle Autoren nicht loslässt, zweitens die Vielfalt, ja der desolate Zustand der Freimaurerei in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts, der den Bund vor die Alternative Untergang oder Neukonzeption und Reform stellt, 4 drittens das Gefühl der Formbarkeit der Freimaurerei (mit Fichtes Worten: d er Wunsch „auf die tabula rasa der Freimaurerei etwas zu schreiben, was ihrer würdig ist") und viertens das Bestreben, Freimaurerei in den Kontext des jeweils eigenen Denkens einzufügen. Die Teilnehmer am Diskurs geben nun unterschiedliche Antworten in Bezug auf Institution und Funktion der Freimaurerei: Fichte – mitten im Reformprozess formulierend – bleibt am stärksten der institutionellen Freimaurereiverhaftet. Ihm geht es um die Frage, ob es einen überzeugenden Zweck für die Loge gibt, und er antwortet mit dem Hinweis auf den Auftrag der Loge, „durch Ausgehen von der Gesellschaft und Absonderung von ihr ... die Nachteile der Bildungsweise in der größeren Gesellschaft wieder aufzuheben und die einseitige Bildung für den besonderen Stand in die gemein menschliche Bildung, in die allseitige des ganzen Menschen, als Menschen zu verschmelzen".
Herder geht am weitesten über die institutionelle Freimaurerei hinaus: „Alle solche Symbole mögen einst gut und notwendig gewesen sein, sie sind aber, wie mich dünkt, nicht mehr für unsere Zeiten. Für unsere Zeiten ist das Gegenteil ihrer Methode nötig, reine helle offenbare Wahrheit.“ Später freilich – in der Zusammenarbeit mit Schröder – modifiziert er seine Auffassung. Krause vertritt mit der Auffassung, „nach der Reinigung von einigen zunftmäßigen und kritikwürdigen Bestandteilen“ könne das „ganze überlieferte Gebrauchtum“ in den von ihm entworfenen „Menschheitsbund“ eingearbeitet und damit zugleich aufbewahrt und überwunden werden, wiederum eine andere Variante des „Stufenmodells“ der Freimaurerei. Für Lessing bleibt Freimaurerei auch als Institution von Bedeutung, doch ihre Funktion geht über die Institution hinaus und ist bei Weitem wichtiger, beruht Freimaurerei für Lessing doch „im Grunde nicht auf äußerlichen Verbindungen, die so leicht in bürgerliche Anordnungen ausarten, sondern auf dem gemeinschaftlichen Gefühl sympathisierender Geister“.
Auch Lessing ist von der Faszination der Freimaurerei gefesselt. Auch er kritisiert die konkrete Form des Bundes, dessen „heutiges Schema ihm gar nicht zu Kopfe“ will. Auch ihn fordert heraus, die Wesenheit der Freimaurerei auf den bestimmten Begriff einer wahren Ontologie zu bringen und aufzuzeigen, „was und warum die Freimaurerei ist, wenn und wo sie gewesen,wie und wodurch sie befördert oder gehindert wird“. Er tut dies – vor allem, aber nicht nur in „Ernst und Falk“ – als Anwalt einer Kultur der Vermittlung, die Grenzen überschreitet, deren Medium und Ziel Freundschaft, Toleranz und Menschenliebe sind, und die sich in einem offenen Prozess der Wahrheitssuche realisiert. Wer sind die Freimaurerforscher: Interne und externe FreimaurerforschungUrsprünglich waren es meist Freimaurer gewesen, die sich der freimaurerischen Forschung verschrieben, und zwar in allen Ländern, in denen sich der Bund in seinen unterschiedlichen Formen entfalten konnte. Für die Geschichte der freimaurerischen Forschung in Deutschland ist eine ganze Anzahl von Namen zu nennen, die ihren Rang auch aus heutiger Sicht bewahren konnten. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sei hingewiesen auf Georg Kloß, Christian Carl von Nettelbladt, Wilhelm Keller, Josef Findel, Adolf Schiffmann, Ludwig Keller, Wilhelm Begemann, August Wolfstieg, Friedrich Kneisner, Ferdinand Runkel, Bernhard Beyer, Eugen Lennhoff, Oskar Posner und Adolf Pauls.
Diese Brüder waren aber nicht nur Forscher, sie kamen aus unterschiedlichen freimaurerischen Systemen, und sie hatten auch bestimmte Einstellungen dazu, was das „Wesen“ der Freimaurerei sei und wie man sie zu gestalten habe. So blieb es nicht aus, dass ihre Auffassungen des Öfteren voneinander abwichen und es zu gegenseitigen Vorwürfen der Einseitigkeit, der Voreingenommen, ja der Unwissenschaftlichkeit kam.
Modern gesagt, die Autoren stellten sich wechselseitig unter „Ideologieverdacht“. Nun ist die Beeinflussung von Forschungsresultaten durch die „kognitiven Modelle“ der Wissenschaftler ein allgemeines Phänomen der Forschung, insbesondere in den Geistes- und Sozialwissenschaften, wo individuelle und gruppenspezifische Bindungen an Denkschulen und Paradigmensysteme eher die Regel als die Ausnahme sind.
Auch Freimaurerforscher, die nicht dem Bund angehören, können miteinander in den wissenschaftlichen Streit geraten, wie in jüngerer Zeit beispielsweise die Auseinandersetzung um die Thesen des amerikanischen Germanisten W. Daniel Wilson zur Goethes Mitgliedschaft im Freimaurer- und im Illuminatenbund gezeigt hat. Für Forscher, die dem Bund angehören, besteht jedoch eine spezifische Versuchung, Analyse und Wertung zu vermischen und subjektiv Normatives („so sehe ich die Freimaurerei“) als objektive Beschreibung der Wirklichkeit („so ist die Freimaurerei“) auszugeben. Dieses „Ineinanderverwobensein“ analytischer und normativer Sichtweisen bei Darstellungen durch Freimaurer ist der externen, d.h. der von Nichtfreimaurern betriebenen Forschung natürlich nicht verborgen geblieben.
Die externen Forscherinnen und Forscher erkennen zwar an, dass der internen freimaurerischen Forschung durchaus wissenschaftlicher Wert zukommt. Die Forschungsergebnisse gelten aber oft als so sehr von den freimaurerischen Standorten der Autoren beeinflusst, als dass sie generell als verlässlich eingeschätzt werden könnten. (Dieselbe Standortgebundenheit gilt allerdings meist auch für das freimaurerkritische Schrifttum, selbst, wenn es sich wissenschaftlich ausgibt).Koselleck und die (segensreichen) Folgen: Belebung der Forschung seit den 1950er Jahren. Als sich seit der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts immer mehr externe Forscher, vor allem Historiker, mit der Erforschung der Freimaurerei beschäftigten und/oder sie in weitere Kontexte ihrer Untersuchungen rückten, bekam die freimaurerische Forschung einen neuen Auftrieb. Ein wesentlicher Anstoß kam – ich wies bereits darauf hin – von Reinhart Koselleck, dem in Bielefeld lehrenden Neuhistoriker, der es in seiner, zuerst 1959 erschienenen bahnbrechenden Studie „Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt“ unternommen hatte, die Freimaurerlogen in den bürgerlichen Emanzipationsprozess des achtzehnten Jahrhunderts einzuordnen und die bisher nur unzureichend berücksichtigte gesellschaftliche und politische Funktion der Freimaurerlogen herauszuarbeiten. Die Ansätze Kosellecks sind inzwischen von anderen Wissenschaftlern weitergeführt, modifiziert und korrigiert worden. Neue Fokussierungen kamen hinzu. Ludwig Hammermayer und Monika Neugebauer-Wölk, selbst durch grundlegende Beiträge zur Freimaurerforschung ausgewiesen, haben wichtige Aspekte und Entwicklungsstufen der Geschichte der Freimaurerforschung beschrieben.
Heute erstreckt sich das Interesse der Forschung auf ein breites Spektrum wissenschaftlicher Disziplinen. Nicht nur Historiker, sondern auch Literaturwissenschaftler, Religionswissenschaftler, Ritualforscher, Theaterwissenschaftler, Kommunikationsforscher, Politologen und Soziologen entdeckten im Kontext ihrer Forschungsfelder interessante Aspekte der Freimaurerei. Die Zahl der wissenschaftlichen Veröffentlichungen wuchs an, die Zahl der Habilitationen, Dissertationen und Magisterarbeiten zu freimaurerischen oder zumindest freimaurerrelevanten Themen ist angestiegen. Es bildeten sich Brücken zwischen extern-universitärer und intern-freimaurerischer Forschung, die dem Ansehen der Bruderschaft zugute kommen, und bei denen in ihren Disziplinen ausgewiesene Forscher, die der Freimaurerei angehören, wie etwa die Frankfurter Philosophen Alfred Schmidt und Klaus-Jürgen Grün, der Aachener Philosoph Klaus Hammacher, die Historiker Helmut Reinalter (auch Herausgeber der „Zeitschrift für Internationale Freimaurer-Forschung) und Martin Papenheim sowie – in aller Bescheidenheit – als Sozialwissenschaftler auch ich selber, eine impulsgebende Rolle spielten.
Unter den Habilitationsschriften sei insbesondere hingewiesen auf: Joachim Westerbarkey, Das Geheimnis. Zur funktionalen Ambivalenz von Kommunikationsstrukturen, Opladen 1991, sowie Linda Simonis, Die Kunst des Geheimen. Esoterische Kommunikation und ästhetische Darstellung im 18. Jahrhundert, Heidelberg 2000.Unter den Dissertationenen sind von herausragender Qualität:Helmut Neuberger, Freimaurerei und Nationalsozialismus. Das Ende der deutschen Freimaurerei, Hamburg1980,Michael Voges, Aufklärung und Geheimnis. Untersuchungen zur Vermittlung von Literatur- und Sozialgeschichte am Beispiel der Aneignung des Geheimbundmaterials im Roman des späten 18. Jahrhunderts, Tübingen 1987, Florian Maurice, Freimaurerei um 1800. Ignaz Aurelius Feßler und die Reform der Großloge Royal York in Berlin, Tübingen 1997, Ralf Melzer, Konflikt und Anpassung: Freimaurerei in der Weimarer Republik und im "Dritten Reich", Wien 1999, Stefan-Ludwig Hoffmann, Die Politik der Geselligkeit. Freimaurerlogen in der deutschen Bürgergesellschaft, 1840 – 1918, Göttingen 2000, Kristiane Hasselmann, Die Rituale der Freimaurer.
Zur Konstitution eines bürgerlichen Habitus im England des 18. Jahrhunderts, Bielefeld 2009 sowie Marcus Meyer, Bruder und Bürger. Freimaurerei und Bürgerlichkeit in Bremen, Bremen 2010. Wenn von externer Freimaurerforschung die Rede ist, so muss schließlich nachdrücklich auf die Arbeiten von Dieter Binder, Karheinz Gerlach, Reinhard Markner und Monika Neugebauer-Wölk hingewiesen werden. In diesem Kontext ist dann nur konsequent, dass auch die Forschungsloge „Quatuor Coronati“ seit einiger Zeit nach erfolgversprechenden Möglichkeiten sucht, sich gegenüber der externen Freimaurerforschung zu öffnen.
Das Zusammenwirken mit Wissenschaftlern von Universitäten und Instituten, die nicht dem Freimaurerbund angehören, sich aber in Forschung und Lehre mit ihm beschäftigen, soll Kenntnisse und Impulse vermitteln, die – durch Tagungen, Veröffentlichungen und Mitgliedschaft im Wissenschaftlichen Beirat der Forschungsloge – allen QC-Mitgliedern zu Gute kommen und auch für die deutsche Bruderschaft insgesamt nützlich sind. Warum ist die erneuerte und erweiterte Kommunikation mit der „externen“, insbesondere der universitären Freimaurerforschung so wichtig? Einmal wegen der beachtlichen Forschungsergebnisse seit der bereits erwähnten wissenschaftlichen „Wiederentdeckung“ der Freimaurerei durch Reinhart Koselleck und der mittlerweile weit fortgeschrittenen Sozialkapital-, Kommunikations-, Geheimbund- und Ritualforschung; zum anderen wegen methodisch-wissenschaftstheoretischer Aspekte: nur so kann eine Rückbindung der wissenschaftlichen Arbeit von Forschern, die zugleich Freimaurer sind, an die Fachwissenschaft gelingen; zum dritten als Mittel gegen innerhalb der Freimaurerei nicht selten anzutreffende apologetische Sichtweisen, „Selbstideologisierungen“ und Tabus.
Die Aufarbeitung der Problematik Freimaurerei und Nationalsozialismus etwa ist weitgehend der externen Forschung, insbesondere den Arbeiten von Helmut Neuberger und Ralf Melzer, zu verdanken. Neuerdings ist allerdings auch auf Arbeiten von mir zu verweisen. Die Freimaurerei benutzt Wissen von sich selbst ja eben nicht nur zum Zwecke der Erkenntnis, sondern auch zur Legitimation. Dies erfordert kritische Korrekturen. Nicht zuletzt wegen ihres großen historischen Legitimationsbedarfs kommt die Freimaurerei nicht an den Ergebnissen der externen Forschung vorbei, auch wenn diese unbequem, ja schmerzhaft sind. Schließlich braucht die Freimaurerei auch im Kontext „Freimaurerei als Gestaltungsaufgabe“ die Erkenntnise der externen Wissenschaft.
Es besteht Bedarf an mehr und substanziellerer Forschung zur Entwicklung der Freimaurerei in der Gesellschaft von heute. Es gilt, verlässliches Wissen zu erarbeiten, das als Handlungsgrundlage für die Gestaltung einer lebendigen Gegenwartsfreimaurerei dienen kann. Das ist der Grund dafür, dass im Rahmen der Forschungsloge „Quatuor Coronati“ auch eine praxisorientierte, anwendungsbezogene Freimaurerforschung betrieben werden soll. Es ist freilich stets wichtig, zwischen analytischen Befunden und dem Gewünschten, Gewollten, Normativen zu unterscheiden. Freimaurerische Forschung kann den Wert der Freimaurerei und ihrer einzelnen „Lehrarten“ nicht beweisen. Kategorische Werturteile darf sie nicht fällen.
Sie ist aber zur Formulierung „hypothetischer Werturteile“ berechtigt, wenn diese methodisch und empirisch begründet sind. Hypothetische Werturteile beziehen sich auf die Beurteilung alternativer Vorgehensweisen, die eingeschlagen werden können, wenn bestimmte vorgegebene Ziele erreicht werden sollen. Jede Begutachtungs- und Beratungstätigkeit beruht letztendlich auf dem Prinzip, wissenschaftlich zu erörtern, welche Handlungsoptionen zwecks Zielverwirklichung zur Verfügung stehen, wenn vorgegebene Ziele erreicht werden sollen.
Die Forschungsloge „Quatuor Coronati“ – unverzichtbar für das Profil der deutschen Freimaurerei.
Die Forschungsgesellschaft (Forschungsloge) „Quatuor Coronati“ – gegründet im Jahre 1951 und heute über 1200 persönliche Mitglieder zählend – will in drei Erscheinungsformen für die Bruderschaft der deutschen Freimaurer wirken: als Forschungsloge, als Wissensloge und als Kommunikationsloge. Forschungsloge: Als Forschungsloge fasst „Quatuor Coronati“ Brüder aus allen deutschen und aus befreundeten europäischen Großlogen zusammen, die freimaurerische Forschung betreiben und/oder sich für die Ergebnisse freimaurerischer Forschung interessieren.
Quatuor Coronati soll dafür den Rahmen schaffen, Kommunikationsmöglichkeiten öffnen (auch mit der „profanen“ (besser: „externen“ Freimaurerforschung) und Publikationsorgane (TAU, Quatuor-Coronati-Jahrbuch für Freimaurerforschung) bereitstellen. Diese Forschung soll redlich und solide sein, denn Forschung ist nun einmal Forschung. Diese Forschung soll aber auch Freude machen, soll etwas vermitteln vom Charme jenes kreativen Spiels, das Freimaurerei als Königliche Kunst ja auch ist. Die Forschungsarbeit unserer Brüder soll sich auf viele Felder erstrecken, die für die Entwicklung der Freimaurerei von Bedeutung sind und die immer wieder neu abzustecken sind.
Für mich als Sozialwissenschaftler sind dabei Fragen aus den Spannungsfeldern „Loge und Gesellschaft“ sowie „Bruder und Loge“ besonders wichtig, zumal wir zweifellos zu wenig darüber wissen. Aber schon für die Gründer der Forschungsloge war ganz klar, dass sich „Quatuor Coronati“ vor allem mit Geschichtsforschung zu befassen habe, wobei Ritualistik für mich Bestandteil geschichtlicher, genauer kulturgeschichtlicher Forschung ist. Warum ist historische Forschung so wichtig? Die Antwort kann nur lauten: Vor allem aus den Gegenwartsbedürfnissen der Freimaurerei heraus. Freimaurerei kann sich – gerade, wenn sie im heute leben und kein erstarrtes Relikt der Vergangenheit sein will – nur von ihren historischen Fundamenten her, nur aus ihrer – zuweilen auch schmerzlich gebrochenen – Geschichte heraus entwickeln. Nur Geschichte liefert der Gegenwartsfreimaurerei Legitimation, nur Geschichte schafft Identität, nur Geschichte bietet Zukunftsorientierung, Orientierung auch für die notwendigen Prozesse der Veränderung, vor denen wir stehen.
Das Wort des Bielefelder Historikers Jörn Rüsen: „Historische Erinnerung ist ein Lebenselixier“ gilt für die Freimaurerei ebenso wie die Feststellung des englischen Historikers F. Powicke, dass Menschen ohne „konstruktiven Ausblick auf die Vergangenheit entweder dem Mystizismus oder dem Zynismus verfallen“. Wir Freimaurer brauchen weder dem Mystizismus noch dem Zynismus zu verfallen. Wenn wir historisch ausblicken, so können wir mit Stolz eine Feststellung des polnischen Philosophen Leszek Kolakowski auf unseren Bund beziehen: „Glücklich sind die, denen ihre eigene Tradition den Glauben an die Gemeinschaft der menschlichen Gattung, den Glauben an Toleranz, die Bereitschaft zum Zusammenwirken und den Kritizismus überliefert hat. Andere haben aus der Tradition den National- und Rassenhass, den Fanatismus, den Kult der Gewalt übernommen.“ Doch Geschichte als Lebenselixier, als Legitimationsgrundlage, als Identitätsstifter und als Gegenwartsorientierung kann nicht von uns nach dem jeweiligen Gegenwartszweck neu erfunden werden.
Bedarfsgerecht gemalte historische Kulissen, zweckorientierte Geschichtslegenden und flache „Geschichtspolitik“ spenden ebenso wenig Kraft wie das unreflektierte Verbreiten von Listen mit den Namen prominenter Freimaurer. Kraft im Sinne von Lebenselixir entsteht nur durch ein solides und redliches Bemühen um historische Wahrheit. Das hat Konsequenzen für unsere Arbeit: Wir müssen uns an wissenschaftliche Standards heranarbeiten, auch wenn diese vielleicht gelegentlich unbequem sind; wir sind zu ernsthafter Selbstprüfung und kritischem Diskurs innerhalb unserer Forschungsloge verpflichtet; wir müssen auf die Gefahren ideologischer Entstellungen der historischen Wahrheit hinweisen und zugleich Verzicht leisten, selbst Ideologien oder Legenden zu schaffen; wir brauchen das intensive Zusammenwirken mit der „profanen“ (externen) Forschung.
Wissensloge: Wenn es richtig ist, dass die Lebenskraft der Freimaurerei nicht zuletzt aus ihrem historischen Bewusstsein kommt, und wenn es wiederum zutrifft, dass historisches Bewusstsein auf geschichtliches Wissen und zwar richtiges, geprüftes Wissen angewiesen ist, dann hat, so folgt für mich daraus, dass „Quatuor Coronati“ gewissermaßen als „Wissenloge“ die Aufgabe hat, wesentlich daran mitzuwirken, ein solches Wissen in der deutschen Bruderschaft zu verbreiten. Das können wir über unsere Publikationen und unsere Tagungen (nicht zuletzt unsere Arbeitstagungen) tun, das kann über unsere örtlichen Arbeitszirkel erfolgen, das kann in den Logen über alle unsere Mitglieder geschehen, auch wenn nicht jeder von uns selbst aktiv forscht.
Seien wir ehrlich: Der Bestand an wirklich verlässlichem Wissen über das Wie und Woher der Freimaurerei ist in der deutschen Bruderschaft relativ niedrig. Historische Erinnerung als Lebenselixier – um noch einmal Jörn Rüsens Kennzeichnung zu verwenden – ereignet sich viel zu wenig. Das bedeutet aber auch, dass wir wesentliche Ressourcen unserer Lebens- und Überlebenskraft nur unzureichend nutzen: nämlich zu wissen, wer wir sind und wohin wir gehen, weil wir wissen, wer wir waren und woher wir kamen! Es ist in der Vergangenheit oft die Frage gestellt worden, ob „Quatuor Coronati“ „programmatisch“ werden, ob die Forschungsloge Entwürfe freimaurerischer Zukunft liefern solle.
Ich bin hier außerordentlich skeptisch, nicht nur, weil wir als Forschungsloge nicht in den Entscheidungsbereich von Logen und Großlogen eingreifen können und dürfen, sondern vor allem, weil nicht ein Defizit an Thesen, Programmen und Aufrufen für die in der Tat offenkundigen Entwicklungsprobleme der deutschen Freimaurerei verantwortlich ist, sondern die zu wenig kernige und kraftvolle Identität der deutschen Bruderschaft insgesamt. Hier ist aber genau der Platz, wo wir als Quatuor Coronati-Brüder wirken können, wirken können als eine zwar indirekte, aber doch wichtige Kraft (wobei ich beides betone: „indirekt“ und „Kraft“): durch unsere Beiträge zu einer produktiven Kultur des historischen Erinnerns, die Identität und Orientierung der deutschen Bruderschaft fördert; durch unsere Beiträge zu den bereits von Lessing unverbesserbar klar gestellten Grund- und Lebensfragen unseres Bundes: „Was und Warum die Freimaurerei ist, wann und wo sie gewesen, wie und wodurch sie befördert oder gehindert wird“.