Lew Nikolajewitsch Graf Tolstoi

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Lew Tolstoi in einem Gemälde von Ilja Jefimowitsch Repin (1887)


Tolstoi

Graf Lew (Leo) Nikolajewitsch Tolstoi wurde am 9. September 1828 auf dem riesigen Familiengut Jasnaja Poljana im Gouvernement Tula geboren. Er geht zuerst den üblichen Weg eines russischen Adligen: Studium, Erwerb des Offizierspatentes und Reisen durch Europa. Nach seiner Rückkehr lebte er in Moskau und auf Jasnaja Poljana, wo er seine großen Romane schrieb. Den ersten selbstbiographischen Arbeiten folgten die Erzählungen "Der Überfall" 1852, "Die Kosaken" 1852, "Sewastopoler Erzählungen" 1855. Hier zeigt sich schon die Grundrichtung seiner Arbeiten: Die Menschen der höheren Gesellschaftsklasse, der er selbst angehörte, werden in ihrer sittlichen Fragwürdigkeit der Gediegenheit des einfachen Volkes gegenübergestellt. Mit den Romanen "Krieg und Frieden" (1864-1869) und "Anna Karenina" (1873-1876) erwarb er Weltruhm. In den folgenden Jahren wurde der Zwiespalt in Tolstois Wesen, der ihn vom erdverbundenen Menschen hin zur Transzendenz führte, immer deutlicher. Ende der 1870er Jahre kam es zu seiner "Bekehrung"; er schrieb dann religiös geprägte Traktate, die einen einfachen Lebensstil forderten und die stark auf die sozialen Strömungen in Rußland einwirkten. Tolstoi gab so einen Anstoß zu den großen sozialen Umwälzungen unserer Zeit. Bewirkt hat er es weniger durch seine sozialen Theorien, sondern als unabhängiger, unbestechlicher Geist, der auf die Mißstände einer extrem ungerechten Gesellschaftsordnung aufmerksam machte. Tolstoi starb am 20. November 1910.

Der Freimaurerei stand Tolstoi recht aufgeschlossen gegenüber. Am 20. März :1905 schrieb er von Jasnaja Poljana an einen deutschen freimaurerischen :Schriftsteller: "Ich danke sehr für die Sendung Ihres freimaurerischen :Buches, es freut mich sehr, daß ich, ohne es zu wissen, meiner Gesinnung nach :ein Freimaurer bin. Ich habe immer von Kindheit an für diese Organisation :große Achtung gehabt und glaube, daß die Freimaurerei viel Gutes für die :Menschheit geschaffen hat".

In seinem vierbändigen Roman "Krieg und Frieden" schildert Tolstoi die russische Freimaurerei der Zeit des Napoleonischen Feldzuges in Rußland. In dem Fürsten Andre Bolkonski und in Pierre Besuchow entfaltet Tolstoi das für ihn charakteristische Motiv der Suche nach dem Sinn des Lebens. Eingewoben in die Schilderung Rußlands während der Invasion der Franzosen bis zu ihrer Niederlage, verflochten in die Beschreibung von Einzelschicksalen und Charakteren, wird die Aufnahme und Bewährung des Protagonisten Pierre als Freimaurer herausgearbeitet. Diese Schilderung setzt im 2. Buch zweiter Teil oder, bei durchgehender Zählung, im fünften Teil ein (manche Übersetzungen lassen einen Teil der freimaurerischen Textstellen weg). Pierre macht bei einer Reise nach Petersburg eine Zwangspause auf der Station Torschok. Hier lernt er den Freimaurer Osip Alexejewitsch Basdjejew kennen. Sie kommen ins Gespräch über die Freimaurerei, und Basdjejew definiert seine freimaurerische Haltung: "Ich würde niemals zu behaupten wagen, daß ich die Wahrheit kenne", sagte der Freimaurer, der durch seine bestimmte und feste Redeweise Pierre immer mehr und mehr in Erstaunen setzte."Kein Mensch kann allein bis zur Wahrheit vordringen. Nur Stein auf Stein, unter der Mitwirkung eines jeden aus den Millionen von Geschlechtern vom Stammvater Adam bis auf unsere Zeit, kann jener Tempel errichtet werden, der dem großen Gott eine würdige Stätte sein soll". Im folgenden Kapitel wird dann stimmungsvoll und detailliert Pierrres Aufnahme in den Bruderbund geschildert. Quelle: Internetloge

Seite 108

Auszug

Mit bebendem Herzen und leuchtenden Augen blickte Pierre dem Freimaurer ins Gesicht und hörte ihm zu; er unterbrach ihn nicht und fragte ihn nicht; aber er glaubte mit ganzer Seele das, was ihm dieser fremde Mann sagte. Glaubte er nun den Vernunftbeweisen, die in den Worten des Freimaurers enthalten waren, oder glaubte er, wie es Kinder tun, dem Ton der festen Überzeugung, dem herzlichen Klang seiner Rede, dem Zittern der Stimme, das ihn mitunter beinahe am Weitersprechen hinderte, oder diesen blitzenden Greisenaugen, die in derselben unwandelbaren Überzeugung alt geworden waren, oder dieser [109] Ruhe, dieser Festigkeit, diesem Bewußtsein der eigenen Bestimmung, Eigenschaften, die aus dem ganzen Wesen des Freimaurers hervorleuchteten und auf Pierre im Gegensatz zu seiner eigenen Niedergeschlagenheit und Hoffnungslosigkeit einen besonders imponierenden Eindruck machten; jedenfalls hegte er von ganzem Herzen den Wunsch, zu glauben, und empfand ein freudiges Gefühl der Beruhigung, der geistigen Wiedergeburt und der Rückkehr zum Leben.

»Er wird nicht mit dem Verstand begriffen, sondern durch das Leben«, sagte der Freimaurer.

Seite 110

Auszug

»Die höchste Weisheit und Wahrheit ist gleichsam eine ganz reine Flüssigkeit, die wir in uns aufzunehmen wünschen«, sagte er. »Wenn ich nun ein unreines Gefäß bin und diese reine Flüssigkeit in mich aufnehme, kann ich dann über ihre Reinheit urteilen? Nur durch innere Reinigung meiner selbst kann ich die aufgenommene Flüssigkeit bis zu einem gewissen Grad rein erhalten.«

»Ja, ja, so ist es«, rief Pierre freudig.

»Die höchste Wahrheit beruht nicht auf dem Verstand allein, nicht auf den weltlichen Wissenschaften, wie Physik, Geschichte, Chemie usw., in welche das Verstandeswissen zerfällt. Die höchste Weisheit ist eine einheitliche. Die höchste Weisheit umfaßt nur eine Wissenschaft, die Wissenschaft des Alls, diejenige Wissenschaft, [110] die den ganzen Weltenbau erklärt und den Platz, den darin der Mensch einnimmt. Um diese Wissenschaft in sich aufzunehmen, ist es notwendig, seinen inneren Menschen zu reinigen und zu erneuern, und darum muß man, ehe man zu wissen versucht, vorher glauben und sich vervollkommnen. Und damit wir diese Ziele erreichen können, ist in unsere Seele ein göttliches Licht gelegt, welches Gewissen genannt wird.«

»Ja, ja«, stimmte Pierre bei.

»Betrachte mit den Augen des Geistes deinen inneren Menschen und frage dich selbst, ob du mit dir zufrieden bist. Was hast du dadurch erreicht, daß du dich durch den Verstand allein führen ließest? Was für ein Mensch bist du? Sie sind jung, mein Herr, Sie sind reich, klug, gebildet. Was haben Sie mit allen diesen Ihnen verliehenen Gütern gemacht? Sind Sie mit sich und mit Ihrem Leben zufrieden?«


Seite 113

Auszug

»Volle Hilfe kann nur Gott gewähren«, sagte er dann; »aber dasjenige Maß von Hilfe, welches unser Orden zu erweisen vermag, wird er Ihnen zukommen lassen, mein Herr. Sie fahren nach Petersburg; übergeben Sie dies dem Grafen Willarski.« (Er zog ein Taschenbuch heraus und schrieb einige Worte auf ein großes, vierfach zusammengefaltetes Blatt Papier.) »Gestatten Sie mir, Ihnen noch einen Rat zu geben. Wenn Sie nach der Residenz kommen, so widmen Sie die erste Zeit der Einsamkeit und der Selbstprüfung, und begeben Sie sich nicht auf Ihre früheren Lebenswege. Und nun wünsche ich Ihnen glückliche Reise, mein Herr«, schloß er, da er bemerkte, daß sein Diener ins Zimmer trat, »und gutes Gelingen.«

Der Reisende war, wie Pierre aus dem Buch des Postmeisters ersah, Osip Alexejewitsch Basdjejew, einer der bekanntesten Freimaurer und Martinisten, noch aus der Zeit Nowikows her. Noch [113] lange nach der Abreise desselben ging Pierre in dem Passagierzimmer auf und ab: er legte sich nicht schlafen, er fragte nicht nach Pferden, er überdachte seine lasterhafte Vergangenheit, und von dem Gedanken an seine bevorstehende geistige Wiedergeburt begeistert, malte er sich seine glückselige, vorwurfsfreie, tugendhafte Zukunft aus, deren Herbeiführung ihm so leicht schien. Er war seiner Anschauung nach nur deshalb lasterhaft gewesen, weil er gewissermaßen zufällig vergessen gehabt hatte, wie gut es war, tugendhaft zu sein. Von den früheren Zweifeln war in seiner Seele auch nicht die Spur zurückgeblieben. Er glaubte fest an die Möglichkeit eines Bundes, in welchem sich Menschen mit der Absicht vereinigten, sich gegenseitig auf dem Weg der Tugend zu unterstützen, und als ein solcher Bund erschien ihm der Freimaurerorden.


Seite 115 bis 120

Auszug Auf dem ganzen Weg schwieg Willarski. Auf Pierres Fragen, was er zu tun und wie er zu antworten habe, erwiderte Willarski nur: »Es werden Sie würdigere Brüder, als ich, prüfen; Sie haben weiter nichts zu tun, als die Wahrheit zu sagen.«

Nachdem sie in das Tor eines großen Hauses, wo die Loge ihren Sitz hatte, eingefahren und eine dunkle Treppe hinaufgestiegen waren, traten sie in ein kleines erleuchtetes Vorzimmer, wo sie ohne Beihilfe von Dienerschaft die Pelze ablegten. Aus dem Vorzimmer gingen sie weiter nach einem anderen Zimmer. Ein Mann in sonderbarer Kleidung zeigte sich an der Tür. Willarski trat beim Hereinkommen auf ihn zu, sagte zu ihm etwas auf französisch und ging dann zu einem kleinen Schrank, in welchem Pierre Kleidungsstücke bemerkte, wie er sie vorher noch nie gesehen hatte. Aus diesem Schrank nahm Willarski ein Tuch heraus, legte es Pierre um die Augen und band es hinten mit einem Knoten zusammen, wobei er in schmerzhafter Weise die Haare mit in den Knoten hineinfaßte. Darauf bog er Pierre zu sich heran, küßte ihn, faßte ihn bei der Hand und führte ihn irgendwohin. Die in den Knoten hineingezogenen Haare verursachten Pierre einen starken Schmerz, so daß er unwillkürlich die Stirn runzelte; aber gleichzeitig lächelte er, wie wenn er sich darüber schämte. Seine große Gestalt mit den herunterhängenden Armen, der gerunzelten Stirn und dem lächelnden Mund ging mit unsicheren, schüchternen Schritten hinter Willarski her.

Willarski blieb, nachdem er ihn ungefähr zehn Schritte weit geführt hatte, stehen.

»Was Ihnen jetzt auch begegnen mag«, sagte er, »Sie müssen alles mannhaft ertragen, wenn Sie den festen Entschluß gefaßt haben, in unsere Bruderschaft einzutreten.« (Pierre antwortete bejahend durch eine Neigung des Kopfes.) »Wenn Sie an die Tür klopfen hören, so nehmen Sie sich das Tuch vor den Augen ab«, fügte Willarski hinzu. »Ich wünsche Ihnen Mannhaftigkeit und gutes Gelingen.« Er drückte Pierre die Hand und ging aus dem Zimmer.

Allein geblieben, fuhr Pierre fort in derselben Weise zu lächeln. Ein paarmal bewegte er die Schultern und hob eine Hand zu dem Tuch auf, als ob er es abnehmen wollte, ließ sie dann aber sogleich wieder sinken. Die fünf Minuten, die er so mit verbundenen Augen dastand, erschienen ihm wie eine Stunde. Die Arme schwollen ihm an, die Beine knickten ihm ein; es kam ihm vor, als sei er sehr müde. Er machte die kompliziertesten, verschiedenartigsten Empfindungen durch. Er fürchtete sich vor dem, was mit ihm vorgehen werde, und er fürchtete sich noch mehr, diese Furcht sichtbar werden zu lassen. Er war neugierig, zu erfahren, was man mit ihm vornehmen, was man ihm enthüllen werde; aber vor allem freute er sich, daß nun der Augenblick gekommen war, wo er endlich den Weg zur geistigen Wiedergeburt und zu einem werktätigen, tugendhaften Leben betreten sollte, den Weg zu den Zielen, die seit seinem Zusammentreffen mit Osip Alexejewitsch den Gegenstand seiner schwärmerischen Gedanken bildeten. Da hörte er starke Schläge gegen die Tür. Er nahm die Binde ab und blickte um sich. Im Zimmer herrschte tiefe Finsternis; nur an einer Stelle brannte ein Lämpchen in etwas Weißem. Pierre trat näher hinzu und sah, daß das Lämpchen auf einem schwarzen Tisch stand, auf dem ein aufgeschlagenes Buch lag. Dieses Buch waren die Evangelien, und das Weiße, worin das Lämpchen brannte, war ein Menschenschädel mit seinen Höhlungen und Zähnen. Pierre las die ersten Worte des Johanneischen Evangeliums: »Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott«, ging dann um den Tisch herum und erblickte einen großen, offenen, mit irgend etwas angefüllten Kasten. Dieser Kasten war ein Sarg mit Menschenknochen. Das, was er sah, setzte ihn ganz und gar nicht in Erstaunen. Da er in ein völlig neues, von dem früheren ganz verschiedenes Leben einzutreten hoffte, so war er auf lauter ungewöhnliche Dinge gefaßt, auf noch seltsamere als die, welche er jetzt zu sehen bekam. Der Schädel, der Sarg, das Evangelienbuch – es war ihm, als habe er das alles, ja noch weit Stärkeres erwartet. In dem Bemühen, ein Gefühl der Rührung in seiner Seele hervorzurufen, blickte er um sich. »Gott, der Tod, die Liebe, die Verbrüderung aller Menschen«, sagte er bei sich selbst und verband mit diesen Worten unklare, aber frohe und freudige Vorstellungen. Die Tür öffnete sich, und es trat jemand ein.

Pierre erkannte bei dem schwachen Licht, an das sein Auge sich bereits einigermaßen gewöhnt hatte, daß der Eingetretene ein Mann von kleiner Statur war. An der Art, wie er zuerst stehenblieb, war zu merken, daß er vom Hellen ins Dunkle kam; dann näherte er sich mit vorsichtigen Schritten dem Tisch und legte seine kleinen, mit ledernen Handschuhen bekleideten Hände darauf. Dieser Mann trug eine weiße Lederschürze, welche ihm die Brust und einen Teil der Beine bedeckte; um den Hals hatte er eine Art Halsband, und aus dem Halsband erhob sich eine hohe, weiße Krause, die sein längliches, von unten her beleuchtetes Gesicht umrahmte.

Bei einem Geräusch, das Pierre verursachte, wandte sich der Eingetretene zu ihm hin und redete ihn an.

»Warum sind Sie hierhergekommen?« fragte er ihn. »Warum sind Sie, der Sie nicht an die Wahrheit des Lichtes glauben und das Licht nicht sehen, warum sind Sie hierhergekommen? Was wollen Sie von uns? Weisheit, Tugend, Erleuchtung?«

In dem Augenblick, wo die Tür aufgegangen und der unbekannte Mann hereingekommen war, hatte Pi erre ein Gefühl der Ängstlichkeit und der Andacht empfunden, ähnlich dem, das er als Kind bei der Beichte gehabt hatte: er war überzeugt gewesen, er befinde sich hier Auge in Auge einem Mann gegenüber, der ihm hinsichtlich der äußeren Lebensverhältnisse völlig fremd sei und ihm doch kraft der Verbrüderung der Menschen sehr nahestehe. Aber als er sich mit einem Herzklopfen, das ihm fast den Atem benahm, dem »Redner« (so wurde in der Freimaurerei derjenige Bruder genannt, der den »Suchenden« zum Eintritt in die Bruderschaft vorbereitete) näherte, sah er, daß er einen Bekannten, namens Smoljaninow, vor sich hatte. Und dieser Gedanke, daß der Eingetretene ein Bekannter von ihm sei, war ihm peinlich; nach Pierres Empfindung sollte der Eingetretene ihm lediglich Bruder und Führer zur Tugend sein. Lange Zeit war Pierre nicht imstande, ein Wort herauszubringen, so daß der Redner seine Frage wiederholen mußte.

»Ja, ich ... ich ... habe das Verlangen nach einer geistigen Wiedergeburt«, brachte er endlich mit Mühe heraus.

»Gut«, erwiderte Smoljaninow und fuhr sogleich fort: »Haben Sie einen Begriff von den Mitteln, durch die unser heiliger Orden Ihnen zur Erreichung Ihres Zieles behilflich sein wird?« Er sprach schnell, aber in ruhigem Ton.

»Ich ... ich hoffe ... auf Führung ... und Hilfe ... zur geistigen Wiedergeburt«, antwortete Pierre mit zitternder Stimme und in stockender Rede, was sowohl von seiner Aufregung herrührte als auch von der mangelnden Gewöhnung, über abstrakte Gegenstände russisch zu sprechen.

»Was haben Sie von der Freimaurerei für einen Begriff?«

»Ich stelle mir vor, daß die Freimaurerei eine Verbrüderung und Gleichstellung der Menschen ist und die Tugend zum Ziel hat«, antwortete Pierre, der, je länger er sprach, sich um so mehr darüber schämte, daß seine Worte der Feierlichkeit des Augenblicks so wenig entsprächen. »Ich stelle mir vor ...«

[119] »Gut«, unterbrach ihn eilig der Redner, der durch diese Antwort offenbar vollständig befriedigt war. »Haben Sie die Mittel zur Erreichung Ihres Zieles in der Religion gesucht?«

»Nein, ich hielt die Religion nicht für wahr und folgte ihr nicht«, antwortete Pierre so leise, daß der Redner ihn nicht verstand und fragte, was er gesagt habe. »Ich war Atheist«, sagte Pierre.

»Sie suchen die Wahrheit, um ihren Gesetzen im Leben zu folgen; folglich suchen Sie Weisheit und Tugend, nicht wahr?« fragte der Redner nach kurzem Stillschweigen.

»Ja, ja«, erwiderte Pierre.

Der Redner räusperte sich, faltete die behandschuhten Hände über der Brust und begann dann:

»Jetzt muß auch ich Ihnen den Hauptzweck unseres Ordens mitteilen, und wenn dieser Zweck mit dem Ihrigen zusammenfällt, dann werden Sie mit Nutzen in unsere Bruderschaft eintreten. Die erste und hauptsächlichste Aufgabe und zugleich die Grundlage unseres Ordens, auf der er fest ruht und die keine menschliche Gewalt zerstören kann, besteht darin, ein gewisses wichtiges Geheimnis zu bewahren und den Nachkommen zu überliefern, ein Geheimnis, das von den allerältesten Zeiten, ja von dem ersten Menschen, auf uns gekommen ist und von dem vielleicht das Schicksal des Menschengeschlechts abhängt. Aber da dieses Geheimnis von der Art ist, daß niemand es erkennen und von ihm Nutzen ziehen kann, wenn er sich nicht durch langdauernde, sorgsame Läuterung seines eigenen Selbst vorbereitet hat, so kann nicht jeder hoffen, schnell in den Besitz dieses Geheimnisses zu gelangen. Daher besteht unsere zweite Aufgabe darin, unsere Mitglieder nach Möglichkeit vorzubereiten, ihr Herz zu bessern, ihren Verstand zu läutern und zu erleuchten, und zwar mit denjenigen Mitteln, die uns von Männern überliefert sind, welche an der Erforschung jenes Geheimnisses gearbeitet haben, und sie auf diese Art zur Aufnahme desselben fähig zu machen. Dadurch, daß wir unsere Mitglieder läutern und bessern, arbeiten wir drittens auch an der Besserung des ganzen Menschengeschlechts, indem wir ihm in unseren Mitgliedern Beispiele der Ehrenhaftigkeit und Tugend vor Augen stellen, und wir bemühen uns so mit allen Kräften, das Böse, das in der Welt herrscht, zu bekämpfen. Denken Sie darüber nach; ich komme dann wieder zu Ihnen.« Er verließ das Zimmer.

»Das Böse, das in der Welt herrscht, zu bekämpfen ...«, wiederholte Pierre für sich und malte sich seine künftige Tätigkeit auf diesem Gebiet aus. Er vergegenwärtigte sich ebensolche Menschen, wie er selbst vor zwei Wochen einer gewesen war, und wandte sich in Gedanken mit einer belehrenden, ermahnenden Ansprache an sie. Er vergegenwärtigte sich lasterhafte, unglückliche Menschen, denen er mit Wort und Tat half; er vergegenwärtigte sich Bedrücker, aus deren Händen er ihre Opfer rettete. Von den drei Aufgaben, die der Redner genannt hatte, hatte die letzte, die Besserung des Menschengeschlechts, für Pierre eine besondere Anziehungskraft. Das wichtige Geheimnis, das der Redner erwähnt hatte, reizte zwar auch seine Neugierde, erschien ihm aber nicht als das Wesentlichste; und auch die zweite Aufgabe, die Läuterung und Besserung des eigenen Selbst, interessierte ihn nur wenig, da er in diesem Augenblick die genußreiche Empfindung hatte, er habe sich von seinen früheren Lastern schon völlig gebessert und sei nun einzig und allein zum Guten bereit.

Seite 121 bis Seite 124

Nach einer halben Stunde kehrte der Redner zurück, um dem Suchenden die sieben Tugenden mitzuteilen, die, wie er sagte, den sieben Stufen des salomonischen Tempels entsprächen und die ein jeder Freimaurer in sich hegen müsse. Diese Tugenden waren:

  • 1. Verschwiegenheit, Bewahrung des Ordensgeheimnisses,
  • 2. Gehorsam gegenüber den Oberen des Ordens,
  • 3. Sittenreinheit,
  • 4. Menschenliebe,
  • 5. Mannhaftigkeit,
  • 6. Mildtätigkeit und
  • 7. Liebe zum Tod.

»Was die siebente Tugend anlangt«, sagte der Redner, »so müssen Sie sich durch häufiges Nachdenken über den Tod bemühen, dahin zu gelangen, daß er Ihnen nicht mehr als ein furchtbarer Feind, sondern als ein Freund erscheint, der die Seele, nachdem sie sich in den Werken der Tugend abgemüht hat, von diesem elenden Leben befreit und zu der Stätte der Belohnung und der Ruhe führt.«

»Ja, so muß es sein«, dachte Pierre, als nach diesen Worten der Redner wieder von ihm weggegangen war und ihn seinem einsamen Nachdenken überlassen hatte. »So muß es sein; aber ich bin noch so schwach, daß ich mein Leben liebe, dessen Sinn und Bedeutung mir erst jetzt allmählich klarzuwerden beginnt.«

Aber die übrigen fünf Tugenden, auf die sich Pierre, an den Fingern zählend, besinnen konnte, meinte er in seiner Seele vorzufinden: die Mannhaftigkeit und die Mildtätigkeit und die Sittenreinheit und die Menschenliebe und namentlich den Gehorsam, der ihm nicht einmal als eine Tugend, sondern als ein Glück erschien. Er war jetzt sehr froh darüber, dem Zustand unbeschränkter Willensfreiheit entrückt zu werden und sich demjenigen und denen unterzuordnen, die die zweifellose Wahrheit wüßten. Die siebente Tugend hatte Pierre vergessen und konnte sich schlechterdings nicht auf sie besinnen.

Der Redner kehrte zum drittenmal schneller zurück und richtete an Pierre die Frage, ob er immer noch bei seiner Absicht bleibe und entschlossen sei, sich allem zu unterwerfen, was man von ihm verlangen werde.

»Ich bin zu allem bereit«, erwiderte Pierre.

»Ferner muß ich Ihnen noch mitteilen«, sagte der Redner, [122] »daß unser Orden seine Belehrung nicht nur in Worten erteilt, sondern auch durch andere Mittel, die auf denjenigen, der aufrichtig nach Weisheit und Tugend sucht, vielleicht noch stärker wirken als lediglich mündliche Erklärungen. Dieses Gemach hier mit seiner Einrichtung, die Sie sehen, hat Ihrem Herzen, wenn anders dieses aufrichtig sucht, gewiß schon mehr kundgetan, als es bloße Worte vermöchten; und bei weiterer Zulassung werden Ihnen vielleicht noch mehr derartige Offenbarungen zuteil werden. Unser Orden folgt darin dem Vorgang älterer Genossenschaften, die ihre Lehre durch Hieroglyphen mitteilten. Eine Hieroglyphe«, sagte der Redner, »ist ein bildlicher Ausdruck für ein übersinnliches Ding, welches ähnliche Eigenschaften besitzt, wie das bildlich dargestellte.«

Pierre wußte sehr wohl, was Hieroglyphen sind, wagte aber nicht, dies zu sagen. Er hörte dem Redner schweigend zu und merkte an allem, daß nun gleich die Prüfungen beginnen würden.

»Wenn Sie in Ihrem Entschluß fest sind, dann liegt es mir ob, zu Ihrer Einführung zu schreiten«, sagte der Redner und trat dabei näher an Pierre heran. »Zum Zeichen der Mildtätigkeit ersuche ich Sie, mir alle Ihre Wertsachen einzuhändigen.«

»Aber ich habe nichts bei mir«, erwiderte Pierre, welcher glaubte, man verlange von ihm die Herausgabe aller Kostbarkeiten, die er besäße.

»Das, was Sie bei sich haben: Uhr, Geld, Ringe ...«

Pierre zog eilig seine Uhr und seine Geldbörse heraus, konnte aber seinen Trauring lange nicht von dem fleischigen Finger herunterbekommen. Als dies erledigt war, sagte der Freimaurer:

»Zum Zeichen des Gehorsams ersuche ich Sie, sich zu entkleiden.«

[123] Nach Anweisung des Redners zog Pierre den Frack, die Weste und den linken Stiefel aus. Der Freimaurer machte ihm das Hemd über der linken Brust auf; dann bückte er sich und zog ihm am linken Bein die Hose bis über das Knie hinauf. Pierre wollte eilig auch am rechten Bein den Stiefel ausziehen und die Hose aufstreifen, um dem fremden Mann diese Mühe zu ersparen; aber der Freimaurer sagte ihm, das sei nicht erforderlich, und gab ihm einen Pantoffel für den linken Fuß. Ein kindliches Lächeln der Scham, des Zweifels und des Spottes über sich selbst trat unwillkürlich auf Pierres Gesicht. So stand er mit herabhängenden Armen und gespreizten Beinen vor dem Bruder Redner da und wartete auf dessen weitere Anweisungen.

»Und endlich ersuche ich Sie, zum Zeichen der Aufrichtigkeit mir Ihre wichtigste Leidenschaft anzugeben«, sagte dieser.

»Meine Leidenschaft! Ich hatte ihrer eine Menge«, erwiderte Pierre.

»Diejenige Leidenschaft, die mehr als andere Sie auf dem Weg zur Tugend straucheln ließ«, sagte der Freimaurer.

Pierre schwieg ein Weilchen und sann nach.

»Wein? Gutes Essen? Müßiggang? Trägheit? Heftigkeit? Bosheit? Weiber?« So musterte er seine Laster, wägte sie in Gedanken gegeneinander ab und wußte nicht, welches er für das schlimmste halten sollte.

»Die Weiber«, sagte er endlich mit leiser, kaum hörbarer Stimme.

Der Freimaurer rührte sich nicht und schwieg nach dieser Antwort lange. Dann ergriff er das auf dem Tisch liegende Tuch, trat zu Pierre heran und verband ihm wieder die Augen.

»Ich ermahne Sie noch ein letztes Mal: achten Sie auf sich selbst mit der größten Aufmerksamkeit, legen Sie Ihren Affekten Fesseln an, und suchen Sie das Glück nicht in den Leidenschaften, [124] sondern in Ihrem Herzen. Die Quelle der Glückseligkeit befindet sich nicht außer uns, sondern in uns.«

Pierre fühlte diese erfrischende Quelle der Glückseligkeit, die seine Seele mit freudiger Rührung erfüllte, bereits in sich.

Quelle: Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 113-124. Lizenz: Gemeinfrei

Seite 124 bis Seite 129

IV

Bald darauf kam zu Pierre in das dunkle Gemach nicht mehr der bisherige Redner, sondern sein Bürge Willarski, den er an der Stimme erkannte. Auf dessen neue Fragen nach der Festigkeit seines Entschlusses antwortete Pierre: »Ja, ja, ich bin willens«, und ging mit einem strahlenden, kindlichen Lächeln, die fleischige Brust entblößt, ungleichmäßig und schüchtern mit einem gestiefelten und einem stiefellosen Fuß auftretend, vorwärts, während Willarski ihm einen Degen gegen die nackte Brust hielt. Er wurde aus diesem Zimmer durch Korridore geleitet, die sich bald zurück, bald wieder vorwärts wanden, und schließlich an die Tür der Loge geführt. Willarski hustete; es wurde ihm durch freimaurerisches Hammerklopfen geantwortet, und die Tür öffnete sich vor ihnen. Eine Baßstimme (Pierres Augen waren immer noch verbunden) richtete Fragen an ihn: wer er wäre, wo und wann er geboren sei usw. Dann führte man ihn wieder irgendwohin, ohne ihm die Binde von den Augen zu nehmen, und redete während des Gehens zu ihm von den Mühseligkeiten seiner Wanderung, womit allegorisch das Erdendasein bezeichnet wurde, von der heiligen Freundschaft, von dem urewigen Baumeister der Welt und von der Mannhaftigkeit, mit der er Mühen und Gefahren ertragen müsse. Bei dieser Wanderung bemerkte Pierre, daß man ihn bald den »Suchenden«, bald den »Leidenden«, bald den »Verlangenden« nannte und dabei in verschiedener Weise mit Hammern und Degen aufklopfte. Während er zu [125] irgendeinem Gegenstand hingeführt wurde, spürte er, daß unter seinen Führern eine Unordnung und Verwirrung entstand. Er hörte, wie die ihn umgebenden Männer flüsternd miteinander stritten, und wie einer von ihnen darauf bestand, er sollte über einen Teppich geführt werden. Darauf ergriffen sie seine rechte Hand und legten sie auf irgend etwas, mit der linken aber mußte er einen Zirkel gegen seine linke Brust setzen, und so ließen sie ihn den Eid der Treue gegen die Gesetze des Ordens leisten, indem er die Worte wiederholen mußte, die ein anderer vorsprach. Dann wurden Kerzen ausgelöscht und Spiritus angezündet, was Pierre an dem Geruch merkte, und man sagte ihm, er werde nun das kleine Licht sehen. Man nahm ihm die Binde ab, und Pierre sah wie im Traum bei dem schwachen Schein der Spiritusflamme mehrere Männer, die, mit ebensolchen Schürzen wie der Redner angetan, ihm gegenüberstanden und Degen auf seine Brust gerichtet hielten. Unter ihnen stand ein Mann in einem weißen, mit Blut befleckten Hemd. Bei diesem Anblick machte Pierre mit der Brust eine Bewegung nach vorn auf die Degen zu, in dem Wunsch, daß diese in seine Brust eindringen möchten. Aber die Degen wichen von ihm zurück, und man legte ihm sogleich wieder die Binde um.

»Jetzt hast du das kleine Licht gesehen«, hörte er einen der Männer sagen. Dann wurden die Kerzen wieder angezündet; man sagte ihm, er solle nun auch das volle Licht sehen; die Binde wurde ihm wieder abgenommen, und mehr als zehn Stimmen sagten zugleich: »Sic transit gloria mundi.«

Allmählich begann Pierre sich zu sammeln und das Zimmer, in dem er war, und die darin befindlichen Menschen zu betrachten. Um einen langen, mit schwarzem Tuch bedeckten Tisch saßen etwa zwölf Männer, alle in derselben Tracht wie die, die er vorher gesehen hatte. Einige von ihnen kannte Pierre von der[126] Petersburger Gesellschaft her. Auf dem Platz des Vorsitzenden saß ein ihm unbekannter junger Mann, mit einem eigenartigen Kreuz um den Hals. Rechts von diesem saß der italienische Abbé, welchen Pierre vor zwei Jahren bei Anna Pawlowna gesehen hatte. Ferner war da noch ein sehr hochgestellter Beamter und ein Schweizer, der früher im Kuraginschen Haus als Erzieher tätig gewesen war. Alle beobachteten ein feierliches Stillschweigen und warteten auf die Worte des Vorsitzenden, der einen Hammer in der Hand hielt. In eine Wand war ein leuchtender Stern eingefügt; auf der einen Seite des Tisches lag ein kleiner Teppich mit verschiedenen bildlichen Darstellungen; auf der andern stand eine Art Altar mit einem Evangelienbuch und einem Totenkopf. Um den Tisch herum standen sieben große Kandelaber, von der Art, wie sie in Kirchen gebraucht werden. Zwei der Brüder führten Pierre zu dem Altar hin, stellten ihm die Füße so, daß sie einen rechten Winkel bildeten, und forderten ihn auf, sich hinzulegen, wobei sie bemerkten, er werfe sich vor dem Tor des Tempels nieder.

»Er muß vorher eine Kelle bekommen«, sagte flüsternd einer der Brüder.

»Ach, bitte, lassen Sie es nur gut sein!« erwiderte ein andrer.

Pierre gehorchte nicht sogleich, sondern blickte mit seinen kurzsichtigen Augen verlegen um sich, und auf einmal befiel ihn ein Zweifel. »Wo bin ich? Was tue ich? Macht man sich auch nicht über mich lustig? Wird mir auch die Erinnerung daran später nicht beschämend sein?« Aber dieser Zweifel dauerte nur einen Augenblick. Pierre blickte in die ernsten Gesichter der ihn umgebenden Männer, er erinnerte sich an alles, was er hier bereits durchgemacht hatte, und sah ein, daß er nicht auf halbem Weg stehenbleiben konnte. Er erschrak über seinen Zweifel, und eifrig bemüht, in seiner Seele das frühere Gefühl der Rührung wieder [127] wachzurufen, warf er sich vor dem Tor des Tempels nieder. Und wirklich kam jenes Gefühl der Rührung wieder über ihn, sogar in noch höherem Grad als vorher. Nachdem er eine Zeitlang gelegen hatte, hieß man ihn aufstehen, band ihm eine ebensolche weiße Lederschürze um, wie sie die andern trugen, gab ihm eine Kelle in die Hand sowie drei Paar Handschuhe, und dann wandte sich der Meister vom Stuhl zu ihm. Er sagte zu ihm, er solle darauf bedacht sein, die Weiße dieses Schurzfelles, welches symbolisch die Charakterfestigkeit und die Sittenreinheit bedeute, nicht zu beflecken; über die Kelle, deren Bedeutung er nicht erklärte, fügte er hinzu, er solle sich bemühen, mit ihr sein eigenes Herz von Fehlern zu reinigen und das Herz des Nächsten nachsichtig zu glätten und zu besänftigen. Darauf sagte er über das erste Paar Männerhandschuhe, ihre Bedeutung könne Pierre noch nicht verstehen; aber er solle sie aufbewahren; über das zweite Paar, gleichfalls Männerhandschuhe, sagte er, er solle sie zu den Versammlungen anziehen, und endlich sagte er über das dritte Paar, ein Paar Frauenhandschuhe: »Lieber Bruder, auch diese Frauenhandschuhe sind für Sie bestimmt. Geben Sie sie derjenigen Frau, die Sie höher achten werden als alle andern. Durch diese Gabe werden Sie derjenigen, die Sie sich als würdige Freimaurerin erlesen werden, die Versicherung geben, daß Ihr Herz rein und lauter ist.« Und nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Aber gib acht, lieber Bruder, daß diese Handschuhe nicht unreine Hände schmücken.« Als der Meister vom Stuhl diese letzten Worte sprach, hatte Pierre die Empfindung, daß der Vorsitzende in Verlegenheit gerate. Pierre selbst wurde noch mehr verlegen, errötete so, daß ihm die Tränen in die Augen kamen, wie Kinder oft erröten, und begann unruhig um sich zu sehen. Es trat ein unbehagliches Schweigen ein.

Dieses Schweigen wurde von einem der Brüder unterbrochen, [128] welcher Pierre zu dem Teppich führte und ihm aus einem Heft eine Erklärung aller darauf dargestellten Figuren vorzulesen begann: der Sonne, des Mondes, des Hammers, des Richtlotes, der Kelle, des rohen und des kubisch behauenen Steines, der Säule, der drei Fenster usw. Dann wurde ihm sein Platz angewiesen, man zeigte ihm die Erkennungszeichen der Loge, sagte ihm das Losungswort für den Eintritt und gestattete ihm schließlich, sich hinzusetzen. Der Meister vom Stuhl las nun die Satzungen vor. Diese Satzungen waren sehr lang, und Pierre war vor Freude, Aufregung und Verlegenheit nicht imstande, das, was vorgelesen wurde, zu verstehen. Nur auf die letzten Sätze der Satzungen gab er besser acht, und diese prägten sich seinem Gedächtnis ein:

»In unsern Tempeln kennen wir keine anderen Verschiedenheiten«, las der Meister vom Stuhl, »als diejenigen, die zwischen der Tugend und dem Laster bestehen. Hüte dich, irgendeinen Unterschied zu machen, der die Gleichheit stören könnte. Eile dem Bruder zu Hilfe, wer er auch sei; belehre den Irrenden; richte den Gefallenen auf, und hege niemals Groll oder Feindschaft gegen einen Bruder. Sei freundlich und liebreich. Erwecke in allen Herzen die Glut der Tugend. Freue dich über das Glück deines Nächsten, und möge niemals Neid diesen reinen Genuß stören. Verzeihe deinem Feind; räche dich nicht an ihm, es sei denn dadurch, daß du ihm Gutes tust. Wenn du so das höchste Gesetz erfüllst, so wirst du etwas von der urzeitlichen Seelengröße wiedergewinnen, die du verloren hast.«

Er schloß, stand auf, umarmte Pierre und küßte ihn. Mit Freudentränen in den Augen blickte Pierre um sich und wußte gar nicht, was er allen antworten sollte, die ihn umringten, ihn beglückwünschten und zum Teil eine frühere Bekanntschaft erneuerten. Aber er machte zwischen alten und neuen Bekannten [129] keinen Unterschied; in allen diesen Männern sah er nur Brüder und brannte vor Ungeduld, sich mit ihnen gemeinsam ans Werk zu machen.

Der Meister vom Stuhl klopfte mit dem Hammer auf; alle setzten sich auf ihre Plätze, und einer von ihnen las eine ermahnende Ansprache über die Notwendigkeit der Demut vor.

Dann forderte der Meister vom Stuhl die Brüder auf, die letzte ihnen obliegende Pflicht zu erfüllen, und der hohe Beamte, der den Titel »Almosensammler« führte, begann bei den Brüdern umherzugehen. Pierre hätte am liebsten in die Almosenliste alles Geld eingezeichnet, das er verfügbar hatte; aber er fürchtete, dadurch Hochmut zu bekunden, und trug nur ungefähr ebensoviel ein wie die andern.

Die Sitzung wurde geschlossen. Als Pierre nach Hause kam, war ihm zumute, als kehrte er von einer weiten Reise zurück, auf der er Jahrzehnte zugebracht, sich völlig verändert und sich seiner ganzen früheren Lebenseinrichtung und allen seinen ehemaligen Gewohnheiten entfremdet hätte.


Quelle: Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 2, S. 124-129. Lizenz: Gemeinfrei

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