Ferdinand Hanusch
Ferdinand Hanusch (1866 bis 1923), aufgewachsen in ärmlichen Verhältnissen der frühindustriellen Zeit, wurde in den Jahren nach 1900 bis zu seinem frühen Tod zu einem großen österreichischen Sozialpolitiker. Viele der von ihm erkämpften sozialpolitischen Errungenschaften prägen die österreichische Sozialpolitik bis ins 21. Jahrhundert. - Und er war ein Freimaurer.
Diese Seite über Ferdinand Hanusch würdigt sein Wirken, wobei sie auf drei Quellen zurückgreift:
- Erstens auf den kurzen Eintrag im Internationalen Freimaurer-Lexikon aus dem Jahr 1930.
- Zweitens auf den Eintrag über Ferdinand Hanusch in Wikipedia.
- Und die dritte Quelle ist ein Vortrag, den ein kundiger österreichischer Freimaurer Anfang 2023, also ein Jahrhundert nach Hanuschs Tod, zu dessen Würdigung vor der Forschungsloge „Quatuor Coronati“ der Großloge von Österreich gehalten hat. Der ausführliche Text ist eine Mitschrift, die vom Vortragenden für das Freimaurer-Wiki freigegeben wurde: eine spannende Biografie - eingebettet in die ebenso spannende aber auch verstörende Sozialgeschichte der Jahrzehnte vor und nach 1900. Im Namen des Freimaurer-Wikis dankt Rudi Rabe für die Freigabe.
Inhaltsverzeichnis
➤ Hanusch, Ferdinand
Quelle: Internationales Freimaurer-Lexikon von Eugen Lennhoff und Oskar Posner (1932)
erster Staatssekretar (Minister) für soziale Fürsorge der Republik Österreich, * 1866, † 1923, Webergeselle, Schöpfer des österreichischen Arbeiter und Angestelltenrechtes. Sein Andenken ehren das Denkmal der Republik vor dem Wiener Parlament, eine Straße und ein Gemeindebau, die seinen Namen tragen. Hanusch war Deputierter Meister der Loge "Lessing" und Mitglied des Großbeamtenrates (stellvertretender Erster Großaufseher) der Großloge von Wien.
➤ Ferdinand Hanusch in Wikipedia
Quelle: Wikipedia
Leben
Ferdinand Hanusch wuchs mit seinen drei Brüdern bei seiner Mutter auf; sein Vater war kurz nach seiner Geburt verstorben. Seine Kindheit war geprägt durch die Not und das Elend der Hausweber in Schlesien. Hanusch arbeitete als Hilfsarbeiter an den mechanischen Webstühlen einer Bandfabrik. Nach Jahren der Walz, in denen er immer wieder aufgegriffen und nach Schlesien zurückgebracht wurde, fand er in seiner Heimatstadt Arbeit in einer Seidenfabrik. Urnengrab Feuerhalle Simmering
Mit 25 Jahren engagierte er sich aktiv in der Arbeiterbewegung. 1897 wurde er Gewerkschafts- und Parteisekretär in Sternberg, damals ein Textilindustriezentrum in Nordmähren. Nachdem er 1903 nach Wien geholt und dort zu einem der Vorsitzenden der Reichskommission der Freien Gewerkschaften gewählt worden war, wurde er 1907 als Sozialdemokrat mit 41 Jahren Abgeordneter zum Reichsrat und blieb dies bis zum Ende der österreichisch-ungarischen Monarchie.
Von 21. Oktober 1918 war er, wie alle gewesenen deutschen Reichsratsabgeordneten, Mitglied der Provisorischen Nationalversammlung für Deutschösterreich. Am 16. Februar 1919 wurde er bei den ersten Wahlen, bei denen auch Frauen wahlberechtigt waren, in die Konstituierende Nationalversammlung gewählt.
Von 30. Oktober 1918 bis 22. Oktober 1920 war Hanusch in den von der Nationalversammlung gewählten Staatsregierungen Renner I, Renner II, Renner III und Mayr I Staatssekretär (= Minister) für soziale Fürsorge bzw. ab 1919 soziale Verwaltung. Als solcher legte er der Nationalversammlung das von ihr am 26. Februar 1920 beschlossene Arbeiterkammergesetz vor.[1] Mit seinem Wirken sind (siehe unten) viele weitere Regelungen zum Schutz der Interessen der Arbeitenden und soziale Errungenschaften verbunden.
Hanusch, nach wie vor auch einer der Gewerkschaftsvorsitzenden, wurde nach dem am 22. Oktober 1920 erfolgten Ausscheiden der Sozialdemokraten aus der Regierung 1921 erster Direktor der Arbeiterkammer in Wien. 1920 bis 1923 war er für die SDAPÖ Abgeordneter zum Nationalrat.
Sein ehrenhalber gewidmetes Grab befindet sich in Wien im Urnenhain der Feuerhalle Simmering (Abteilung MR, Gruppe 45, Grab Nr. 1G). Seit 12. November 1928 wird Ferdinand Hanuschs mit dem Republikdenkmal neben dem Parlament in Wien gedacht: Er ist einer der drei Politiker, die dort mit einer Büste geehrt werden.
Meilensteine der Sozialpolitik
Während seiner zweijährigen Tätigkeit baute er eine Sozialgesetzgebung auf, die als Vorbild für andere Staaten diente. Ihm zu verdanken ist ein zeitgemäßes Krankenkassenwesen und ein großer Ausbau der Sozialversicherung, Urlaubsanspruch für Arbeiter, der durch Kollektivvertrag garantierte Mindestlohn, die 48-Stunden-Arbeitswoche, das Verbot der Kinderarbeit unter 12 Jahren, die Arbeitslosenversicherung, das Betriebsrätegesetz und die sechswöchige Karenzzeit für Frauen und die Errichtung der Kammern für Arbeiter und Angestellte. Er legte den Grundstein für die nachmalig eingeführte Alters- und Invaliditätsversicherung der Arbeiter.
Nach ihm wurde das ehemalige Erzherzog-Rainer-Spital, das heutige Hanusch-Krankenhaus, in Wien benannt, ebenso die Hanuschgasse (1. Bezirk), in Salzburg der Hanuschplatz am Salzachkai und die Ferdinand-Hanusch-Gasse in Brunn am Gebirge.
Publikationen
Ferdinand Hanusch publizierte neben theoretischen Schriften wie Parlament und Arbeiterschutz (1913) und Sozialpolitik im neuen Österreich (1923) auch Theaterstücke und Erzählungen mit sozialreformerischem und kämpferischem Inhalt.
➤ Ferdinand Hanusch: ein großer Sozialpolitiker - und Freimaurer
Vortrag in der Loge „Quatuor Coronati“ der Großloge von Österreich im Jänner 2023.
Ich habe meine Arbeit mit einem Dank an den Autor Walter Göhring, der 2003 gemeinsam mit Brigitte Pellar eine Hanusch-Biographie publiziert hat, in vier Teile geteilt:
- Kindheit und Jugend von Ferdinand Hanusch
- Hanusch als Schriftsteller
- Seine Zeit als Freimaurer
- Sein Lebenswerk als Staatsekretär für soziale Verwaltung (= Sozialminister)
➤ ➤ Kindheit und Jugend
Würde ich jetzt fragen, wie hoch die Lebenserwartung in Nordböhmen, einer der industrialisiertesten Regionen der Monarchie, rund um die Jahre 1870 bis 1880 gewesen ist - heute liegt sie in Österreich bei ca. 80 Jahren – würden wahrscheinlich viele meinen: Etwa halb so hoch wie heute, also vielleicht bei durchschnittlich 40 Jahren.
In Wirklichkeit lag die Lebenserwartung nach offiziellen Statistiken um 1900 bei 30 Jahren und bei Arbeiterinnen sogar noch niedriger. Schneiderinnen kamen bloß auf 24 Jahre. Natürlich ist an diesen Zahlen die hohe Kindersterblichkeit schuld. Dennoch können wir uns heute kaum mehr vorstellen, unter welchen Bedingungen die Weber in Nordböhmen gelebt haben. Hanusch erlebte und beschreibt es.
Er kommt 1866 in Oberdorf bei Wigstadtl, Österreichisch-Schlesien, im heutigen Nordböhmen, zur Welt. Sein Vater, wahrscheinlich wie viele Arbeiter ein Branntweintrinker, stirbt vor seiner Geburt. Die Mutter, eine Weberin in Hausarbeit, ist Analphabetikerin. Sie kann nicht einmal ihren Namen schreiben und muss stattdessen unter Aufsicht drei Kreuze zeichnen. Sie ist, wie fast der ganze, deutschsprachige Ort, tief katholisch und muss vier Kinder vor dem Verhungern retten.
Die Schulpflicht, die immerhin schon hundert Jahre besteht, ist den Erwachsenen verhasst. Eltern versuchen, sie zu vermeiden, denn sie hält die Kinder von der überlebensnotwendigen Heimarbeit ab. Die Brüder von Hanusch können nach ein paar Schuljahren kaum lesen und schreiben. Der junge Ferdinand Hanusch muss ab dem vierten oder fünften Lebensjahr am Webstuhl der Mutter mitarbeiten. Im Winter kann er nicht zur Schule gehen, weil er keine Schuhe hat. Vor den „Mußestunden in der Schule“ muss er zwei Stunden lang das Garn abspulen, das dann am Vormittag von der Mutter verwendet wird. Am Nachmittag sitzt er selbst vor dem Webstuhl. Er muss tagelang im Bett liegen, weil es kein Heizmaterial gibt. Sammelt er, wie alle Kinder, im Wald dürre Äste und Zapfen zum Heizen, wird er auf Befehl des Grundherrn festgenommen. Der Ortsteil, in dem Hanusch aufwächst, wird wegen des illegalen Sammelns von dürren Ästen „Diebsgraben“ genannt.
Das Ergebnis dieser Kindheit war, dass Hanusch nach seiner Schulzeit nur notdürftig lesen und noch schlechter rechnen und schreiben konnte.
Heute sprechen Historiker von den damaligen Weberinnen und Weber als „weißen Sklaven“. Sie sind in der Tat Leibeigene. Gerhard Hauptmann hat ihrem Aufstand im Jahr 1844 mit der Tragödie „Die Weber“ 1892 ein literarisches Denkmal gesetzt.
In Nordböhmen gibt es zwei Arten der Weberarbeit: in den Fabriken und in Heimarbeit. Die Fabrikarbeiter haben es etwas besser, können jedoch von den Unternehmern nach Belieben ausgesperrt werden. Dass bedeutet Lohnausfall. Als Verschärfung verbietet die Polizei den Ausgesperrten das Wegziehen aus der Ortschaft, um sie den Unternehmern jederzeit für einen mögliche Wiederaufnahme der Arbeit verfügbar zu halten. Das Ab- und Auswandern – auch Hanusch will Europa verlassen und nach Übersee - wird damit verhindert. Die Arbeiter werden damit an eine Scholle gebunden, die sie kaum ernährt.
Noch schlimmer als die Lage der Fabriksarbeiter ist jene der Familien in Heimarbeit. Um 1880 arbeiten rund 300.000 Menschen in Fabriken und 200.000 in Heimarbeit. Für letztere gibt es keinerlei Regelungen. Sie sind die Lohndrücker für die Fabrikarbeiter.
Es ist die Zeit eines ungezügelten Frühkapitalismus: Die Behausung der Heimweber ist gleichzeitig die Produktionsstätte. Familien, inklusive der Kinder, arbeiten 12 bis 16 Stunden am Tag, in gebückter Haltung, in ungeheizten Wohnungen, hungernd und krank. Die Lungenkrankheit ist eine Weberkrankheit. Auch die Mutter von Hanusch stirbt an Lungentuberkulose. Sie ist die Proletarierkrankheit.
Hanusch beschreibt diese Heimarbeit einer Weberfamilie:
- „Der Schatten des Webstuhls, in dem die Kinder spielten, konnte das Elend nicht verdecken, das aus diesen drei kleinen Gestalten sprach. Die Lumpen, die ihre Körper notdürftig bedeckten, waren nicht imstande, Beine und Arme zu verhüllen, die steckenartig an den abgezehrten Körper hingen. Die aufgeblähten Erdäpfelbäuche standen in schreiendem Gegensatz zu den übrigen Gliedern, während die abnormal großen Köpfe von den dünnen Hälsen abzubrechen drohten. Bei der geringsten Anstrengung trat bei den Kleinen Atemnot ein und fieberhaft hoben und senkten sich die schwachen Brustkästen.“
- “Insgesamt waren acht Personen gezwungen, in dem engen Raume, von dem der Webstuhl allein ein Viertel einnahm, ihr Leben zu verbringen …
Das monotone Klappern des Webstuhls machte die ganze Stube erzittern. Halbnackte Kinder spielten auf dem Boden, ein achtjähriger, bleichsüchtiger Knabe saß beim Spulrad. Während er es mit dem rechten Fuß trieb, lenkte er mit den Fingern der linken Hand den weißen Faden. Die Eheleute saßen hinter den Webstühlen …“
- “Zwei unverglaste Heiligenbilder und ein großes Kruzifix hängen an der Wand … In diesem Raum, es ist der schönste des Hauses, wohnt der Weber nicht. Hier arbeitet und isst er bloß. Wohnen muss er auf dem finsteren Dachboden. Dort wird er geboren, dort träumt ihr seine Jugendträume, dort liebt er sein junges, blutleeres, reizloses Weib, dort kämpft er den Todeskampf, dort drückt man ihm die Augen zu …“
Diese Heimarbeiter erreichen den vollen Wochenlohn nur selten. Sie werden für die geringsten Fehler im Leinen mit Abzügen bestraft. Sie sind vollständig der unternehmerischen Selbstjustiz ausgesetzt.
Und sie hungern. Kartoffeln sind das Hauptnahrungsmittel, zusammen mit der Milch einer selbst gehaltenen Ziege. Eine vierköpfige Familie musste mit einem Laib Roggenbrot zu 2 bis 3 Kilo eine halbe Woche lang auskommen.
Der Gesundheitszustand der Weber war katastrophal. 70 % der Erkrankungen betrafen die Atmungsorgane. Männer flüchteten in Alkoholismus. Frühe Eheschließungen der Arbeiter und Arbeiterinnen und ihre hohe Kinderzahl machte die Lage dieser Lohnsklaven nicht besser.
Das altösterreichische Wigstadtl, heute Vitkov, im Kreis Troppau, hatte etwa 2.800 Einwohner, der ärmere Vorort Oberdorf, wo Hanusch 1866 geboren wurde 1.300. Angesichts des Elends der Mutter hoffte die Hebamme, dass das Kind wie viele andere auch bald sterben werde.
Der Schulbesuch des jungen Hanusch dauerte kaum fünf Jahre. Alles was er in seinem Leben erreicht, schafft er als Autodidakt, auch seine Kenntnis des Tschechischen, Polnischen, etwas Italienischen und Französischen. Später, bei internationalen Gewerkschaftskongressen in Zürich, Mailand, Kopenhagen, Lille, Amsterdam oder Blackpool, braucht er keine Dolmetscher.
Hanusch hätte nach der Familientradition Weber werden sollen, findet aber keine Arbeit muss mit 13 Jahren als Lohnarbeiter in einer Ziegelfabrik arbeiten. Mit 14 kommt er auf Bitten seiner Mutter in einer Bandfabrik „Fashold“ unter. Gemessen an der Heimarbeit und der Baustelle war dies immerhin eine geregelte zwölfstündige Arbeitszeit. Zwei Jahre lang, vom 14. bis zum 16. Lebensjahr, übte er diesen Beruf aus. Er war damit Teil einer neuen sozialen Klasse: Dem Heer der unqualifizierten, ungelernten, mechanischen Arbeitskräfte, ohne Sozialversicherung, keinen staatlichen Krankenkassen und Hilfen.
Immerhin gibt es damals in diesem nordböhmischen Industriedistrikt schon einen „Fachverein“, eine Vorform der Arbeiterbildungsvereine. Sie halfen, mit Billigung der liberalen Honoratioren, ihren Mitgliedern in Notfällen aus vorher eingezahlten Beiträgen.
Anfangs sehen das die Unternehmer nicht ungern: Der Analphabetismus der Arbeiter ist angesichts der raschen industriellen Entwicklung ein Nachteil. Bevor der „Fachverein“ allerdings zur Keimzelle einer Interessenvertretung wird, löst ihn die Polizei auf. Eine enge Auslegung des Versammlungsgesetzes von 1868 ermöglichte das. Hanusch hat diese permanente polizeiliche Überwachung später mehrfach beschrieben.
Die Stimmung, die damals Böhmen, Schlesien, aber auch Niederösterreich und die Steiermark beherrschte, gibt 1882 ein Schreiben des Prager Statthalters an Ministerpräsident Taaffe wieder:
- „Ich habe die Überzeugung gewonnen, dass die sämtlichen in neuerer Zeit in Böhmen stattgefundenen Streiks nicht selbständige Eruptionen mit ihren Existenzbedingungen unzufriedener Gemüter sind, sondern dass alle Streiks durch die sozialdemokratische Partei angezettelt sind, welche, trotz der großen Wachsamkeit der politischen Behörden und dem rühmenswerten Eifer, mit welchem von den Staatsanwaltschaften und Gerichten derselben an den Leib gerückt wird, immer mehr und mehr Terrain im Lande gewinnt.“
Immerhin gelingt es den etwa 50 Mitgliedern, ihre Bücher zu retten. Hanusch liest sie in den Nachtstunden: Historische Werke, aber auch Ernst Haeckel, Darwin, Heinrich Heine, Lassalle, später Feuerbach und Bebel. Seine Mutter schlägt ihn, weil ihn die nächtliche „Narretei des Lesens“ von der Arbeit abhält.
Hanusch flüchtet. Nicht zufällig steht Österreich-Ungarn in der Statistik der europäischen Auswanderung nach den Vereinigten Staaten an der Spitze. Er geht mit 15 Jahren auf das, was man beschönigend „die Walz“ nennt. Später meint er, dass ihn Heinrich Heines „Harzreise“ angeregt habe. Allerdings hat er auch den Robinson Crusoe gelesen und in der Büchersammlung des „Fachvereins“ einen Atlas studiert. Er will nach Übersee.
Die erste Flucht führt ihn als Landstreicher nach Wien. Kurzfristig findet ihr eine Beschäftigung als Bierjunge und Brezelbub, später Kellner. Sein Lohn ist das Trinkgeld. Damit und durch den Verkauf des Wintergewandes kommt er bis Triest, sieht das Meer und will nach Amerika oder Indien, weg jedenfalls. In einem Massenquartier in Triest wird er um seine ganze Barschaft gebracht. Danach greift die Polizei den Mittellosen als „Vagabund“ auf und verhaftet ihn. Per Schubhaft wird er unter Schimpf und Schande in sein Heimatdorf zurückgebracht. Seine Mutter sieht in ihrem Sohn einen Tagedieb.
Fluchtartig beginnt er seine zweite Reise, die ihn bis Berlin bringt. Auch dort wird er wegen fehlender Papiere verhaftet und zurückgebracht. Für die Ortsbewohner ist er ein Gesetzesbrüchiger.
Umgehend bricht er wieder auf und kommt über Ungarn und Rumänien bis an die Grenzen des Osmanischen Reiches. Wiederum wird er wegen „Vagabundage“ zusammen mit Verbrechern von der Polizei nach Wigstadl zurückgebracht und findet scheinbaren Trost in Alkohol und Kartenspiel. Zwei Jahre ist er ein regelmäßiger, innerlich zerbrochener Gasthaussitzer und Zechkumpan, am Ende gequält von Selbstmordgedanken.
Zum Glück findet er 1890 Anna Domes, eine junge Frau. Sie rettet ihn vor dem Alkohol. Er heiratet sie und findet eine Arbeit in der Webereifabrik. Die Ehe dauert kurz. Seine Frau und ihre gemeinsame Tochter sterben, wie schon seine Mutter, an Lungentuberkulose, der Proletarierkrankheit. Mit 29 Jahren heiratet Hanusch ein zweites Mal. Diese Ehe dauert bis zu seinem Tod 1923.
Wie die soziale Realität in diesen Jahren in dem Wort böhmischen Industrieviertel aussieht, soll anhand eines Beispiels aus einem seiner Romane geschrieben werden. Darin geht es um einen idealistischen Lehrer, der einem seiner sichtlich begabten Schüler eine weitere Schulbildung ermöglichen will. Er schreibt an eine höhere Schule in einer Bezirkshauptstadt, ist bereit das Schulgeld für den Schüler zu bezahlen und besorgt auch bei einem Freund in dieser Stadt eine Unterkunft. Um das alles zu realisieren, besucht er die Eltern seines Schülers. Der Vater ist von der Idee nicht begeistert, aber die Mutter setzt sich durch. Der Vater besucht schließlich die Fabrik, in der er arbeitet, und teilt dem Fabriksherrn mit, dass sein Sohn weg vom Hort in eine andere Schule gehen wird. Der Fabriksherr verbietet ihm das barsch. Sein Argument: er brauche in seiner Fabrik nicht nur ältere Arbeitskräfte, sondern auch junge. Wenn die wegdrücken, hätte er in seiner Fabrik nicht genügend junge Arbeitskräfte. Die Schulkarriere des Kindes ist damit beendet. Es steht außer Zweifel, dass Hanusch hier ein sehr konkrete Erlebnis wiedergegeben hat.
Hanusch tritt dem Arbeiterverein „Eintracht“ bei und versucht, in einem Rednerkurs einen kleinen Sprachfehler zu überwinden. Dabei entdeckt er sein Talent als Redner. Damit beginnt seine gewerkschaftliche Tätigkeit. Sie besteht darin, vorhandene kleine Textilarbeiterorganisationen miteinander zu verknüpfen.
1897 wird er mit 31 Jahren als Sekretär der Textilarbeitergewerkschaft in das größere Sternberg berufen. Ab nun beginnt, in der für die österreichische Sozialdemokratie charakteristischen engen Verknüpfung von Gewerkschaft und Partei („siamesische Zwillinge“ hat das, nicht ohne Sarkasmus, Victor Adler einmal genannt: Das Zusammenleben sei zwar mühsam, aber der eine Teil könne nicht ohne den anderen leben) ein zehn Jahre dauernder Aufstieg: Hanusch wird mit Anfang 30 Organisator des Bundes der Textilarbeiter, vorerst in Nordböhmen, dann in der gesamten Monarchie. Seine Reisen zu Arbeiterversammlungen, Lohnverhandlungen und zur Beilegung von wilden Streiks führen ihn von Vorarlberg bis Galizien. Dort beschreibt er mitfühlend das Schicksal der jüdischen Weber.
Immer wieder wird er unter fadenscheinigen Vorwänden wie der „Verletzung des Versammlungsverbots“ oder angeblicher Ehrenbeleidigung verhaftet, eingesperrt und bringt es so auf über ein Dutzend Verhaftungen.
1900 übersiedelt Hanusch nach Wien. Der 34-Jährige ist jetzt Zentralsekretär der Union der Textilarbeiter mit der Verantwortung für alle Textilarbeiter der Monarchie. Wegen seiner journalistischen Tätigkeit in der Fachzeitschrift der Textilarbeiter wird er 18mal vom Staatsanwalt „wegen Abfassung und Verbreitung staatsgefährdender Druckschriften“ angezeigt und ebenso oft vom Gericht zu Freiheitsstrafen verurteilt.
Zwischen 1904 und 1907 kann seine Gewerkschaft für ungefähr 590.000 Arbeiter die Löhne kollektivvertraglich festsetzen und 530 Tarifverträge verankern.
1907 wird in Österreich das allgemeine gleiche Wahlrecht für Männer errungen. Erst als Hanusch dann als hauptamtlicher Gewerkschaftssekretär in den Reichsrat gewählt wird, ist er nicht mehr der Verfolgte, sondern eine respektierte Persönlichkeit.
Unterbrechen wir hier die biographische Erzählung und wenden wir uns seinem schriftstellerischen Werk zu.
➤ ➤ Der Schriftsteller
Am 12. März 1919 erschien im Neuen Wiener Journal ein Artikel des Historikers und Schriftstellers Richard Charmatz (1879-1965): „Der Staatssekretär als Schriftsteller“. Charmatz beschrieb darin Ferdinand Hanusch als „Schriftsteller, kein Literat“. Hanusch komme „nicht von der Ästhetik, sondern vom wirbelnden Leben zur Kunst“. Er sei „in der harten Schule des daseinskompfes erzogen“, man dürfe bei ihm „keine geistreichen Tändeleien suchen.“ Was er zu erzählen habe, sind „Ausschnitte aus den Kämpfen und Leiden, aus der Sorgenwelt des ringenden Proletariats“. Auch wenn Hanusch „als Künstler noch nicht ausgereift sei“ und „die Wirklichkeit nicht geläutert wiedergebe“ und die „Abgeklärtheit“ fehle, etwa im Vergleich zu Maxim Gorki, seien seine Romane, Novellen und Skizzen „in den Mußestunden eines politischen Agitators entstanden“, „Schnellphotographien … im literarischen Gewand.“ Man „möchte dennoch die Werke von Ferdinand Hanusch nicht missen.“ Hanusch habe „in das Dunkel des schlesischen Weberelends hineingeleuchtet, sich an Rosegger gebildet“ und „in seinen letzten Büchern gelernt, die richtige Distanz zu den Ereignissen zu finden, nicht mit Zorn, sondern mit Liebe zu schreiben“, „warmherzige, gütige, lächelnde Skizzen“, ein „heller, gläubiger, Optimismus spricht nun verstehend und ermunternde aus Hanusch.“ Seine „literarischen Parteischriften, die reich an kraftvollen Szenen, an dramatischen Vorgängen, an tief eindringenden Beobachtungen sind, lassen uns ahnen, was wir von dem Schriftsteller (Hanusch) erwarten dürfen, wenn es ihm erst gelingt, den hohen Gipfel der Kunst zu erklimmen.“ - Soweit Richard Charmatz 1919, der überraschenderweise das große literarische Vorbild von Hanusch, nämlich Gerhard Hauptmanns „Die Weber“ (1892), ausser Acht lässt.
Politiker der Arbeiterbewegung als Schriftsteller waren nach 1900 keine Seltenheit. Wir brauchen nur an Karl Renner, Adelheid Popp, die Gebrüder Scheu, Otto Bauer oder später Alfons Petzold und Luitpold Stern zu denken.
Dennoch ist die Form der Arbeiterliteratur, wie sie Hanusch schrieb, bis heute ein Stiefkind der Literaturwissenschaft geblieben. Ausnahmen sind etwa Upton Sinclair („Der Dschungel“, 1905, „König Kohle“, 1917, „Öl“), Sinclair Lewis oder B. Traven. „Alle Literatur ist bürgerlich. Bei uns. Auch wenn sie sich sonst noch so antibürgerlich gebärdet. Arbeiter kommen ihn ihr vor wie Gänseblümchen, Ägypter, Sonnenstaub, Kreuzritter, Kondensstreifen. Arbeiter kommen in ihr vor. Mehr nicht“, so schrieb Martin Walser Jahre 1968 im Vorwort zu den Bottroper Protokollen von Erika Runge.
Von der Literaturwissenschaft wird die „Arbeiterdichtung“ bis heute als Randphänomen betrachtet und in die Nähe der Trivialliteratur gerückt. Man darf annehmen, dass dabei neben der Furcht vor einer proletarisch-politischen Front auch die Angst vor einer kulturellen Front mitspielt. Literatur, die das Arbeitermilieu wiedergibt, wird im literarischen Kanon lediglich in einer „geläuterten“ Form – siehe Charmatz‘ Forderung nach „Abgeklärtheit“ und „richtiger Distanz“- akzeptiert. Beispiele dafür sind die Erzählungen von Joseph von Eichendorff, von Bertha von Suttner, geborene Kinsky, oder Ferdinand von Saar („Die Steinklopfer“). In ihnen dominieren philanthropische Lösungen durch verständnisvolle, benevolente Fabriksherren, die Hoffnung, das Elend der Proletarier durch höhere Einsicht - und nicht politisch - zu verbessern.
Die Skepsis gegenüber Arbeiterschriftstellern reichte bis in die Reihe der Sozialisten. „Das kämpfende Deutschland hat keine Zeit zum Dichten“, schrieb Wilhelm Liebknecht 1891. Franz Mehring: „Man muss sich davor hüten, die Bedeutung der Kunst für den Emanzipationskampf des Proletariats zu überschätzen.“
In dieser Tradition ist interessant, dass das literarische Werk von Hanusch selbst in den Darstellungen der Arbeiterliteratur der DDR kaum Erwähnung fand. Man geht wohl nicht fehl in der Annahme, dass dabei ein Ressentiment der „offiziellen“ kommunistischen Literaturgeschichtsschreibung gegenüber dem „Revisionisten“ und politischen Pragmatiker Hanusch ausschlaggebend gewesen ist.
Auch in den österreichischen Darstellungen der Arbeiterliteratur tritt Hanusch nur am Rande auf, verglichen etwa mit den ausführlichen Würdigungen des „Arbeiterdichters“ Alfons Petzold (1882 bis 1923). Dessen nationale Töne, die Kriegsbegeisterung und seine Gewaltphantasien 1914 werden dabei ebenso geflissentlich wie sein mystischer Pantheismus übersehen. Der Antimilitarismus von Hanusch steht dazu in grellem Kontrast – dazu mehr später.
Ferdinand Hanusch wurde bei seinen schriftstellerischen Arbeiten zweifellos von Gerhard Hauptmann und dessen Drama „Die Weber“, 1892, angeregt und versuchte mehrmals, den Dichter persönlich kennen zu lernen. Andere Vorbilder waren Heinrich Heine oder die realistischen Erzählungen des Bauernlebens von Peter Rosegger (1843 bis 1918)
Hanusch beginnt als 15-jähriger literarischer Tagträumer und wird ein Volksschriftsteller. Er verfasst – halten wir uns immer vor Augen: mit kaum fünf Jahren lückenhafter Schulbildung! - nicht weniger als 22 Prosatexte und Dramen im Umfang von – zusammen – mehr als 3.000 Druckseiten.
Seine Erzählungen sind überwiegend selbst Erlebtes. Trotz der detailreichen, historisch präzisen Beschreibung von Lebenssituationen finden sie in der traditionellen „Heimatkunde“ keine Beachtung.
Autobiographisch sind die zwei Bänden des „Lazarus“ - die Selbstbezeichnung hat zwei Paten, den biblische Lazarus und Karl Marx: dieser schreibt im „Kapital“ in seiner Verelendungstheorie von der industriellen Reservearmee als „Lazarusschicht der Arbeiterklasse“. Hanusch beschreibt darin seine Kindheit und sein Leben bis zum Tod der ersten Frau.
In den Büchern „Auf der Walze“, 1905, und „Aus meinen Wanderjahren“, 1906, erzählt er in Ich-Form seine dreijährige Wanderschaft.
Darüber hinaus verfasste er Erzählbände, wie etwa „Die Namenlosen. Geschichten aus dem Leben der Arbeiter und Armen“, 1910, „Leibeigene Menschen“, das Kinderbuch „Der kleine Peter“, 1912, und Bühnenstücke: „Die Enterbten“, 1010, „Der Bauernphilosoph“, 1913; sowie Gedichtsammlungen in schlesischer Mundart. Seine literarisch wohl gelungenste Erzählung ist „Weber-Seff“, 1905.
In Hanuschs frühen Schriften herrscht ein antiklerikaler Ton, obwohl (oder weil?) er von seiner Mutter streng katholisch erzogen wurde. Sein Meldezettel weist etwa den Vermerk „katholisch verheiratet“ auf, und psychologisch gesehen ist Hanusch ein Beispiel dafür, was Erwin Ringel (1921 bis 1994) als „Glaubensverlust durch religiöse Erziehung“ bezeichnet hat. So beschreibt er einmal die frommen Kirchgänger in Wiener Stephansdom, die ihn als Hungernden keines Blickes würdigen, wohl aber hingebungsvoll zu den Heiligenstatuen aufblicken.
Dieser Antiklerikalismus mildert sich in seinen späten Schriften zu Gunsten eines humanistischen Ethos. Vorherrschend bleibt dabei immer die soziale Anklage, etwa in seiner letzten, posthum erschienenen Erzählung, in der er das Elend und trostlose Schicksal der Kriegsinvaliden nach dem Ersten Weltkrieg beschreibt.
Verachtungsvoll schildert Hanusch das Verhalten staatlicher Organe gegenüber der Arbeiterschaft. Sie werden als hilflos, geistig überfordert und im besten Fall als biergemütlich beschrieben. Der Spott von Hanusch ist ihnen sicher, etwa wenn er einen Gefängnisaufenthalt – Hanusch wurde 18mal verhaftet – beschreibt, bei dem er durch die Gitterstäbe der schwärmerischen Tochter des Gefängnisaufsehers die Gedichte Schillers erklärt.
In seinen kurzen Erzählungen blitzt aber immer wieder die Skepsis des Gewerkschafters gegenüber den „gebildeten Doktoren aus Wien“ auf, akademischen Aufklärern, die der Arbeiterschaft den Sozialismus lehren wollen.
So beschreibt er einmal die Ankunft eines solchen „städtischen Herrn Doktors“ in einem Arbeiterdorf und dessen Frage nach einem Hotel, in dem er übernachten könne. Der Arbeiter, der ihn vom Bahnhof abholt, weiß nicht einmal, was „ein Hotel“ ist, geschweige denn, dass es so etwas in seiner Ortschaft gäbe. Auf die Frage des Herrn Doktor, ob es für die Nacht wenigstens einen Gasthof gebe, antwortet der Arbeiter, den gebe es schon, nur könne man dort nicht übernachten. Es sei ein Ort, an dem man sich am Sonntag betrinke. Der Herr Doktor könne aber bei ihm übernachten, in der Stube und sogar in einem Bett: Seine Frau und er würden auf dem Boden schlafen. Als der Herr Doktor erfährt, dass die kinderreiche Familie des gastlichen Arbeiters von 14mal pro Woche dünner Einbrennsuppe lebt, verlässt er den Ort – und gibt wenige Wochen später auch sein sozialdemokratisches Engagement auf. Der Spott des Gewerkschafters Hanusch gegenüber den städtischen Sozialisten (heute würden wir sagen „Bobos“) ist beißend.
Seine volle literarische Empörung trifft aber den Militarismus und dessen Wiedererwachen nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs. Sein Einakter der „Der Invalide“ wurde erst 1924, ein Jahr nach seinem Tod, veröffentlicht. Er ist Hanuschs letztes Werk.
Vor Gericht steht ein Kriegsinvalide, der seinen ehemaligen Hauptmann auf der Straße mit seiner Krücke niedergeschlagen hat, nachdem diese sich über ihn als menschliches Wrack lustig gemacht hat. Auf die Frage des Richters, warum er sich zu dieser Gewalttat hinreißen habe lassen, bricht aus dem angeklagten Invaliden die ohnmächtige Wut über die Demütigungen an der Kriegsfront heraus. Der Hauptmann habe ihn geschunden und gedemütigt, er galt im Regiment als der schlimmste Menschenschinder.
Auf den Vorwurf des Richters, dass der Schlag mit der Krücke auch tödliche Folgen hätte haben können, prangert der Kriegsinvalide den Krieg als eine Erziehung zu Mord an:
- „Hat man uns nicht durch volle vier Jahre das Morden gelehrt? War das Morden nicht die größte patriotische Pflicht? Hat nicht der, der am meisten gemordet hat, die höchsten Auszeichnungen bekommen? Ist nicht der Offizier, den ich niedergeschlagen habe, beim Sturmangriff mit dem geladenen Revolver hinter uns gestanden und hat uns zum Morden angefeuert?“
Zum wilden Tier sei er im Krieg geworden, als er im Nahkampf auf Befehl feindliche Soldaten mit dem Bajonett und dem Gewehrkolben abgeschlachtet habe. Tag und Nacht höre er nun die Todesschreie seiner Opfer.
Für den Vorwurf des Richters, er habe doch auf Befehl gehandelt und für die Ehre des Vaterlandes gekämpft und gehöre und zu den Helden, hat der Invalide nur und Spott übrig. Er und alle Invaliden sehen um ihr Leben betrogen worden. Nach der Schule habe ihm die Welt offen gestanden aber der Krieg habe aus ihm ein Wrack, ein menschliches Scheusal gemacht.
Während der Gerichtsversammlung versammelt sich draußen verbitterte Invaliden und stören durch laute Rufe über ihr Los, ohne staatliche Unterstützung dahinvegetieren zu müssen, die Verhandlung.
Der Invalide kommentiert ihre Proteste:
- „Die Opfer des fluchwürdigen Kriegs verlangen ihr Recht! (...) Wird man euch die zerschossenen Glieder wieder ganz machen können? Wird man euch den Glauben an die Menschheit wiedergegeben? Nein, ihr bleibt die Krüppel, die Blinden, die Ausgestoßenen, die um das Leben Betrogenen!“
Mit diesem posthum erschienenen Einakter greift Hanusch das Problem der Kriegsinvaliden auf. Er selbst hat im Parlament 1919 das Kriegsinvaliden-Entschädigungsgesetz durchgesetzt. Sein Drama ist eine gnadenlose Abrechnung mit dem Militarismus.
Hanusch gehörte schon 1914 zu den wenigen, die nicht wie manche Politiker und Schriftsteller auch aus den Reihen der Sozialdemokratie (wie etwa der im Weblexikon der Sozialdemokratie als „der bedeutendste Arbeiterdichter Österreichs“ gepriesene Alfons Petzold - drei Bände Kriegsgedichte: „Krieg“, Wien, 1924; „Der stählerne Schrei“, Wien, 1916; „Volk, mein Volk“, Jena, 1917), in die patriotische Kriegsbegeisterung eingestimmt haben. Hanusch hat schon vor 1914 keinen Hehl aus seiner Kritik an Krieg und an der Rüstung gemacht. Mit der Figur des Invaliden hat er ein Drama geschaffen, das an Wolfgang Borcherts Heimkehrerdrama „Draußen vor der Tür“ erinnert. Literarisch mag sein Einakter nicht die Qualität des Stückes von Borchert erreichen. In seiner Kritik am Militarismus geht er aber über Borchert hinaus.
Ebenso verdient festgehalten zu werden, dass Hanusch nicht in den Chor der Antisemiten einstimmte. Für ihn war der Antisemitismus nie „der Sozialismus des dummen Kerls“, obwohl es unter den Textilindustriellen seiner engeren Heimat durchaus mögliche „Feindbilder“ gegeben hätte, die man sich zurechtschnitzen hätte können - etwa der Seidenfabrikant Trebitsch, der in Wigstadtl eine Fabrik besaß, philanthropisch gesinnt war und große Summen für die Armen Wiens spendete. Im Gegenteil: Hanusch schildert in „Auf der Walze“ die Begegnung mit einem armen Landstreicherkollegen, der ihn zu seiner ebenso verarmten Familie einlädt: Dort stellt er fest, dass es sich um eine jüdische Familie handelt, die ihn gastlich aufnimmt.
Was Hanusch immer wieder beschreibt ist die Solidarität, die er von obdachlosen Weggenossen, bis hin zu den sogenannten „Zigeunern“, erfährt. Diese vagabundierenden Menschen, von denen er jahrelang ein Teil ist, bilden zwar den „Auswurf der Gesellschaft“, praktizieren aber auch eine Solidarität, die den Lebenden das Überleben ermöglicht und die Sterbenden nicht ohne Beistand lässt.
- „Ich erinnere mich an Kranke, die in Ställen auf den Tod warten, um in ihnen ihr ja einmal hoffnungsvolles Leben zu beschließen. Sie hätten verhungern müssen, wenn nicht andere Arme ihnen die besten Bissen gegeben hätten. Solch ein Kranker wurde nie allein gelassen, bis man ihm die Augen zudrückt, bis er dem Schoß der Erde ohne Glockengeläute und ohne Prunk, begleitet von einigen zerlumpten Gestalten, dem Bretterkasten übergeben wird.“
In seinem Nachruf auf Ferdinand Hanusch schreibt Wilhelm Ellenbogen (geb. 1863, emigriert 1938, gest. in New York 1951) von dem tiefen Eindruck der Hanusch’schen Dichtung, der „unendlichen Güte seines Herzens“, der „Waffe eines milden und feinen Humors“, von einem Mann, dessen „Wort und Rat die Arbeiter lauschten“, der mit den aufgeregten, wütenden Massendeputationen von Schwerinvaliden verhandelte und es zustande brachte „die nach dem Kriege bis zur Tobsucht erregten Invaliden wie Kinder zu leiten.“ Hanusch, der „blasse Träumer, der die inneren Wahrheiten sah, hatte gleichzeitig ein Auge für die blutvollen Wirklichkeiten des Daseins.“ Er habe „mit dem erratenden Auge des Dichters“ „in den stürmischesten Zeiten der Revolution die furchtbarsten Erregungen der Massen zu beruhigen und zu heilen verstanden“, sei eine Persönlichkeit edelster Menschlichkeit gewesen und habe für die arbeitenden Menschen die gesetzgeberische Begründung ihrer Gesundheit, ihrer Menschenwürde und ihrer Zukunft geschaffen.“
➤ ➤ Der Freimaurer
Ferdinand Hanusch tritt dem Bund der Freimaurer ein Jahr nach seiner Wahl in den Reichsrat im Jahr 1908 bei.
Eines seiner großen Vorbilder ist der zwei Jahre ältere populäre Arbeiterführer und Freimaurer Franz Schuhmeier (1864 bis 1913), dessen Rededuelle mit Karl Lueger legendär sind. Zur Erschütterung von Hanusch und der Erbitterung der Arbeiterschaft wird Schuhmeier 1913 von Paul Kunschak, dem Bruder des christlichsozialen (und antisemitischen) Arbeiterführers Leopold Kunschak (1871 bis 1953) ermordet.
Schuhmeier ist ein Freund von Hanusch, ohne dass dieser die antijudaistischen Vorurteile Schuhmeiers teilt. Wenn er etwas ablehnt, dann sind es tschechische Nationalisten, von denen ihn einige als deutsch sprechenden, bonzenhaften Gewerkschafter unverhohlen ablehnen. Er wiederum sieht in ihrem Nationalismus eine Gefahr für die Einheit der Gewerkschaftsbewegung
Schuhmeier bringt Hanusch 1908 in die Wiener Grenzloge „Loge Lessing zu den drei Ringen“. Hanusch wird ihr bis zu seinem Tod 1923 angehören.
Diese Aufnahme von Persönlichkeiten wie Schuhmeier oder Hanusch in den Bund der Freimaurer spiegelt eine soziologische Veränderung des Freimaurertums wider, das sich von einer Gemeinschaft von Adeligen, Wissenschaftern und Künstlern zunehmend zu einer bürgerlichen Vereinigung, die Unternehmer, Journalisten, Schriftsteller und selbst Gewerkschafter einschließt, entwickelt.
Die Loge „Lessing“, der Hanusch unter dem Logennamen „Ferdinand Weber“ angehört, arbeitete vorerst als Grenzloge in Bratislava/Pressburg (heute Slowakei). Hanusch bekleidet in ihr das Amt des Deputierten Meisters vom Stuhl und ist auch im Großbeamtenrat der Grossloge aktiv. Sein letztes Baustück hält er am 11. Jänner 1923, im Jahr seines Todes, zum Thema: „Vergangenheit und Zukunft der Freimaurerei“. Im September desselben Jahres stirbt er.
Literaturwissenschafter haben mehrfach darauf hingewiesen, wie sehr in den Schriften von Hanusch die Schärfe der Polemik allmählich einem ethischen Humanismus weicht – eine Entwicklung, die manche in seiner eigenen Gesinnungsgemeinschaft befremdet. Zu dieser Veränderung dürfte weniger sein gesellschaftlicher Aufstieg beigetragen haben – er wohnte z.B. stets in einer bescheidenen Wohnung in der Rosinagasse im Wiener 15. Bezirk - , sondern eventuell die Arbeit in der Loge „Lessing“, und hier besonders die Begegnung mit deren Meister vom Stuhl, einem Industriellen. Josef Trebitsch, Vizepräsident der (heute so genannten) Industriellenvereinigung, wird einer seiner engen Freunde. Er spricht auch die Gedenkworte bei Hanuschs maurerischer Totenfeier.
Bezeichnend für die Vorurteile, die man dem Bund auch nach der Zulassung der Großloge von Österreich im Dezember 1918 entgegenbringt, ist die Tatsache, dass sein Tod 1923 in Freimaurerpublikationen nur zögerlich erwähnt wird: Offenbar befürchtet man die aggressiven antimasonischen Einstellungen konservativer, nationaler und katholischer Kreise. In Friedrich Hergeths (recte Paul Heigl) infamem Buch „Aus der Werkstatt der Freimaurer und Juden“, Graz, Stocker Verlag, 1927, darf Hanusch, obwohl Nichtjude, natürlich nicht fehlen.
Wichtig aber ist: So wie Schuhmeier Hanusch in den Bund der Freimaurer einführte, gelingt es Hanusch, den großen Anatomen, Universitätsprofessor und Sozialpolitiker Julius Tandler für die Maurerei zu gewinnen. Tandler wird am 9. Mai 1919 unter dem Staatssekretär Hanusch Unterstaatssekretär für Volksgesundheit und tritt 1920 dem Bund bei.
Schuhmeier arbeitete vor Hanusch am Rauhen Stein, Tandler nach ihm. Sie alle haben als Maurer ein Lebenswerk vollbracht.
➤ ➤ Der Reformer
Wir haben den Aufstieg von Hanusch im Jahr 1907, seiner Wahl in den Reichsrat, unterbrochen. Setzen wir fort.
Die Schwierigkeit seiner Tätigkeit im Reichsrat lag darin, die schmale Basis für die Sozialpolitik, die von der Mehrheit im Abgeordnetenhaus vertreten wurde, einerseits nicht zu verneinen, anderseits im sozialpolitischen Parlamentsausschuss und im Reichsrat gegenüber den Gesetzesanträgen doch eine oppositionelle Haltung einzunehmen.
Bei der Eröffnung der Parlamentssession am 19. Juni 1907 hatte nämlich Kaiser Franz Joseph in seiner Thronrede erklärt:
- „Ich hoffe zuversichtlich, dass es nunmehr gelingen wird, das staatliche Versicherungswesen durch die Schaffung der Alters- und Invalidenversorgung auszugestalten. Darauf abzielende Vorlagen sowie solche über zeitgemäße Reform der Arbeiterversicherung überhaupt werden an sie gelangen. In Beziehung auf die Nachtarbeit von Frauen in gewerblichen Unternehmungen, desgleichen in Bergbaugebieten, werden gesetzgeberische Maßnahmen notwendig sein.“
Trotz der in der Thronrede des Kaisers kursorisch angedeuteten Sozialpolitik wurde kein Ministerium der sozialen Fürsorge errichtet und kein Kompetenzgesetz erlassen, um sozialpolitische Maßnahmen sinnvoll zu vereinigen und durchzusetzen. Ein Sozialministerium zur Lösung der sozialen Frage blieb noch Utopie.
Hanusch setzte sich in dutzenden Reden im Reichsrat gegen die Teuerung ein, die den Wert der erkämpften Kollektivlöhne minderte, sprach für die Verkürzung der Arbeitszeit, den sozialen Wohnbau, gegen die Nachtarbeit und die Abschaffung des verhassten Arbeitsbuches.
Ab 1914 beeinflusste der Weltkrieg die soziale Lage katastrophal, die Donaumonarchie ging dem Ende zu.
Das propagandistische Trommelfeuer der Regierung von einer „Notwendigkeit der Vaterlandsverteidigung“ wirkte auch auf die Arbeiterschaft. Es herrschte mehr als zwei Jahre lang Passivität, eine Art „Burgfrieden“ bis zur Jahreswende 1916/17.
Angesichts der wachsenden Not, des Hungers, der Teuerung, drastischer Lohneinbußen, der unerwartet langen Dauer des Krieges, der immer zahlreicher werdenden Todesnachrichten und innerbetrieblicher Schikanen machte sich nun die Friedenssehnsucht breitester Volksschichten bemerkbar. In dieser Situation besannen sich immer mehr sozialdemokratische Arbeiterinnen und Arbeiter auf das Kampfmittel des Streiks. Gab es etwa im Jahr 1915 nur eine minimale Anzahl von kurzen Streiks, sah es 1917 schon anders aus. Im Winter 1916/17 war eine einschneidende Verschlechterung der materiellen Lage der Volksmassen eingetreten. Dazu kam das Attentat Friedrich Adlers auf den Ministerpräsidenten Stürgkh am 21. Oktober 1916 und die russische Revolution des März 1917.
Trotz der Militarisierung der Betriebe und der Androhung strengster Vergeltungsmaßnahmen kam es im Jahr 1917 zu einer Streikwelle. Im Februar, März und April 1917 häuften sich Hungerdemonstrationen von streikenden Arbeiterinnen. Zwar gelang es den sozialdemokratischen Gewerkschaftsfunktionären, Lohnaufbesserungen von 5 bis 20% und im Mai 1917 eine Beendigung des Streiks zu erreichen. Zum ersten Mal war nun jedoch auch ein offener Unmut über die Abwiegelungstaktik der sozialdemokratischen Partei- und Gewerkschaftsführung laut geworden.
Polizeiberichten ist zu entnehmen, dass die Arbeiterführer Domes und Siegl, als sie die Arsenalabeiterinnen und -Arbeiter zur Wiederaufnahme der Arbeit bewegen wollten, äußerst unfreundlich empfangen wurden. Man warf ihnen Verrat an der Sache der Arbeiterschaft vor. Gleichzeitig bildeten sich in manchen Betrieben Keime des Rätewesens.
Der Burgfrieden wurde zusehends brüchiger. Die Regierung wechselte ihre Taktik gegenüber der Arbeiterschaft. Sie bemerkte, dass das harte Kriegsregime nicht mehr funktionierte. Nun waren Zugeständnisse dringend geboten.
1917 war das Amt für soziale Fürsorge noch als k.k. Ministerium errichtet worden, aber am Kriegsende standen weder genügend finanzielle Mittel noch gesetzliche Grundlagen zur Verfügung. Der Berg kreißte und gebar eine Maus. Die Vorschläge des Ministeriums einer Arbeitszeitregelung für Frauen und jugendliche Arbeiter wurden hinausgeschoben und erst „für ein Jahr nach Kriegsende“ in Aussicht gestellt.
Der österreichische Wirtschaftswissenschafter Karl Pribram (1873, Prag; gest. 1973, Washington. D.C.) schreibt:
- „Das alte österreichische Kaisertum mit seinen konservativen Tendenzen hatte in der österreichischen Sozialpolitik eine ängstliche Zurückhaltung beachtet und sich bloß darauf beschränkt, das Beispiel der industriell höher entwickelten Nachbarländer, vor allem des Deutschen Reiches, nachzuahmen.“
Spätestens im Frühjahr 1917, als die erste russische Revolution das Zarenreich hinwegfegte, befürchteten die herrschenden Wirtschaftskreise für Österreich („Asien Europas“ hatte Marx die Monarchie noch genannt) ähnliches. Aus Furcht vor Unruhen im Inneren hatte man daher schon im Krieg 1917 das Mieterschutzgesetz erlassen, das die willkürliche Kündigung von Mietern und die willkürliche Erhöhung der Mietzinse verbot.
In dieser Situation musste man durch sozialpolitische Maßnahmen Ruhe und Ordnung sichern und Verzweiflungsausbrüche hintanhalten. Die Regierung Koerber erkannte, dass die wachsende Unruhe der Arbeiterschaft nur im Zusammenwirken mit der Partei- und Gewerkschaftsspitze gebändigt werden konnte. Die Sozialdemokratie griff das auf und berief am 5. November 1916 einen Arbeitertag in das Arbeiterheim Wien-Favoriten ein. Dabei waren Vertreter des Militärs und der österreichischen Ministerien als Gäste geladen. Die alarmierenden Berichte über unhaltbare Zustände in den Kriegsleistungsbetrieben scheinen die anwesenden Vertreter der Ministerien beeindruckt zu haben.
Man entschloss sich im Frühjahr 1917 zu konkreten gesetzlichen Maßnahmen auf sozialpolitischem Gebiet. Im Gegenzug unterstrichen Seitz, Victor Adler und Pernerstorfer den friedlichen Charakter der Konferenz. Ihre Bedingung war jedoch die Abstellung der gröbsten Missstände in den Betrieben. Gleichzeitig verstärkte die Sozialdemokratie die Diskussion der Friedensfrage.
Polizeiberichte (etwa vom 23. März 1917) priesen zwar die „staatsmännische Klugheit der maßgeblichen Parteiführer“, warnten aber davor, dass „ein großer Teil der Arbeiterschaft mit dem maßvollen Verhalten ihrer Führer nicht einverstanden sei“.
So standen etwa die Feiern zum 1. Mai 1917, die vom Kriegsministerium erlaubt worden waren, ihm Zeichen der Friedenspropaganda und von Sympathiekundgebungen für die russische Märzrevolution. Nun setzte auch der Außenminister Ottokar Czernin auf eine maßvolle Zusammenarbeit mit der Sozialdemokratie. Er begrüßte die für den Sommer 1917 angesetzten Friedensbesprechungen sozialdemokratischer Parteien in Stockholm und machte die Teilnahme österreichischer Delegierter (Adler, Seitz, Renner) möglich. Gleichzeitig aber öffnete sich im Verlauf des Jahres 1917 die Kluft zwischen Parteiführung und Parteibasis von Monat zu Monat. Die „Erklärung der Linken“ im Oktober 1917 trug dem Rechnung.
Im Parteitag 1917 erhielt die Sozialdemokratie jene Gestalt, die sie bis zu ihrem Untergang im Februar 1934 behalten sollte. Man erkannte, dass man den starken linken Tendenzen in der österreichischen Arbeiterschaft eine offen rechtsreformistische Politik nach Art der deutschen SPD nicht zumuten konnte. Damit war die Grundlage für die revolutionäre Sozialgesetzgebung der Jahre 1918 - 1920 durch Hanusch gegeben.
Hatte man während des Krieges die zunehmende Spannung zwischen Sozialdemokratie und Arbeitermassen noch durch ideologische Mittel in Grenzen gehalten, mussten jetzt mit der Übernahme von Regierungsverantwortung konkrete materielle Maßnahmen folgen. Was folgte war, in den Worten Otto Bauers, tatsächlich eine „österreichische Revolution“, bei der die Nachbarschaft Räteungarns eine bedeutende Rolle spielte. Hanusch übernahm daher unter den denkbar ungünstigsten Bedingungen in den ersten Stunden der Republik das Staatssekretariat für soziale Fürsorge.
Es gelingen ihm tiefere Veränderungen als in den Jahrzehnten vorher. Dieser qualitative Sprung ist sein persönliches Verdienst. Fest steht, dass Österreich in den Jahren 1918 - 1920 in der Modernität und Dichte der Sozialpolitik zu einem der führenden Länder unter den Industriestaaten wurde. Die Sozialgesetzgebung war bei weitem das positivste Ergebnis der österreichischen Politik von 1918 bis 1920.
Die soziale Lage im klein gewordenen Österreich war von einer Lebensmittelknappheit, chaotischen Verkehrsverhältnissen, der Stilllegung von Betrieben und zahlreicher Industriesparten gekennzeichnet. Dazu kamen die plötzliche Umstellung der Kriegsindustrie auf eine Friedensindustrie, die Auflösung des Heeres, das regellose Rückfluten der Soldaten in die Heimat und ein sprunghaftes Anschnellen der Arbeitslosigkeit.
Gleichzeitig aber existierten, wie schon erwähnt, an den Grenzen Österreichs in den Jahren 1918 und 1919 zwei Räterepubliken: In Ungarn und in Bayern. Auch in Österreich wurde für dieses sowjetische Vorbild demonstriert, man denke nur an Egon Erwin Kisch oder, tatsächlich, Franz Werfel. Derartige Demonstrationen wurden in Österreich - auch mit Hilfe der sozialdemokratischen Volkswehr - aufgelöst.
Als 1918 nach dem Ende der Monarchie in der neuen Republik eine Koalitionsregierung zwischen bürgerlichen Parteien und Sozialdemokraten gebildet wurde, wurde Ferdinand Hanusch auf Vorschlag der Gewerkschaft am 30. Oktober Staatssekretär (= Minister) für soziale Fürsorge bzw. ab 1919 für soziale Verwaltung. Bemerkenswert ist, dass er die fachlich erstklassige Beamtenschaft des kaiserlichen Ministeriums einfach übernahm.
Hanusch ist lediglich zwei Jahre, vom 30. Oktober 1918 bis 22. Oktober 1920, Staatssekretär - heute würde man sagen Minister - für soziale Fürsorge bzw. ab 1919 soziale Verwaltung. In diesen zwei Jahren entstehen nicht weniger als 83 Gesetze und Verordnungen - ein Werk, dass weltweit einmalig ist. Die österreichische Sozialgesetzgebung steht damit an der Spitze aller europäischen Staaten.
Bei der Sozialgesetzgebung, Notmaßnahmen, die eng mit dem Namen Hanusch verbunden war, kann man mehrere Phasen beobachten.
Eine Phase 1 begann gleich nach Kriegsende im November 1918, konnte aber die Lage der Arbeitermassen nicht entscheidend verbessern. Die am 6. November 1918 beschlossene staatliche Arbeitslosenunterstützung konnte bei einer Höhe von täglich 6 Kronen plus einer Krone Familienzulage die Not der Arbeiterfamilien bestenfalls lindern. Die Arbeitslosenunterstützung wurde per Verordnung dekretiert. Das war eine jener Maßnahmen, die von den bürgerlichen Parteien am heftigsten kritisiert wurde. Angeblich würde sie die „Arbeitsscheu und die Faulheit des Proletariats“ fördern. Dennoch war es notwendig, dieses Gesetz angesichts der Gefahr einer unkontrollierbaren Radikalisierung der arbeitslosen Massen möglichst rasch umzusetzen. Die ersten Arbeitslosenunterstützungen wurden schon am 18. November 1918 ausbezahlt. Hanusch hatte sein Amt am 30. Oktober angetreten.
Die Einführung des Achtstundentages beschränkte sich zunächst auf die fabrikmäßig betriebenen Unternehmen. Diese konnten jedoch in einer Zeit des Mangels an Kohle und Rohstoffen ohnehin oft nicht mehr als 3 Arbeitstage pro Woche arbeiten. Die Einführung des Achtstundentags war zwar eine alte Forderung seit 1848, aber vorerst nur wenig spürbar. Auch die Einführung des achtstündigen Arbeitstags am 19. November 1918 war eine der ältesten Forderungen der österreichischen Arbeiterbewegung.
Merkwürdigerweise wurde die Verordnung über den Achtstundentag auch von Parteifreunden Hanuschs, nämlich von Seiten der Gewerkschaft, heftig kritisiert - heftiger als von der Industrie. Die Mehrheit der Arbeiterschaft war nämlich anfänglich von der achtstündigen Arbeitszeitregelung – sie galt vorerst nur für Betriebe mit mehr als 20 Arbeitern - ausgeschlossen. Mindestens ein Vertreter der sozialdemokratischen Gewerkschaft erhob gegen diese Verordnung in der Nationalversammlung Protest. Für die Großindustrie brachte sie keine einschneidenden Gefahren. Die Kohlennot bedeutete, dass Fabriken meist nicht mehr als drei oder vier Betriebstage in der Woche arbeiten konnten. Die 48 Stunden-Woche war daher für die Industrie nicht unmittelbar bedrohlich.
Eindrucksvoll ist jedoch das Bündel an Maßnahmen, welche von November 1918 bis März 1919 folgten: Die Einführung der Arbeitsvermittlung, die Wiederherstellung der Sonn- und Feiertagsruhe in Gewerbebetrieben, die Ausdehnung der Arbeitslosenunterstützung auf Angestellte und Arbeiter in der Land- und Forstwirtschaft, die Regelung der Arbeits- und Lohnverhältnisse in der Heimarbeit, ein gänzliches Verbot der Kinderarbeit vor dem vollendeten 12. Lebensjahr, d die Verbesserung der Krankenversicherung für Arbeiter und die Beseitigung des verhassten Arbeitsbuches.
Ein besonderes Anliegen von Hanusch war die Abschaffung des verhassten Arbeitsbuches, dass ein wahrer Sklavenpass für das Proletariat war. Es war 1859 zwangsweise eingeführt worden und führte zu ungeheurem Missbrauch. Die Unternehmer, bei denen das Arbeitsbuch lag, konnten es zurückhalten und so einen Arbeitsplatzwechsel verhindern. Gaben sie es heraus, trugen sie oft diskriminierende Vermerke oder Geheimzeichen ein, um unerwünschte oder unbequeme Arbeiter auf schwarze Liste zu setzen. Darüber hinaus kommt ein Arbeiter, die ohne einen gesetzlichen Kündigungsgrund vorzeitig das Arbeitsverhältnis verlassen wollten, mit Gefängnisstrafen belegt werden. All das wurde von Hanusch am 25. Jänner 1919 abgeschafft.
Parallel dazu kamen Maßnahmen zur Eindämmung der Wohnungsnot: Ein weitreichender Mieterschutz mit Kündigungsverbot und ein Mietzinsstopp. Ebenso bekamen die Gemeinden das Recht, leerstehende Wohnungen, Zweitwohnungen und Zimmer in Groß- und Luxuswohnungen, die nicht benutzt wurden, Obdachlosen zuzuteilen.
Tiefgreifender waren jedoch die Sozialgesetze der Phase 2, die man durchaus als radikale bezeichnen kann. Sie begann im März 1919 und steht in unmittelbarem politischem Zusammenhang mit der Nachbarschaft der Räterepubliken in Ungarn und München.
In einem Gesetz über die Vorbereitung der Sozialisierung wurde am 14. März 1919 die Enteignung von Wirtschaftsbetrieben „zugunsten des Staates, der Länder und der Gemeinden aus Gründen des öffentlichen Wohls“ verkündet. Am 25. April 1919 erschien ein Gesetz über die staatliche Entschädigung der Kriegsinvaliden, der Kriegswitwen und der Kriegswaisen. Es sah monatliche Renten in der Höhe von 110 bis 350 Kronen vor, unentgeltliche Heilbehandlungen und die Versorgung mit orthopädischen Behelfen, Krankengeld und eine unentgeltliche berufliche Ausbildung zur Wiedergewinnung der Erwerbstätigkeit. Dieses Gesetz führte fast augenblicklich zu einer Befriedung der großen Zahl der Kriegsinvaliden.
Am 14. Mai 1919 wurde das Verbot der Nachtarbeit für Frauen und Jugendliche in gewerblichen Betrieben verankert.
Ebenfalls am 14. Mai erließ Hanusch eine Vollzugsanweisung, die hart in das freie Unternehmertum eingriff. Es war die Anweisung über die zwangsweise Einstellung von Arbeitslosen in gewerblichen Betrieben. Jeder Gewerbeinhaber, der mindestens 15 Arbeiter oder Angestellte beschäftigte, wurde verpflichtet, ab dem 19. Mai 1919 Arbeitslose einzustellen und seine Belegschaft um 20% aufzustocken. Dies durfte er ohne Erlaubnis der industriellen Bezirkskommission auch nicht wieder verkleinert werden. Damit wurde versucht, einen Abbau der Arbeitslosigkeit zu erreichen und gleichzeitig die Lasten für die Arbeitslosigkeit auf die Unternehmer zu überwälzen. Tatsächlich begann ab Mitte Mai 1919 die Arbeitslosigkeit in Österreich wieder zu sinken.
Von größter Bedeutung war aber das am 15. Mai 1919 verabschiedete Betriebsrätegesetz. Erstmals konnten Betriebsräte in Betrieben mit mindestens 20 Arbeitern oder Angestellten die Einhaltung der Kollektivverträge überwachen, durften an der Arbeitsordnung mitwirken, die Einhaltung der Arbeitsschutzgesetze überwachen, die Lohnlisten und Lohnauszahlungen kontrollieren und Kündigung anfechten. Alle diese Rechte nahmen sich allerdings auf dem Papier radikaler aus als in Wirklichkeit.
Es mutet seltsam an, dass das Betriebsrätegesetz, das von Otto Bauer ausgearbeitet worden war, sowohl von Unternehmern als auch von den Gewerkschaften vorerst relativ scharf kritisiert wurde. Die Gewerkschaften befürchteten, durch die Institutionen der Betriebsräte überflüssig zu werden und forderten eine genaue Abgrenzung deren Tätigkeitsgebietes. Schließlich warnte man Hanusch seitens der Gewerkschaft sogar davor, den Betriebsräten allzu große Rechte einzuräumen. Den Unternehmern wiederum erschienen die Betriebsräte ein kleineres Übel als die Arbeiterräte, die in Bayern und Ungarn die ganzen Betriebe übernommen hatten.
Die Grundidee des Betriebsrätegesetzes von Hanusch war jedoch, durch die gesetzliche Mitwirkung der Betriebsräte eine Erziehung der Arbeiterschaft zu volkswirtschaftlichem und betriebswirtschaftlichem Denken zu erzielen. Das Betriebsrätegesetz war, von Sowjetrussland abgesehen, das erste Gesetz dieser Art in der Welt.
Schon am 30. Mai folgte das Gesetz über die „Errichtung und Unterbringung vom Volkspflegestätten“, bekannt als „Schlössergesetz“. Damit konnte der Staat Schlösser, Paläste und Luxuswohnungen in Anspruch nehmen, um in ihnen Sanatorien für Kriegsbeschädigte, Tuberkuloseheilstätten und Heime für Waisen und hungernde Kinder einzurichten – ein Gesetz, das vor allem die Habsburgerdynastie und den Hochadel betraf. Kein geringerer als Oskar Kokoschka hat das mit seinem Wien-Gemälde, das spielende Kinder auf dem ehemaligen kaiserlichen Schloss Wilhelminenberg zeigt, festgehalten.
Am 30. Juli 1919 verabschiedete die Nationalversammlung das Arbeiterurlaubsgesetz. Es ermöglichte jedem Arbeiter und jeder Arbeiterin nach einem Jahr ununterbrochenen Dienstverhältnisses eine Woche bezahlten Urlaubs. Nach fünf Jahren Beschäftigungsdauer stieg der Urlaubsanspruch auf zwei Wochen. Jugendliche unter 16 Jahren erhielten schon nach dem ersten Arbeitsjahr zwei Wochen bezahlten Urlaubs.
Ebenfalls bahnbrechend war das Gesetz vom 30. Juli 1919, das den bezahlten Urlaub für Arbeiter vorsah. In der Monarchie hatten dieses Urlaubsrecht nur Staatsbeamte und kaufmännische Beamte genossen. Nun hatte jeder Arbeiter Anspruch auf eine Woche bezahlten Urlaubs, wenn er zuvor ein Jahr ununterbrochen gearbeitet hatte. Nach fünf Jahren ununterbrochener Beschäftigung stieg der Urlaubsanspruch auf zwei Wochen. Jugendliche genossen ihn schon früher. Wiederum war Österreich der erste Staat, der ein solches Gesetz verabschiedete.
Viele dieser Maßnahmen trugen den antimonarchistischen und antifeudalen Stimmungen der Arbeiterschaft Rechnung. Dies insbesondere, nachdem der Exkaiser Karl am 24. März 1919 Österreich fluchtartig verlassen hatte. Am 3. April 1919 erfolgte daraufhin das Gesetz über die Landesverweisung des Hauses Habsburg-Lothringen, indem der hofärarische Besitz in das Eigentum der Republik übergeführt wurde. Am gleichen 3. April wurden die Vorrechte des Adels abgeschafft, die Führung von Adelsbezeichnungen, -Titeln und -Würden untersagt.
Am 25. April 1919 wurden der 12. November sowie der 1. Mai zu allgemeinen Ruhe- und Feiertagen erklärt.
Insgesamt zeigte die Sozialgesetzgebung den Arbeitermassen an Umfang und Radikalität bis dahin nicht möglich gewesene Errungenschaften, die auf friedlichem Weg, nämlich durch Reformen, ermöglicht wurden.
Damit begann allerdings auch die Phase 3 der Sozialgesetze. Sie setzte parallel zur Niederwerfung der ungarischen Räterepublik im August 1919 ein. Nach deren Niederwerfung gingen die Initiativen für weitere Sozialgesetzgesetze rasch zurück.
Immerhin verloren noch zwei Vollzugsanweisungen über die Arbeitslosenunterstützung und den Achtstundentag ihren provisorischen Charakter und wurden gesetzlich verankert. Das Arbeitszeitgesetz galt nunmehr auch für kleingewerbliche Betriebe, Eisenbahn, Post, Banken, Rechtsanwaltskanzleien usw.
Am 18. Dezember 1919 wurde die Errichtung von Einigungsämtern und über kollektive Arbeitsverträge beschlossen. Am 26. Februar 1920 folgte noch das wichtige Gesetz über die Errichtung von Kammern für Arbeiter und Angestellte. Damit war allerdings die Periode sozialpolitischer Konzessionen an die Arbeiterschaft weitgehend zu Ende.
Das letzte Gesetz, das Hanusch durchsetzen konnte, war die Errichtung der Kammer für Arbeiter und Angestellte vom 26. Februar 1920. Damit war die fachliche Begutachtung von Gesetzesentwürfen durch ein Organ der Arbeiterschaft gesichert. Hanusch selbst wurde nach seiner Ministerschaft erster Direktor der Arbeiterkammer.
Nur vorbereiten, aber nicht gesetzlich beschließen lassen, konnte Hanusch in seiner Ministerzeit einen Herzenswunsch: die großzügige Reform der Sozialversicherung. Erst nach seiner Amtszeit wurden die von ihm vorbereiteten Gesetze zur Invaliditätsversicherung, der Altersversicherung und der Hinterbliebenenversicherung für Arbeiter zu beschlossen.
Dennoch ist seine Sozialgesetzgebung nicht evolutionär, kann sich kaum auf Vorstufen in der Kaiserzeit berufen, sondern eine (nach Otto Bauer) „österreichische Revolution“.
Auf der politischen Ebene war es durch die revolutionären sozialpolitischen Gesetze, die unauflöslich mit dem Namen Hanusch verbunden waren, gelungen, putschistische Räteideen zu verhindern und die Hegemonie der Sozialdemokratie in der Arbeiterschaft trotz der Nachbarschaft von Rätedemokratien in Ungarn und München zu sichern.
Es war eine Strategie der gewaltlosen Bändigung der „Gefahr von links“, die sich grundlegend von der Linie der deutschen Sozialdemokratie eines Ebert, Scheidemann oder Noske unterschied.
Bei den Wahlen in die Arbeiterräte im April, Mai und teilweise noch im Juni 1919 nahmen in ganz Österreich ca. 870.000 Werktätige teil, davon allein in Wien 480.000. Die KPÖ brachte es auf fünf bis maximal 10 Prozent, ein Ergebnis, das vor allem den Arbeitslosen und Invaliden geschuldet war. Bei den Beschäftigten in Groß-, Mittel- und Kleinbetrieben lag der Anteil der Kommunisten, der unmittelbar nach Kriegsende in die Höhe geschnellt war, nur bei vier bis fünf Prozent.
Mit dieser politischen Hegemonie innerhalb der Arbeiterschaft, die bis 1934 ungebrochen blieb, war auch die Basis für eine umfassende Kulturarbeit gelegt. Sie erfasste Kreise weit über die Arbeiterschaft hinaus, was z.B. bei der Wahlempfehlung vor den Gemeinderatswahlen 1927 deutlich wurde: Sie wurde in der Arbeiter-Zeitung vom 20. April 1927 von ca. 40 prominenten Persönlichkeiten des künstlerischen, literarischen und wissenschaftlichen Lebens unterschrieben, wie etwa Alfred Adler, aber auch parteifreie Vertreter wie Sigmund Freud, Robert Musil, Alfred Polgar, der Burgtheaterdirektor Albert Heine, Karl Bühler, Wilhelm Kienzl, Anton Webern, Alban Berg, Max Graf, Franz Cizek, Albert Lichtblau, Oskar Strnadt, Otto Prutscher, Anton Hanak, Hans Kelsen oder Franz Werfel und Alma Maria Mahler.
Nach zwei Jahren, im Oktober 1920, fand die Ära Hanusch ein abruptes Ende. Die Koalitionsregierung, das „Gleichgewicht der Klassenkräfte“ (Otto Bauer) zerbrach, auch Hanusch begrüßt den Austritt aus einer Koalition, in der er mehr und mehr auf Widerstände stieß. Wahrscheinlich hielt er seine Reformen für unumkehrbar und verkannte, dass das Ziel der nunmehr konsolidierten bürgerlichen Politik war, den „revolutionären Schutt“ der Jahre 1918 und 1919 aus dem Weg zu räumen. Erfolgreich waren diese Bemühungen während des Dollfuß-Schuschnig-Diktatatur ab dem 1934.
Besonders bemühten sich die bürgerlichen Regierungen, das Gesetz vom 17. Dezember 1919 über den achtstündigen Normalarbeitstag zu beseitigen. Industrielle forderten eine Arbeitszeit von 10 Stunden, einzelne sogar die Einführung der Zwangsarbeit. Hanusch trat dem im Nationalrat scharf entgegen:
- „Hätte das Ministerium für soziales Verwaltung seine Arbeit nicht so vorausblickend organisiert, ich wüsste nicht, wie wir durch die Klippen hätten steuern können, als es in Budapest und München eine Diktatur (nämlich Räterepubliken) gab. Nur unsere soziale Gesetzgebung war es, die den Arbeitern Vertrauen in diesen Staat und diese Regierung gab“
Generell jedoch fassten konservative Kreise die Gesetze von Hanusch als ein Provisorium auf, dass lediglich die „Arbeitsunlust“ und „Unersättlichkeit des Proletariats“ herbeiführe: Gesetze, die man Schritt für Schritt beseitigen müsse. Im Gegensatz dazu fällt aber auch auf, dass vielen Nutznießern die bahnbrechenden Neuerungen von Hanusch nicht oder nur kaum bewusst geworden sind. Die Tragweite seiner Gesetze drang zum Zeitpunkt ihrer Beschlussfassung oder Verkündung nicht in das allgemeine Bewusstsein ein, sondern erst, als diese Errungenschaften schrittweise reduziert oder abgeschafft wurden.
Die Persönlichkeit von Hanusch wird von so gut wie allen Zeitgenossen als „sanft, still und ein Mensch mit angeborener Güte“ beschrieben. Radikale Tendenzen, auch in der Arbeiterbewegung, lehnte er ebenso kompromisslos ab wie den Deutschnationalismus oder den Nationalismus patriotischer Tschechen.
Obwohl schon krank - er erkrankte 1921 Darmkrebs - war sein Arbeitsstil von Energie geprägt: Mitunter mussten Verordnungen in wenigen Stunden fertig vorliegen, vor allem wenn es um so wichtige Fragen ging wie Invalidenfragen, Heimkehrerfragen, Witwenfragen und Waisenfragen.
Eine Tatsache hat Hanusch persönlich tief getroffen, nämlich dass große Teile der revolutionären Arbeiterschaft sein Wirken als zu wenig radikal anprangerten. Dies trifft besonders auf die Zeit zu, in der in Ungarn und Bayern Räterepubliken herrschten.
Hanusch ist der eigentliche Schöpfer des modernen österreichischen Arbeitsrechts. Er hat eine soziale Kultur geschaffen, die in der internationalen Sozialgesetzgebung stets als einmalig bezeichnet wird. Wurde er angegriffen, antwortete er:
- „Was ich tue ist die Beseitigung von Kriegsfolgen. Ich habe den Krieg nicht gemacht, aber die Folgen muss ich wegbringen.“
Hanusch war ein Praktiker, kein Theoretiker. An den Richtungsdiskussionen des Austromarxismus nimmt er so gut wie nicht nicht teil. Sein Anliegen ist die konkrete Verbesserung von Lebensbedingungen.
Hanusch ist Revolutionen abhold. Dezidiert verurteilt er etwa die Ermordung des Ministerpräsidenten Stürghk durch Friedrich Adler.
Er war ein ehrlicher Reformist, der seinen politischen Spielraum zu nützen wusste – mehr als jedes andere Regierungsmitglied. Selbst wenn man der Glorifizierung historischer Personen abhold ist, muss man seine Persönlichkeit eindrucksvoll und sein Wirken ausserordentlich finden.
Hanusch starb 57-jährig am 28. September 1923. Die ersten Anzeichen seiner tödlichen Darmkrankheit hatten sich schon 1921 gezeigt. Zwei operative Eingriffe blieben erfolglos.
In den letzten Tagen wiederholte er oft vor seinen Freunden und seiner Frau, seinen beiden Söhnen und seiner Tochter einen Satz, der die Größe und Tragik seines Lebens zusammenfasste.
- „In der Jugend hungern, betteln und frieren, das ganze Leben Arbeit und Kampf, eine kurze Zeit Glücks, nur soviel, dass man es ahnen, aber nicht ermessen kann und dann elend dahinsiechen, weil dem frühzeitig überanstrengten Körper die nötige Widerstandskraft fehlt: das ist Proletarierlos!“
An seiner Totenfeier sollen 200.000 Menschen teilgenommen haben. Zahllose Benennungen nicht nur in Wien sollten die Erinnerung an ihn wachhalten. Im Nationalrat und bei seinem Leichenbegängnis zollten ihm nicht nur Freunde wie Seitz und die gesamte Spitze der Sozialdemokraten und Gewerkschafter Respekt, sondern auch politische Gegner, etwa, durchaus bemerkenswert, Kunschak, Schmitz, welcher der Witwe herzlich kondolierte, Rintelen, der einen „warmen Nachruf“ hielt, und der christlich-soziale Bundespräsident Hainisch.
Selbst die ultrakonservative „Reichspost“ schrieb am 29. September 1923: „Er zeichnete sich unter den Sozialdemokraten stets durch seine Mäßigung aus und erfreute sich im Parlament auch bei seinen politischen Gegnern großer Achtung, die nicht nur seinen ehrenwerten Charaktereigenschaften, sondern auch seinen Kenntnissen in sozialpolitischer Beziehung galt.“
Das ändere jedoch nichts daran daran, dass Hanusch im Jahrzehnt nach seinem Tod mehr und mehr zum Feindbild wurde. Im Zuge der Ausschaltung der Demokratie 1934 verhüllten die Vertreter des autoritären Regimes das 1828 errichtete Republikdenkmal am Ring - und damit auch seine Büste – mit Kruckenkreuzfahnen und brachten stattdessen Bilder von Dollfuß, Starhemberg und Fey an. Danach wurde das Denkmal der von Dollfuß und seinen Anhängern so ungeliebten Republik ganz abgetragen. 1948 wurde es wieder aufgestellt. Fragt man heute, wer der Mann neben Victor Adler und Jakob Reumann ist, erntet man (trotz einer neuerdings aufgestellten erklärenden Tafel) meist Ratlosigkeit.
Die schönste Würdigung seiner Persönlichkeit nach seinem Tod blieb einem Freimaurer vorbehalten. Josef Trebitsch, Stuhlmeister von Hanuschs Loge „Lessing“, damals Vizepräsident der (heutigen) Industriellenvereinigung, sagte am Schluss der Trauerarbeit für seinen Br. Hanusch:
- „Ihm erwuchsen aus den Schmerzen der Kindheit statt dumpfer Verzweiflung gereifte Erkenntnis,
statt rächenden Hasses verstehendes Mitleid, statt schwächlichen Jammerns hilfsbereite Tat. In ihm glühte der Funke des weltumspannenden Geistes, der die ganze Menschheit an sich zieht – und er ist froh und gut geblieben.“
Trebitsch schloss mit einem Gedicht des niederschlesischen Dichters Otto Julius Bierbaum (1865 bis 1910):
- „Ein Herz, das viel gelitten,
Ein Mund, der gern gelacht,
Ein Kämpfer, der gestritten
Mit böser Übermacht.
Ein Mann mit rauhen Händen,
Ein guter, treuer Mann.
Wohl dem, der wie er enden
Mit reiner Seele kann!
Bruder Ferdinand: Wir grüßen dich.“
- „Ein Herz, das viel gelitten,
Siehe auch
Links
- Weitere Details über Ferdinand Hanusch auf einer Website der Sozialdemokratischen Partei Österreichs: http://www.dasrotewien.at/hanusch-ferdinand.html