Geschichtstheorien

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An Umfang und Genauigkeit bisher unübertroffen enthält das bis zur Gegenwart aktualisierte große lexikalische Standardwerk über die Freimaurerei neben einem lexikografischen Teil, Grundgesetzen, Chronik und Vokabularium der Freimaurerei auch Darstellungen der Leistungen ihrer Mitglieder. Die Vielzahl der Stichworte, Bibliografie und Index ermöglichen einen leichten Zugang zur immer noch geheimnisumwitterten Welt der Feimaurer. Prof. Dieter A. Binder; geboren 1953, lehrt an der Karl-Franzens-Universität Graz und der Andrassy-Universität Budapest Geschichte. Autor zahlreicher Publikationen zur Österreichischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts und zur Kulturgeschichte. Bestellung: SCHOPF


Geschichtstheorien der Freimaurerei

Quelle: Lennhoff, Posner, Binder

Die freimaurerische Geschichte ist durch zwei Jahrhunderte fast lückenlos, durch die vorhergehende Jahrhunderte jedoch nur äußerst lückenhaft zu verfolgen. Der Ausfüllung dieser für das Verständnis der Freimaurerei sehr wesentlichen Zeitlücken dienen verschiedenartige Geschichtstheorien, die so weit auseinandergehen, daß ihre Vertreter sich wiederholt in heftigen literarischen Fehden gegenüberstanden. Die wesentlichsten Geschichtstheorien sind:


1. Die Bauhüttenüberlieferung

Sie besagt, daß die heutige Freimaurerei in bewiesenem Zusammenhange steht mit den alten Bauhütten der kirchenbauenden Bruderschaften, d. h. bruderschaftlichen Vereinigungen erst geistlichen, später weltlichen Charakters, die je nach dem zu bearbeitenden Bauplätze ihren Wohnsitz änderten und dadurch die Bauhüttengebräuche verbreiteten. Die deutschen Bauhütten stehen hier in inniger Verwandtschaft mit den in England entstandenen und dorthin übertragenen.

Da in den Baukollegien der Römer und den Verbänden der Comacini (s. d.) Gebräuche entwickelt wurden, die sich aus dem Zusammenleben einer Gruppe von Menschen mit gleichem Berufszweck von selbst ergeben, so sind in diesen alten Bauhüttengebräuchen sicherlich sehr alte Bestandteile mitverarbeitet ohne daß es gelingen würde, eine direkte Übertragung nachzuweisen.

Diese Bauhüttentradition geht also direkt auf die Steinmetzenbauhütte und ihre Gebräuche zurück, von dort stammen die symbolischen Ausdrücke, die freimaurerische Terminologie, von dort die ältesten jener Urkunden, wie das Regius-Manuskript, die Cooke-Handschrift u. a. m. Hier läßt sich auch einleuchtend verfolgen, wie die Bauhütte der Werkleute, der "Operatives", zur Loge der Freimaurer wurde (s. Acceptance).

Lücken ergeben sich jedoch auch hier. Sie finden sich vor allem in den Ritualgebräuchen, die nicht schriftlich überkommen sind, und hauptsächlich in der Hiramlegende, die wohl ihrem ganzen Charakter nach eine Bauopferlegende ist, deren Herkunft und erstes Auftauchen aber noch nicht genügend geklärt werden konnte. Diese Bauhüttentradition hat für sich die Möglichkeit des Aktenbeleges.

Für sie spricht außerdem die Kontinuität des englischen Volksempfindens, das die Freimaurer als Nachfahren der alten Steinmetzen in geistigem Sinne auffaßt. Daher ist die Freimaurerei für den Engländer die Craft, d. h. die Gewerkschaft, die eine bestimmte Kunst, craft, mistery, ausübt. Bezeichnenderweise wird daher auch diese historisch eindrucksvollste Geschichtstheorie in England fast von allen Forschern vertreten (Gould, Speth, Conder, Armitage, Hextall, Robbins u. v. a.). Ebenso in Deutschland vorzugsweise von Begemann und dem derzeit genauesten Kenner des alten englischen Gildenwesens, Sonnenkalb.

2. Die Akademien

Ähnlichkeiten des geistigen Wollens der bereits entwickelten spekulativen Freimaurerei mit Gesellschaften des frühen Christentums, Kultverbänden und Akademien der Renaissance, den Sprachgesellschaften des deutschen Barocks u. a. veranlaßten Ludwig Keller, hier innere Verwandtschaften abzuleiten. Danach wäre die Freimaurerei eine in das Werkkleid des Steinmetzen gehüllte ethisch-philosophische Gesellschaft von Anbeginn an gewesen, die in den letzten Jahren vor ihrer Großlogengründung besonders vom humanistischen Geiste des Comenius befruchtet wurde.

Keller leugnet nicht den Zusammenhang mit den Steinmetzenbruderschaften, meint aber, daß auch diese ein besonderes kultisches Geheimnis zu verwalten gehabt hätten, wie die Akademien usw. eben auch. Diese Anschauung ist besonders von Begemann heftig bestritten worden.

3. Die Deisten

Das Suchen nach einem tieferen geistigen Inhalt der ersten Bauhütten lenkte die Aufmerksamkeit auf die Deisten Englands. Besonders nachdem ein Nichtfreimaurer, Bettner, einer der gründlichsten Kenner der englischen Geistesgeschichte, die Behauptung aufgestellt hatte, der Deismus habe sich in der Freimaurerei sein Organ geschaffen, ist diese Theorie, so von Wolfstieg u. a., bereitwilligst aufgegriffen worden. Sie gehört zu den Lieblingsideen namhafter deutscher Historiker, wird aber in England von berufener Seite ziemlich einhellig abgelehnt.

4. Die Rosenkreuzer

Das es im 17. Jahrhundert vereinzelt Männer gab, die auf den Titel Rosenkreuzer Anspruch machen durfen, so Elias Ashmole und sein Kreis, steht fest. Ashmole selbst war auch Freimaurer. Das Bestehen einer eigenen Societas rosicruciana um diese Zeit wird bestritten.

Man hat versucht, vieles im Gebrauchtum der Freimaurer auf rosenkreuzerische Einflüsse zurückzuführen. Katsch geht sogar soweit, die Freimaurerei als Ganzes als einen Ausdruck des in die Breite gehenden Rosenkreuzertums aufzufassen.

5. Die Kabbala

Eng verwandt mit der rosenkreuzerischen Geschichtstheorien sind die Versuche, das Gebrauchtum der Freimaurerei und damit auch ihre eigentliche Entstehung aus den kabbalistischen Lehren der Renaissance zu entwickeln. Hier spielen Deutversuche, die das Gebiet ernster kritischer Geschichtsforschung vollkommen verlassen, eine große und wiederholt auch verhängnisvolle Rolle.

Da Steinmetzenüberlieferung und Kabbalah auf der Bibel fußen, so ergeben sich ziemlich zwangsläufig Übereinstimmungen (z. B. Iautet der Titel in dem Mitte des 17. Jahrhunderts hebräisch geschriebenen Buche des Rabbi Mejir Margolies aus Ostrok: "Das Geheimnis der Säulen J. u. B." Der Prophet der neuerstandenen jüdischen Sekte der Chassidim Baalschem wird dort wiederholt Meister genannt, Weisheit, Schönheit und Stärke sind drei der Sephirot)

Auf dieser kabbalistischen Theorie fußen zahlreiche hermetische Systeme der Freimaurerei des 18. Jahrhunderts.


6. Die Ritterlegende

Sie geht zurück auf die Rede des Chevaliers Ramsay der die Freimaurer mit den geistlichen Ritterorden des Mittelalters zur Zeit der Kreuzzüge verglich, ohne wahrscheinlich mehr damit zu bezwecken. Daraus ist die templerische Ritterlegende der Freimaurerei entstanden, die, ohne die Spur irgendeines historischen Beweises, in fröhlichem Phantasieren die Freimaurerei zu einer Fortsetzung des Templerordens, ihre Mitglieder zu Tempelrittern umprägte.

Diese Ritterlegende beginnt mit Jacques de Molay, dem letzten Großmeister der Templer, der als Ketzer verbrannt wurde, und führt in kühner Kombination über Schottland wieder in die Bauhütte zurück. Verknüpft wird damit die stuartistische Legende, die den Prätendenten Stuart zum Inhalt hat, der bis auf den heutigen Tag in der Freimaurerei die Rolle des Pontius im Gredo spielt.

Im System der Strikten Observanz des Freiherrn v. Hund, das in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die deutsche Freimaurerei eine zeitlang beherrschte, war Karl Eduard Stuart andeutungsweise der "unbekannte Obere".

Obwohl die Templerlegende bereits auf dem Wilhelmsbader Konvent (1782) offiziell abgelegt wurde, spukt sie allerdings in sehr abgeschächter Form heute noch in einigen Hochgradsystemen.

7. Die Mysterienbünde

Als Legenden zu bewerten sind auch jene zahllosen Versuche, die Freimaurerei stammbaumartig mit den Essäern, den Kultverbänden der Assyrier, den Magi, den Chaldäern, den eleusinischen Mysterien, dem Mithras-Kult, den Priesterbünden der Ägypter, den Stonehengepriestern, Druiden, den Mayas, den Kulten primitiver Völkerschaften usw. zu verknüpfen. Das Ähnlichkeiten und Ableitungen bestehen, liegt auf der Hand. Ein Stammbaum läßt sich daraus aber nicht entwickeln.

Der Wert solcher direkten Ableitungen ist nicht höher anzusetzen wie die Chronik des Anderson. Hier hört Geschichte auf, Geschichte zu sein, und der Wunsch wird Vater des Gedankens.

8. Die deutsche Entstehung

Ähnliches ist schließlich auch von den geistreichen, aber hoffnungslosen Versuchen zu sagen, die Wagler in seinem Buche: "Die deutsche Entstehung der Freimaurerei" unternommen hat. Hier soll nachgewiesen werden, daß die Freimaurerei in ihrer Symbolik die alten Steinmetzenweistümer eingeschlossen hat, wobei die mittelalterliche Bauhütte die Bau- und Steinmetzenkunst als Instinktleistung, nicht als Anwendung von Erkenntnissen gepflegt haben soll.

Das Erlebnis der Arbeit in der mittelalterlichen Bauhütte ist für Wagler Instinktkultur. Die Symbolik und der Geist des Freimaurers sind ihm nicht Gedankenergebnis englischer Aufklärung, sondern Wirkung des ästhetiseh-statischen Instinktes des deutschen Dombauers.

Das Freimaurertum ist in seiner gegenwärtigen Verfassung 1717 in England konstituiert, der Geist und die Symbolik der Freimaurerei sind während des 11. und 12. Jahrhunderts in Deutschland entstanden. Freimaurerei wird nach Wagler auf Grund dieser Gedankengänge zu einer Manifestation deutschen Rassegeistes. Er steht mit dieser Konstruktion unter den Forschern allein.

Bis auf die Bauhüttenüberlieferung sind alle Geschichtstheorien der Freimaurerei mehr oder weniger konstruiert. Soweit sie auf Schlußfolgerungen ehrlicher Denkarbeit aufgebaut sind, bleiben diese Theorien fruchtbar und sind auch geeignet, die trockene Aktenmäßigkeit der englischen Geschichtsschreibung zu beleben.

Hierfür ist besonders Wolfstieg ein guter Beleg. Anders wird es freilich, wenn zur Stützung dieser Geschichtstheorien Material mitkonstruiert ist, wie es besonders bei zahlreichen Hochgradüberlieferungen der Fall ist. Eine Reihe von hier nicht besonders aufgezählten Geschichtstheorien müßte zusammenstürzen, weil sie gutgläubig auf Fälschungen fundiert waren. Ein trauriges Beispiel hierfür waren die "Ältesten Kunsturkunden" von Krause.


Siehe auch