Traktat: Die Aufgabe der Freimaurerei

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Die Aufgabe der Freimaurerei

von Br. Emil Selter

Auszug

Mir will es scheinen, als habe die Freimaurerei in falsch angewandter Exklusivität sich darauf beschränkt: ein jedes ihrer Mitglieder besser zu machen, oder um in der Sprache unserer Symbolik zu sprechen, den Bruchstein zum Baustein zu glätten und habe darüber des Schlusssteines, des Krönungssteines, der erst den Bau vollende, vergessen: ein jedes ihrer Glieder der menschlichen Gesellschaft nützlicher zu machen.

Mir will es weiter scheinen, als hätten die Logen die Freimaurerei nicht als verpflichtende Idee gesehen, sondern sie als eine Art gehobener Geselligkeit umrahmt von ehrwürdigen Gebräuchen betrachtet. Und mir will es letztlich scheinen, als hätten die Logen aus dem Bedürfnis nach Frieden und Ruhe heraus — einer Ruhe, die letzten Endes unausbleiblich zur Erstarrung führt — als - hätten ihre Leiter aus dem Wunsche jede Störung dieser Ruhe zu vermeiden, alles aus den Verhandlungen der Logen ferngehalten, was auch nur im geringsten geeignet erschien, gegensätzliche Auffassungen in Erscheinung treten zu lassen und so die Gemüter in Wallung, die Geister in Tatendrang kommen zu lassen. So wollten die Logen ein Ort des Friedens und der Ruhe sein, als ob draußen vor den Pforten des Tempels das Leben im Biedermeiertrott des beginnenden 19. Jahrhunderts sidi bewege, während in Wirklichkeit das motorisierte Tempo der Mitte des 20. Jahrhunderts vorüberbrauste.

Wie kann aber, so muß ich fragen, eine Gemeinschaft ihrer Aufgabe gerecht werden, ein jedes ihrer Mitglieder — den Einzelnen etwa oder alle zusammen — der menschlichen Gesellschaft nützlicher zu machen, wenn sie ihnen nicht Gelegenheit gibt, zu erforschen und zu erfahren, welches denn die Bedürfnisse dieser menschlichen Gesellschaft sind? Welche Gemeinschaft aber, muss ich weiter fragen, wäre geeigneter in offener, von brüderlicher Liebe und Duldsamkeit getragener, und darum ungehemmter Aussprache die Bedürfnisse jeder menschlicher Gemeinschaft, der kleinsten wie der größten, von allen Seiten zu beleuchten und in Erforschung der Wahrheit zu klären, als der Bund der Freimaurer.

So scheint mir denn eine zweite Reformation der Freimaurerei in Deutschland an Haupt und Gliedern erforderlich zu sein, wenn nicht das nach der Unterdrückung schwach eben aufleuchtende Licht wieder erlöschen soll.

Ja., ich will ehrlich sein: ich glaube und ich habe das vor etwa vier Jahren in einem pseudonym erschienenen Artikel auch bereits ausgespro¬chen, ich glaube, daß diese zweite Reformation bereits im Gange ist. Das Haupt, die Vereinigte Großloge der Alten Freien und Angenommenen Mau¬rer von Deutschland hat bereits mit älter Gepflogenheit gebrochen, hat die traditionelle Abgeschlossenheit des Tempels verlassen und ist vor die Öffentlichkeit getreten, um dort die Grundprinzipien unseres Bundes Humanität und Toleranz zu verkünden und offen Stellung zu nehmen zu den Fragen, die heute die ganze Welt bewegen. …

Alle diese Worte aber, meine Brüder, werden und müssen leere Worthülsen bleiben und zum Schlagwort werden, wenn sie nur vom Haupt unseres Bundes in feierlicher Stunde gesprochen und nicht zum allgemeinen geistigen, inneren Besitz der Glieder unserer Gemeinschaft also eines jeden Bruders werden, so dass er bereit und in der Lage ist, sie zu jeder Zeit und an jedem Orte zu bekennen, zu begründen und — wenn nötig — mit den Waffen des Geistes zu verteidigen…

Die Freimaurerei ist neben allem anderen und über allem anderen, als was .man sie sich vorstellen und als was man sie definieren kann, eine Idee! Eine Idee aber kann man weder lehren, noch kann man sie lernen. Von einer Idee muss man überzeugt sein, eine Idee muss man glauben! Überzeugung und Glauben kann man aber nicht mit Wissen und Willen gewinnen, Überzeugung und Glauben kann sich nur der Einzelne, und jeder einzelne nur für sich selbst allein in der vertrauten Aussprache mit anderen und in schweren, harten und immer wiederkehrenden Kämpfen in seinem Inneren, in Kämpfen zwischen Wissen und Zweifel, in Kämpfen mit Gott und dem Teufel gewinnen und als Siegeslorbeer davontragen.

Darum meine Brüder, die Jungen und die Alten, darum genügt es nicht, von Zeit zu Zeit Erbauung und Ruhe in den Tempelarbeiten zu suchen — ist der Wunsch nach Ruhe und Erbauung nicht ein recht eigensüchtiger Wunsch? — Darum genügt es nicht, den einen oder den anderen Vortrags- und Ausspracheabend der Loge anzuhören. Nur wer jede Gelegenheit wahrnimmt, das ganze tägliche und praktische Lehen der Menschheit in seiner Vielgestaltigkeit und seiner schillernden Farbigkeit, in seinem Wechsel von Hell und Dunkel, in allen seinen Fragen und in seinen vielfachen, je nach dem Standpunkt des Betrachters wechselnden Ansichten kennenzulernen, nur der kann der Erfüllung der Aufgabe nahekommen: selbst besser und der menschlichen Gesellschaft nützlicher zu werden. Nur der vermag der praktischen Erfüllung der Grundprinzipien der Freimaurerei, Humanität und Toleranz, näher zu kommen, der sie immer und immer wieder regelmäßig praktisch in den Arbeiten der Loge übt durch Liebe und die Erforschung der Wahrheit….

o gesehen erscheint die Freimaurerei völlig verschieden und andersgeartet als alle anderen Vereinigungen der Menschen. Denn sie alle, ganz gleich ob Wirtschaftsvereinigung, Gewerkschaft, politische Partei oder Kirche, machen sich der gleichen Sünde schuldig: des Selbstgesprächs. Sozialisten gehen in sozialistische Versammlungen, Demokraten in demokratische, Gewerkschaftler besuchen ihre Zusammenkünfte und Geschäftsleute die ihren.

Dort hören sie Rednern zu, deren Ansichten sie ohnehin teilen, und die Redner freuen sich, weil sie so herzlichen Beifall finden. Niemand aber hat ihrer Meinung eine andere entgegengesetzt und niemand ihre Glaubenssätze angezweifelt. Nie soll die Freimaurerei sich der gleichen Sünde schuldig machen: Führen wir die Angehörigen aller der genannten Gruppen zusammen als von ihren beruflichen Bindungen freie Männer von gutem Rufe nicht zu einem Selbstgespräch als Freimaurer, sondern zu einer Aussprache in freimaurerischem Geiste, in brüderlicher Liebe, die den geistigen Kampf nicht zum Streit, die Diskussion nicht zur Disharmonie werden läßt. Die Freimaurerei so gesehen gibt auch der Tempelarbeit eine ganz andere Bedeutung als der einer Stunde der Ruhe und Erbauung. In ihr soll das einmalige Erlebnis der Aufnahme, das Mysterium des Bruderwerdens, ständig wieder und wieder belebt, die Berufung zum Bau am Tempel der Menschheit ständig erneuert werden, jenem Bau, an dem jeder einzelne von uns Baustein, Baugrund und Werkmann zugleich ist. Denn nicht genügt es, daß wir alles Wissen um die freimaurerische Idee besitzen, nein die Idee muß uns besitzen, jeder Einzelne von uns muß besessen sein von der Idee, um den Ruf zum Apostolat, der bei der Aufnahme an ihn ergeht, zu hören und zu erfüllen.