Traktat: Rede Prof Norbert Lammert

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Rede zum 300 jährigen Jubiläum der ersten Großloge der Freimaurer

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8. Mai 2017, Hamburger Rathaus

Eigentlich, meine Damen und Herren, brauchen Festakte keine Reden – wenn es nur immer so gute, ordentliche und so perfekt dargebotene Musik gäbe wie heute Nachmittag.

Sehr geehrter Herr Bürgermeister,
Herr Vizepräsident der Bürgerschaft,
Herr Distriktsmeister,
Herr Großmeister,
verehrte Gäste!

„Nichts ist schwerer und nichts erfordert mehr Zeit, als sich im offenen Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden und laut zu sagen: nein!“ Dieser schöne Satz ist leider nicht von mir, er stammt von Kurt Tucholsky, einem bekennenden Freimaurer, und bringt in seltener Prägnanz eine Erfahrung zum Ausdruck, die quer durch die Menschheitsgeschichte bis in die heutigen Tage hinein immer wieder zu machen war. Es ist ein schöner Zufall, dass dieser festliche Empfang aus Anlass des dreihundertsten Jahrestages der Freimaurerbewegung an einem 8. Mai stattfindet. Der 8. Mai ist nicht nur, der Bürgermeister hat darauf hingewiesen, der Tag der Befreiung nach der ebenso bitteren wie glücklichen Niederlage des Nationalsozialismus im Zweiten Weltkrieg. Der 8. Mai ist auch der Tag, an dem der Parlamentarische Rat in Bonn nach achtmonatigen Beratungen das Grundgesetz verabschiedet und damit den ersten und wichtigsten Baustein für den Neubau gelegt hat, der nach der größten Verirrung in der deutschen Geschichte ebenso nötig war wie glücklicherweise möglich wurde. Dieses heute erstaunlicherweise völlig unangefochtene Grundgesetz ist damals übrigens keineswegs einstimmig verabschiedet worden, sondern gegen die Stimmen der KPD und der CSU, was dem Inkrafttreten dieser Verfassung und seiner Erfolgsgeschichte nachweislich nicht im Wege gestanden hat. Und es war auch ein 8. Mai., nämlich der 8. Mai 1521, als Kaiser Karl V. auf dem Reichstag in Worms die Reichsacht über Martin Luther verhängte, der sich geweigert hatte, die Thesen zu widerrufen, die die Bewegungen in Gang setzten, an deren 500. Jahres¬tag wir in diesem Jahr erinnern.

Meine Damen und Herren, die Freimaurer stehen mit den 300 Jahren, an die Sie und wir heute erinnern, nicht nur zeitlich, sondern auch gedanklich irgendwo zwischen den Zwängen des Mittelalters und den Freiheitserwartungen und Freiheitsversprechungen der Neuzeit. Ihre gedanklichen Bezüge gehen auf das ausgehende Mittelalter zurück, und es macht schon Sinn, daran zu erinnern, dass ein ganz wesentlicher handfester Anlass für das Entstehen dieser Bewegung die Erfahrung war, dass Baumeister, Steinmetze, Gesellen wie Lehrlinge an den Bauhütten, den großen Baustellen des Mittelalters, vornehmlich den großen Domen und Kathedralen und Kirchen, außerhalb der Zünfte standen und damit in das wohlgefügte System von Ansprüchen und Privilegien nicht einbezogen waren.

Es hat ganz wesentlich mit der Erfahrung der Ausgrenzung zu tun, des nicht Einbezogenseins in eine solche, damals für beinah unanfechtbar gehaltene gesellschaftliche Ordnung, was das Entstehen dieser Bewegung begünstigt, vielleicht auch erfordert hat. Später wurde der in den Logen gepflegte Freiheitsgedanke Anziehungspunkt auch für Menschen ganz unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppierungen und Professionen. Viele Staatsmänner, Aristokraten, Literaten, Künstler, Musiker, Wissenschaftler kennzeichnen die Geschichte der Freimaurerei über diese 300 Jahre hinweg. Heute gibt es weltweit geschätzt etwa sechs Millionen Freimaurer. Das ist mehr, als ein gutes halbes Dutzend der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union an Einwohnern haben. In Deutschland gibt es heute circa 15.000 Freimaurer in etwa 500 Logen, die allesamt für sich und ihre Mitglieder den Anspruch erheben, über die Grenzen von sozialer Herkunft, Nationalität, Sprache, Religion und Kultur hinaus sich gleichen Werten und Pflichten verbunden zu fühlen.

Von Zeitumständen und damit verbundenen Irrtümern und Irrwegen blieben auch die Freimaurer nicht verschont. Prinzipien lassen sich leichter loben als leben. So finden sich im Ersten Weltkrieg und in der Weimarer Republik auch unter ihnen aggressiver bellizistischer Nationalismus und völkisches Denken und später sogar eine gewisse Nähe, jedenfalls gelegentlicher Anbiederung an den nationalsozialistischen Zeitgeist, bis hin zur Einführung von Arierparagraphen in manchen Logensatzungen – so, wie es umgekehrt in manchen Logen auch ein beachtliches Maß an Widerspruch und mehr oder weniger handfesten Widerstand gab und Freimaurer, etwa Ossietzky, den der Bürgermeister bereits zitiert hat, Opfer der Diktatur wurden, aber eben nicht als Freimaurer, sondern als Juden oder als politisch Andersdenkende. Die Versuche, sich in dieser oder jener Weise den damaligen Machthabern anzupassen, halfen nicht. Die Nationalsozialisten verboten die Freimaurerei 1935 als staatsfeindlich, die Logenhäuser wurden beschlagnahmt.

Es ist, wenn überhaupt, wieder ein schöner Zufall, dass beinahe unmittelbar im Anschluss an die Formulierung des Grundgesetzes und sein Inkrafttreten in der Frankfurter Paulskirche am 19. Juni 1949 Grundsätze der Freimaurerei neu formuliert und proklamiert wurden. In denen findet sich dieser Hinweis: „Der Freimaurer erkennt im Weltenbau in allem Lebendigen und im sittlichen Bewusstsein des Menschen einen göttlichen Schöpfergeist voll Weisheit, Stärke und Schönheit. Die Freimaurerei ist ein ethischer, kein politischer Bund und beteiligt sich nicht an politischen oder konfessionellen Parteikämpfen. Sie ist keine Religionsgemeinschaft, keine geheime Verbindung, verlangt keine gesetzwidrige Verschwiegenheit und vermittelt keine geheimen Kenntnisse.“

Die großen Prinzipien, die Werte und selbstgesetzten Pflichten, auf die sich Freimaurer verpflichtet haben, sind heute längst zu unangefochtenen Gestaltungsprinzipien freiheitlicher Gesellschaften und demokratischer Staaten geworden. Mit dem fast unvermeidlichen Risiko, dem eigentlich alle Überzeugungen und Orientierungen zum Opfer zu fallen drohen, dass je unangefochtener sie geworden sind und für umso selbstverständlicher sie gehalten werden nicht nur das Bewusstsein ihrer Bedeutung zu verblassen droht, sondern man sich auch, wenn überhaupt, nur noch ungern der Mühe unterzieht, über die Bedingungen ihrer Realisierung und gelegentlich auch über das Spannungsverhältnis zwischen diesen Prinzipien Rechenschaft zu geben.

Wie viel Freiheit braucht ein Mensch, und wie viel erträgt er? Was bringen Menschen an Freiheit in eine Gesellschaft ein, und wie viel Freiheit muss und darf eine Gesellschaft Menschen zumuten? Wie lässt sich der Anspruch auf Freiheit mit dem gleichzeitigen Anspruch auf Gleichheit verbinden? Wie können in ein und derselben Gesellschaft Menschen zugleich frei und gleich sein? Ist das Toleranzgebot die Brücke zwischen dem einen und dem anderen? Und wie weit reicht dann eine solche Selbstverpflichtung? Muss man auch Intoleranz tolerieren, weil sie auch Ausdruck von Freiheit zu sein scheint? Welchen Respekt verdienen diejenigen, die Minderheiten nicht respektieren? Wie viel Einheit braucht eigentlich eine Gesellschaft, die Vielfalt ermöglichen soll und will?

Meine Damen und Herren, zu jeder dieser Fragen ließen sich jetzt mehr oder weniger kluge Betrachtungen anstellen. Ich will mich auf ein paar Hinweise beschränken und damit beginnen, dass nach meiner festen Überzeugung Menschen, wo immer sie leben und gelebt haben, Orientierungen brauchen, weil sie Halt brauchen, wenn sie sich im Leben behaupten wollen. Dass das so ist und sich wiederum quer durch die Menschheitsgeschichte immer wieder in gleicher und anderer Weise beobachten lässt, ist ziemlich offenkundig. Dass auch Gesellschaften Orientierungen brauchen, gemeinsame Überzeugungen, gar Verbindlichkeiten, um die Unterschiede zu ertragen, die es gibt, und weder aufgegeben werden müssen noch aufgegeben werden sollen, leuchtet eigentlich auch ein, wird aber immer wieder gern bestritten, weil wir Verbindlichkeiten nicht mögen, die der Freiheit Grenzen setzen. Umso wichtiger ist die ungemütliche Einsicht, dass Freiheit Bindungen voraussetzt. Das vielleicht am weitesten verbreitete Missverständnis von Liberalität ist die Erwartung, dass in wirklich liberalen Gesellschaften nichts unbedingt gilt. Liberal ist eine Gesellschaft tatsächlich nur, wenn es die Einsicht gibt und diese auch durchgesetzt wird, dass es ein Mindestmaß an Verbindlichkeiten gibt, ohne die eine Gesellschaft ihre Unterschiede gar nicht aushalten würde, und dass insofern diese Verbindlichkeiten Voraussetzung der Möglichkeit von Freiheit sind.

Ich will ein paar Bemerkungen zur Toleranz machen. Toleranz ist inzwischen zweifellos eine der populärsten und zugleich folgenlosesten Begriffe unserer Zeit geworden. Fragt man Google, was man sich unter ‚Toleranz‘ vorzustellen habe, werden dort fast zehn Millionen Ergebnisse angezeigt. Das allein ist ein starkes Indiz dafür, dass weder der Begriff unmissverständlich ist noch die damit verbundenen Sachverhalte. Wie ist dieser Begriff überhaupt in die deutsche Sprache gekommen? Sie vermuten richtig: durch Luther. Er hat den alten lateinischen Begriff der ‚Toleranzia‘ in die deutsche Sprache übertragen und eingeführt. Dass unter den thematischen Schwerpunkten der Luther-Dekade, die uns nun über zehn Jahre hinweg auf das große fünfhundertjährige Reformationsjubiläum zugeführt hat, neben der Sprache und der Musik die Toleranz eines der Schwerpunkthemen war, hängt nicht nur mit der überragenden Bedeutung der Toleranz oder Selbstverständnis moderner Gesellschaften zusammen, sondern mit der Vernachlässigung dieses Anspruchs im Alltag der Menschheitsgeschichte. Toleranz ist nicht das herausragende Merkmal der Geschichte, auch nicht der Kirchengeschichte, weder vor noch nach der Reformation. Religionen haben, wie wir immer wieder schmerzlich feststellen können, ein ambivalentes Verhältnis zur Toleranz. In der Lehre vermitteln sie Toleranz, in der Praxis verweigern sie Toleranz – nicht immer, aber jedenfalls erstaunlich oft, nach innen wie nach außen. Erst mit der Aufklärung im 18. Jahrhundert, und da sind wir in den Gründungszeiten der Freimaurer¬bewegung, die ihre wesentlichen Einsichten weitgehend gegen den erbitterten Widerstand der Kirche durchsetzen musste, wurde die Freiheit des Menschen, auch die Freiheit des Christenmenschen, als individuelle Freiheit des Bürgers gegenüber dem Staat, auch gegenüber den Kirchen, reklamiert und durchgesetzt.

Die menschheitsgeschichtlich betrachtet späte Einsicht der Aufklärung in die Aussichtslosigkeit einer abschließenden Beantwortung der Wahrheitsfrage hat Demokratie nötig und möglich gemacht. Würde man die Wahrheitsfrage verlässlich und für jeden nachvollziehbar verbindlich beantworten können, brauchte man die Mehrheitsentscheidung nicht, die demokratische Entscheidungsprozesse prägen. Deswegen gehört es auch zu den ebenso ärgerlichen wie hartnäckigen Missverständnissen etablierter demokratischer Systeme, dass sich Mehrheiten angewöhnt haben, das Vorhandensein dieser Mehrheit für den Nachweis der Wichtigkeit ihrer Meinungen auszugeben. Wenn sie die Richtigkeit Ihrer Meinung nachweisen können, hätte die Abstimmung gar nicht stattfinden möchten. Wer sich, wieder anders formuliert, an Abstimmungen beteiligt, räumt damit ein, dass er auch für sich nicht den Nachweis der Überlegenheit seiner Position gegenüber möglichen anderen führen kann und bestreitet insofern legitimerweise einen möglichen ähnlichen Anspruch anderer. Das, was mit Mehrheit entschieden wird, gilt. Es ist deswegen aber nicht unbedingt richtig. Deswegen gilt es übrigens auch nur so lange, bis eine Mehrheit etwas Anderes beschließt, was dann übrigens wiederum nicht richtiger sein muss, aber vorläufig gilt. Unter den Bedingungen unseres heutigen – wie wir uns mindestens einbilden – aufgeklärten modernen Staats- und Gesellschaftsverständnisses sind Freiheit und Toleranz Geschwister. Die Toleranz ist gewissermaßen der größere Bruder der Freiheit, die ohne die Bereitschaft zur Toleranz jedenfalls keine allgemeine Freiheit sein kann, sondern bestenfalls die zum Standard erhobene Umsetzung von je eigenen, persönlichen Freiheitsvorstellungen, die für allgemein und zugleich für alle verbindlich erklärt werden. Wer wirklich individuelle Freiheit will, muss zur Toleranz bereit sein und in der Lage sein. Oder er muss auf Freiheit verzichten.

Toleranz, und wo hört sie auf? Toleranz beginnt immer mit der Erfahrung des anderen, des anderen Menschen, seiner jeweils besonderen Eigenarten, seiner Veranlagungen, seiner Interessen, seiner Auffassungen und Meinungen, seiner Ziele und Bedürfnisse. Toleranz ist nicht die schlichte Kenntnis oder Kenntnisnahme, dass etwas so ist, wie es ist, sie ist vielmehr die Duldung des anderen. Sie ist auch mehr als die Duldung des anderen, weil es sich ohnehin nicht verändern lässt oder vermeiden lässt. Toleranz ist Akzeptanz des jeweils anderen, die Bereitschaft zu verstehen, warum es so ist, wie es ist, und sich darauf einzulassen, das Andere möglich werden zu lassen. Toleranz darf allerdings nicht die kopflose Legitimation für Rücksichtslosigkeit sein. Die Grenzen der Toleranz sind spätestens dann erreicht, wenn es um Anwendung oder Androhung von Gewalt geht, um Terror, auch Gesinnungsterror, um Diskriminierung oder Privilegierung, soweit diese nicht in der Sache geboten und begründet sind.

Voltaire, den der Bürgermeister vorhin schon einmal zitiert hat, hat dazu einen klugen Satz formuliert, der beinahe als Kommentar zu manchen Verirrungen aktueller politischer Auseinandersetzungen gelesen werden kann: „Hat der Fanatismus das Gehirn einmal verpestet, so ist die Krankheit fast unheilbar.“ Diese fast 300 Jahre alte Einsicht können wir im Europa des 21. Jahrhunderts mit einer erschreckenden Regelmäßigkeit machen. Nicht alles, meine Damen und Herren, was sich als Toleranz ausgibt, genügt höheren Ansprüchen. Toleranz ist nicht immer und überall weise, sie kann auch dumm sein, blind, bequem, leichtfertig, gefährlich, manchmal lebensgefährlich. Deshalb ist es im Namen der Toleranz erlaubt und manchmal dringend geboten, Intoleranz nicht zu tolerieren.


Ich will ein paar Sätze zur Brüderlichkeit sagen, dem schönen, dritten Prinzip der Französischen Revolution, das ein Anliegen und eine Einsicht aufgreift, die auch mindestens so alt ist, wie die Menschheitsgeschichte über sich selbst nachzudenken begonnen hat, und die über das gesamte Mittelalter in philosophischen und theologischen Schriften unter dem Stichwort ‚Gerechtigkeit‘ immer wieder nach vorne und hinten und rechts und links und oben und unten durchleuchtet worden ist. Die Schwierigkeiten mit dem Thema beginnen schon damit, dass wir nicht wirklich wissen, was „Gerechtig¬keit/Brüderlichkeit“ ist. Immerhin wissen wir, dass es sie geben soll. Und deswegen versuchen wir ständig neu, mit Präzisierungen und Konkretisierungen wenigstens Aspekte hervorzuheben, die uns besonders bedeutsam erscheinen. Bedarfsgerechtigkeit: Gerecht ist, wenn sichergestellt ist, dass jeder seinen Bedarf decken kann. Leistungsgerechtigkeit: Gerecht ist eine Gesellschaft dann, wenn jeder das erhält, was seiner Leistung entspricht. Verteilungsgerechtigkeit: Den Anspruch auf eine gerechte Gesellschaft kann man vielleicht dann erheben, wenn das, was eine wie auch immer geartete Anzahl von Menschen gemeinsam erarbeitet und erwirtschaftet, fair verteilt wird. Teilhabegerechtigkeit: Gerecht ist, wenn alle prinzipiell die gleiche Möglichkeit haben, an der Erarbeitung und an der Verteilung dessen teilzuhaben, was in einer Gesellschaft erarbeitet wird. Chancengerechtigkeit: Gerecht ist eine Gesellschaft nur dann, wenn alle die gleiche Chance haben, an dem mitzuwirken, was in einer Gesellschaft geschieht, was in ihr erwirtschaftet wird und anschließend verteilt wird. Jede dieser gerade beispielhaft genannten Vorstellungen von Gerechtigkeit ist nicht nur gut gemeint, sie bilden auch einen zweifellos wesentlichen Aspekt unseres Gerechtigkeits¬denkens ab. Und dennoch ahnen wir, dass in keiner dieser Konkretisierungen der Gerechtigkeitsbegriff voll aufgeht, obwohl oder gerade weil jeder dieser einzelnen Aspekte seine eigene innere Logik, seine eigene innere Berechtigung hat. Wieso ist es gerechter, nach Bedarf zu verteilen als nach Leistung? Und wie entwickelt sich wohl eine Gesellschaft, wenn sie nicht nach Leistung, sondern nach Bedarf verteilt? Umgekehrt: Warum soll eine leistungsgerechte Verteilung ganz offenkundig gerechter sein als eine bedarfsorientierte?

Der Sammelbegriff ‚Soziale Gerechtigkeit‘, mit dem sich vor allem Politiker und Journalisten, gelegentlich übrigens auch Theologen, Herr Weihbischof, über die Schwierigkeiten der Abgrenzung dieser verschiedenen Aspekte des gleichen Gerechtigkeitspostulats hinwegzuhelfen versuchen, macht bei genauem Hinsehen nichts klarer. Er ergänzt vielmehr den nicht hinreichend eindeutigen Gerechtigkeitsbegriff durch ein ebenso wenig eindeutiges Adjektiv – in der treuherzigen Hoffnung, dass die Verbindung von zwei Unschärfen das Bild deutlich macht. Was ist gerecht? Was ist verantwortlich? Wie sieht eine brüderliche Gemeinschaft oder Gesellschaft aus? Was ist nicht nur als Parole gerecht oder brüderlich, sondern gerecht oder brüderlich als verantwortbarer Beitrag für die realen Lebensbedingungen in einer realen Gesellschaft? Das Thema ist unerschöpflich. Mir scheint, wenn überhaupt, nur dies offensichtlich: Dass die Frage nicht abschließend zu beantworten ist, sondern immer wieder neu gestellt und immer wieder neu beantwortet werden muss. Dabei hat die Politik aber keineswegs eine exklusive Rolle und Verantwortung. Die Politik ist nicht besser als andere in der Lage zu erklären und zu klären, was Gerechtigkeit ist. Sie ist ganz sicher auch nicht allein in der Lage, Gerechtigkeit herzustellen, schon gar nicht, wenn die Frage, woran man das misst, nicht ein für allemal eindeutig und abschließend zu beantworten ist.

Wenn das aber so ist, dann darf man das Bemühen um Gerechtigkeit oder Brüderlichkeit nicht allein der Politik, nicht allein Parlamenten und Regierungen überlassen, sondern dann müssen sich möglichst viele daran beteiligen und entsprechend den Möglichkeiten, die dieses Land, diese Demokratie, unsere Verfassung eröffnen, ihren Einfluss, ihren Sachverstand, ihr Engagement und natürlich auch ihre Interessen geltend machen. Absolute Gerechtigkeit gibt es nicht, ebenso wenig wie absolute Wahrheit, und absolute Freiheit übrigens auch nicht. Man muss sie suchen in der Gewissheit, sie nicht zu finden. Aber die Suche lohnt, weil wir zwar nicht wissen, was Freiheit oder Gerechtigkeit und eine freie und zugleich gerechte Welt ist, wir aber den Anspruch nicht aufgeben dürfen, sie zu finden.

Eine letzte Bemerkung zu Verhältnis von Freiheit und Gleichheit: Für unsere Gesellschaft unter dem Grundgesetz gilt, dass sie den Gleichheitsgrundsatz als eines ihrer Verfassungsprinzipien normativ wie eine Flagge vor sich herträgt und gleichzeitig ein statistisch wachsendes Maß an Ungleichheit registriert. Das ist keine banale Situation. Sie wird auch nicht dadurch unerheblich, dass wir nun mal in unserer Verfassung sowohl das Freiheitsprinzip und damit die Möglichkeit der Selbstentfaltung der Menschen garantieren, als auch auf dem Gleichheitsgrundsatz bestehen. Die beiden Prinzipien stehen sich schon als solche wechselseitig kräftig im Wege und lassen sich offenkundig nicht gegeneinander aufwiegen. Wir müssen uns nicht nur, aber insbesondere natürlich in der Politik mit der Frage auseinandersetzen, welches Maß an Freiheit und welches Maß an Ungleichheit eine Gesellschaft zulässt und erträgt. Ich persönlich, jetzt wird es ein bisschen riskant, ich persönlich glaube nicht, dass es ein generelles Bedürfnis nach Gleichheit der Lebensverhältnisse gibt. Anders formuliert: Ich habe den Eindruck, dass die allermeisten Menschen mit der Erfahrung der faktischen Ungleichheit von Menschen relativ gut zurande kommen. Weil sie diese Erfahrung buchstäblich von Kindesbeinen an machen, dass Kinder und Erwachsene nicht gleich sind, dass Jungen und Mädchen nicht gleich sind, dass selbst Gleichaltrige nicht gleiche Interessen und Veranlagungen haben, dass sie nicht unter gleichen, sondern unter unterschiedlichen Bedingungen aufwachsen. Dass die Menschen dem Gleichheitspostulat zum Trotz nicht gleich sind, sondern ungleich, ist den meisten nicht nur bewusst, sondern damit kommen sie in der Regel zurande. Vielleicht, noch etwas leiser gesagt, gehört die faktische Ungleichheit sogar zu den Vorzügen der Schöpfung. Die Menschheit befände sich in einer völlig anderen Verfassung und vermutlich nicht in einer besseren, wenn alle Menschen faktisch gleich wären. Die Erfahrung der Ungleichheit ist möglicherweise eine der wichtigsten Vitalitätsquellen der Menschheit, auch und gerade wegen der damit verbundenen Frustrations¬erfahrung. Das Problem ist, glaube ich, nicht die Erfahrung, dass Menschen ungleich sind. Ungleichheit wird aber immer dann zu einem Problem, wenn es keinen plausiblen, nachvollziehbaren Zusammenhang ergibt zwischen individueller Leistung und individuellem Einkommen und Vermögen. Und da reden wir jetzt über kein theoretisches, philosophisches Problem, sondern über ein handfestes gesellschaftspolitisches Problem, wenn der Eindruck entsteht, dass selbst bei verweigerter Leistung oder bei nachgewiesener dauerhafter Fehlleistung die Bezahlung oder Abfindung besonders üppig ausfallen, diese Strapazierung von Freiheit und Gleichheit hält auf Dauer keine Gesellschaft aus. Es treibt sie auseinander und hält sie eben nicht beieinander.

Deshalb, auch deshalb, benötigt eine freiheitliche Gesellschaft nicht nur demokratisch gewählte Parlamente und politisch verantwortliche Regierungen, sondern auch eine aktive Bürgergesellschaft. In der wechselseitigen Zuordnung und Verbindung von Bürgerengagement und verfassten demokratischen Institutionen darf das jeweils eine das andere nicht ersetzen. Die erste demokratische Tugend ist Verantwortung. Verantwortung für sich selbst, für die unmittelbare Umgebung, aber auch Verantwortung für das eigene Land, die eigene Stadt, die eigene Gesellschaft. Dies gibt es glücklicherweise in unserer Gesellschaft in einem ähnlich erstaunlichen Maße, wie sich die demokratischen Institutionen unseres Landes nach allerdings traumatischen Erfahrung in einer bemerkenswerten Weise gefestigt haben.

Und deshalb verbinde ich meine Glückwünsche zu diesem stolzen Jubiläum mit dem ausdrücklichen Wunsch, dass sich in den nächsten 300 Jahren diese Prinzipien von Freiheit und Gleichheit und Brüderlichkeit und Toleranz als Voraussetzungen einer humanen Gesellschaft unangefochtener durchsetzen, als das über den mit Abstand größeren Teil der letzten 300 Jahre zu beobachten war.