Julius Tandler: Unterschied zwischen den Versionen

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In Wien gibt es im 9. Bezirk seit 1949 einen Julius-Tandler-Platz. In den Jahren nach 2000 begann man sich zunehmend mit Straßennamen zu beschäftigen, die auf historisch belastete Persönlichkeiten Bezug nahmen. Eine Forschungsgruppe im Auftrag der Universität Wien und der Stadt Wien ordnete den Julius-Tandler-Platz (so wie eine Reihe weiterer Straßennamen) als "Fall mit Diskussionsbedarf" ein. Dies hängt mit Julius Tandlers eugenischen Positionen zusammen.
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In Wien gibt es im 9. Bezirk seit 1949 einen Julius-Tandler-Platz. In den Jahren nach 2000 begann man sich zunehmend mit Straßennamen zu beschäftigen, die auf historisch belastete Persönlichkeiten Bezug nehmen. Eine Forschungsgruppe im Auftrag der Universität Wien und der Stadt Wien ordnete den Julius-Tandler-Platz (so wie eine Reihe weiterer Straßennamen) als "Fall mit Diskussionsbedarf" ein. Dies hängt mit Julius Tandlers eugenischen Positionen zusammen.
  
 
In Aufsätzen und Vorträgen vertrat Tandler die Vorstellung vom bevölkerungspolitisch „unwerten Leben“. Das weist ihn als einen Anhänger der damaligen sozialistischen Eugenik aus. So schrieb er 1924 in der „Wiener Medizinischen Wochenschrift“ (Nr. 4‐6, S. 17) zu ‚Ehe und Bevölkerungspolitik’: ''„Welchen Aufwand übrigens die Staaten für völlig lebensunwertes Leben leisten müssen, ist zum Beispiel daraus zu ersehen, daß die 30.000 Vollidioten Deutschlands diesem Staat zwei Milliarden Friedensmark kosten. Bei der Kenntnis solcher Zahlen gewinnt das Problem der Vernichtung lebensunwerten Lebens an Aktualität und Bedeutung. Gewiß, es sind ethische, es sind humanitäre oder fälschlich humanitäre Gründe, welche dagegen sprechen, aber schließlich und endlich wird auch die Idee, daß man lebensunwertes Leben opfern müsse, um lebenswertes zu erhalten, immer mehr und mehr ins Volksbewußtsein dringen.“''
 
In Aufsätzen und Vorträgen vertrat Tandler die Vorstellung vom bevölkerungspolitisch „unwerten Leben“. Das weist ihn als einen Anhänger der damaligen sozialistischen Eugenik aus. So schrieb er 1924 in der „Wiener Medizinischen Wochenschrift“ (Nr. 4‐6, S. 17) zu ‚Ehe und Bevölkerungspolitik’: ''„Welchen Aufwand übrigens die Staaten für völlig lebensunwertes Leben leisten müssen, ist zum Beispiel daraus zu ersehen, daß die 30.000 Vollidioten Deutschlands diesem Staat zwei Milliarden Friedensmark kosten. Bei der Kenntnis solcher Zahlen gewinnt das Problem der Vernichtung lebensunwerten Lebens an Aktualität und Bedeutung. Gewiß, es sind ethische, es sind humanitäre oder fälschlich humanitäre Gründe, welche dagegen sprechen, aber schließlich und endlich wird auch die Idee, daß man lebensunwertes Leben opfern müsse, um lebenswertes zu erhalten, immer mehr und mehr ins Volksbewußtsein dringen.“''
  
Im Gegensatz zu den späteren Untaten der Nazis schlug Julius Tandler für die Umsetzung seiner Ideen aber keine staatlichen Euthanasiemorde vor, sondern Aufklärung der Bevölkerung via Eheberatung und Familienplanung. Das geht auch daraus hervor, dass er im selben Aufsatz im Widerspruch zum oben Zitierten schrieb: ''„Es gibt lebensunwertes Leben vom Standpunkt des Individuums aber auch vom Standpunkt der Bevölkerungspolitik, und auch hier geraten Individuum und Allgemeinheit oft in Konflikt. Die Einschätzung des Wertes des eigenen Lebens ist und bleibt ein Teil der persönlichen Freiheit; es gibt nicht nur ein Recht auf Leben, sondern auch eine Pflicht zu leben und die Abschätzung zwischen Pflicht zu bleiben und Recht zu gehen, ist Angelegenheit des Individuums.“''
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Im Gegensatz zu den späteren Untaten der Nazis schlug Julius Tandler für die Umsetzung seiner Ideen aber keine staatlichen Euthanasiemorde vor, sondern Aufklärung der Bevölkerung via Ehe- und Familienberatung. Das geht auch daraus hervor, dass er im selben Aufsatz im Widerspruch zum oben Zitierten schrieb: ''„Es gibt lebensunwertes Leben vom Standpunkt des Individuums aber auch vom Standpunkt der Bevölkerungspolitik, und auch hier geraten Individuum und Allgemeinheit oft in Konflikt. Die Einschätzung des Wertes des eigenen Lebens ist und bleibt ein Teil der persönlichen Freiheit; es gibt nicht nur ein Recht auf Leben, sondern auch eine Pflicht zu leben und die Abschätzung zwischen Pflicht zu bleiben und Recht zu gehen, ist Angelegenheit des Individuums.“''
  
Im Grunde gibt es das Thema bis heute: etwa in der anhaltenden Diskussion über die Zulässigkeit von Präimplantationsdiagnostik (genetische Untersuchung der befruchteten Eizelle vor der Einsetzung in die Gebärmutter).
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Im Grunde gibt es das Thema bis heute: etwa in der anhaltenden Diskussion über die Zulässigkeit von Präimplantationsdiagnostik (genetische Untersuchung der befruchteten Eizelle vor der Einsetzung in die Gebärmutter) oder der Kritik an Abtreibungen, die vorgenommen werden, wenn bei einer Fruchtwasseruntersuchung am Fötus das Down-Syndrom festgestellt wird. Beide Diagnoseverfahren waren ja zu Tandlers Zeiten noch nicht möglich.  
  
  

Version vom 27. Juni 2016, 08:23 Uhr

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Julius Tandler

Österreichischer Sozialdemokrat und Gesundheitspolitiker nach dem Ersten Weltkrieg. Von Rudi Rabe.

Masonisches

Aufgenommen 1920 in die Wiener Loge ‚Lessing Zu den drei Ringen’, eine ehemalige Grenzloge; gegründet 1897. Ferdinand Hanusch war sein Bürge. 1927 deckte er (= trat er aus der Loge aus). Offenbar wegen seiner exponierten politischen Position verwendete Julius Tandler in seiner Loge den Decknamen ‚Retland’; laut Günter Kodek vermutlich nach dem Pseudonym ‚Florus Retland’ des Prager Dichters Joseph von Tandler.

Leben

Geboren 1869 in Iglau in Mähren (heute tschechisch: Jihlava); gestorben 1936 in Moskau. Ab 1910 Universitätsprofessor für Anatomie in Wien. Ab 1919 sozialdemokratischer Politiker zuerst in der Bundesregierung der 1918 gegründeten Republik Österreich und dann von 1920 bis 1933 in Wien Stadtrat (= Mitglied der Stadtregierung). In dieser Zeit initiierte er viele Gesundheits- und Fürsorgeeinrichtungen für Familien, Mütter, Kinder, Jugendliche und Arbeiter. Zitate: „Die Gesellschaft ist verpflichtet, allen Hilfsbedürftigen Hilfe zu gewähren.“ Oder: „Wer Kindern Paläste baut, reißt Kerkermauern nieder.“ Beides waren damals durchaus neue Gedanken: im ersten Satz durch die Verpflichtung der Gesellschaft und im zweiten durch die Idee, dass man sich Gefängnisse erspare, wenn man der Jugend ins Leben hilft.

Schon ab Ende der zwanziger Jahre sah sich Julius Tandler an der Universität wegen seiner jüdischen Abstammung antisemitischer Agitation ausgesetzt. Und als der rechtskatholische Politiker Engelbert Dollfuß im Frühjahr 1933 die Republik durch einen Staatsstreich beseitigte und die austrofaschistische Diktatur („Ständestaat“) errichtete, ging auch Tandlers politische Zeit zu Ende. Er wurde verhaftet, verlor seine Professur und wurde zwangspensioniert.

Im November 1933 konnte Julius Tandler Österreich verlassen. Über Shanghai reiste er nach Moskau in die kommunistische Sowjetunion, wo er als medizinischer Berater eingesetzt wurde. Drei Jahre danach starb er.

Widersprüche

In Wien gibt es im 9. Bezirk seit 1949 einen Julius-Tandler-Platz. In den Jahren nach 2000 begann man sich zunehmend mit Straßennamen zu beschäftigen, die auf historisch belastete Persönlichkeiten Bezug nehmen. Eine Forschungsgruppe im Auftrag der Universität Wien und der Stadt Wien ordnete den Julius-Tandler-Platz (so wie eine Reihe weiterer Straßennamen) als "Fall mit Diskussionsbedarf" ein. Dies hängt mit Julius Tandlers eugenischen Positionen zusammen.

In Aufsätzen und Vorträgen vertrat Tandler die Vorstellung vom bevölkerungspolitisch „unwerten Leben“. Das weist ihn als einen Anhänger der damaligen sozialistischen Eugenik aus. So schrieb er 1924 in der „Wiener Medizinischen Wochenschrift“ (Nr. 4‐6, S. 17) zu ‚Ehe und Bevölkerungspolitik’: „Welchen Aufwand übrigens die Staaten für völlig lebensunwertes Leben leisten müssen, ist zum Beispiel daraus zu ersehen, daß die 30.000 Vollidioten Deutschlands diesem Staat zwei Milliarden Friedensmark kosten. Bei der Kenntnis solcher Zahlen gewinnt das Problem der Vernichtung lebensunwerten Lebens an Aktualität und Bedeutung. Gewiß, es sind ethische, es sind humanitäre oder fälschlich humanitäre Gründe, welche dagegen sprechen, aber schließlich und endlich wird auch die Idee, daß man lebensunwertes Leben opfern müsse, um lebenswertes zu erhalten, immer mehr und mehr ins Volksbewußtsein dringen.“

Im Gegensatz zu den späteren Untaten der Nazis schlug Julius Tandler für die Umsetzung seiner Ideen aber keine staatlichen Euthanasiemorde vor, sondern Aufklärung der Bevölkerung via Ehe- und Familienberatung. Das geht auch daraus hervor, dass er im selben Aufsatz im Widerspruch zum oben Zitierten schrieb: „Es gibt lebensunwertes Leben vom Standpunkt des Individuums aber auch vom Standpunkt der Bevölkerungspolitik, und auch hier geraten Individuum und Allgemeinheit oft in Konflikt. Die Einschätzung des Wertes des eigenen Lebens ist und bleibt ein Teil der persönlichen Freiheit; es gibt nicht nur ein Recht auf Leben, sondern auch eine Pflicht zu leben und die Abschätzung zwischen Pflicht zu bleiben und Recht zu gehen, ist Angelegenheit des Individuums.“

Im Grunde gibt es das Thema bis heute: etwa in der anhaltenden Diskussion über die Zulässigkeit von Präimplantationsdiagnostik (genetische Untersuchung der befruchteten Eizelle vor der Einsetzung in die Gebärmutter) oder der Kritik an Abtreibungen, die vorgenommen werden, wenn bei einer Fruchtwasseruntersuchung am Fötus das Down-Syndrom festgestellt wird. Beide Diagnoseverfahren waren ja zu Tandlers Zeiten noch nicht möglich.


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