Traktat: "Standpunkt" von Thomas Fernkorn: Unterschied zwischen den Versionen
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Bei dem ein oder anderen Bruder mag sich jetzt Widerstand regen oder es kommt die Frage auf, ob ich wirklich bei einer Gemeinschaftsarbeit mit Logen einer anderen Lehrart, diese Auffassung erörtern möchte. | Bei dem ein oder anderen Bruder mag sich jetzt Widerstand regen oder es kommt die Frage auf, ob ich wirklich bei einer Gemeinschaftsarbeit mit Logen einer anderen Lehrart, diese Auffassung erörtern möchte. |
Version vom 13. Februar 2020, 06:01 Uhr
Standpunkt
Ich stehe auf dem Standpunkt, dass Freimaurerei ohne den Glauben an Gott, Mystik und Esoterik unvollständig ist.
Bei dem ein oder anderen Bruder mag sich jetzt Widerstand regen oder es kommt die Frage auf, ob ich wirklich bei einer Gemeinschaftsarbeit mit Logen einer anderen Lehrart, diese Auffassung erörtern möchte.
Nein, das möchte ich nicht tun.
Ich habe zu Beginn des Vortrages meinen Standpunkt deutlich gemacht, weil ich heute über Standpunkte sprechen möchte und die Postulierung meines Standpunktes und die Reaktionen darauf ein passender Einstieg in das Thema sind.
Wir leben in einer Zeit, in der das Grau verschwindet und tiefsten Schwarz und hellstem Weiß weicht.
Die Polarisierung unserer Gesellschaft wird auch dadurch deutlich, dass aus politischen Gegnern, sprachlich Feinde geworden sind, in der Häme, Polemik, Hetze als Reaktion auf einen persönlichen Standpunkt eines Andersdenkenden hoffähig geworden ist.
Man kann zu Greta Thunberg stehen, wie man möchte, aber gibt es einen vernünftigen Grund auf Ihren Standpunkt mit entmenschlichender Hetze zu reagieren?
Gleichzeitig finden wir das Phänomen, dass es eben nicht opportun ist, seinen Standpunkt zu veröffentlichen, wenn dieser Ecken und Kanten hat, weil er eben vermeintlich nicht politisch korrekt ist.
Warum reagieren wir so emotional auf andere Standpunkte? Warum werden Standpunkte immer dogmatischer? Der Standpunkt ist der Platz eines Menschen, von dem er die Welt wahrnimmt. Der Standpunkt bestimmt also den Blickwinkel.
Lassen Sie mich eine Legende nutzen, um die Problematik von Standpunkten darzustellen.
Der Legende nach, hat Grigori Alexandrowitsch Potjomkin Katharina die Große, bei ihren Inspektionsreisen durch Neurussland mit Dorfattrappen getäuscht, um ihr die fortgeschrittene Besiedlung der neuen Gebiete vorzuspiegeln. Hieraus entstand der Begriff von den Potjomkinschen Dörfern. Wir lernen daraus, dass man von seinem Standpunkt aus nicht hinter diese Kulissen schauen kann. Die meisten Dinge, Weisheiten oder Dogmen im Leben haben aber nun einmal mindestens zwei Seiten. Katharina hätte also den Standpunkt eines Dörflers einnehmen müssen, um die Wahrheit zu erkennen.
Heute weiß man, dass diese Legende von neidischen russischen Adeligen erschaffen wurde. Grigori Alexandrowitsch Potjomkin war ein Emporkömmling von niederer Geburt, ein äußerst fähiger Emporkömmling, der unter anderem von Friedrich II den Schwarzen Adlerorden erhielt und er genoss die Gunst der Zarin. In Wirklichkeit hat Potjomkin viel für den Aufbau in Neurussland getan. Wir sehen daran, dass manch einer nicht vor Lüge und Verleumdung zurückscheut, um seinen Standpunkt zu vertreten.
Standpunkte schaffen also, aufgrund des eingeschränkten Blickwinkels, Voreingenommenheiten oder Vorurteile. Die Standortort-Theorie, mit der sich Hegel und Marx beschäftigten, besagt, dass die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe weitgehend die Standpunkte bestimmt, die man einnimmt. Die Ungleichheit zwischen den verschiedenen sozialen Gruppen, schaffen Unterschiede in deren Standpunkte.
Unsere Standpunkte sind die Säulen unserer Identität. Sie sind die Fixpunkte in unserem Koordinatensystem, in unserem Wertesystem der Welt. Deshalb reagieren wir auch so sensibel, wenn jemand unsere Standpunkte in Zweifel zieht. Solch ein Ansinnen, wird von manchen Menschen als Angriff auf seine Identität, seine Person wahrgenommen.
Da in der immer komplexeren werdenden Welt, die Zusammenhänge nicht mehr einfach zu erkennen sind, wir von Informationen überflutet werden, deren Wahrheitsgehalt wir nur erahnen können, ziehen wir uns immer mehr auf unsere Standpunkte zurück.
Da Standpunkte bei den meisten Menschen recht einfach formuliert sind, wird aus der Welt, die deren Polarität in Wirklichkeit abnimmt, eine Welt der polaren Standpunkte. Gestatten Sie mir nur ein Beispiel um die These zu untermauern. Der von mir sehr geschätzte Autor Hans Rosling nennt als Beispiel die Begriffe Arm und Reich. Die meisten glauben an einen breiten Graben, der die Welt in zwei Teile teilt, eben in Arm und Reich, in „Die“ und „Wir“.
Doch 75 Prozent der Weltbevölkerung lebt genau da, wo der breite Graben sein soll, nämlich in der Mitte.
Rosling macht vier Einkommensstufen aus.
- Stufe 1 heißt: Maximal 1 US-Dollar am Tag, Kochen und Schlafen auf dem Boden, fürs Wasser muss man zu einem fernen Wasserloch laufen. Hier leben etwa 10% der Menschen, wenige, aber immer noch zuviele.
- In Stufe 2 (4 US-Dollar pro Tag) hat man schon ein Fahrrad und einen Gaskocher,
- in Stufe 3 (16 US-Dollar pro Tag) einen Kaltwasseranschluss und ein Motorrad,
- in Stufe 4 (über 64 US-Dollar am Tag) kann man sich ein Auto leisten, und eine richtige Spüle.
Die Stufen ähneln sich, egal, wo auf der Welt man ist.
Binnen ein, zwei Generationen haben viele von ungeahntem Fortschritt profitiert. Noch Roslings Großmutter lebte im ländlichen Schweden auf Stufe 2, heute gilt dort für die meisten: Stufe 4. Doch trotz der nackten Zahlentatsachen neigen Menschen zu einer überdramatisierten Weltsicht. Es ist das evolutionäre Erbe, das die Wahrnehmung verzerrt. Uralte Instinkte, die einst halfen, Gefahren aus dem Weg zu gehen und zu überleben: Die Lage düsterer einschätzen, als sie ist. Schnell entscheiden, ohne lange nachzudenken. Dichotomisch denken, in Freund und Feind. Das wirkt bis heute.
Halten wir als Zwischenergebnis unserer Betrachtungen fest:
Standpunkte basieren häufig auf stark vereinfachten Darstellungen, manchmal auch auf falschen Wahrnehmungen der Realität Standpunkte schaffen zumindest Voreingenommenheit oder gar Vorurteile
Standpunkte sind ein Teil meiner Persönlichkeit, eine Infragestellung dieser trifft meinen Kern, mein Ego.
Wenn ich nicht bereit bin, den Standpunkt des anderen einzunehmen, werde ich niemals das sehen, was er sieht, sondern vielleicht nur mein persönliches Potjomkinsches Dorf.
Der ein oder andere von Ihnen wird nun mit Recht einwenden wollen, dass es auch allgemeingültige, nicht verhandelbare Standpunkte geben müsse. Diese Auffassung teile ich, allerdings dürfen wir dabei nicht Lehrsätze der Standpunkt Theorie vergessen.
Die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe bestimmt weitgehend die Standpunkte, die man einnimmt. Die Ungleichheit zwischen den verschiedenen sozialen Gruppen schaffen Unterschiede in deren Standpunkte.
Wir sehen dies sehr deutlich in den Konflikten in und mit islamischen Ländern. Dort gelten andere Wertesysteme, die wir zum Teil als inhuman betrachten. Es gibt in der Welt leider keine von allen Staaten akzeptierte und generell gültige Erklärung zu den Menschenrechten.
Deshalb sind gerade wir Freimaurer bezüglich dieser allgemeingültigen, nicht verhandelbaren Standpunkte, meiner Meinung nach, zu zweierlei aufgerufen. Zum einen unsere Standpunkte an den Werten der Europäischen Menschenrechtskonvention, die weitestgehend gleich mit der UN-Charta der Menschenrechte ist, ausrichten UND gleichzeitig, es zumindest versuchen, den Blickwinkel der anderen Standpunkte diesbezüglich einzunehmen.
Wie wichtig das ist, das können wir am Ergebnis erkennen, als wir versucht haben, unsere westlichen Standpunkte, in Gesellschaften zu verankern, die dazu nicht bereit waren - ich spreche vom arabischen Frühling.
Von diesen fixen Standpunkten abgesehen, sollten wir Freimaurer grundsätzlich versuchen, die anderen Standpunkte zumindest hypothetisch einzunehmen, um das Objekt der Uneinigkeit auch einmal von der anderen Seite zu sehen. Vielleicht entdecken wir dabei etwas bereicherndes, ein unsere Meinung beeinflussendes Bild. Das ist das Fundament der Toleranz.
Kommen wir damit zu meinem Standpunkt zu Beginn des Vortrages, der Zeichnung, zurück. Dies ist ein sehr persönlicher Standpunkt, der nicht durch unumstößliche Fakten untermauert werden kann und der auch nicht zu den allgemeingültigen, nicht verhandelbaren Standpunkten gehört. Viele Menschen vergessen bei der Verteidigung ihrer Standpunkte genau dies.
Mit diesem Bewusstsein sollten wir zwei Punkte bei der Verteidigung unserer Standpunkte berücksichtigen: Es gibt immer auch andere Standpunkte, die genauso valide und vor allem gleichwertig sind Es ist für mich von großem Vorteil, diese Standpunkte kurzeitig einzunehmen, so kann ich auch die Rückseite dessen sehen, was ich von meinem Standpunkt aus zu erkennen meine. Damit werde ich nicht Opfer meiner eigenen potjomkinschen Dörfer.
Missachte ich diese beiden, meiner Meinung nach, elementaren Punkte, dann werde ich bei allem Wissen, nie weise sein und zwangsläufig zum Dogmatiker. In meinen Augen sind die Schriften des Br. Grün ein treffendes Beispiel dafür. Standpunkte beeinflussen nicht nur das Bild, welches andere Menschen von uns gewinnen, sie beeinflussen auch unsere Wahrnehmung der Welt.
Manche Menschen haben zu allem jedem einen festen Standpunkt, postulieren und verteidigen diese vehement. Sie versuchen damit Ihre Unsicherheit zu überdecken. Ein Mensch mit vielen Standpunkten, ist ein unsicherer Mensch, der Halt sucht und wird kaum ein glücklicher Mensch sein.
Wer zu allem und jedem einen Standpunkt hat, wird Opfer seiner Wahrnehmung.
Epiktet stellte passend fest:
Es sind nicht die Dinge selbst, die uns bewegen, sondern die Ansichten, die wir von Ihnen haben. Viele Standpunkte stützen unser Selbst nicht, sondern sind dann der Staketenzaun vor dem Glück, denn unsere Wahrnehmung, unsere Ansichten bestimmen unser Glück.
Das bedeutet natürlich nicht, dass es ein Ziel ist, ein meinungsloser Mensch ohne Standpunkte zu sein, sondern, dass wir, wie die Säulen im Tempel, den Fokus auf die Kernpunkte legen. Dem Rest sehen wir dann mit Toleranz und Gelassenheit entgegen und das ist der Weg zu einem glücklichen Leben und einem friedlichen Miteinander.
Thomas Fernkorn
Februar 2020
Quellen: https://de.wikipedia.org/wiki/Grigori_Alexandrowitsch_Potjomkin Hans Rosling – „Factfulness“