Traktat: "Unter der Rose": Unterschied zwischen den Versionen

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Blind folgte ich den Anweisungen des Vorbereiters, welcher in anderen Logen auch der Schreckliche Bruder genannt wird, und den Anweisungen des Paten, blind absolvierte ich die Anagoge in den Tempel, klopfte an, dreimal, ohne Ordnung, und antwortete dem Meister vom Stuhl, begab mich in die Hände des Zeremonienmeisters, folgte dem Hammerruf, legte, ein der Erde Entsprungener, die Elementarreisen zurück, und empfing schliesslich das Licht. Ich legte das Gelübde ab und lernte Zeichen, Wort und Griff. Derweil gärte es ständig in mir. Die Musik half mir über die Runden zu kommen, sie trug mich. Der Ablauf des ganzen Rituals erschütterte mich zutiefst. Und verworren nur konnte ich dem Bruder Redner folgen. Ich erinnere mich daran, dass seine Worte Stellen aus dem Koran zitierten, dass sie von einer vollkommen undogmatischen Sicht geprägt waren und aufbauend wirkten. Danach labte ich mich am Brudermahl, innerlich von der mir entgegenschlagenden Woge der Brüderlichkeit völlig überwältigt. Zu Hause blieb ich noch lange wach. Auch wenn ich das Ganze nicht sogleich zu verarbeiten vermochte, spürte ich doch intuitiv, dass ich am richtigen Ort angekommen war.
 
Blind folgte ich den Anweisungen des Vorbereiters, welcher in anderen Logen auch der Schreckliche Bruder genannt wird, und den Anweisungen des Paten, blind absolvierte ich die Anagoge in den Tempel, klopfte an, dreimal, ohne Ordnung, und antwortete dem Meister vom Stuhl, begab mich in die Hände des Zeremonienmeisters, folgte dem Hammerruf, legte, ein der Erde Entsprungener, die Elementarreisen zurück, und empfing schliesslich das Licht. Ich legte das Gelübde ab und lernte Zeichen, Wort und Griff. Derweil gärte es ständig in mir. Die Musik half mir über die Runden zu kommen, sie trug mich. Der Ablauf des ganzen Rituals erschütterte mich zutiefst. Und verworren nur konnte ich dem Bruder Redner folgen. Ich erinnere mich daran, dass seine Worte Stellen aus dem Koran zitierten, dass sie von einer vollkommen undogmatischen Sicht geprägt waren und aufbauend wirkten. Danach labte ich mich am Brudermahl, innerlich von der mir entgegenschlagenden Woge der Brüderlichkeit völlig überwältigt. Zu Hause blieb ich noch lange wach. Auch wenn ich das Ganze nicht sogleich zu verarbeiten vermochte, spürte ich doch intuitiv, dass ich am richtigen Ort angekommen war.
Nun, was würden dir, Bruder Michael, meine Worte sagen, hättest du nicht soeben selbst das Ritual durchlaufen? Wenig bis gar nichts. Genau deshalb macht es Sinn, über die Arkana der Königlichen Kunst, deren erstes du erfahren hast, nur unter Eingeweihten zu sprechen. Innerhalb der Loge agieren wir sub rosa – im Zeichen der Rose – der Verschwiegenheit.
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Nun, was würden dir, Bruder M., meine Worte sagen, hättest du nicht soeben selbst das Ritual durchlaufen? Wenig bis gar nichts. Genau deshalb macht es Sinn, über die Arkana der Königlichen Kunst, deren erstes du erfahren hast, nur unter Eingeweihten zu sprechen. Innerhalb der Loge agieren wir [[sub rosa]] – im Zeichen der Rose – der Verschwiegenheit.
  
Schon die alten Römer hängten bei geheimen Besprechungen eine Rose an die Decke, um anzuzeigen, dass die Anwesenden über das Verhandelte Stillschweigen bewahren sollten. Aus demselben Grund zierte Baruch de Spinozas Siegel neben seinen Initialen BDS eine Rose sowie der lateinische Imperativ „Caute“: „Pass auf, sei auf der Hut!“ Diesem zur Vorsicht gemahnenden Imperativ, seinem sokratischen Daimonion, folgte Spinoza auch, als er 1673 einen Ruf an die Universität Heidelberg ausschlug und lieber in Den Haag, in den toleranteren Niederlanden blieb – er befürchtete, sie würden ihn in deutschen Landen in ein Gefängnis werfen, foltern oder gar umbringen, ihn, der, noch bevor er überhaupt etwas publiziert hatte, wegen seiner Ansichten im Alter von 23 Jahren von der jüdischen Gemeinde exkommuniziert und mit einem Bannfluch belegt worden war; nicht einmal mehr sprechen durften Jüdinnen und Juden mit ihm. Spinoza war Philosoph und verdiente sich als Optiker, als Brillenschleifer, seinen Unterhalt. So verhalf er den Menschen in doppelter Hinsicht zur Klarheit, intellektuell mit seiner Philosophie und physiologisch mit seinen Brillengläsern. Doch zurück zur Rose der Verschwiegenheit!
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Schon die alten Römer hängten bei geheimen Besprechungen eine Rose an die Decke, um anzuzeigen, dass die Anwesenden über das Verhandelte Stillschweigen bewahren sollten. Aus demselben Grund zierte Baruch de [[Spinoza]]s Siegel neben seinen Initialen BDS eine Rose sowie der lateinische Imperativ „Caute“: „Pass auf, sei auf der Hut!“ Diesem zur Vorsicht gemahnenden Imperativ, seinem sokratischen Daimonion, folgte [[Spinoza]] auch, als er 1673 einen Ruf an die Universität Heidelberg ausschlug und lieber in Den Haag, in den toleranteren Niederlanden blieb – er befürchtete, sie würden ihn in deutschen Landen in ein Gefängnis werfen, foltern oder gar umbringen, ihn, der, noch bevor er überhaupt etwas publiziert hatte, wegen seiner Ansichten im Alter von 23 Jahren von der jüdischen Gemeinde exkommuniziert und mit einem Bannfluch belegt worden war; nicht einmal mehr sprechen durften Jüdinnen und Juden mit ihm. Spinoza war Philosoph und verdiente sich als Optiker, als Brillenschleifer, seinen Unterhalt. So verhalf er den Menschen in doppelter Hinsicht zur Klarheit, intellektuell mit seiner Philosophie und physiologisch mit seinen Brillengläsern.  
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Doch zurück zur Rose der Verschwiegenheit!
 
Nach einer Sage soll Cupido dem Harpocrates, dem Gott der Verschwiegenheit, Rosen gesandt und ihn darum gebeten haben, die Liebeshändel seiner Mutter Venus geheim zu halten; dieser Bitte kam Harpocrates nach. Darauf mag der römische Brauch, sich zu geheimen Besprechungen unter einer Rose zu versammeln, zurückgehen.
 
Nach einer Sage soll Cupido dem Harpocrates, dem Gott der Verschwiegenheit, Rosen gesandt und ihn darum gebeten haben, die Liebeshändel seiner Mutter Venus geheim zu halten; dieser Bitte kam Harpocrates nach. Darauf mag der römische Brauch, sich zu geheimen Besprechungen unter einer Rose zu versammeln, zurückgehen.
  

Version vom 29. März 2014, 16:59 Uhr

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Unter der Rose

Ansprache des Redners der Loge Humanitas in Libertate i.O. St.Gallen

Autor F.V.


Rede zur Aufnahme eines Bruders

Ehrwürdiger Meister vom Stuhl, würdige und geliebte Brüder alle, lieber Bruder M.

Es ist mir eine grosse Freude, einen Neophyten in unserer Bruderkette willkommen zu heissen und in unserem Tempel die ersten freigesprochenen Worte an ihn richten zu dürfen! Herzlich willkommen, Bruder M.! Ich bin der Bruder Redner. Dies ist meine erste Rede im Zuge einer Lichterteilung. Und so erinnere ich mich an meine eigene und schaue mit dir und all meinen Brüdern zurück:

Im Vorfeld meiner Aufnahme hatte ich dies und das über die Freimaurerei gelesen, dabei aber darauf geachtet, mir kein spezifisches Wissen über die Einweihung selbst anzueignen. Ich wollte sie so naiv wie möglich erleben, auf dass sie umso tiefer wirke; der Theorie zur Praxis konnte ich mich ja später widmen – diese induktive Haltung habe ich mir in Bezug auf alle weiteren masonischen Rituale bis auf den heutigen Tag vorbehalten. Natürlich war ich angespannt, als mich mein Pate zu Hause abholte. In mir selbst begann die Arbeit in der Stillen Kammer langsam, aber zäh, die Zeit kam mir endlos vor. Die Arbeit in mir intensivierte sich jäh, kaum fand ich mich des Lichts und der Metalle beraubt.

Blind folgte ich den Anweisungen des Vorbereiters, welcher in anderen Logen auch der Schreckliche Bruder genannt wird, und den Anweisungen des Paten, blind absolvierte ich die Anagoge in den Tempel, klopfte an, dreimal, ohne Ordnung, und antwortete dem Meister vom Stuhl, begab mich in die Hände des Zeremonienmeisters, folgte dem Hammerruf, legte, ein der Erde Entsprungener, die Elementarreisen zurück, und empfing schliesslich das Licht. Ich legte das Gelübde ab und lernte Zeichen, Wort und Griff. Derweil gärte es ständig in mir. Die Musik half mir über die Runden zu kommen, sie trug mich. Der Ablauf des ganzen Rituals erschütterte mich zutiefst. Und verworren nur konnte ich dem Bruder Redner folgen. Ich erinnere mich daran, dass seine Worte Stellen aus dem Koran zitierten, dass sie von einer vollkommen undogmatischen Sicht geprägt waren und aufbauend wirkten. Danach labte ich mich am Brudermahl, innerlich von der mir entgegenschlagenden Woge der Brüderlichkeit völlig überwältigt. Zu Hause blieb ich noch lange wach. Auch wenn ich das Ganze nicht sogleich zu verarbeiten vermochte, spürte ich doch intuitiv, dass ich am richtigen Ort angekommen war. Nun, was würden dir, Bruder M., meine Worte sagen, hättest du nicht soeben selbst das Ritual durchlaufen? Wenig bis gar nichts. Genau deshalb macht es Sinn, über die Arkana der Königlichen Kunst, deren erstes du erfahren hast, nur unter Eingeweihten zu sprechen. Innerhalb der Loge agieren wir sub rosa – im Zeichen der Rose – der Verschwiegenheit.

Schon die alten Römer hängten bei geheimen Besprechungen eine Rose an die Decke, um anzuzeigen, dass die Anwesenden über das Verhandelte Stillschweigen bewahren sollten. Aus demselben Grund zierte Baruch de Spinozas Siegel neben seinen Initialen BDS eine Rose sowie der lateinische Imperativ „Caute“: „Pass auf, sei auf der Hut!“ Diesem zur Vorsicht gemahnenden Imperativ, seinem sokratischen Daimonion, folgte Spinoza auch, als er 1673 einen Ruf an die Universität Heidelberg ausschlug und lieber in Den Haag, in den toleranteren Niederlanden blieb – er befürchtete, sie würden ihn in deutschen Landen in ein Gefängnis werfen, foltern oder gar umbringen, ihn, der, noch bevor er überhaupt etwas publiziert hatte, wegen seiner Ansichten im Alter von 23 Jahren von der jüdischen Gemeinde exkommuniziert und mit einem Bannfluch belegt worden war; nicht einmal mehr sprechen durften Jüdinnen und Juden mit ihm. Spinoza war Philosoph und verdiente sich als Optiker, als Brillenschleifer, seinen Unterhalt. So verhalf er den Menschen in doppelter Hinsicht zur Klarheit, intellektuell mit seiner Philosophie und physiologisch mit seinen Brillengläsern.

Doch zurück zur Rose der Verschwiegenheit! Nach einer Sage soll Cupido dem Harpocrates, dem Gott der Verschwiegenheit, Rosen gesandt und ihn darum gebeten haben, die Liebeshändel seiner Mutter Venus geheim zu halten; dieser Bitte kam Harpocrates nach. Darauf mag der römische Brauch, sich zu geheimen Besprechungen unter einer Rose zu versammeln, zurückgehen.

Doch Harpocrates war ursprünglich eine Horuskind-Gottheit, die vor allem im ptolemäischen Alexandria Verehrung genoss. Wir erkennen diese Gottheit daran, dass sie den Zeigefinger der rechten Hand an die Lippen führt. Im Alten Ägypten bedeutete dieses Zeichen die Hieroglyphe für „Kind“; die Griechen interpretierten die Geste aber als „pssst“, als Aufforderung zum Schweigen. Abgeleitet hiervon, taucht Harpocrates als Gott der Verschwiegenheit im Sinn der notwendigen Geheimhaltung in den Schriften der Alchemisten in der Renaissance wieder auf, denn diese hatten ein von der mächtigen Inquisition verfolgtes Wissen zu hüten. Es gibt aus der Zeit Darstellungen, die den nackten Knabengott mit wehendem Mantel zeigen, den rechten Zeigefinger an den Lippen und auf dem Kopf einen geflügelten Hermeshelm. Letzterer signalisiert hermetisches Wissen, doch schon die Alten stellten sich Harpocrates als geflügeltes Wesen vor. Kein Wunder, denn die Verschwiegenheit ist bald zerstreut – ein falsches Wort nur, und sie fliegt davon…

Auch wir Brüder Freimaurer respektieren gewissermassen Harpocrates. Und das macht Sinn, denn die Freimauerei ist bis heute in manchen Ländern verboten, so in allen Diktaturen und in allen fundamentalistischen Staaten. In Europa, wo sie sich, gegen viele Widerstände, im 18. Jahrhundert eingerichtet hatte, verfolgte sie im letzten Jahrhundert der Faschismus. Und Verschwörungstheorien geistern bis heute durchs Internet, durch Bücher, Zeitungen, Fernsehsendungen; wer hier zu suchen beginnt, stösst bald auf Unglaubliches, ja Brüskierendes. Auch deshalb macht es Sinn, über die Arkana nur unter Brüdern zu sprechen. Zudem potenziert die Deckung nach aussen die Energie der Tempelarbeiten nach innen; so lautet das Gesetz aller Esoterik: Die Deckung nach aussen potenziert die Energie nach innen.

Harpocrates hält auf manchen Darstellungen ein Füllhorn in der Linken: Die Verschwiegenheit ist das Horuskind, die Morgendämmerung, das erstarkende Frühlingslicht, der Aufgang des vegetativen Lebens. Die Verschwiegenheit ist der segensreiche Wächterengel unserer Bauhütte.

Ehrwürdiger Meister vom Stuhl, würdige und geliebte Brüder alle, mit dieser Conclusio endigt der Bruder Redner. 24. März 6014