Kosmos: Nachdenken: Unterschied zwischen den Versionen

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== Nachdenken ==
 
== Nachdenken ==
  
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der offensichtlich Unvereinbares zu enthalten scheint,
 
der offensichtlich Unvereinbares zu enthalten scheint,
 
sollte weiterhin das Programm der Freimaurerei bleiben.
 
sollte weiterhin das Programm der Freimaurerei bleiben.
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== En route ==
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Gerhard Scheucher
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''„Wege entstehen dadurch, dass man sie geht“ (Franz Kafka) – In einer für mich gefühlten Ewigkeit ging ich in der Dunkelheit
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dahin, ich hörte, ich spürte, ich schmeckte, ich roch. Ich bückte mich, ich ging schnell, oftmals wurden die
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Schritte langsamer. Manchmal fühlte ich mich alleine, dann wieder zu zweit, einige Momente lang dachte ich mir,
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dass viele Wesen mich begleiten würden.''
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Noch heute höre ich diese Geräusche, es waren in meiner
 +
Wahrnehmung dumpfe Klänge, die dann wieder hell und
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laut ertönten. Im Nachhinein wusste ich, dass viele Menschen
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mit ihren Füßen in den Boden getreten haben.
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Wenngleich es sich nicht anhörte wie ein Treten, es war
 +
sanfter, einige Momente dachte ich an diesen leichten und
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luftigen Step Dance, der den berühmten Song „Singin’ In
 +
The Rain“ begleitet.
 +
 +
Es hatte nahezu etwas von einem
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Rhythmus, dieses synchronisierte Gestampfe. Plötzlich
 +
wurde es wieder ruhiger, noch immer war das Sichtbare
 +
von mir getrennt. Ich merkte aber, dass die Spannung
 +
nicht nur in mir ins Unermessliche gestiegen war, sie hatte
 +
sich von der gesamten Halle, in der rund 400 Menschen
 +
gesessen sind, auf mich übertragen, oder umgekehrt.
 +
Phrasenhaft hatte ich noch einige Sätze wahrgenommen,
 +
an Einzelheiten kann ich mich aber nicht mehr erinnern.
 +
 +
Mein Inneres wurde immer unruhiger, alle meine Sensoren
 +
signalisierten meinem Kopf und meinem Bauch,
 +
dass es gleich vorbei sein würde mit dieser nahezu schon
 +
unerträglichen Dunkelheit, mit diesem undefinierbaren
 +
Erleben, das sich nicht einordnen liess. Trotz dieser Unsicherheit
 +
fühlte ich mich wohl aufgehoben, ich spürte eine
 +
Hand, die meine hielt oder die meine Schulter erfasste,
 +
wenn ich Angst signalisierte. Plötzlich bemerkte ich, wie
 +
sich meine Augenbinde öffnete, es wurde Licht, ich sah
 +
mein eigenes Antlitz in einem Spiegel.
 +
 +
Ich war von der
 +
Situation nahezu überfordert, all diese Schritte, all diese
 +
Empfindungen, all diese Übungen, all diese Reisen – und
 +
am Ende stand ich mir selbst gegenüber. Fremde Worte
 +
begleiteten das Szenario, es war eine Aufforderung, die
 +
ich vernahm. Plötzlich verschwand mein eigenes Gegenüber Gegenüber,
 +
welches vielen Säbeln wich, die sich vor mir aufgetan
 +
hatten. Eine unvergessliche Reise, meine Aufnahme
 +
beim internationalen Kolloquium des Freimaurerordens
 +
für Männer und Frauen LE DROIT HUMAIN ging dem
 +
Ende zu und brachte mich in ein neues Reich, dem der
 +
Königlichen Kunst, der Freimaurerei.
 +
 +
=== Der Alltag bringt uns nicht weiter ===
 +
 +
Zurück blieb das Gefühl, etwas Unvergleichliches erlebt
 +
zu haben. Etwas, das meinem Leben nachhaltig eine neue
 +
Dimension gegeben hat. Ein Augenblick für die Ewigkeit,
 +
der mich, der meine Persönlichkeit, verändern sollte. Und
 +
sind es nicht genau diese starken Momente, die sich in
 +
unseren Köpfen manifestieren, die uns eine Bedeutung
 +
über den Tag hinaus geben? Die in uns Bilder generieren,
 +
die immer und immer wieder abrufbar sind, positiv kodiert.
 +
Anlässe, an die wir uns gerne erinnern.
 +
 +
Warum treffen wir uns in unserer Bauhütte? Ist nicht
 +
genau das der Grund? Freuen wir uns nicht alle auf die Zeichnungen, die Brüder von uns halten, die uns ein wenig
 +
innehalten und Abstand vom Alltag gewinnen lassen?
 +
Wollen wir nicht alle etwas wissender ins profane Leben
 +
zurückkehren, als wir hergekommen sind, um es in den
 +
Worten unseres ehrwürdigen Meisters vom Stuhl, Bruder
 +
Albert, zu sagen?
 +
 +
Kommen wir nicht genau deshalb an diesen Ort, in
 +
die Dyroffstraße 2, nach Bonn? Reisen wir nicht genau aus
 +
diesem Grund Dienstag für Dienstag an, damit wir uns in
 +
Erinnerung rufen, dass wir nicht alles von diesem geheimnisvollen
 +
Planeten, von dieser unserer Erde wissen? Ist
 +
nicht das genau der Grund, warum wir uns auf Wanderung
 +
begeben? Aus allen Himmelsrichtungen kommend,
 +
treffen wir uns zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten
 +
Tag, um in Gemeinschaft über Fragen des Lebens
 +
nachzudenken.
 +
 +
Um am rauen Stein des Geistes zu
 +
hämmern, zu feilen und zu schleifen, im brüderlichen
 +
Diskurs, um Antworten zu finden, die uns signalisieren,
 +
dass eine Gruppe von Gleichgesinnten in Summe mehr an
 +
Substanz entwickeln kann, als jemand, der den gesamten
 +
Tag einsam und alleine zu Hause sitzt.
 +
 +
Für mich sind die Reisen nach Bonn besondere Ereignisse,
 +
der gesamte Tagesablauf gestaltet sich anders.
 +
Schon morgens richte ich meine freimaurischen Utensilien,
 +
das Bijou, den Schurz, die Handschuhe und die weiße
 +
Krawatte her und erfahre alleine durch diese Handlung
 +
einen inneren Impuls, der mir einen besonderen Tag ankündigt:
 +
die Reise von Wien nach Bonn. Es ist mir so
 +
vertraut geworden, wenn mich meine Brüder Dieter und
 +
Ewgenij manchmal gemeinsam, oder auch einzeln am
 +
Flughafen Köln-Bonn in Empfang nehmen. Wir alle reisen
 +
an diesem Tag, wir suchen Gemeinschaft, wir suchen den Diskurs, wir wollen neue Erkenntnisse gewinnen, die wir
 +
in die Welt tragen können. Mein freimaurerischer Weg
 +
hat mich über Wien nach Bonn zur „Loge Kosmos“ geführt.
 +
Ohne den mir zum wirklichen Freund gewordenen Bruder
 +
Dieter hätte ich niemals erfahren, dass es euch gibt, dass
 +
es eine lebendige Freimaurerei gibt. Er war mein „Reiseleiter“
 +
im besten Sinn des Wortes, er hat meine Wanderung
 +
zu euch so gestaltet, dass ich lernen konnte, erfahren
 +
durfte, beobachten wollte.
 +
 +
Daher bin ich überzeugt davon, dass uns das, was wir
 +
sowohl im profanen als auch im maurerischen Sinn Alltag
 +
nennen, nicht weiterbringt. Die Macht der Gewohnheit ist
 +
der Stillstand der Gegenwart und der Tod der Zukunft.
 +
Jeder möge sich seine Meinung dazu bilden, aber ich
 +
finde, dass die gängigen Gepflogenheiten im Denken und
 +
Handeln, genau durch unsere Zusammenkünfte verhindert
 +
werden können, das scheint mir eine ganz wesentliche
 +
Erkenntnis unserer gemeinsamen Reisen zu sein.
 +
 +
Das Innerste unseres Hauses, der Tempel, ist jener Platz, wo Standpunkte artikuliert, Meinungen ausgetauscht und
 +
Haltungen eingenommen werden. Und weil alle Menschen
 +
und auch wir Brüder so unterschiedlich sind, brauchen
 +
wir Impulse, die uns von Konventionen befreien. Die
 +
Zusammenkünfte in der Gruppe setzen Bewegung des
 +
Individuums voraus. Und das ist die Basis, um an gemeinsamen
 +
Zielen zu arbeiten. In diesem Kontext betrachtet,
 +
bietet uns das Reisen die Gelegenheit, uns relativ einfach
 +
dessen bewusst zu werden, wie komplex, wie unterschiedlich
 +
und facettenreich das Leben ist. Oder anders, in unserem
 +
Sinne formuliert, am Stein der Erkenntnis zu
 +
arbeiten.
 +
 +
 +
=== Wir brauchen Impulse für unseren Geist ===
 +
 +
Wenn wir uns im profanen Leben auf Reisen, auf eine
 +
Wanderung begeben, dann hat dies in meiner Beobachtung
 +
auch damit zu tun, dass wir etwas suchen, was uns
 +
im eigenen Leben, im eigenen Lebensraum vielleicht fehlt.
 +
Jeder Mensch braucht Bezugspunkte. Anker, die Orientierung
 +
schaffen.
 +
 +
Diese können beispielsweise auf emotionaler
 +
oder auch auf rationaler Ebene entstehen. Eine von
 +
Emotion getragene Anknüpfung kann die Hingabe, die
 +
Liebe zu einem Menschen sein. Eine rationale Beziehungsgröße
 +
kann der Bezug zu einem Ort sein: einem Raum,
 +
einer Wohnung, einem Haus, einer Stadt, einem Land.
 +
Solche Emotionen und Plätze brauchen wir, um Orientierung
 +
zu finden, um Heimat spüren zu können, um zu
 +
wissen, wo man hingehört.
 +
 +
All dem vorausgesetzt brauchen
 +
wir aber horizontale und vertikale Verknüpfungen,
 +
die wir irgendwo erfahren oder erleben müssen. Nur
 +
wenn wir in die Welt hinausgehen, nur dann, wenn wir
 +
anderen Menschen gegenübertreten, dann werden wir
 +
eigene Standpunkte und Sichtweisen überprüfen können.
 +
Wie soll sonst Wertbeständiges entstehen können, ein
 +
neuer Spirit tragfähige Fundamente bilden? Es geht dabei
 +
nicht um die Kompensation persönlicher Defizite, sondern
 +
um Weiterentwicklung, durch die Reflexion anderer
 +
Lebensumstände, ein zutiefst maurerischer Auftrag, wie
 +
ich meine. Um es weniger abstrakt zu formulieren: Wie
 +
soll der, der nichts von der Welt gesehen hat, der nie
 +
andere Länder kulturell erfahren hat, ein Sensorium für
 +
eine vernetzte und globale Welt entwickeln können?
 +
 +
Ich denke mir oft, wo würde ich mich heute in meiner
 +
Wahrnehmung befinden, wenn ich nicht so viele Plätze
 +
auf dieser Erde heimgesucht hätte. Wenn man einmal eine
 +
Zeit lang in Amerika verbringt oder in Asien, dann werden
 +
viele gesellschaftliche Entwicklungen selbsterklärend. Und
 +
diese Reisefreiheit, wie wir sie kennen, ist ein besonderes
 +
Privileg unserer Generation, das wir bei jeder sich bietenden
 +
Gelegenheit nutzen sollten. Reisen ist so einfach geworden und hat uns schon vor hunderten von Jahren
 +
immer besondere Sichtweisen gebracht, Neues gezeigt.
 +
 +
Es
 +
hat viele große Reisende gegeben, die Eingang in die Geschichtsbücher
 +
gefunden haben. Denken wir an den Venezianer
 +
Marco Polo, der schon im Mittelalter nach
 +
eigenen Angaben auf dem Landweg nach China reiste.
 +
Oder an Vasco da Gama, der den Seeweg nach Indien
 +
entdeckte, oder an Christopher Columbus, um nur drei
 +
Beispiele zu nennen. Welche Perspektiven haben sich
 +
durch die Erkenntnisse dieser Reisenden den Völkern
 +
eröffnet! Oder wie lange hat es gedauert, dass die Gesellschaft
 +
erkannt hatte, dass Bildungsreisen nicht nur dem
 +
britischen Adel im 16. Jahrhundert einen Startvorteil im Leben
 +
einräumen, in Sachen Sprachkompetenz, im Hinblick
 +
auf kulturelles Verständnis.
 +
 +
1987 wurde mit dem ERASMUS-
 +
Programm der Europäischen Union erstmals ein
 +
paar hundert Jahre später eine Voraussetzung geschaffen,
 +
um Studierenden aus allen gesellschaftlichen Schichten
 +
die Chance zu eröffnen, durch Auslandssemester wertvolle
 +
Erfahrungen zu sammeln. Die Volksweisheit „Reisen
 +
bildet“ ist von ungebrochener Popularität.
 +
 +
== Wandere und werde besser ==
 +
 +
Sind unsere Bauhütten nicht in der Intention der vorhin
 +
formulierten Gedanken so etwas wie Anbieter für exklusive
 +
Bildungsreisen? Wir Freimaurer reisen, reisen in Stille,
 +
reisen alleine, reisen in der Gemeinschaft. Unsere Wanderungen
 +
setzen sich zum Ziel, einen der faszinierendsten
 +
Punkte zu erreichen den es gibt, uns selbst! Unsere Innenwelt!
 +
 +
Irgendwo habe ich einmal für diese Erfahrungen, die
 +
wir sammeln, eine schöne Metapher gefunden, die ein mir
 +
unbekannte Autor folgendermaßen skizzierte: „Unsere
 +
freimaurerischen Reisen sind kaskadenartige Erfahrungen, die
 +
aber durch das Wasserrad immer wiederkehrend neu erfahren
 +
werden – nie gleich sind und deshalb durch das gleiche Ritual
 +
neue Erkenntnisse bringt, weil Altes und Bekanntes ausgeblendet
 +
werden kann, um so der Essenz auf die Spur zu kommen.“
 +
 +
Die Reisen in Intention der Bruderkette zeigen uns den
 +
Sinn des Menschseins. Wir alle sind, in der richtigen
 +
Relation betrachtet, ein Flügelschlag zwischen Leben und
 +
Tod. Als Freimaurer erleben wir, Einsamkeit zu ertragen,
 +
uns selbst zu erkennen, aber ebenso für andere da zu sein,
 +
ihnen zu helfen, sie zu begleiten.
 +
 +
Einsichten und Ansichten entstehen durch permanente
 +
Überprüfung eigener inhaltlicher Standpunkte und
 +
die Akzeptanz dessen, dass die Erde doch keine Scheibe,
 +
sondern ein Planet mit einer Unzahl von Besonderheiten
 +
ist. Die Freimaurerei ist eine besondere Option, Menschen
 +
und Gruppen, Länder und Regionen zu erfahren. Die
 +
Wanderung ist der Angelpunkt und die Drehscheibe dafür!
 +
 +
Schon Bruder [[Johann Wolfgang von Goethe]] hat in
 +
den Schlusszeilen seines Gedichts über die „Perfektibilität“
 +
das Fazit gezogen: „Willst Du besser sein als wir, lieber
 +
Freund, so wandere!“
 +
 +
Und er hat offensichtlich gewusst,
 +
wovon er gesprochen hat, wenn man seine Italienreise
 +
bewertet. Da gibt es einen Mann, der eine Unzahl von
 +
Gedichten, Dramen, Versen und Prosa verfasst hat, der
 +
seiner Heimat entflieht, sich auf Reisen begibt und die
 +
fehlenden Seiten in sich selbst entdeckt. In Geschichtsbüchern
 +
ist über die von ihm 1786 begonnene und zwei Jahre
 +
andauernde Reise nachzulesen: „Die Reise wurde für Goethe
 +
zu einem einschneidenden Erlebnis; er selbst sprach von einer
 +
„Wiedergeburt“, die er in Italien erfahren habe. An ihrem Ende
 +
hatte er sich selber wiedergefunden und beschlossen, seine
 +
Tätigkeit künftig auf das zu beschränken, was ihm seinem
 +
Wesen gemäß schien.“
 +
 +
In diesem Zitat finden sich zwei mit der Freimaurerei
 +
stark verwobene Faktoren wieder. Auch wenn insbesondere
 +
Gesellen zum Reisen in andere Logen ermutigt werden,
 +
so gibt es doch so etwas wie eine maurerische
 +
Heimat, jeder hat seine Bauhütte, in die er immer und
 +
immer wieder zurückkehrt.
 +
 +
Wandern in unserer Bedeutung
 +
betrachtet, kann vielleicht als Kreisen verstanden
 +
werden, als Weitergehen und Wiederkommen zugleich.
 +
Einem Ort verhaftet zu bleiben, und doch ständig neue
 +
Blickwinkel einzunehmen. Die Summe der durch Bewegung
 +
gewonnenen Perspektiven und die Arbeit an uns
 +
selbst sind ein weiterer mächtiger Anknüpfungspunkt zu
 +
dem, was uns so einzigartig macht: die Überzeugung und
 +
das Wissen, dass unsere Grundideale Freiheit, Gleichheit,
 +
Brüderlichkeit, Toleranz und Humanität unverrückbare
 +
Elemente für den Bau an einer besseren Welt sind.
 +
 +
 +
== Reisen durch unsere Wertesysteme ==
 +
 +
Schon Franz Kafka formulierte „Wege entstehen dadurch,
 +
dass man sie geht.“ Ob er ein Bruder von uns gewesen ist,
 +
dafür gibt es keine mir bekannte Überlieferung. Als Bild
 +
in die Realität projiziert, hat diese Aussage schon etwas
 +
Bedeutsames: Wer kennt nicht diese Wege, die in Wäldern,
 +
neben Flüssen oder auf Wiesen entstanden sind,
 +
weil irgendwann irgendwer den ersten Schritt gesetzt hat?
 +
Und dann sind oftmals diesem anfangs kleinen Pfad viele
 +
Personen gefolgt, und es entstand ein Weg. Der Mensch
 +
überlegt, sucht Ziele, setzt sich in Bewegung. Die Wanderung
 +
bringt Eindrücke, Erlebnisse, Geschichten, Sichtweisen.
 +
Alles Bezugspunkte, die als Basis für neue Perspektiven
 +
dienen.
 +
 +
Und während in der Antike die Wallfahrten vermutlich
 +
die ersten echten Reisen gewesen sind, wurden die
 +
gegangenen Wege im Mittelalter das größte Kapital für Kaufleute. Es war die Gelehrtheit über „Weg und Steg“, wie
 +
in dieser Zeit das Wissen darüber, welche Wege genutzt
 +
und an welchen Stellen Flüsse überquert werden konnten,
 +
bezeichnet wurde. Das war eine früh überlieferte ökonomische
 +
Dimension des Wanderns. Eine produktive Erkenntnis
 +
in Form von entstehendem Wissen brachte
 +
schon die Zeit um Aristoteles, wo er und andere Gelehrte
 +
im Peripatos, der Wanderhalle umhergingen. Auf die
 +
Jetztzeit übertragen haben sich viele der ersten Erfahrungen
 +
mit dem Reisen nicht geändert.
 +
 +
Stand nicht fernab von der Form der Fortbewegung
 +
schon immer im Mittelpunkt, neue Wege zu beschreiten,
 +
um vorhandene Standpunkte zu überprüfen, und diese
 +
gegebenenfalls für die Zukunft zu adaptieren? Jede Zeichnung,
 +
die wir hier oder an anderen Orten unserer Gemeinschaft
 +
hören, vorgetragen bekommen, sind nichts anderes
 +
als Reisen durch unser eigenes Wertesystem. Wir bekommen
 +
Impulse, die wir zuerst für uns aufnehmen, um sie
 +
dann in der Gruppe zu besprechen und um dann vielleicht
 +
einen eingeschlagenen Weg zu revidieren.
 +
 +
Ist im profanen
 +
Leben den Menschen nicht eine besondere Dimension der
 +
Betrachtung von Reisen abhanden gekommen? Eine Form,
 +
die eine unverrückbare Basis unserer Kultur ist, die des
 +
persönlichen Gesprächs. Heute bedeutet für viele Menschen
 +
das Reisen eine beliebige Form der Mobilität. Der
 +
erlebte Moment ist dann vorbei, wenn er den Weg von der
 +
Digitalkamera oder dem Smartphone in die sozialen Netze
 +
wie Facebook oder Twitter gefunden hat. Die Nachbetrachtungen
 +
sind verloren gegangen.
 +
 +
Die gemeinsamen
 +
Diaabende beispielsweise, wo Erlebtes noch einmal gezeigt,
 +
besprochen und diskutiert wurde, finden wohl
 +
kaum mehr statt. Was bleibt, ist in vielen Fällen eine
 +
Sinnentleerung und nur scheinbar oberflächlich Erlebtes,
 +
ohne es je wirklich erlebt zu haben. Sind unsere freimaurerischen
 +
Reisen nicht die letzten Wanderungen, die ohne
 +
Konsumzwang dem Menschen neue Dimensionen eröffnen
 +
können?
 +
 +
'''Gemeinsame Ziele brauchen
 +
gemeinsame Emotionen'''
 +
 +
Wenn Menschen auf Reisen gehen, dann suchen sie nicht
 +
nur Erkenntnis, sondern auch nach Beziehungen. Neben
 +
der geistigen Dimension ist das der Kitt, der eine Gesellschaft,
 +
eine Gruppe zusammenhält. Man stelle sich Arbeiten
 +
von und mit uns Brüdern vor, wenn es keine
 +
emotionale Komponente gäbe, wenn wir in unseren Tempeln
 +
im Stile von Technokraten agieren würden. Gemeinsame
 +
Ziele brauchen gemeinsame Emotionen!
 +
 +
Unsere Kette ist weltumspannend, sie ist von unterschiedlichsten
 +
Individuen getragen und sicherlich kontroversiell in Debatten. Aber es gibt ein gemeinsames Korsett
 +
an Werten, die alle Brüder anerkennen und auch versuchen
 +
zu leben. Und daher kann man, egal wo auf der Welt,
 +
bei einem Tempel anklopfen und dort auf Menschen treffen,
 +
die über geografische Grenzen hinweg die Globalisierung
 +
einer großen Idee in Form gemeinsamer Bestimmungen
 +
schon seit Jahrhunderten leben. Und zu wissen, man ist
 +
nicht alleine, lässt uns beruhigt auf Wanderschaft gehen.
 +
Wer von anderen Reisenden, egal ob beispielsweise Urlaubsreisende
 +
oder Handelsreisende, haben das Privileg,
 +
ohne Anlaufzeit Menschen auf irgendwelchen Plätzen
 +
dieser Erde kennen zu lernen, sich sehr persönlich zu
 +
begegnen und zu wissen, dass die geführten Gespräche
 +
einem gemeinsamen Ziel untergeordnet und vom Siegel
 +
des Vertrauens umklammert werden? Diese Möglichkeit
 +
sollte viel öfter genutzt werden.
 +
 +
Im Text zur Instruktion
 +
über die symbolischen Reisen in der Freimaurerei unser
 +
Loge habe ich das wunderbare Zitat von Viktor Hugo
 +
gefunden, der einmal schrieb „dass das Reisen bedeute, jeden
 +
Augenblick zu sterben und jeden Augenblick geboren zu werden.“
 +
Neue Wege bedeuten mitunter auch Gefahren, das
 +
weiß jeder von uns. Dem Unbekannten haftet immer ein
 +
Mehr an Risiko an als dem Vertrauten. Die erste Reise, die
 +
jeder Bruder durchlaufen muss, wenn er die Königliche
 +
Kunst erlernen möchte, ist der Beginn einer Wanderung.
 +
Was wäre uns allen entgangen, wenn wir nicht dieses
 +
Wagnis auf uns genommen hätten, einen uns unbekannten
 +
Pfad zu beschreiten. Und nun, wo aus der Distanz
 +
der Beginn des Anfangs betrachtet werden kann,
 +
erscheint es uns wie eine Selbstverständlichkeit.
 +
 +
'''Leben in wachsenden Ringen'''
 +
 +
 +
:Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
 +
:die sich über die Dinge ziehn.
 +
:Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
 +
:aber versuchen will ich ihn.
 +
 +
Rainer Maria Rilke, wo vermutet wird, dass er ein
 +
Bruder gewesen ist, schrieb 1899 dieses Gedicht. Das
 +
Wesen unsers lebenslangen Wanderns ist die Veränderung,
 +
der Wandel. Es wird weder im profanen, noch im
 +
maurerischen Leben jedes Ziel zu erreichen sein. Der
 +
Mensch ist gekennzeichnet von Bewegung und selbst
 +
wenn er zum Ausgangspunkt zurückkehrt, wird er eine
 +
andere von Erfahrungen getragene Persönlichkeit sein.
 +
Die Reisen in unserem Sinne verstanden führen zum
 +
Licht, das die möglichen Gegenstände der Erkenntnis
 +
sichtbarer machen kann. Vielleicht sind es auch nur Träume,
 +
die dadurch ein wenig mehr Gestalt bekommen, möglicherweise
 +
sind es konkrete Vorhaben.
 +
 +
In seiner
 +
Grundausrichtung strebt der Mensch nach Glück, so meine persönliche Wahrnehmung. Wanderungen im realen
 +
Leben können Teil dieses Strebens sein, eine Kompensation
 +
dessen, die eine Person an ihrem momentanen Aufenthaltsort
 +
nicht vorfindet. In unserer Welt der Brüderlichkeit
 +
sollten uns Wanderungen reifen lassen, uns der Vollkommenheit
 +
ein kleines Stück näher bringen und unsere
 +
Grundideale der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Toleranz
 +
und Humanität gedeihen lassen.

Version vom 23. April 2013, 20:04 Uhr

Nachdenken

Intelligence du coeur

Mensch, werde wesentlich!

Reinhard Pusch


„Mensch, werde wesentlich!“ – Mit diesem Appell des MvSt und Kernsatz aus unserem Ritualschatz werden in uns Brüdern Bewusstseins-Ebenen angesprochen, die von Kopf-Intelligenz und Ratio bis hin zu Innenschau und geistigspirituellem Erleben reichen. Das ist die große Freiheit, die die Königliche Kunst uns eröffnet – die Freiheit unserer ganz individuellen Interpretation der Symbole, Wegwahl und Korrektur mit fortschreitender Arbeit am rauen Stein. Die Dramaturgie unserer Rituale – im Folgenden ausgehend vom Lehrlings-Ritual – wird von vielen Brüdern als Aufforderung verstanden, ihren „Geist“, verstanden als „Intellekt“, zu entfalten und nach einer Tempelarbeit mit „guter“ Zeichnung, „klüger“ hinauszugehen, als sie hineingegangen sind.


Vom Anfang meines Weges in und mit der Freimaurerei seit 1982 bis heute bewegt mich die Frage: Wo wollen mich Rituale und Symbole berühren und wo öffne ich mich, um ihre Kraft segensreich auf mich wirken zu lassen? Ein genaueres Hinschauen und Hinhören, zumal bei der Aufnahme eines Suchenden – stimmte mich schon relativ früh kritisch, wenn auch weiter durchaus offen gegenüber einer moderaten Anwendung des Kopf-Ansatzes ein. Intellektuelle Brillanz ist in unserer Konkurrenz-Gesellschaft allemal faszinierender und gewinnbrin-gender als die uns aus dem Alltageschehen herausführende Innenschau. Dennoch – ob bei der Vorbereitung des Suchenden, bei der festlichen Einleitung, bei der Werklehre vor Öffnung der Loge oder bei der Aufnahmehandlung – immer wieder wird die Aufmerksamkeit im Ritual auf unser Inneres gerichtet: „...was er sucht, vermag er nur in seinem Inneren zu finden...“ und „...öffnen Sie nun weit Ihr Herz und vernehmen Sie das Wort, das Sie in die Mitte des Tempels führt:

Erkenne Dich selbst !

Folge ich dieser zentralen Aufforderung des Rituals und uralten Erkenntnis der Weisen, dann bin ich nicht auf den Kopf fokussiert, sondern auf unser zentrales Organ, das Herz!

Diese Ausrichtung setzt sich bei den Reisen fort, u.a. mit dem Hinweis des MvSt auf das Ziel der Maurerei, nämlich die innere Wandlung des Menschen. Auch die Spitze des Zirkels mit den drei Schlägen des MvSt wird sinnvollerweise nicht am Kopf, sondern auf der Brust angesetzt - „...dort, wo das Herz schlägt“. Wenn man dann noch erfährt, dass das amerikanische Institut „Heartmath“ die Existenz einer real existierenden “Gehirn-Zone“ im menschlichen Herzen entdeckt hat, das aus rd. 40 000 Zellen bestehen soll und dass von dieser auch der Herz-Rhythmus aktiviert wird, bevor beim Embryo das Hirn gebildet wird, schließt sich für mich der Kreis im Bild der Lebens-Spirale.

Er mündet in der von unserem MvSt aus Frankreich mitgebrachten „Metapher“ der „intelligence du coeur“, der Intelligenz des Herzens. Ihr ist nach meinem Verständnis der besondere Fokus unserer Rituale und auch Symbole gewidmet, sehr schön nachvollziehbar am Lehrlings-Ritual, das ja der Aufnahme in den Bund und Hinführung zu den Kernwahrheiten der Königlichen Kunst dienen soll. Diesem Fokus sollten wir Brüder uns sehr viel mehr öffnen, ohne allerdings unsere Kopf-Qualitäten zu vernachlässigen! Im Gegenteil sollten wir sie dienend – der Herzensintelligenz dienend – einsetzen und uns nicht in der Ratio erschöpfen.

Konkret: In der Ritual-Arbeit immer mal wieder ganz bewusst in unser Herz hinein horchen, wenn uns ein Symbol oder eine Symbol-Handlung besonders anspricht – wie fühlt sich das an, was sagt es mir? Und in Alltagssituationen ebenfalls innehalten – was will mein Kopf? Was sagt mir mein Herz? Und im Falle einer Entscheidung, wenn möglich, der Stimme des Herzens folgen … Aus all dem ergibt sich für mich: Das Herz – die Entfaltung unserer Herz-Qualitäten – wird in uns das Unschaubare schaubar machen, uns im Alltag mehr und mehr helfen und uns zu einem fertigen Baustein im Tempel der Humanität und weit darüber hinaus – im Sein – formen. Mensch, werde wesentlich …!


Aufklärererische Spiritualität?

Zur notwendigen Gleichzeitigkeit von Spiritualität und progressivem Denken in der Freimaurerei


Dieter Ney


Für den externen Beobachter erscheint die Freimaurerei als ein Produkt von Geistesströmungen, die heute schwerlich vereinbar sind, scheint sie doch in ihrer institutionellen Gründungsphase ebenso sehr von esoterischen wie auch von aufklärerischen Ideen bestimmt zu sein. Diese Heterogenität prägt die Freimaurerei auch heute noch, aber es wäre eher ein Kennzeichen der Schwäche der Freimaurerei, wenn man versuchte, diese Heterogenität zugunsten einer Seite aufzulösen, denn sie ist – als konstitutives Element – gerade ihre Stärke.

Die Probleme fangen schon an, wenn man versucht zu bestimmen, was die Freimaurerei ist: Religion, emanzipatorische Bewegung, kritische politische Instanz, laizistische Spiritualität, ausgrenzender Geheimbund, elitistischer Zirkel? Angesichts der Tatsache, dass die Freimaurerei irgendwie eine ganze Reihe von Kriterien erfüllt, die all diesen Qualifizierungen Recht geben, wird eine eindeutige Antwort schwer.

Ein Blick auf die Zeit, in der die Freimaurerei sich institutionell entwickelt hat, kann einen guten Hinweis darauf geben, wie eine Antwort aussehen könnte. Im England des 18. Jahrhundert blickte man auf eine Zeit zurück, die zutiefst von politischen Konflikten geprägt war, die zumeist religiöse begründet wurden. Fragen des religiösen Bekenntnisses wurden entsprechend im Rückblick als radikale Bedrohung des Zusammenlebens empfunden, und im Geiste des englischen Pragmatismus legte sich die Lösung nahe, das soziale Konfliktpotential des Religiösen prinzipiell anzuerkennen, aber praktisch durch Ausschluss zu umgehen.

In diesem Sinne lassen sich manche Passagen der Andersonschen Alten Pflichten geradezu als weise Ratschläge interpretieren, die die Gemeinschaft gefährdenden religiösen und politischen Fragen einfach als Thema innerhalb der Logen zu verbieten. Im Lichte eines solchen Pragmatismus erscheint es geradezu natürlich, dass sich die Freimaurerei zu einer religiös unterbestimmten Spiritualität und Moralität entwickelte, gleichsam als friedensdienliche Schrumpfform der Religion und der Politik. Darin erinnert man sich des Spruches, der dem englischen Staatstheoretiker John Locke zugeordnet wird, nach dem der Mensch im Naturzustand dem anderen ein Wolf ist („homo homini lupus est“) und der Staat mit seinen Gesetzen diesem naturalen Kriegszustand entgegen zu wirken habe.

Gleichwohl ist diese These nicht ganz glaubwürdig, denn die zur Entwicklung und Verbreitung der freimaurerischen Ideen notwendige Leidenschaft lässt sich nur um den Preis der Unglaubwürdigkeit mit dem Programm der Mäßigung erklären. Die geschichtliche Kraft der Freimaurerei lässt sich viel einfacher verstehen, wenn man davon ausgeht, dass es ihr gelungen ist, Kräfte zu bündeln ohne sie in Konflikt miteinander zu bringen.

Die historische Konstellation zur Zeit der Institutionalisierung der Freimaurerei war nämlich beileibe nicht allein von der Erfahrung der politisch missbrauchten Religionskonflikte geprägt. Die Gruppen, die sich in den frühen „spekulativen“ (also nicht mehr allein den wirtschaftlichen Interessen der handwerklichen Bauwerker verbundenen) Logen einfanden, waren von sehr unterschiedlichen Leidenschaften geprägt.


Den Bauwerkern ging es wahrscheinlich darum, ihre kulturellen Eigenarten bewahren zu können, ihre Traditionen zu pflegen, dies in einer Zeit, in der sie ihre berufliche Legitimation für ihre kulturelle Sonderrolle aufgrund der geschichtlichen Entwicklung längst verloren hatten – die gotischen Kathedralbauhütten waren eine verflossene Tradition und die aktuellen kirchlichen Bauprojekte standen spätestens seit der Renaissance unter der Aufsicht von Bauingenieuren mit einem nicht mehr handwerklichen Zugang.

Die zweite Gruppe der Menschen, die in die frühen Freimaurerlogen strebten, waren Adelige unter dem Einfluss der Renaissance. Nach dem Untergang des mittelalterlichen „ordo“, der ihre Rolle innerhalb einer gottgegebenen Gesellschaftsordnung bestimmte, fanden sie sich konfrontiert mit der Frage, worin ihre neue gesellschaftliche Stellung bestehen könnte, und sie fanden sie in dem vermeintlich antiken Konzept einer durch Bildung vermittelten privilegierten Selbstwerdung, die anderen sozialen Gruppen aufgrund ihrer ökonomischen Abhängigkeit nicht zugänglich war.

Das leitende Identifikationsobjekt der Adeligen waren die antiken Mysterienkulte, die ihnen die Abgrenzung gegenüber anderen sozialen Schichten in einer Zeit erlaubte, in der die gottgestiftete gesellschaftliche Position als Adelige zunehmend in Frage gestellt wurde. Inhaltlicher Kernbereich dieser antiken Mysterienkulte waren geometrische Überlegungen, die den Adeligen, wenngleich auch nur rudimentär, über ihr adeliges Bildungsprogramm bekannt waren. Andererseits galten die Nachfolger der mittelalterlichen Bauhütten als die letzten Bewahrer der geometrischen Geheimnisse der antiken Mysterienkulte, so lag es nahe, dass die Adeligen auf der Suche nach ihrer neuen Rolle in der Gesellschaft sich an die Maurerlogen wandten. Sie suchten in den Bauhütten die versprengten Reste einer geheimnisvollen geometrischen Weisheitslehre der Harmonie, die ihre gesellschaftliche Stellung neu legitimieren könnte, sozusagen als neuen weisheitlichen Geistesadel.

Die dritte Gruppe, die sich in den frühen Freimaurerlogen einfand, bestand aus Mitgliedern des aufstrebenden Bürgertums. Ihr Selbstbewusstsein speiste sich einerseits aus ihrem wirtschaftlichen Erfolg, andererseits aus den offensichtlichen Erfolgen der neuzeitlichen Wissenschaft, die sich in ihrem empirischen Zugang deutlich abgrenzte von der autoritätsbasierten mittelalterlichen Wissenschaft.

Dass viele bürgerliche Mitglieder von Freimaurerlogen der Neuzeit zugleich beim Aufbau wissenschaftlicher Gesellschaften wie der Royal Society engagiert waren, erstaunt nicht. Prägend war die Idee, dass die Kategorie der Tradition ihre Bedeutung verloren hatte, sowohl in wirtschaftlicher wie in wissenschaftlicher Hinsicht; was zählte, war der Erfolg.

Wenn jemand erkannt hatte, wie die naturwissenschaftlichen Gesetze funktionierten, dann spielte es keine Rolle mehr, welche gesellschaftliche Position er hatte. Im Umkehrschluss ergab sich, dass die gesellschaftliche Bedeutung nichts mehr mit irgendwelchen gottgegebenen Ordnungen zu tun hatte, sondern nur mit der Einsichtsfähigkeit des Einzelnen.

Dieses Paradigma wurde auch schnell auf den ökonomischen Bereich angewendet, mit der Konsequenz, dass das Bürgertum nun auch auf politischer Ebene zunehmend Ansprüche anmeldete. Diese Ansprüche aber konnten sich in einer feudalen Gesellschaft politisch nicht durchsetzen. Entsprechend suchten sich die bürgerlichen Gruppen einen vor staatlicher Kontrolle geschützten Raum, in dem sie sich ihrer neuen, gleichwohl politisch noch unterdrückten Rolle versichern konnten. Und die Bauhütten konnten ihnen einen solchen Raum aufgrund ihrer alten Privilegien bieten.

So erwiesen sich die Bauhütten in England aufgrund einer einmaligen historischen Konstellation zum idealen Ort einer Begegnung von Gruppen mit sehr unterschiedlichen Interessen. Je nach Kultur und Tradition entwickelten sich Freimaurereien in den verschiedenen Ländern sehr unterschiedlich. Die Kernidee der Freimaurerei, die Arbeit des Maurers an sich selbst, wird sehr verschieden interpretiert, mal im Sinne einer Spiritualität ohne enge Bindung an institutionalisierte Religion, mal im Sinne eines an den Werten der Aufklärung orientierten persönlichen Weges, der auch Effekte auf das Selbstverständnis als Bürger in einer Gesellschaft hat, mit entsprechenden politischen Wirkungen; gelegentlich treten Großlogen sogar mit politischen Forderungen in der Gesellschaft auf. Institutionell führte diese ursprüngliche Heterogenität zur Ausprägung von Großlogen mit ausgeprägten Profilen (so in Frankreich und Belgien), in anderen Ländern, in denen vor allem eine zahlenmäßig dominante Großloge existiert, die die Anerkennung der United Grandlodge of England genießt, sind die unterschiedlichen Strömungen in zumeist gemäßigter Form innerhalb einer Großloge zu finden (so in Deutschland und Österreich).

Die vor allem in großen Ballungsräumen anzutreffende Tendenz zu scharfer Profilierung – sowohl auf Großlogen- wie auf Logenebene – mag Vorteile bringen (insbesondere für Menschen, die auf der Suche nach ihrem Platz in der Freimaurerei sind und ihre Entscheidung für eine bestimmte Großloge oder Loge an einer Programmatik festmachen), sie führt aber auch dazu, dass die ursprüngliche innere Vielfalt immer weniger innerhalb einer Loge stattfindet, sondern sich verlagert in programmatisch sich voneinander abgrenzenden freimaurerischen Profilen der Logen und Großlogen, eine Tendenz, die die Universalität der freimaurerischen Idee zunehmend in Frage stellt zugunsten von Gesinnungsgruppen, in denen sich eh nur Menschen treffen, die sich weitestgehend schon einig sind.

Freimaurerlogen sind Arbeitsräume, in denen die Menschen sich der Arbeit an sich selbst widmen wollen und sollen. Diese Selbstentwicklung ist im initiatorischen Weg der Freimaurerei bewusst tief eingebettet in einen heterogenen sozialen Raum mit konfligierenden Interessen der unterschiedlichen beteiligten Personen. Dies soll vermeiden, dass die Selbstbildung zu einer egoistischen Selbstfindung degeneriert.

So war es schon in der Gründungsphase der institutionellen Freimaurerei im England des 18. Jahrhunderts. Das Nebeneinander von Spiritualität und gesellschaftlichem Aufklärertum in den Logen führte und führt hoffentlich weiterhin zu einem fruchtbaren Austausch zwischen freimaurerisch arbeitenden Menschen, zu dessen Förderung sich die frühe Freimaurerei in Form der Alten Pflichten einfache Regeln gegeben hat, die die Destruktivität des Heterogenen mildern sollte.

Nur wenn die Vielfalt in jeder Loge sichtbar ist, wird sie sich das Feuer bewahren, das ihre Stärke ausmacht. Der schwierige Begriff einer aufklärererischen Spiritualität, der offensichtlich Unvereinbares zu enthalten scheint, sollte weiterhin das Programm der Freimaurerei bleiben.


En route

Gerhard Scheucher


„Wege entstehen dadurch, dass man sie geht“ (Franz Kafka) – In einer für mich gefühlten Ewigkeit ging ich in der Dunkelheit dahin, ich hörte, ich spürte, ich schmeckte, ich roch. Ich bückte mich, ich ging schnell, oftmals wurden die Schritte langsamer. Manchmal fühlte ich mich alleine, dann wieder zu zweit, einige Momente lang dachte ich mir, dass viele Wesen mich begleiten würden.


Noch heute höre ich diese Geräusche, es waren in meiner Wahrnehmung dumpfe Klänge, die dann wieder hell und laut ertönten. Im Nachhinein wusste ich, dass viele Menschen mit ihren Füßen in den Boden getreten haben. Wenngleich es sich nicht anhörte wie ein Treten, es war sanfter, einige Momente dachte ich an diesen leichten und luftigen Step Dance, der den berühmten Song „Singin’ In The Rain“ begleitet.

Es hatte nahezu etwas von einem Rhythmus, dieses synchronisierte Gestampfe. Plötzlich wurde es wieder ruhiger, noch immer war das Sichtbare von mir getrennt. Ich merkte aber, dass die Spannung nicht nur in mir ins Unermessliche gestiegen war, sie hatte sich von der gesamten Halle, in der rund 400 Menschen gesessen sind, auf mich übertragen, oder umgekehrt. Phrasenhaft hatte ich noch einige Sätze wahrgenommen, an Einzelheiten kann ich mich aber nicht mehr erinnern.

Mein Inneres wurde immer unruhiger, alle meine Sensoren signalisierten meinem Kopf und meinem Bauch, dass es gleich vorbei sein würde mit dieser nahezu schon unerträglichen Dunkelheit, mit diesem undefinierbaren Erleben, das sich nicht einordnen liess. Trotz dieser Unsicherheit fühlte ich mich wohl aufgehoben, ich spürte eine Hand, die meine hielt oder die meine Schulter erfasste, wenn ich Angst signalisierte. Plötzlich bemerkte ich, wie sich meine Augenbinde öffnete, es wurde Licht, ich sah mein eigenes Antlitz in einem Spiegel.

Ich war von der Situation nahezu überfordert, all diese Schritte, all diese Empfindungen, all diese Übungen, all diese Reisen – und am Ende stand ich mir selbst gegenüber. Fremde Worte begleiteten das Szenario, es war eine Aufforderung, die ich vernahm. Plötzlich verschwand mein eigenes Gegenüber Gegenüber, welches vielen Säbeln wich, die sich vor mir aufgetan hatten. Eine unvergessliche Reise, meine Aufnahme beim internationalen Kolloquium des Freimaurerordens für Männer und Frauen LE DROIT HUMAIN ging dem Ende zu und brachte mich in ein neues Reich, dem der Königlichen Kunst, der Freimaurerei.

Der Alltag bringt uns nicht weiter

Zurück blieb das Gefühl, etwas Unvergleichliches erlebt zu haben. Etwas, das meinem Leben nachhaltig eine neue Dimension gegeben hat. Ein Augenblick für die Ewigkeit, der mich, der meine Persönlichkeit, verändern sollte. Und sind es nicht genau diese starken Momente, die sich in unseren Köpfen manifestieren, die uns eine Bedeutung über den Tag hinaus geben? Die in uns Bilder generieren, die immer und immer wieder abrufbar sind, positiv kodiert. Anlässe, an die wir uns gerne erinnern.

Warum treffen wir uns in unserer Bauhütte? Ist nicht genau das der Grund? Freuen wir uns nicht alle auf die Zeichnungen, die Brüder von uns halten, die uns ein wenig innehalten und Abstand vom Alltag gewinnen lassen? Wollen wir nicht alle etwas wissender ins profane Leben zurückkehren, als wir hergekommen sind, um es in den Worten unseres ehrwürdigen Meisters vom Stuhl, Bruder Albert, zu sagen?

Kommen wir nicht genau deshalb an diesen Ort, in die Dyroffstraße 2, nach Bonn? Reisen wir nicht genau aus diesem Grund Dienstag für Dienstag an, damit wir uns in Erinnerung rufen, dass wir nicht alles von diesem geheimnisvollen Planeten, von dieser unserer Erde wissen? Ist nicht das genau der Grund, warum wir uns auf Wanderung begeben? Aus allen Himmelsrichtungen kommend, treffen wir uns zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Tag, um in Gemeinschaft über Fragen des Lebens nachzudenken.

Um am rauen Stein des Geistes zu hämmern, zu feilen und zu schleifen, im brüderlichen Diskurs, um Antworten zu finden, die uns signalisieren, dass eine Gruppe von Gleichgesinnten in Summe mehr an Substanz entwickeln kann, als jemand, der den gesamten Tag einsam und alleine zu Hause sitzt.

Für mich sind die Reisen nach Bonn besondere Ereignisse, der gesamte Tagesablauf gestaltet sich anders. Schon morgens richte ich meine freimaurischen Utensilien, das Bijou, den Schurz, die Handschuhe und die weiße Krawatte her und erfahre alleine durch diese Handlung einen inneren Impuls, der mir einen besonderen Tag ankündigt: die Reise von Wien nach Bonn. Es ist mir so vertraut geworden, wenn mich meine Brüder Dieter und Ewgenij manchmal gemeinsam, oder auch einzeln am Flughafen Köln-Bonn in Empfang nehmen. Wir alle reisen an diesem Tag, wir suchen Gemeinschaft, wir suchen den Diskurs, wir wollen neue Erkenntnisse gewinnen, die wir in die Welt tragen können. Mein freimaurerischer Weg hat mich über Wien nach Bonn zur „Loge Kosmos“ geführt. Ohne den mir zum wirklichen Freund gewordenen Bruder Dieter hätte ich niemals erfahren, dass es euch gibt, dass es eine lebendige Freimaurerei gibt. Er war mein „Reiseleiter“ im besten Sinn des Wortes, er hat meine Wanderung zu euch so gestaltet, dass ich lernen konnte, erfahren durfte, beobachten wollte.

Daher bin ich überzeugt davon, dass uns das, was wir sowohl im profanen als auch im maurerischen Sinn Alltag nennen, nicht weiterbringt. Die Macht der Gewohnheit ist der Stillstand der Gegenwart und der Tod der Zukunft. Jeder möge sich seine Meinung dazu bilden, aber ich finde, dass die gängigen Gepflogenheiten im Denken und Handeln, genau durch unsere Zusammenkünfte verhindert werden können, das scheint mir eine ganz wesentliche Erkenntnis unserer gemeinsamen Reisen zu sein.

Das Innerste unseres Hauses, der Tempel, ist jener Platz, wo Standpunkte artikuliert, Meinungen ausgetauscht und Haltungen eingenommen werden. Und weil alle Menschen und auch wir Brüder so unterschiedlich sind, brauchen wir Impulse, die uns von Konventionen befreien. Die Zusammenkünfte in der Gruppe setzen Bewegung des Individuums voraus. Und das ist die Basis, um an gemeinsamen Zielen zu arbeiten. In diesem Kontext betrachtet, bietet uns das Reisen die Gelegenheit, uns relativ einfach dessen bewusst zu werden, wie komplex, wie unterschiedlich und facettenreich das Leben ist. Oder anders, in unserem Sinne formuliert, am Stein der Erkenntnis zu arbeiten.


Wir brauchen Impulse für unseren Geist

Wenn wir uns im profanen Leben auf Reisen, auf eine Wanderung begeben, dann hat dies in meiner Beobachtung auch damit zu tun, dass wir etwas suchen, was uns im eigenen Leben, im eigenen Lebensraum vielleicht fehlt. Jeder Mensch braucht Bezugspunkte. Anker, die Orientierung schaffen.

Diese können beispielsweise auf emotionaler oder auch auf rationaler Ebene entstehen. Eine von Emotion getragene Anknüpfung kann die Hingabe, die Liebe zu einem Menschen sein. Eine rationale Beziehungsgröße kann der Bezug zu einem Ort sein: einem Raum, einer Wohnung, einem Haus, einer Stadt, einem Land. Solche Emotionen und Plätze brauchen wir, um Orientierung zu finden, um Heimat spüren zu können, um zu wissen, wo man hingehört.

All dem vorausgesetzt brauchen wir aber horizontale und vertikale Verknüpfungen, die wir irgendwo erfahren oder erleben müssen. Nur wenn wir in die Welt hinausgehen, nur dann, wenn wir anderen Menschen gegenübertreten, dann werden wir eigene Standpunkte und Sichtweisen überprüfen können. Wie soll sonst Wertbeständiges entstehen können, ein neuer Spirit tragfähige Fundamente bilden? Es geht dabei nicht um die Kompensation persönlicher Defizite, sondern um Weiterentwicklung, durch die Reflexion anderer Lebensumstände, ein zutiefst maurerischer Auftrag, wie ich meine. Um es weniger abstrakt zu formulieren: Wie soll der, der nichts von der Welt gesehen hat, der nie andere Länder kulturell erfahren hat, ein Sensorium für eine vernetzte und globale Welt entwickeln können?

Ich denke mir oft, wo würde ich mich heute in meiner Wahrnehmung befinden, wenn ich nicht so viele Plätze auf dieser Erde heimgesucht hätte. Wenn man einmal eine Zeit lang in Amerika verbringt oder in Asien, dann werden viele gesellschaftliche Entwicklungen selbsterklärend. Und diese Reisefreiheit, wie wir sie kennen, ist ein besonderes Privileg unserer Generation, das wir bei jeder sich bietenden Gelegenheit nutzen sollten. Reisen ist so einfach geworden und hat uns schon vor hunderten von Jahren immer besondere Sichtweisen gebracht, Neues gezeigt.

Es hat viele große Reisende gegeben, die Eingang in die Geschichtsbücher gefunden haben. Denken wir an den Venezianer Marco Polo, der schon im Mittelalter nach eigenen Angaben auf dem Landweg nach China reiste. Oder an Vasco da Gama, der den Seeweg nach Indien entdeckte, oder an Christopher Columbus, um nur drei Beispiele zu nennen. Welche Perspektiven haben sich durch die Erkenntnisse dieser Reisenden den Völkern eröffnet! Oder wie lange hat es gedauert, dass die Gesellschaft erkannt hatte, dass Bildungsreisen nicht nur dem britischen Adel im 16. Jahrhundert einen Startvorteil im Leben einräumen, in Sachen Sprachkompetenz, im Hinblick auf kulturelles Verständnis.

1987 wurde mit dem ERASMUS- Programm der Europäischen Union erstmals ein paar hundert Jahre später eine Voraussetzung geschaffen, um Studierenden aus allen gesellschaftlichen Schichten die Chance zu eröffnen, durch Auslandssemester wertvolle Erfahrungen zu sammeln. Die Volksweisheit „Reisen bildet“ ist von ungebrochener Popularität.

Wandere und werde besser

Sind unsere Bauhütten nicht in der Intention der vorhin formulierten Gedanken so etwas wie Anbieter für exklusive Bildungsreisen? Wir Freimaurer reisen, reisen in Stille, reisen alleine, reisen in der Gemeinschaft. Unsere Wanderungen setzen sich zum Ziel, einen der faszinierendsten Punkte zu erreichen den es gibt, uns selbst! Unsere Innenwelt!

Irgendwo habe ich einmal für diese Erfahrungen, die wir sammeln, eine schöne Metapher gefunden, die ein mir unbekannte Autor folgendermaßen skizzierte: „Unsere freimaurerischen Reisen sind kaskadenartige Erfahrungen, die aber durch das Wasserrad immer wiederkehrend neu erfahren werden – nie gleich sind und deshalb durch das gleiche Ritual neue Erkenntnisse bringt, weil Altes und Bekanntes ausgeblendet werden kann, um so der Essenz auf die Spur zu kommen.“

Die Reisen in Intention der Bruderkette zeigen uns den Sinn des Menschseins. Wir alle sind, in der richtigen Relation betrachtet, ein Flügelschlag zwischen Leben und Tod. Als Freimaurer erleben wir, Einsamkeit zu ertragen, uns selbst zu erkennen, aber ebenso für andere da zu sein, ihnen zu helfen, sie zu begleiten.

Einsichten und Ansichten entstehen durch permanente Überprüfung eigener inhaltlicher Standpunkte und die Akzeptanz dessen, dass die Erde doch keine Scheibe, sondern ein Planet mit einer Unzahl von Besonderheiten ist. Die Freimaurerei ist eine besondere Option, Menschen und Gruppen, Länder und Regionen zu erfahren. Die Wanderung ist der Angelpunkt und die Drehscheibe dafür!

Schon Bruder Johann Wolfgang von Goethe hat in den Schlusszeilen seines Gedichts über die „Perfektibilität“ das Fazit gezogen: „Willst Du besser sein als wir, lieber Freund, so wandere!“

Und er hat offensichtlich gewusst, wovon er gesprochen hat, wenn man seine Italienreise bewertet. Da gibt es einen Mann, der eine Unzahl von Gedichten, Dramen, Versen und Prosa verfasst hat, der seiner Heimat entflieht, sich auf Reisen begibt und die fehlenden Seiten in sich selbst entdeckt. In Geschichtsbüchern ist über die von ihm 1786 begonnene und zwei Jahre andauernde Reise nachzulesen: „Die Reise wurde für Goethe zu einem einschneidenden Erlebnis; er selbst sprach von einer „Wiedergeburt“, die er in Italien erfahren habe. An ihrem Ende hatte er sich selber wiedergefunden und beschlossen, seine Tätigkeit künftig auf das zu beschränken, was ihm seinem Wesen gemäß schien.“

In diesem Zitat finden sich zwei mit der Freimaurerei stark verwobene Faktoren wieder. Auch wenn insbesondere Gesellen zum Reisen in andere Logen ermutigt werden, so gibt es doch so etwas wie eine maurerische Heimat, jeder hat seine Bauhütte, in die er immer und immer wieder zurückkehrt.

Wandern in unserer Bedeutung betrachtet, kann vielleicht als Kreisen verstanden werden, als Weitergehen und Wiederkommen zugleich. Einem Ort verhaftet zu bleiben, und doch ständig neue Blickwinkel einzunehmen. Die Summe der durch Bewegung gewonnenen Perspektiven und die Arbeit an uns selbst sind ein weiterer mächtiger Anknüpfungspunkt zu dem, was uns so einzigartig macht: die Überzeugung und das Wissen, dass unsere Grundideale Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Toleranz und Humanität unverrückbare Elemente für den Bau an einer besseren Welt sind.


Reisen durch unsere Wertesysteme

Schon Franz Kafka formulierte „Wege entstehen dadurch, dass man sie geht.“ Ob er ein Bruder von uns gewesen ist, dafür gibt es keine mir bekannte Überlieferung. Als Bild in die Realität projiziert, hat diese Aussage schon etwas Bedeutsames: Wer kennt nicht diese Wege, die in Wäldern, neben Flüssen oder auf Wiesen entstanden sind, weil irgendwann irgendwer den ersten Schritt gesetzt hat? Und dann sind oftmals diesem anfangs kleinen Pfad viele Personen gefolgt, und es entstand ein Weg. Der Mensch überlegt, sucht Ziele, setzt sich in Bewegung. Die Wanderung bringt Eindrücke, Erlebnisse, Geschichten, Sichtweisen. Alles Bezugspunkte, die als Basis für neue Perspektiven dienen.

Und während in der Antike die Wallfahrten vermutlich die ersten echten Reisen gewesen sind, wurden die gegangenen Wege im Mittelalter das größte Kapital für Kaufleute. Es war die Gelehrtheit über „Weg und Steg“, wie in dieser Zeit das Wissen darüber, welche Wege genutzt und an welchen Stellen Flüsse überquert werden konnten, bezeichnet wurde. Das war eine früh überlieferte ökonomische Dimension des Wanderns. Eine produktive Erkenntnis in Form von entstehendem Wissen brachte schon die Zeit um Aristoteles, wo er und andere Gelehrte im Peripatos, der Wanderhalle umhergingen. Auf die Jetztzeit übertragen haben sich viele der ersten Erfahrungen mit dem Reisen nicht geändert.

Stand nicht fernab von der Form der Fortbewegung schon immer im Mittelpunkt, neue Wege zu beschreiten, um vorhandene Standpunkte zu überprüfen, und diese gegebenenfalls für die Zukunft zu adaptieren? Jede Zeichnung, die wir hier oder an anderen Orten unserer Gemeinschaft hören, vorgetragen bekommen, sind nichts anderes als Reisen durch unser eigenes Wertesystem. Wir bekommen Impulse, die wir zuerst für uns aufnehmen, um sie dann in der Gruppe zu besprechen und um dann vielleicht einen eingeschlagenen Weg zu revidieren.

Ist im profanen Leben den Menschen nicht eine besondere Dimension der Betrachtung von Reisen abhanden gekommen? Eine Form, die eine unverrückbare Basis unserer Kultur ist, die des persönlichen Gesprächs. Heute bedeutet für viele Menschen das Reisen eine beliebige Form der Mobilität. Der erlebte Moment ist dann vorbei, wenn er den Weg von der Digitalkamera oder dem Smartphone in die sozialen Netze wie Facebook oder Twitter gefunden hat. Die Nachbetrachtungen sind verloren gegangen.

Die gemeinsamen Diaabende beispielsweise, wo Erlebtes noch einmal gezeigt, besprochen und diskutiert wurde, finden wohl kaum mehr statt. Was bleibt, ist in vielen Fällen eine Sinnentleerung und nur scheinbar oberflächlich Erlebtes, ohne es je wirklich erlebt zu haben. Sind unsere freimaurerischen Reisen nicht die letzten Wanderungen, die ohne Konsumzwang dem Menschen neue Dimensionen eröffnen können?

Gemeinsame Ziele brauchen gemeinsame Emotionen

Wenn Menschen auf Reisen gehen, dann suchen sie nicht nur Erkenntnis, sondern auch nach Beziehungen. Neben der geistigen Dimension ist das der Kitt, der eine Gesellschaft, eine Gruppe zusammenhält. Man stelle sich Arbeiten von und mit uns Brüdern vor, wenn es keine emotionale Komponente gäbe, wenn wir in unseren Tempeln im Stile von Technokraten agieren würden. Gemeinsame Ziele brauchen gemeinsame Emotionen!

Unsere Kette ist weltumspannend, sie ist von unterschiedlichsten Individuen getragen und sicherlich kontroversiell in Debatten. Aber es gibt ein gemeinsames Korsett an Werten, die alle Brüder anerkennen und auch versuchen zu leben. Und daher kann man, egal wo auf der Welt, bei einem Tempel anklopfen und dort auf Menschen treffen, die über geografische Grenzen hinweg die Globalisierung einer großen Idee in Form gemeinsamer Bestimmungen schon seit Jahrhunderten leben. Und zu wissen, man ist nicht alleine, lässt uns beruhigt auf Wanderschaft gehen. Wer von anderen Reisenden, egal ob beispielsweise Urlaubsreisende oder Handelsreisende, haben das Privileg, ohne Anlaufzeit Menschen auf irgendwelchen Plätzen dieser Erde kennen zu lernen, sich sehr persönlich zu begegnen und zu wissen, dass die geführten Gespräche einem gemeinsamen Ziel untergeordnet und vom Siegel des Vertrauens umklammert werden? Diese Möglichkeit sollte viel öfter genutzt werden.

Im Text zur Instruktion über die symbolischen Reisen in der Freimaurerei unser Loge habe ich das wunderbare Zitat von Viktor Hugo gefunden, der einmal schrieb „dass das Reisen bedeute, jeden Augenblick zu sterben und jeden Augenblick geboren zu werden.“ Neue Wege bedeuten mitunter auch Gefahren, das weiß jeder von uns. Dem Unbekannten haftet immer ein Mehr an Risiko an als dem Vertrauten. Die erste Reise, die jeder Bruder durchlaufen muss, wenn er die Königliche Kunst erlernen möchte, ist der Beginn einer Wanderung. Was wäre uns allen entgangen, wenn wir nicht dieses Wagnis auf uns genommen hätten, einen uns unbekannten Pfad zu beschreiten. Und nun, wo aus der Distanz der Beginn des Anfangs betrachtet werden kann, erscheint es uns wie eine Selbstverständlichkeit.

Leben in wachsenden Ringen


Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.

Rainer Maria Rilke, wo vermutet wird, dass er ein Bruder gewesen ist, schrieb 1899 dieses Gedicht. Das Wesen unsers lebenslangen Wanderns ist die Veränderung, der Wandel. Es wird weder im profanen, noch im maurerischen Leben jedes Ziel zu erreichen sein. Der Mensch ist gekennzeichnet von Bewegung und selbst wenn er zum Ausgangspunkt zurückkehrt, wird er eine andere von Erfahrungen getragene Persönlichkeit sein. Die Reisen in unserem Sinne verstanden führen zum Licht, das die möglichen Gegenstände der Erkenntnis sichtbarer machen kann. Vielleicht sind es auch nur Träume, die dadurch ein wenig mehr Gestalt bekommen, möglicherweise sind es konkrete Vorhaben.

In seiner Grundausrichtung strebt der Mensch nach Glück, so meine persönliche Wahrnehmung. Wanderungen im realen Leben können Teil dieses Strebens sein, eine Kompensation dessen, die eine Person an ihrem momentanen Aufenthaltsort nicht vorfindet. In unserer Welt der Brüderlichkeit sollten uns Wanderungen reifen lassen, uns der Vollkommenheit ein kleines Stück näher bringen und unsere Grundideale der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Toleranz und Humanität gedeihen lassen.