Belgien
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Belgien
Quelle: Internationales Freimaurer-Lexikon von Eugen Lennhoff und Oskar Posner (1932)
Österreichische Niederlande
Die Matrikel des Großorients von Belgien, die 1898 neu angelegt wurde verzeichnet der Anciennität nach als erste belgische Loge die "Parfaite Union" in Mons. Sie soll 1721 gegründet worden sein, und zwar mit Patent des englischen Großmeisters Herzog von Montagu vom Herzog von Wharton als "englische Mutterloge in den österreichischen Niederlanden".
Ob das als Geschichte oder was wahrscheinlich ist als Legende anzusprechen ist, läßt sich heute kaum mehr feststellen - auch Paul Duchaine, der den Spuren aufs gründlichste nachgegangen ist ("La Franc-Maçonnerie Belge au XVIIIe siècle", 1911), vermochte nichts Authentisches zu erheben. Es liegen keine tatsächlichen Anhaltspunkte dafür vor, daß der Herzog von Wharton sich 1721, etwa auf einer Reise nach Wien, wie behauptet wurde, in Belgien aufgehalten hätte. Ganz abgesehen davon, daß eine solche Reise des Herzogs nicht 1721, sondern 1725 stattgefunden haben soll. Die "Parfaite Union" verweist demgegenüber darauf, daß in den jährlichen Verzeichnissen der Provinzial Großloge der österreichischen Niederlande seit 1776 diese Loge immer mit dem Gründungsjahr 1721 und auch Wharton als Stifter aufscheint. Duchaine nimmt aber wohl mit Recht an, das die Provinzial-Großloge, wenn sie diese auf keinerlei Dokumente gestützte Angabe vornahm, einfach einer Bedingung entsprach, die die Loge in Mons für ihren Anschluß gestellt hatte. Sicher ist, daß diese weder in den Registern der Großloge von England vorkommt noch von Anderson in der zweiten Ausgabe des Konstitutionenbüches von 1738 erwähnt wird. Auch über eine Loge gleichen Namens in Gent vom Jahre 1730, die in einem geschichtlichen Abriß des Obersten Rates von Belgien (1880) erwähnt wird, hat Duchaine keine näheren Daten in Erfahrung bringen können. Doch steht fest, daß sich freimaurerisches Leben in den österreichischen Niederlanden bereits unter der Regierung Karls VI., also vor 1740, regte, daß sich schon zu diesem Zeitpunkt die verschiedenen Nationalitäten Belgiens, und auch Protestanten und Katholiken, zur Logentätigkeit zusammenfanden. Wenn aber in einem deutschen Werk: "Das Ganze aller geheimer Ordensverbindungen ...", Leipzig 1805, behauptet wurde, der Kaiser habe die Freimaurerei in Flandern 1738 aufgehoben, so zerstört Duchaine auch diese vielfach übernommene Legende. Aus der Korrespondenz zwischen dem Grafen Neny, Präsident des "Conseil Privé" in Brüssel, und dem Kanzler von Brabant, Crumpipen, und Briefen des Gesandten Grafen Starhemberg aus den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts geht zur Genüge hervor, daß ein solches Edikt nicht existiert hat.
Überwachung der Logen
1744 wurde Karl von Lothringen, Bruder Franz I., Statthalter der österreichischen Niederlande (bis 1780). Er war Freimaurer und trug wesentlich zur Ausbreitung des Bundes bei; vor allem auch, indem er selbst 1762 die Loge "Saint-Charles" in Brüssel und 1765 die Loge "L Unanimité" in Tournai gründete. An seinem Hof in Brüssel waren die Freimaurer sehr zahlreich. Das änderte sich auch nicht, als zwischen 1764 und 1766 die Kaiserin Maria Theresia in Wien Maßnahmen gegen die Freimaurerei ergriff; in den österreichischen Niederlanden erfolgte bis 1779 kein wie immer gearteter Schritt gegen eine Loge.
Allerdings unterhielt die Kaiserin ein Überwachungssystem, um ständig über die Tätigkeit der Freimaurer auf dem laufenden zu sein. Die Korrespondenzen der bekannten Maurer und der Logen wurden insgeheim gelesen. Mit der Leitung des Spitzelwesens war der Rat Weiß in Brüssel betraut, dem der dortige Generalpostdirektor eifrigst zur Seite stand. Für die Überwachung standen eigene Fonds, die "Gastos Secretos", zur Verfügung aus diesen flossen beispielsweise in Lüttich die Honorare durch Vermittlung der Witwe des Bankiers Dominique, Vicomte de Nettine. Ihre Abrechnungen existieren noch heute in den belgischen Archiven. Allerdings wußte diese Dame nicht, für welche Zwecke die Kaiserin die Gelder zur Verfügung stellte; sie waren angeblich für eine Akademie bestimmt. Viele zehntausend Gulden wurden für die Spitzel aufgewendet; 1773 schrieb die Kaiserin an Starhemberg, daß sie ihm für die von ihm beschäftigten Agenten, unabhängig von der für Lüttich bestimmten Summe der "Gastos Secretos", aus ihrer Privatschatulle weiters achttausend Florins jährlich zur Verfügung stelle.
Klerus und Adel in den Logen
Dabei waren die Logen, auch die in Wien besonders verdächtigte von Lüttich, Versammlungsstätten durchaus loyaler Untertanen, der überwiegende Mehrheit nach gute Katholiken: die Logen versäumten niemals, an den Johannistagen im Juli und September Messen lesen zu lassen, denen die Brr. korporativ beiwohnten während der zelebrierende Geistliche über dem Ornat schroff das freimaurerische blaue Band trug.
Zahlreich waren die Kleriker in den Logen. Bei den Brudermählern und weißen Tafeln wurden die kirchlichen Vorschriften über Fasten und Fastenspeisen aufs strengste befolgt. In Lüttich gehörten der Fürstbischof Graf Wellbrück und die meisten Kanoniker seines Kapitels der Loge "Parfaite Intelligence" an. Ein französischer Journalist, der um 1780 an der Tafel des Fürstbischofs zu Gaste war, war der einzige der achtzehn Anwesenden, der nicht maurerische Insignien trug. Duchaine verzeichnet eine ganze Reihe weiterer prominenter kirchlicher Würdenträger in den verschiedensten Orten.
Auch der Anteil des hohen Adels am Logenleben war beträchtlich nicht zuletzt infolge der Gründung mehrerer Regimentslogen. Man begegnet in den Logenlisten den Herzögen von Arenberg und Ursel, dem Grafen Hohenzollern, dem Prinzen Karl von Hessen Rheinfeld, dem Fürsten von Ligne (s. d.), dem Feldmarschall Ferrari, dem Grafen Nunez, Granden von Spanien, dem Erbprinzen Solms-Braunfeld, den Grafen von Saint-Aldegonde, de Vigneuille, de Spaar, de la Marck usw. Daneben gab es zahlreiche hohe Beamte, Richter, Angehörige der angesehensten belgischen Familien, Künstler, Literaten, Musiker. Die Freimaurerei setzte sich Siberall aus der gesellschaftlichen und geistigen Elite zusammen. Die Logenarbeit beschränkte sich keineswegs auf ritualistische Übung; es herrscht manchenorts vorbildliche geistige Tätigkeit.
Die regen Diskussionen, die in den Logen stattfanden, mochten wohl der Kaiserin den großen Aufwand für die Spitzeltätigkeit gerechtfertigt erscheinen lassen.
Die englische Provinzial-Großloge des Marquis de Gages
1770 erhielt der Marquis de Gages (s.d.), Großmeister der 1763 gegründeten "Parfaite Harmonie" in Mons, die bis dahin Provinzial Großloge der Grande Loge de France gewesen war, vom Londoner Großmeister Herzog von Beaufort ein Patent für eine englische Provinzial-Großloge für die österreichischen Niederlande und gleichzeitig selbst die Bestallung als Provinzial Großmeister. Dieser Körperschaft gelang es bald, alle belgischen Logen der verschiedenen Riten zu vereinigen. Die Mutterloge nahm den Namen "Vraie et parfaite Harmonie" an. Ihr Stuhlmeister wurde General Graf von Arberg, der gleichzeitig stellvertretender Provinial-Großmeister war. Als sich dann unter der Regierung Josephs II. die Wiener Provinzial Großloge der Berliner Großen Landesloge in eine selbständige Landesloge umwandelte, strebte sie auch danach, ihren Einfluß in den Niederlanden geltend zu machen. Nach längeren Verhandlungen mit dem Freiherrn von Seckendorf wurde die Unterstellung unter Wien 1784/85 im Prinzip beschlossen. De facto blieb aber die Provinzial-Großloge infolge schleppender Erledigung der Angelegenheit in Wien zunächst unabhängig.
Das Edikt Josephs II
Das Handbillett Josephs II. vom 11. Dezember 1785 bezüglich der Neuregelung der freimaurerischen Verhältnisse in seinem Reich änderte dann die Sachlage auch in den Niederlanden von Grund auf. Der bevollmächtigte Gesandte in Brüssel, Graf Barbiano Belgiojoso, verordnete, daß am 9. Jänner 1786 ein auf das Handbillett bezüglicher Erlaß an alle zuständigen Amtsstellen erging. Die Logen fügten sich den Weisungen ohne Protest und sandten ihre Mitgliederlisten ein.
Der Marquis de Gages versuchte aber unterstützt von den österreichischen Behörden in Brüssel, vom Kaiser eine Milderung der Bestimmungen zu erreichen. Mittlerweile wurde der Zusammenschluß Provinzialloge mit der Wiener Großen Landesloge im April 1796; vollzogen. Ein neues kaiserliches Edikt vom 15. Mai 1786 machte aber die Hoffnungen des Provinzial Großmeisters zunichte; die freimaurerische Tätigkeit mußte auf drei (von fünf) Brüsseler Logen beschränkt werden; alle übrigen Bauhütten im Land waren zu schließen. Am 26. Juni tagte ein Konvent sämtlicher Logen dem die Frage vorlag, ob es nicht besser sei, sie alle einzuschläfern; die Mehrheit, die sogenannte deutsche Partei", entschied aber gemäß dem Edikt; ein Zentralkomitee der Logen wurde gegründet, an dessen Spitze erst der Marquis du Chasteler, dann der Baron Seckendorf stand, der aber als Adjudant des Statthalters Herzogs Albert von Sachsen - Teschen vielfach von Brüssel abwesend war. Die drei Brüsseler Logen, die weiterwirken durften, waren: "L'Heureuse Rencontre" "L'Union" und "Les Vrais Amis de I'Union".
Der Geist war naturgemäß nicht mehr der alte. Duchaine sagt treffend: "Joseph II. hat ohne Gewinn und ohne Notwendigkeit die belgische Freimaurerei geopfert, d. h. den geistigen, aufgeklärten Teil der Nation. Etwas vom Herz und der Seele des Vaterlandes war dabei getötet worden " Seckendorf erschien den Brüdern mehr als Vertreter der österreichischen Polizei, denn als freigewählter Führer der belgischen Freimaurerei. Ein Konvent der drei Logen im Jahre 1787, der in der freimaurerischen Literatur gewissermaßen als ein "Sieg über Ansichten des Wiener Kabinetts", als ein ,Großes maurerisches Fest von vierhundertzwanzig Gedecken" (vergl. "Allgemeines Handbuch der Freimaurerei" 3. Auflage, Band I) erscheint, war in Wahrheit eine recht dürftige, lederne Angelegenheit. In der Provinz fristeten einige Logen im Verborgenen auch weiterhin ein bescheidenes Dasein.
Franzosenzeit
In den stürmischen Tagen, die dann von 1789 an folgten, blieb eigentlich nur die Loge "Les Vrais Amis de l'Union" und auch diese mit einer Arbeitspause von 1794-1796 über Wasser. Die durch die Revolution von 1789 errungene kurze Unabhängigkeit ging 1790 wieder verloren. Die Österreichischen Besitzverhältnisse wurden wiederhergestellt. 1792, nach der Schlacht von Jemappes, kamen die Franzosen auf kurze Zeit ins Land, mußten dann wieder weichen, um 1794 dann Belgien auf lange Zeit zu okkupieren. In solchen Zeiten ware auch ohne das Vorhergegangene an ein gedeihliches Arbeiten nur schwer zu denken gewesen. 1790, in den Tagen der Generalstände, spielte durch kurze Zeit der konservative Politiker Van der Noot (s. d.), der Kämpfer für die Befreiung Belgiens und gegen die Reformpläne Josephs II., eine Rolle als Protektor der Loge "Les Vrais Amis de l'Union". Im Verlaufe der französischen Besetzung, die zahlreiche französische Freimaurer nach Belgien brachte, streckte der Grand Orient de France seine Fühler aus; die Folge war in einer Reihe von Orten ein Wiedererwachen der Aktivität. Neben den "Vrais Amis" entstand 1797 eine neue Brüsseler Loge, die "Amis Philantropes". Die Logen in Namur Tournai, Lüttich, Ostende nahmen ihre Tätigkeit wieder auf, weitere Logen wurden vom Großorient ins Leben gerufen.
Königreich der Niederlande
Nach dem Sturz Napoleons (1814), als das Land durch den ersten Pariser Frieden mit den nördlichen Niederlanden (Holland) zum Königreich der Niederlande verbunden wurde, gab es insgesamt 24 Logen. 1815 zog König Wilhelm I. in Brüssel ein. Er gab bei diesem Anlaß auf Grund eines im Justizministerium vorgelegten Berichtes des Staatssekretärs Baron Falck (später Zugeordneten Großmeisters des Großorients der Niederlande) dem Wunsch Ausdruck, alle Freimaurer seines Landes in einer Großloge vereinigt zu sehen, deren Protektorat er zu übernehmen gedachte.
Es kam aber nicht dazu. Bemühungen zur Gründung einer Großloge, bezw. eines eigenen Großorients schlugen zunachst fehl. Dagegen rief 1817 Baron .Jean Pascal Ronver, Mitglied des Suprême Conseil von Frankreich in Brüssel einen Obersten Rat der Niederlande des A. u. A. Schottischen Ritus ins Leben. Jetzt erst erhielten die belgischen Freimaurer durch den Prinzen Friedrich der Niederlande, den National-Großmeister der Großloge der nördlichen Provinzen (Holland), Kunde von dem Wunsch des Königs. Der Vorschlag des Großmeisters ging dahin, eine gemeinschaftliche Oberbehörde (Großosten) mit zwei im übrigen voneinander unabhängigen Verwaltungs Großlogen zu schaffen. Am 11. April 1818 trat die "Grande Loge d'Administration des Provinces Méridionales" in den Raumen der Loge "L Espérance" in feierlicher Weise zusammen.
1830 änderte sich die politische Konstellation abermals; die Revolution brachte den Belgiern die Unabhängigkeit. Prinz Leopold von Sachsen-Koburg (s. d.) wurde als Leopold I. König der Belgier.
Großorient von Belgien
Am 23. Februar 1833 trat der Grand Orient de Belgique (Großorient von Belgien) ins Leben. Man ließ zunächst das Amt des National Großmeisters unbesetzt; der erste Leiter der Geschicke der neuen Organisation war der Advokat Defrenne, der erste Großaufseher der alten Verwaltungs-Großloge.
Der König, selbst Freimaurer, übernahm das Protektorat; erster National-Großmeister wurde der Baron de Stassert (s. d.), Präsident des Senats, Gouverneur von Brabant, Direktor der Akademie von Belgien. Der eigentliche Führer aber wurde sein Stellvertreter, Pierre-Théodore Verhaegen, der große Liberale.
Zwei Jahre später bereits setzten heftige Kämpfe gegen die Freimaurerei seitens der Klerikalen ein, die seither niemals ganz zum Stillstand gekommen sind.
1837 sprach der Erzbischof von Mecheln den Bannfluch über alle belgischen Freimaurer aus, trotzdem in deren Reihen auch damals sehr viele gläubige Katholiken standen.
1839 verschärfte sich die maßlose Hetze. Die Namen der Brüder wurden in die Öffentlichkeit geschleppt, und wer immer als Freimaurer bekannt wurde, dem drohte in vielen Gegenden schwere geschäftliche Einbuße, gesellschaftliche Ächtung schlimmster Art. Der Senatspräsident, der Gouverneur von Brüssel und viele andere Staatsfunktionäre verloren ihre Ämter. Eine Zeit lang stand man dem Ansturm fast machtlos gegenüber.
Aber dann gewann der Widerstand an Kraft. Unermüdlich und furchtlos setzten sich in Kammer und Senat die freimaurerischen Parlamentarier gegen die das Privatleben der Brr. aufs ärgste gefährdenden Verfolgungen zur Wehr. Mit Feuereifer wurde für die bedrohten Ideale gestritten, immer wieder von der Parlamentstribüne herunter von den liberalen Führern Verbaegen (s. d.) Van Schoor (beide wurden National-Großmeister) und Tuisseaux u. a. der freimaurerische Standpunkt verteidigt.
Für den freien Gedanken wurde, namentlich seit 1848 Großes geleistet. In der Öffentlichkeit erhielt dieser eine Pflanzstätte in der Brüsseler Freien Universität, der Université Libre, deren Gründer Verhaegen und Van Schoor waren. Als die Fünfzigjahrfeier der auf Gewissensfreiheit aufgebauten Hochschule stattfand, überreichten 300 Studenten dem damaligen Großmeister des Großorients, dem Grafen Goblet d'Alviella, Professor an der Universität, in Erinnerung an die Verdienste seines Vorgängers Verhaegen einen silbernen Hammer.
Der freiheitliche Geist fand seinen Ausdruck naturgemäß auch im Logenleben selbst. Verhaegen war es, der, 1854 Großmeister geworden die Auffassung verfocht, dass die belgischen Logen die Pflicht hätten, aktiv im liberalen Sinn am politischen Geschehen Anteil zu nehmen - er bewirkte die Streichung der Bestimmung der Satzungen, die die Erörterung politischer und religiöser Fragen in den Bauhütten untersagte.
Eine 1856 von der Loge "L'Espérance" in Brüssel herausgegebene Schrift "Etudes sur l'Etat social en Belgique" begründet den Schritt mit dem Willen, den Gedanken der Gewissensfreiheit zu betätigen, allen Freimaurern begreiflich zu machen, dass der Zeitpunkt gekommen sei, aus dem kontemplativen ins wirkliche Leben hinauszuschreiten. Die von anderer Seite, namentlich von Pierre Tempels leidenschaftlich bekämpfte Änderung der Grundsätze trug eine Zeit lang arge Verwirrung in die belgische Freimaurerei. Bis nach mehreren Jahren die Verfechter der unpolitischen Richtung wieder den Sieg davontrugen.
Der alte Zustand wurde wiederhergestellt; doch ist dies nicht in dem Sinn aufzufassen, daß sachliche Besprechungen religiöser, philosophischer, sozialer oder politischer Fragen nun einfach ausgeschlossen waren. Jede Lehre darf im Schoße der Loge der Erläuterung und freien Kritik unterworfen werden, aber es ist grundsätzlich untersagt, Abstimmungen über solche Probleme vorzunehmen, Mehrheiten, bezw. Minderheiten zu schaffen. Der Großorient als solcher enthält sich jeder politischen Aktion. Er überlässt es dem freien Willen seiner Mitglieder, sich im profanen Leben politisch zu betätigen ohne ihnen irgendwelche Wahlvorschriften zu machen.
"Als Maurerpflicht wird es betrachtet überall und immer für die Freiheit des Gedankens einzutreten, sie mit allen gesetzlichen Mitteln herbeizuführen und ausbauen zu helfen wo sie noch nicht besteht, und sie zu verteidigen wo sie bedroht ist. Jeder Br. bestimmt sich selbst die Art wie er dieser Plicht genügen will; die Loge hat ihm keinen bestimmten Weg zu weisen." (Deputierter Großmeister Alexis Sluys auf dem Internationalen Freimaurerkongress 1910).
Diese Auffassung einer in ihrem Wirken unpolitischen Freimaurerei, die keinerlei politische Geltung anstrebt, wurde natürlich namentlich von Großmeistern getragen, die selbst Nichtpolitiker waren, bezw. sind (u. a. Houzeau de Lehaie, Bergé, Hasse, nach dem Weltkrieg Leveque und Engel, aber auch Politiker, wie der Senatspräsident Magnette, stützten sie aus innerster Überzeugung). Auch ohne Verquickung mit Politik ist fruchtbare Außenarbeit durchaus möglich. Daß zeigt sich in Belgien vor allem darin, daß die Freimaurerei sich in einem Zeitraum von 75 Jahren stets als Trägerin von Wissen und Volksaufklärung erwiesen hat. Zu den liberalen Leaders, von denen neben den bereits genannten u. a. auch noch die Großmeister, bezw. Deputierten Großmeister De Facq z, Van Bumbeeek (s. d), der große Unterrichtsminister Auguste Couvreur (s. d.), Fernand Cock genannt seien, traten nach der belgischen Verfassungsrevision von 1893, die das allgemeine Wahlrecht brachte, auch prominente Sozialisten die sich früher zurückgehalten hatten, so Van de Velde, Camille Huysmans, La Fontaine (s. diese alle), Furnémont.
In weltanschaulicher Hinsicht ging der Großorient von Belgien ähnliche Wege wie der Großorient von Frankreich, namentlich hinsichtlich des Symbols des A. B. A. W. und der Bibel, die ebenfalls hier aus dem Gesichtswinkel der reinen Gewissensfreiheit abgeschafft wurden. Nachdem nach der Gründung des Großorients alle Dokumente die Überschrift "A la Gloire du Gr.-. Arch.-. de l'Univers et sous la protection spéciale de Sa Majesté Leopold, Roi des Belges" aufgewiesen hatten, verschwand diese ohne formellen Beschluß in der Periode 1854-1856.
Gelegentlich der Satzungsrevision 1871 erfolgte die offizielle Beseitigung der Formel. Neuestens geht allerdings von der Lütticher Loge, die mit dem eigenen Beispiel vorausgegangen ist, eine Bewegung aus, die bezüglich des Symbols des A. B. A. W. eine Rückkehr zu den Grundsätzen der Weltfreimaurerei propagiert.
Besonders starkes Gewicht wird in der belgischen Freimaurerei auf die Vertiefung der Ritualistik und Symbolik gelegt. Zwei Führer insbesondere haben sich ritualschöpferisch durch Vertiefung des sittlichen, mystischen und philosophischen Gehalts der Gradlehre besonders hervorgetan, Pierre Tempels und namentlich für die Hochgrade des A. u. A. Schottischen Ritus — Graf Goblet d'Alviella (s. d.).
In den Tagen, da manche belgische Logen als solche Zentren des politischen Liberalismus waren, waren andere, die streng auf dem Boden der alten Landmarken (s. d.) standen und politische und religiöse Fragen von ihren Tempeln fernhalten wollten, zum Suprême Conseil von Belgien übergetreten. Sie kehrten dann im Laufe der Zeit zurück, und 1880 wurde ein Konkordat zwischen Großorient und Oberstem Rat abgeschlossen, daß auch heute in Kraft ist. Diesem Freundschaftsvertrag zufolge unterstehen alle blauen Logen in Belgien, mit wenigen Ausnahmen denen das Recht eingeräumt wurde, auch weiterhin unter dem Obersten Rat zu arbeiten, der Obedienz des Grand Orient.
Die regen geistigen Interessen der belgischen Freimaurer finden auch darin ihren Ausdruck, das dem Großorient der einzige bedeutende Literaturpreis zur Verfügung steht den die Freimaurerei zu vergeben hat, der Prix Peeters Baertsoen, der alle zehn Jahre den bedeutendsten Werken auf dem Gebiete der freimaurerischen Literatur verliehen wird. Forscher der verschiedensten Länder sind unter seinen Trägern, wie denn überhaupt die Beschäftigung mit dem Wirken der ausländischen Maurerei die Betätigung des freimaurerischen Universalismus stets im Vordergrund stand.
Aus Belgien kam die Anregung zu internationalen Kongressen, die der Förderung des Friedensgedankens dienen sollten. 1894 fand ein solcher in Antwerpen statt; 1904 und 1910 folgten Tagungen in Brüssel. Der Weltkrieg änderte naturgemäß vieles; es dauerte geraume Zeit,bis so manche Erscheinung, die er im Gefolge gehabt hatte (s. auch Maguette), überwunden war, bis die Gefühle wieder ins normale Geleise gebracht waren. Dann aber bekundeten die belgischen Freimaurer, deren Großmeister Magnette und Engel (s. d.) seit der Gründung der A. M. I. besonders intensiv an deren Arbeit mitwirkten, ehrlichsten pazifischen Willen. Das kam u. a. auf dem Brüsseler Konvent der A. M. I. 1924 in einem ganz auf die Friedensmission abgestimmten feierlichen Ritual, noch mehr 1930 beim gleichen Anlaß in einer großen Friedensmanifestation zum Ausdruck. 1930 zählte der Großorient von Belgien in 25 Logen 4500 Mitglieder.
Adresse [1932]: Rian. Ned grot, 6, rue du Persil, Brüssel.
Mitgliederstatistik
Quelle: Christian Laport, "La Belgique, terre maçonnique depuis trois siècles", in: La Libre Belgique, samedi 10 et dimance 11 février 2018, p. 12f.
Links
- http://www.glrb.net Reguläre Großloge von Belgien (Grande Loge Reguliere de Belgique / Reguliere Grootloge van Belgie. Unter ihrem Dach versammeln sich 54 belgische Logen.