Sittengesetz
Sittengesetz
Quelle: Lennhoff, Posner, Binder von 1932
Die erste "Alte Pflicht" des Andersonschen Konstitutionsbuches von 1723, "Gott und Religion betreffend", beginnt mit der Forderung: "Ein Maurer ist durch seinen Beruf verbunden, dem Sittengesetz zu gehorchen..." Sittengesetz ist im allgemeinen jede sittliche Norm. Kant hat als höchste Norm der Sittlichkeit (s. d.) den Kategorischen Imperativ formuliert. In seiner Auffassung ist die Quelle der Sittlichkeit, im Gegensatz zur Offenbarung des Sittengesetzes in der Religion, die "praktische Vernunft", die dem Menschen ein "allgemeines Gesetz, welches wir das Sittengesetz nennen", gibt. Dieses ist aprioristisch, muß notwendig für alle gelten. Aus dem Sittengesetz selbst kann man die einzelnen sittlichen Werte nicht ableiten, und "wenn auch der einzelne schon einen Komplex solcher vom Gesamtgeist überliefert erhält, so dient doch die Formel des Kategorischen Imperativs als ein Kriterium dafür ob ein Verhalten dem Sittengesetz entspricht oder nicht".
Das Sittengesetz "betrifft nicht die Materie der Handlung, sondern die Form, das Prinzip". Das Sittengesetz ist autonom, Voraussetzung seiner Geltung ist die sittliche Freiheit (s. Freiheit). Der Endzweck des Sittengesetzes ist die Überwindung der Naturordnung und ihre Überführung in eine sittliche Weltordnung (s. d.). Es ist durch einen "Soll"-Charakter ausgezeichnet und will zum Handeln im Sinne des Gemeinschaftswillens veranlassen, es "geht von reinem Menschheitswillen aus". Es ist aber nur ein Ideal. "Wenn die Vernunft den Willen gänzlich bestimmte, würde die Handlung unausweichlich nach dieser Regel geschehen." "Das Gute besteht nicht im Erfolg, sondern in der Gesinnung." Kant gibt mehrere Formulierungen des Sittengesetzes. Am wichtigsten: "Handle so, daß die Maxime deines Willens zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte." Der Endzweck der Sittlichkeit ist "das Weltbeste".
Im Gegensatz zu Kants in der Hauptsache rationalistischen Motivierungen wird heute mehr das "Sollen" als antreibende Kraft hervorgehoben, da die Vernunft an sich das Handeln nur in geringem Maße beeinflussen kann. Es wird auch von der neueren Philosophie bemängelt, daß das Sittengesetz rein formal ist und durch "Wertgemäßheit" (Wertsetzungen) ergänzt werden müßte (Külpe).
In welchem Sinn in den "Alten Pflichten" der Begriff Sittengesetz ursprünglich gemeint war, ist heute schwer zu erkennen, wahrscheinlich im Sinne der zehn Gebote, wobei aber der Glaube an die göttliche Offenbarung derselben nicht ausgesprochen wurde. Die freimaurerische Ideologie fand aber schon in dieser ihrer ersten Formulierung dadurch ihren Ausdruck, daß das sittliche Problem in den Vordergrund gerückt ist und erst in zweiter Linie das religiöse Moment aufscheint.
Die spätere Gestaltung des Begriffes des Sittengesetz durch Kant beeinflußte das freimaurerische Denken sehr stark und beeinflußt es noch heute. "In Kants Autonomie des Sittengesetzes sehen wir den Grundgedanken aller Grundgedanken der Freimaurerei" (Otto Heinichen). "Man kann sagen, daß im Maurerbunde der Kategorische Imperativ Kants dem Ganzen den Stempel aufdrückt" (Schenkel).
Sittlichkeit bildet in diesem Sinne eine im Diesseits zu lösende Aufgabe und ist gleichsam ein adogmatisches Dogma der Freimaurerei, indem der Glaube an das Sittengesetz die Voraussetzung der Aufnahme ist. Das Sittengesetz anzuerkennen heißt im freimaurerischen Sinn: bereit sein, der Stimme seines Gewissens zu folgen, Pflichtbesußtsein haben, guten Willens sein, etwa im Sinne Rickerts: "Sittlich ist, der will und tut, wovon er glaubt, tun zu sollen." Die Maurerei setzt das Gewissen "als ein letztes, nicht weiter Erklärbares" voraus (Heinichen).