Traktat: Das Senkblei als Metapher

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Das Senkblei als Metapher

Von Jens Rusch

Menschliche Grundanforderungen auf ein Symbol zu reduzieren gehört zu den Arbeitsmechanismen freimaurerischer Selbsterziehungsarbeit. Man konstruierte eine Ikonographie, die es ermöglicht, diese Symbole und Metaphern in ein Geflecht von Relationen zu setzen. Daraus ergeben sich Beziehungen zu unserem Wesen, zu Verhaltensweisen und sogar zu humanistischen Grundsätzen.

Greifen wir einfach einmal einige Symbole vielfach veröffentlichter Arbeitstafeln heraus .

In Bezug auf die humanistischen Anforderungen sind bereits beziehungsreiche Analoge im sprachlichen Kontext verborgen. Wenn der rechte Winkel uns auf die Forderung nach winkelgerechter Gradlinigkeit verweist, dann birgt allein dieses eine Wort „Gradlinigkeit„ ja bereits eine Fülle doppeldeutiger Assoziationsmöglichkeiten an:

Etymologie

Ein wenig Schulmeisterei?: Im etymologischen Sinne bedeutet „gradieren“ auch „Verstärken, steigern, bessern“. Metallverarbeitende Berufe verwenden das Wort in ähnlichem Sinne. Der lateinische Stamm „Gradus“ verweist auf „Schritt, Stufe“, und eben auch „Grad“. Eine durchaus treffende Metapher also für ein freimaurerisches Selbsterziehungssystem. (Etymologie ist die Lehre vom Ursprung der Wörter) Sehen wir also in einem etymologischen Lexikon nach, um dem Wort „Gradlinigkeit“ noch eine andere Dimension abzuringen, nähern wir uns dem Ursprung noch mehr. Es müsste nämlich eigentlich „Geradelinigkeit“ heißen, hätte sich das Wort im allgemeinen Sprachgebrauch nicht modifiziert und abgeschliffen, wie so viele andere interessante deutsche Wörter auch.

Auf einer geraden Linie sein Leben auszurichten bedingt, dass man seine Ziele genauso fest im Auge hat, wie den Willen, sich von diesem Weg nicht abbringen zu lassen. Eine starke Herausforderung für einen freien Mann von gutem Ruf.

Ich habe dieses Beispiel angeführt, um nur eine der Möglichkeiten aufzuzeigen, wie man sich der Bedeutung unserer Symbole über Wortdeutungen nähern kann. Rudolf Steiner, der ja eine Weile lang auch der Freimaurerei nahestand, liebte es, Worte auf den oft ausdrucksstärkeren Wortstamm zurückzuführen. So sagte er beispielsweise niemals „Entwicklung“, sondern immer „Entwickelung“. Das war sprachlich korrekter und wesentlich sinnreicher.

Arno Schmidt trieb diese Arbeitsweise der Wortmetze auf die Spitze, indem er völlig neue Inhalte in extrem komprimierter Form „ent-wickelte“

Das Wort „Be-Deutung“ sagt uns also auch, dass es sich um eine Zusatzauslegung handelt, denn wir dürfen nicht vergessen, dass freimaurerische Arbeitstafeln im Ursprung aus dem englischsprachigen Sprachraum stammen und von der Anlage her kosmopolitisch auslegbar sein sollten. (Was sie im Prinzip auch sind)

Das führt zwangsläufig aber dazu, dass in den unterschiedlichen kulturellen Umfeldern dieses Planeten, - und Freimaurerei darf man mit Fug und Recht als „global“ bezeichnen – eine sprachliche, also etymologische Annäherung an unsere Ikonographie durchaus zu Fehlschlüssen oder doch zumindest zu abweichenden Interpretationen führen kann.

Das Foucaultsche Pendel

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Versuchen wir es also auf eine andere Weise. Ich halte diese Möglichkeit der Annäherung für folgerichtiger und eigentlich auch intensiver, zumal sie durchaus erprobt ist. Allerdings nicht von uns, sondern von den Templern und von den Rosenkreuzern. Dass einige freimaurerische "Denkarten" diese beiden Vereinigungen in den Kontext unserer Ursprünge integrieren oder besser gesagt „vereinnahmen“ ist ein Sonderthema, das ich an anderer Stelle ausführlicher behandeln werde.

Einer der markantesten Sätze in Umberto Ecos wichtigstem Buch „Das Foucaultsche Pendel" ist dieser: Es ist nicht wahr, aber ich glaube daran.

Das mag irrational klingen, weist aber unmissverständlich auf ein Grundbedürfnis hin: auf das Bedürfnis, glauben zu wollen und glauben zu dürfen.

Stellen Sie sich jetzt bitte ein Senkblei an einem langen Faden von der Decke herabhängend vor. Gern sogar über einer freimaurerischen Arbeitstafel pendelnd.

Auch diese Metapher wird gemeinhin mit einer Fülle von Wort-Assoziationen in unserem Deutungsspiel definiert: Lotrecht, senkrecht, aufrecht oder eben mit einem in die Tiefe spürenden Ausloten.

Die Lektüre des besagten Buches von Umberto Ecco hat mich aber auch noch auf einen weiteren Gedanken gebracht.

Das Foucaultsche Pendel in einem Pariser Technik- und Kunst-Museum hängt an einem 68 Meter langen Seil. Stellen Sie sich also bitte unser kleines Senkblei hier in unserem imaginären Tempel an einer sehr viel längeren Aufhängung vor. Einer Aufhängung, die weit aus diesem Raum hinausreicht.

Und wenn Sie sich mit diesem Gedanken schon einmal vertraut gemacht haben, dann denken Sie ihn bitte noch ein wenig weiter fort – oder besser gesagt: denken Sie ihn viel, viel weiter fort !

Stellen Sie sich weiterhin vor, dass sich über einer Arbeitstafel ein Sternenhimmel befindet, der offene Himmel, der sich offenbart, wenn wir unsere bescheidene Entsprechung des vorgestellten salomonischen Tempels verlassen haben. Stellen Sie sich also bitte vor, der Punkt, an dem die Schnur unseres Lotes verknüpft wurde, befände sich irgendwo in den Tiefen des Universums.

Wenn Sie sich mit dieser Vorstellung angefreundet haben, können Sie vielleicht den Worten Belbos über das Panta rhei, das ewigfließende Konzept folgen :

„ Alles fließt, nur dort scheint ein fest verankerter Punkt zu sein.
Für einen, der nicht glaubt,
scheint das eine Möglichkeit zu sein,
zu Gott zurückzukehren
ohne sein eigenes Nichtglauben in Frage zu stellen.“

Dieses Pendel befindet sich in ähnlicher Form auch an einigen weiteren Punkten der Erde. Es wurde installiert, um die rotierenden Schwingungsbewegungen der Erde zu demonstrieren, denn obwohl sich das Pendel in einem vor Luftströmungen und anderen Störungsmöglichkeiten geschützten Raum befindet, zeichnet es unablässig sanft versetzte große ovale Kreise in den Sand.

Natürlich wissen wir längst von den Rotationen unseres Planeten, - um diesen wissenschaftlichen Aspekt geht es auch nur am Rande. Umberto Ecco lässt in abschweifenden Gedankenzügen die Vorstellung wach werden, dass die Suche nach einem kosmischen Prinzip zu solchen technischen Experimenten geführt hat.

Der Freimaurer Newton war Gnostiker und Alchimist, glaubte an Wahrsagerei und :Mesmerismus, an Hellseher und allerlei Vodoo-Zauber und fand trotzdem den :Schlüsselgedanken zur Erklärung der Gravitationstheorie.

So führen Belbos Gedanken auch weit über das wissenschaftliche Experiment hinaus, eben so, wie wir uns in diesem Moment vorzustellen versuchen, dass der Faden für dieses Senkblei unendlich aus diesem Raum hinausführt, eine ideelle Verlängerung „endlos hinauf bis zu den fernsten Galaxien. Dort oben stand, reglos in alle Ewigkeit der feste Punkt. Die Erde rotierte, doch der Ort, wo das Pendel verankert war, war der einzige Fixpunkt im Universum !

Fast ironisch thematisiert Ecco in diesem Buch das Adaptionsverhalten der zeitgenössischen Freimaurerei-Geschichtsschreibung, die Anleihen in der Geschichte der Rosenkreuzer, der Templer, der Katharer, der Bogomilen, Waldenser und vieler anderer Seitenströmungen und kommt trotzdem immer wieder auf sehr logische, für ihn manchmal erschreckend logische Verknüpfungspunkte zurück.

So kommt ihm die Vorstellung nicht sonderlich absurd vor, die Templer könnten ein solches Pendel in den Trümmern des salomonischen Tempels vorgefunden haben. Deshalb entwickeln sich seine Gedanken beim Anblick dieses Pendels in dieser Form:

„ Das Pendel sagte mir, dass – während alles bewegt war,
die Erde, das Sonnensystem, die Sternennebel, die schwarzen Löcher
und alle Kinder der großen kosmischen Entwicklung,
von den ersten Äonen bis zur zähflüssigen Materie,
dass dort oben ein einziger Punkt in Ruhe verharrte,
als Zapfen, Bolzen, ideeller Aufhänger,
um den sich das ganze Weltall drehte .......
Und ich hatte Teil an dieser höchsten Erfahrung , ich, der sich mit allem und :mit dem All bewegte,
aber Ihn sehen konnte,
Ihn, den Nicht-Bewegten,
den Felsen, die Garantie,
den leuchtenden Dunst, der kein Körper ist,
keine Form, Gestalt, Schwere, Quantität oder Qualität hat,
der nicht sieht, nicht hört, nicht gefühlt werden kann,
sich an keinem Ort befindet,
in keiner Zeit und keinem Raum,
der nicht Seele ist, nicht Intelligenz, Meinung, Zahl, Ordnung, Maß, Substanz :oder Ewigkeit, der weder Dunkel noch Licht ist,
der nicht Irrtum ist und nicht Wahrheit ....“

Nichtglauben?

Wie gesagt: Für einen, der nicht glaubt, scheint das eine Möglichkeit zu sein zu seinem Gott zurückzukehren, ohne sein eigenes Nichtglauben in Frage zu stellen.

Das sind sehr weit führende Gedanken, und der Anlaß für diese kleine Gedankenreise ist sehr simpel und sehr klein – ein einfaches, kleines Senkblei.

Wir haben dieses Symbol ständig vor unseren Augen aber es gelingt uns sicherlich selten, uns die mögliche Deutbarkeit unserer Symbole in dieser oder ähnlicher Form vor Augen zu halten.

Deshalb, genau aus diesem Grund, habe ich mir erlaubt, heute ausnahmsweise ein einziges dieser Symbole aus einer Arbeistafel räumlich herauszuheben.

Ich empfehle Ihnen, sich hin und wieder eines der freimaurerischen Symbole gedanklich herauszunehmen und mit ihm eine ganz intime Gedankenreise zu unternehmen.

Vieleicht nähern wir uns der Absicht der Freimaurer, die einst diese Arbeitstafeln entwarfen.

Im Lehrlingsritual nach AASR über den Aufbau des Tempels heisst es: "Die Loge ... ist von Osten zum Westen gerichtet. Das HALBRUNDE HIMMELSGEWÖLBE ist mit Sternen geschmückt. Im ZENTRUM des Himmelsgewölbes HÄNGT EIN SENKBLEI, welches sowohl das Zentrum der Loge als auch die Erdachse darstellt, die den Zenit mit dem Nadir vereinigt. Zwölf Säulen tragen das Gewölbe der Loge. etc." - In der Praxis der Tempelarbeit hat das aus dem Himmelsgewölbe hängende Pendel noch einen Effekt: es hängt direkt über dem Zentrum der Arbeitstafel...

Welch wunderbare Metapher.

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