Rezension: Freimaurerei und Nationalismus

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Zeitenwende: Freimaurerei und Nationalismus

Jahrbuch für Freimaurerforschung Nr. 59/2022
der Freimaurerischen Forschungsgesellschaft Quatuor Coronati e.V. Bayreuth

Mit „Zeitenwende“ sind in diesem Jahrbuch die Jahrzehnte um 1900 gemeint: die Zeit davor und danach bis zum Zweiten Weltkrieg. In dieser Ära begann sich in der Gesellschaft ein neuer deutscher Nationalismus zu entwickeln. Dieser festigte sich im Ersten Weltkrieg und gipfelte schließlich im Nationalsozialismus. Die Entwicklung machte auch vor der deutschen Freimaurerei nicht halt. Und so gingen viele Logen im Gleichschritt mit erheblichen Teilen des Bürgertums den Weg Richtung autoritärem und schließlich totalitärem Nationalismus. Damit beschäftigt sich dieses Buch, das von Rudi Rabe mit Interesse gelesen wurde.

Das Buch enthält zehn Kapitel von zehn verschiedenen Autoren. Die ersten vier leiten zum Thema hin. Es folgen die drei Hauptkapitel, von denen ich hier vor allem auf das von Hans-Hermann Höhmann und das von Manuel Pauli eingehen will. Die letzten drei sind dann ergänzende Beiträge, die mit dem Thema eigentlich nichts mehr zu tun haben, die zu lesen es sich aber je nach persönlicher Interessenlage dennoch lohnt (was mich betrtift vor allem die zehn Seiten über „Metaphern im freimaurerischen Kontext“ von Alexander Trettin).

Das Foto auf dem Buchcover zeigt das ehemalige Haus der Großen Landesloge der Freimaurer von Deutschland in der Eisenacher Straße zu Berlin. 1935 haben es die Nazis enteignet, es folgten Plünderungen und im Krieg dann Bombentreffer, wodurch es schließlich schwer beschädigt wurde.
Foto auf der Rückseite: Zwei Jahrzehnte nach dem Krieg wurde das devastierte Großlogenhaus schließlich gesprengt und das Grundstück enttrümmert. Vor 1935 waren in dem Gebäude acht Tempelräume, zwei große Festsäle, das Archiv und alles, was damals sonst noch zu einer so bedeutenden Großloge dazugehörte. Im Jahr 1900 war das neoklassizistische Gebäude eingeweiht worden, gesprengt wurde es 1965. In diesem zeitlichen Spektrum bewegen sich die meisten Beiträge des Jahrbuchs.

Michael Wehrhan: Hinleitung zum Thema

In seinem Vorwort bringt der verantwortliche Redakteur des Buchs das Thema sehr gekonnt auf den Punkt. Einige Zitate: „Der aufkeimende Nationalismus um die Jahrhundertwende machte auch vor den Freimaurern nicht halt und zwang die Logen zum Gang durch ein Bekenntnis-Nadelöhr. Weltbruderkette oder nationalistischer Staatsdünkel? Internationale Solidarität im Sinne der Humanität oder staatstreu national? Auch im Hinblick auf den Selbsterhalt? Nicht so selten gingen Logen, besonders wenn man einen detaillierten Blick auf die ‚altpreußischen Logen‘ wirft, einen Weg, der heute als ‚Völkische Freimaurerei‘ bezeichnet werden kann. Sie steht dem Bild und den Werten der Freimaurerei, die die Brüder heute im Herzen tragen, diametral gegenüber. … Auch diese Facette der Freimaurerei ist Teil der reichen Geschichte unserer Bruderschaft, und eine kritische Auseinandersetzung mit ihr ist überfällig und unbedingt notwendig.“

Hans-Hermann Höhmann: Die völkische Freimaurerei vor und nach 1933 und die Defizite der Erinnerung daran

Mit diesem Thema (und nicht nur mit diesem) beschäftigt sich HHH (wie er von manchen Brüdern genannt wird) seit Jahren in Vorträgen und in Büchern: siehe auch die Links zu den Rezensionen seiner Werke auf der Wiki-Seite Hans-Hermann Höhmann. So wie in diesen fasst er auch in dem 18 Seiten langen Aufsatz seine Recherchen und die daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen zusammen, die gleich am Anfang in dem fairen und zugleich fordernden Satz gipfeln: „Wir Heutigen haben als Bürger und Freimaurer nicht die Vergangenheit der 1920er und 1930er Jahre zu verantworten. Wohl aber sind wir verantwortlich für das, was wir aus dieser Vergangenheit in der Gesellschaft von heute und auch im Freimaurerbund weiterwirken bzw. wieder aufleben lassen, und wir haben die Art und Weise zu verantworten, wie wir mit Vergangenheit erinnernd und handelnd umgehen. Hier gab es und hier gibt es immer noch Defizite.“

Höhmann geht dann in seinem Beitrag auf die damalige unheilvolle Entwicklung in vielen deutschen Logen sehr strukturiert ein. Und er macht dafür folgende vier Gründe dingfest: Erstens nach 1918 der weiter anwachsende Nationalismus und die Vorstellung von der deutschen Überlegenheit trotz des verlorenen Weltkriegs; zweitens die ebenso wachsende Judenfeindlichkeit; drittens die Ausbreitung einer ariosophen Religiosität; und schließlich viertens das in den 30er Jahren immer mehr um sich greifende Bekenntnis zum Nationalsozialismus.

Innerhalb der deutschen Freimaurerei haben sich dieser Entwicklung nur der Freimaurerbund zur aufgehenden Sonne/FZAS sowie die Symbolische Großloge von Deutschland entzogen, kleine masonische Minderheiten, die von der vorherrschenden Mehrheitsfreimaurerei nicht anerkannt wurden. Alle anderen sind mehr oder weniger mitgegangen: mehr vor allem die Altpreußischen Großlogen und in unterschiedlichem Ausmaß etwas weniger die Anderen.

Ganz im Sinn unserer heutigen „Verantwortlichkeit“ (siehe oben) ist es Hans-Hermann Höhmann dann ein besonderes Anliegen, sich mit den „masonischen Erinnerungsdefiziten“ kritisch auseinander zu setzen, auch wenn diese inzwischen im Vergleich zu den ersten Nachkriegsjahrzehnten, als die freimaurerischen Entgleisungen entweder verschwiegen, geleugnet oder als Tarnung dargestellt wurden, abgenommen haben.

Interessant: Was die sogenannte Aufarbeitung der Nazizeit betrifft, nimmt Höhmann einen Unterschied wahr zwischen der Großen Landesloge der Freimaurer von Deutschland („Freimaurerorden“) und der Großen National-Mutterloge „Zu den drei Weltkugeln“ („3WK“). Während bei ersterer eine „die Fakten verleugnende und Verdrängung praktizierende Entlastungsmethode“ zu beobachten ist oder war, lobt er bei der 3WK ausdrücklich „das zwar späte, dann aber erfreulich deutliche und mutige Heraustreten … aus dem Kreis der Vergangenheitsleugner.“ Dabei bezieht er sich vor allem auf eine 3WK-Standortbestimmung aus dem Jahr 2002.

Manuel Pauli: Die Freimaurerei um 1900 - eine Epochenschwelle

Dieser Aufsatz stützt sich auf die gut recherchierte Dissertation des Autors aus dem Jahr 2021: „Die deutsche Freimaurerei in der langen Jahrhundertwende: (1860 – 1935)“; sie ist im Buchhandel erhältlich.

Manuel Pauli schreibt: „Schon in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts hatte ein radikaler Nationalismus Einzug in die Freimaurerei gehalten, und zwar eben nicht nur in einzelnen Logen oder bei vereinzelten Brüdern, sondern in die grundlegenden Reflexionskategorien der freimaurerischen Selbstverständnisdebatten. … Der Kriegsausbruch 1914 erschloss diesem radikalen Nationalismus dann noch die letzten Resonanzräume in der Bruderschaft … und keineswegs nur in altpreußischen Blättern, sondern etwa auch in der freimaurerischen Wochenzeitschrift ‚Die Bauhütte‘, die traditionell eine Herzkammer der humanitären Reformfreimaurerei war. Die kosmopolitischen und pazifistischen Töne verstummten hingegen vollständig.“

Und so ging die Entwicklung nach dem Krieg weiter bis in die Nazizeit. Als erstes löschten jetzt die von der großen Mehrheitsmaurerei ausgegrenzten Brüder die Lichter ihrer Logen. „Ihnen folgten, nach anfänglichen Versuchen der Anpassung, drei der neun althergebrachten Großlogen. Die verbliebenen sechs, allen voran die Altpreußen, bemühten sich länger und intensiver um eine Anerkennung, indem sie konsequenter den Weg der Selbstgleichschaltung beschritten. Nützen sollte es ihnen nichts. Auch sie wurden im Sommer 1935 zur Auflösung gedrängt. Erst nachdem diese - von den Logen selbst - vollzogen war, erklärte der NS-Staat die Freimaurerei zu einer verbotenen Organisation. Dass es anschließend zu einer systematischen Verfolgung der ehemaligen Brüder bis hin zur Ermordung in Konzentrationslagern gekommen sei, gehört jedoch ins Reich der Legenden. Aus Deutschland ist bislang keine einziger Fall bekannt, bei dem ein Freimaurer als Freimaurer der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie zum Opfer fiel. Vom NS-Regime ermordete Freimaurer waren Juden, politische Gegner oder Widerstandskämpfer. Die überwältigende Mehrheit der deutschen Brüder fiel in keine dieser Kategorien.“

Mein Fazit: Wer sich für dieses Thema interessiert, für den ist das Jahrbuch eine empfehlenswerte Lektüre, weil es den heutigen Forschungsstand sehr komprimiert auf den Punkt bringt.

 QUATUOR CORONATI - Jahrbuch für Freimaurerforschung Nr. 59/2022
 Herausgeber: Christoph Meister - Redaktion: Michael Wehrhan
 Gestaltung, Herstellung und Vertrieb: Salier Verlag, Leipzig 

Die Quatuor-Coronati-Jahrbücher erscheinen jährlich und werden kostenlos ausgegeben an die Mitglieder der Forschungsloge Quatuor Coronati Nr. 808 der Vereinigten Großlogen von Deutschland und der mit ihr verbundenen Freimaurerischen Forschungsgesellschaft Quatuor Coronati e.V. Bayreuth. Darüber hinaus sind die Bände seit der Ausgabe 2017 im Shop des Salier-Verlags käuflich erhältlich (siehe unten die Links - dort am besten über die Suchfunktion); ebenso im freien Buchhandel.

Siehe auch

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