Sittlichkeit
Sittlichkeit
Quelle:Lennhoff, Posner, Binder von 1932
Im subjektiven Sinne sittliches Verhälten, im objektiven der Inbegriff des den Sitten (insbesondere den moralischen) Gemäßen. Sittlich ist die Handlung, die mit den sozialen Idealen, dem Gemeinschaftswillen harmoniert. Das Kriterium des Sittlichen ist die Gesinnung, nicht der Erfolg. Die konkreten Sittengebote sind Wandlungen unterworfen, zumal eine absolute Rangordnung der Werte nicht zu setzen ist. "Jede Handlung, die vergeistigt, ist sittlich", sagt Wundt. In diesem Sinne steht Sittlichkeit mit dem Humanitätsideal im Zusammenhang. "Sittlichkeit breitet sich zum Ideal der Humanität, der humanen Kultur aus, welches als höchstes Willensziel die Entfaltung, Steigerung, Entwicklung aller schöpferischen menschlichen Potenzen zu möglichster Harmonie bedeutet" (Eisler). So sagt auch Kant, daß Sittlichkeit die Menschheit als Zweck erfordert, nicht nur als Mittel zu gebrauchen ist". Als Ursprung der Sittlichkeit gilt oft die Vernunft, aber auch das Gefühl (Mitleid usw.).
Als sittlicher Zweck wird die Wohlfahrt (s. Eudämonismuß), das Nützliche (s. Utilitarismus) oder die Vervollkommnung (s. Perfektionismus) aufgestellt. Die Wissenschaft der Sittlichkeit, die Ethik, kann das Problem der Sittlichkeit nicht allgemeingültig lösen, nur die normalen Fragen skizzieren. Der Begriff der Sittlichkeit gehört zu den Grundprinzipien der Freimaurerei, die ihre Anhänger zur Sittlichkeit erziehen will, ohne sich dabei autoritativer Gebote zu bedienen. "Moral sense" ist die Grundlage unserer Konstitutionen (Wolfstieg, "Philosophie der Freimaurerei") .
Die Freimaurerei setzt sich für die Autonomie der Persönlichkeit ein, lehnt jeglichen Dogmatismus ab. Ihrer Ansicht nach ist das Gewissen, das "übersinnliche Wurzeln hat", (Heinichen), Voraussetzung der Sittlichkeit, die im Grunde die sittliche Autonomie, die freiwillige Annahme des Sittengesetzes (s.d.) bedeutet Denn nur das ist fromm und nur das ist gut, was aus eigener ehrlicher Überzeugung kommt" (Schenkel, "Die Freimaurerei im Lichte der Religions- und Kirchengeschichte").
In der Sittlichkeit findet die Freimaurerei das allen Religionen Gemeinsame, die Religion, in der alle Menschen übereinstimmen können, die aber nicht als eine göttliche Offenbarung aufgefaßt wird. Der Unterschied zwischen den Religionen und der Freimaurerei ist der, daß erstere im Glauben die Voraussetzung der Sittlichkeit sehen, die Freimaurerei hingegen der Ansicht ist, daß die Sittlichkeit zur Religion führt. Sie fordert nicht ein seliges Leben im Jenseits, sondern im Sinne des Humanitätsideals ein sittliches Leben im Diesseits.
Sie will den Streit der verschiedenen Richtungen der Ethik bezüglich Ursprung und Inhalt der Sittlichkeit nicht dogmatisch entscheiden. Am ehesten entspricht ihrer Einstellung vielleicht der standpunkt Grassmanns: "Die Vernunft produziert die Normen nicht, bringt sie nur zum Bewußtsein." Für die Freimaurerei ist einzig und allein die Gesinnung, das Gut-sein-Wollen, entscheidend. Sie ist der Meinung, daß das Gewissen uns nur sagen kann, daß wir Pflichten haben, nicht aber, welche Pflichten wir haben. "Sittlichkeit ist weder beweisbar noch richtig" (Freytag). Sie ist an das Gefühl des Sollens gebunden. "Sittlich ist, wer will und tut, wovon er glaubt zu tun sollen" (Rickert).