Traktat: Am freimaurerischen Wesen soll die Welt genesen??
Traktat: Am freimaurerischen Wesen soll die Welt genesen??
Von Walter Plassmann
Durch unsere Gesellschaft geht ein sich vertiefender Spalt zwischen einer Haltung, die Toleranz mit Beliebigkeit verwechselt und dem immer unverhohleneren Ruf nach einer "starken Führung". Die Freimaurerei steht dazwischen: sie lehrt ehrliche Verantwortungsübernahme. Aber kann sie deswegen auch gesellschaftspolitisch relevant sein? - Gedanken im Herbst 2018.
Walter Plassmann ist Mitglied der Loge "Die Brückenbauer“ in Hamburg.
“Nein, sie brauchen keinen Führer“, stellte Udo Lindenberg 1987 auf seinem Album “Horizont” fest, „Nein, sie können’s jetzt auch alleine.“ Lindenberg nahm mit diesem Lied die „neuen Nazi-Schweine“ aufs Korn, die extremen Rechtsradikalen, die sich in jenen Jahren zu formieren begannen. Und in der Tat gibt es bis auf den heutigen Tag keinen von allen anerkannten Sprecher für die deutlich angewachsene Schar der Rechtsradikalen.
Viele Deutsche scheinen sich dagegen nach einer Führerfigur zu sehnen. Eine vor einigen Monaten veröffentlichte Umfrage brachte die erschütternde Nachricht, daß nur jeder zweite Deutsche die Forderung, “Wir sollten einen Führer haben, der in Deutschland zum Wohle aller mit starker Hand regiert”, komplett ablehnte. In Österreich sind es sogar 43 Prozent, also fast jeder Zweite, die einen starken Mann an der Spitze für wünschenswert halten.
Die Sehnsucht vieler Menschen nach dem „guten Führer“ ist uralt und offenbar nicht auszurotten. Da ist zum einen der Reflex, daß die Drecksarbeit gegen die „verhassten Anderen“ bitte jemand anders übernehmen soll; man will sich da selbst nicht die Finger schmutzig machen. Aber weiter verbreitet dürfte ein naiver Wunsch sein: Das Leben ist schon kompliziert genug, da wäre es doch schön, man könnte die Politik und die Staatsverwaltung ruhigen Herzens an eine Art Übervater geben, der mit ruhiger Hand für Gerechtigkeit und Wohlstand sorgt.
Dass eine solche Einstellung weltfremd ist, muß nicht weiter diskutiert werden. Aber die Haltung hinter dieser Einstellung ist es, mit der wir uns beschäftigen sollten – gerade als Freimaurer. Denn sie berührt eine zentrale Aufgabe, der wir uns im Bruderbund stellen.
Die Abneigung, Verantwortung zu übernehmen und damit auf einfache Fragen keine einfachen Antworten mehr geben zu können, ist dem Menschen offenbar tief eingeprägt. Je abstrakter die Verantwortung wird, je mehr sie sich also vom täglich Erfahrbaren entfernt, umso stärker wächst der Widerstand dagegen, Verantwortung auch zu tragen. Verantwortung dafür zu übernehmen, was man einkauft, ist einfach; Verantwortung für seinen unmittelbaren Nachbarn geht vielleicht auch noch; aber Verantwortung für eine abstrakte Idee wie die Demokratie zu tragen, das ist für viele nur schwer vorstellbar.
Im Idealfall wird diese Verantwortung – beispielsweise per Wahl – an Menschen übertragen, die damit nicht so große Probleme haben. Allerdings wird deren Legitimität unmittelbar wieder in Frage gestellt, falls diese sich erdreisten, die in sie gesetzten (individuellen) Erwartungen nicht zu erfüllen.
Die Freimaurerei will das genaue Gegenteil. Sie hat ihre gesellschaftspolitischen Wurzeln in der Aufklärung. Sie vertritt den Standpunkt, daß der Mensch vernunftbegabt ist und sich ausreichend Wissen aneignen kann, um vernünftige, objektiven Maßstäben standhaltende Entscheidungen zu treffen. Und diese soll er dann auch treffen sowie hierzu stehen. Verantwortung übernehmen eben.
Voraussetzung hierfür ist ein starker innerer Kompass. Dieser gibt den Mut, Entscheidungen zu treffen, er gibt die Kraft, sie auch durchzuhalten und durchzusetzen, und er verhindert widersprüchliches Verhalten. „Unbeirrt vom Lärm der Welt geht der Maurer sein Weg“, heißt es im Aufnahmeritual, „ruhig und sicher, furchtlos in Gefahren, hohe Ziele vor Augen“.
In dieser schönsten Passage im Aufnahmeritual ist alles zusammengefaßt, was Verantwortungsübernahme ausmacht: das an „hohen Zielen“ festgemachte Wertegerüst, an dem die Handlungen gemessen werden; die Ruhe und Sicherheit, die dieses Wertegerüst gibt; die Furchtlosigkeit, zu dem einmal für richtig Erkannten auch zu stehen.
Solche Wertegerüste haben allerdings viele. Es gibt sie in der Politik in Form von Ideologien - von der Demokratie bis zur Diktatur; es gibt sie im sozialethischen Kontext; und es gibt sie in Religionen, die das Gerüst bis in die Transzendenz hinein weiterbauen.
Von diesen Wertesystemen unterscheidet sich die Freimaurerei in zwei wesentlichen Punkten. Da ist zum einen der geradezu geniale Einfall, das Gerüst sehr offen zu lassen. Dem Freimaurer ist vorgegeben, eine Haltung der Toleranz und der Menschenliebe in einem Umfeld zu leben, das vom „Großen Baumeister aller Welten“ geschaffen und gehalten wird. Das war es aber auch schon.
Vor allem die Frage, wie das Symbol des Großen Baumeister aller Welten übersetzt wird, ist jedem Freimaurer freigestellt. Damit entzieht die Freimaurerei ihrem Wertesystem das Ideologische, ohne in die Beliebigkeit abzugleiten. Denn unmißverständlich wird verlangt, das Wertesystem der Toleranz und Menschenliebe mit einem „supreme being“ auszufüllen. Aber wie dieses konkret geschaffen ist, bleibt der Überzeugung und dem Glauben des Einzelnen überlassen. Er kann an die Stelle der Großen Baumeisters aller Welten den Kosmos setzen oder eine andere Ordnung, die die Welt durchwaltet, er kann aber auch den Gott nehmen, der sich mit seinem Glauben deckt.
Auf diese Weise wird der Freimaurer gezwungen, sich über die Basis der Verantwortungsübernahme nicht nur Gedanken zu machen, sondern sie auch wirklich zu leben. Die aktuelle Haltung der kompletten Beliebigkeit („anything goes“) wird er nicht durchhalten können, denn immer wenn er im Tempel sitzt, wenn er mit Brüdern spricht, wenn er sich mit der Freimaurerei beschäftigt, wird er mit dieser Forderung konfrontiert. Ihm bleibt gar nichts anderes übrig, er muß sich dieses Wertesystem erarbeiten – oder die Freimaurerei verlassen, weil sie ihm nichts anderes bieten kann.
Zum zweiten wird der Freimaurer in geradezu penetranter Weise dazu angehalten, sein Wertesystem immer wieder zu hinterfragen und es gegebenenfalls anzupassen. Das ist genau der Unterschied zu den ideologisch geprägten Wertesystemen, die mit Gesetzen, Verboten und Dogmen arbeiten. An sie muß sich der Anhänger sklavisch halten, und wenn sie geändert werden sollen, ist dies immer ein langer, quälender Prozeß, der an den Grundfesten der jeweiligen Ideologie rüttelt.
Die Grundfesten der Freimaurerei dagegen sind schon so angelegt, daß sie einem permanenten Veränderungsprozess unterworfen sind. Der Tempel der Humanität wird niemals fertig sein, der Maurer wird niemals vollkommen werden, die Ecken seines „rauhen Steins“ bedürfen einer nicht enden wollenden Bearbeitung. „Der Spitzhammer bleibt unser Werkzeug bis ans Lebensende“, mahnt der Meister vom Stuhl in der Beförderungsarbeit.
Auf diese Weise ist der Freimaurer in der Lage, Verantwortung zu übernehmen. Dies gilt nicht nur für sein engeres persönliches Umfeld und für seine Loge, sondern auch für übergeordnete Dinge. Deshalb sind wir in der Lage, über Werte zu sprechen, ohne in ideologische Schlachten abzugleiten. Dies gilt bis in politische und religiöse Fragestellungen, denn das Verbot der Alten Pflichten bezieht sich auf Parteipolitik und kirchliche Positionen, nicht darauf, politische und religiöse Themen zu bearbeiten.
Das bedeutet nun aber nicht, daß am freimaurerischen Wesen die Welt genesen könnte. Dem inneren Aufbau der Freimaurerei ist immanent, daß sie auf den einzelnen Bruder wirkt. Übersetzte man sie auf eine Gesellschaft, würde sie doch wieder zur politischen Ideologie, denn mit einem permanenten Diskurs, so wie ihn die Freimaurerei pflegt, läßt sich keine Gesellschaft steuern. Dazu würde es doch fester Regeln bedürfen, die automatisch in ein starres Gerüst mündeten – also genau das Gegenteil dessen, was die Freimaurerei bezweckt.
Diesem Irrtum unterliegen aktuell viele – auch prominente – Freimaurer. Es stimmt zwar, daß die Werte der Freimaurerei und vor allem der Umgang mit ihnen wertvolle Bezugspunkte geben können für eine Gesellschaft, die im großen Meer der Beliebigkeit unterzugehen droht. Aber sie wird dies immer nur auf der individuellen Ebene vollziehen können. Die „gesellschaftspolitische Relevanz“ der Freimaurer endet an den Tempeltüren. Wer mehr möchte, muß den freimaurerischen Kontext verlassen, seine Überzeugungen in ein festes Wertegerüst packen und mit diesem politisch arbeiten. Das ist weder verboten noch zu kritisieren, aber es darf nicht mit der Freimaurerei legitimiert werden.
Dieser Kern der Freimaurerei ist seit Jahrhunderten das Faszinierende unseres Bundes. Er ist anspruchsvoll und fordert viel von jedem Bruder. Nicht umsonst lautet die letzte Mahnung des Meisters zum Ende des Rituals: „Seid wachsam auf Euch selbst.“
Aber der Lohn ist groß. Geborgen im Gerüst der freimaurerischen Werte wächst die Sicherheit. Je häufiger der Maurer bemerkt, daß gerade das Infragestellen und gegebenenfalls Neuausrichten dieser Werte weitere Sicherheit verleiht, umso stärker wird sein Vertrauen. Diese „initiatische Unerschütterlichkeit“ verleiht ihm die Kraft, „ruhig und sicher, furchtlos in Gefahren, hohe Ziele vor Augen“ den Weg zu gehen. Einen irdischen Führer braucht er hierfür nicht.
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