Traktat: Wahrheit

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"Wahrheit"

Wolfgang Zeuge


In meiner heutigen Zeichnung möchte ich über „Wahrheit“ sprechen. Auf das Bekenntnis von Jesus, daß er in die Welt gekommen sei, die Wahrheit zu bezeugen, gibt Pontius Pilatus nach dem Johannes–Evangelium die lapidare Antwort: „Was ist Wahrheit ?“. (Joh. 18 V. 38)


Ihr braucht keine Sorge haben, daß ich jetzt eine philosophische Abhandlung über den Begriff der „Wahrheit“ halten werde, denn erstens bin ich dafür nicht der Richtige und zweitens reicht die Zeit einer Zeichnung bei weitem nicht dazu aus. Ich möchte mich dem Begriff von einer anderen Seite nähern: Von den Sprichwörtern über die „Wahrheit“. Ich werde einige davon zitieren, von denen es meist viele ähnliche Abarten gibt.

  • „Kinder und Narren sagen die Wahrheit.“
  • „Wer die Wahrheit sagt, braucht ein schnelles Pferd.“
  • „Die Wahrheit ist immer obdachlos.“
  • „Man kann die Fackel der Wahrheit nicht durch eine Menge tragen, ohne jemanden den Bart zu verbrennen.
  • „Die Wahrheit stirbt im Krieg immer zuerst.“
  • „Das Gerücht ist größer als die Wahrheit.“
  • „Wer die Wahrheit hören will, den sollte man vorher fragen, ob er sie ertragen kann.“
  • „Vom Wahrsagen lässt sich wohl leben, aber nicht vom Wahrheit sagen.“
  • „Das Gerücht reist einmal um die Erde, während die Wahrheit noch die Schuhe anzieht.“
  • „Die Wahrheit von heute ist die Lüge von morgen.“


Zum Abschluß dieser kleinen Auswahl, die jeder von uns leicht verlängern könnte, ein schönes Graffiti:

„Es gibt zwei Sorten von Menschen: die Einen, die glauben, die Wahrheit zu kennen und die Anderen, die glauben, daß die, die die Wahrheit kennen, unrecht haben.“ Aus den Zitaten spricht zum einen eine große Skepsis der Wahrheit gegenüber und zum anderen scheint die Wahrheit ein gefährlich Ding zu sein, das man wohl besser für sich behält, um sich oder andere nicht zu gefährden.


Ich möchte jetzt einige Gedanken – ohne Anspruch auf Vollständigkeit und Allgemeingültigkeit – vortragen. Ein Problem der Wahrheit ist die Beschränktheit unserer Wahrnehmung und die Unvollständigkeit unseres Wissens: Wir kennen von einem Sachverhalt immer nur einen Teil. Hierzu ein einfaches Beispiel:

Auf einer Kreuzung stoßen zwei Autos zusammen. Ein Geschehen, das in kurzer Zeit abläuft. Wenn drei Zeugen dies beobachtet haben, so hat doch jeder etwas anderes gesehen. Zum einen war der Blickwinkel jeweils ein anderer, zum anderen hat jeder von den Umständen nur einen Teil mitbekommen und zum dritten ist unser Gehirn so angelegt, daß es automatisch unvollständige Informationen aus seinem „Erfahrungsschatz“ zu einem plausiblen Bild ergänzt, ohne daß wir uns dessen bewußt sind, noch daß wir es im Nachherein rekonstruieren können. Wenn also die drei Zeugen später im Gericht ihre Aussagen machen, so werden sie nicht übereinstimmen, selbst dann nicht, wenn jeder sich bemüht die „Wahrheit“ über das Unfallgeschehen zu sagen: Jeder hat subjektiv die Wahrheit gesagt, objektiv ist jede Aussage zumindest unvollständig, vielleicht sogar falsch. Wie kann man nun dieWahrheit erkennen oder vorsichtiger gefragt, wie kann man sich der Wahrheit annähern ? Ein klassischer Weg ist das „Konsensprinzip“, Die Übereinstimmung der Experten oder Autoritäten. Auf das obige Beispiel angewandt versucht man aus den verschiedenen Aussagen der Zeugen zusammen mit der Aufnahme des Unfallgeschehens durch die Polizei und Gutachten von Sachverständigen zu einem schlüssigen Gesamtbild zu kommen, das besser ist als jede einzelne Aussage für sich, um so – wenn möglich – zumindest die Frage nach der Schuld hinreichend genau zu beantworten, also sich der Wahrheit anzunähern. Ein vollständiges Bild wird man nie erreichen. Diesem Verfahren steht die Lebenserfahrung gegenüber, daß nie so viel gelogen wird, als vor Gericht. Auch wenn die letzte Meinung vielleicht nicht ganz wahr ist, so drückt sie doch eine gehörige Skepsis vor der Wahrheitsfindung vor Gericht aus: Wir haben ein Recht auf ein Urteil, nicht auf eines, daß wir als gerecht empfinden !

Das Konsensprinzip, also die Übereinstimmung der verständigen „Experten“ ist i. a. die Grundlage für das, was wir als „wahr“ zu erkennen meinen. Es ist immer eine unvollkommende und verbesserungfähige Näherung.


Auch die Logik ist nur eine beschränkte Hilfe bei der Wahrheitsfindung. Zwar gibt es sie einem verläßliche Regeln, wie man aus „wahren“ Aussagen weitere finden kann, aber sie gibt keine Hilfe den Wahrheitsgehalt der Grundannahmen zu beweisen. Diese Grundannahmen werden in der Mathematik Axiome genannt, von denen nur gefordert wird, daß sie „widerspruchsfrei“ sind, d. h. man darf aus ihnen nicht eine Aussage und ihre Negation folgern können. Insofern sind alle Aussagen eines Teilgebiets der Mathematik, z. B. der Euklidischen Geometrie, wahr. Aber diese Wahrheit ist nur eine abstrakte, denn sie gilt nur innerhalb der mathematischen Disziplin und sagt nichts über die „Wirklichkeit“ aus, in der wir leben. Wenn man die Mathematik auf die Wirklichkeit im Rahmen der Physik oder Ingenieurwissenschaften anwendet, so muß die Anwendbarkeit empirisch geprüft werden, kann also nie streng logisch bewiesen werden. Der Übergang vom geozentrischen zum heliozentrischen Weltbild in der frühen Neuzeit war nur im geringsten Teil ein rein wissenschaftliches Problem, sondern im viel stärkeren Maße eine Frage nach der „Wahrheit“. Es prallten hier zwei grundsätzlich verschiedene Vorstellungen von dem, was Wahrheit eigentlich ist, aufeinander. Da war zum einen der theologisch und philosophisch begründete absolute Wahrheitsanspruch der Kirche, die sich auf ihr Verständnis von der Bibel und auf die grundsätzlichen Lehrmeinungen der Autoritäten wie Kirchenväter und Päpste berief. Diese Wahrheiten sind grundsätzlich nicht empirisch zu überprüfen, sondern müssen geglaubt werden. Auf der anderen Seite steht der Wahrheitsanspruch der sich erst langsam und dann immer schneller entwickelnden Naturwissenschaften, also in diesem Zusammenhang insbesondere der Astronomie. Sie arbeiten nach einem völlig anderen Muster als die Theologie. Grundlage und Ausgangspunkt der Naturwissenschaften sind Beobachtungen. Sie allein machen aber noch keine Naturwissenschaften aus. Um aus den Beobachtungen Gesetzmäßigkeiten abzuleiten, benötigt man zwangsläufig Modellvorstellungen oder wie die Alten sagten „Hypothesen“. In den exakten Naturwissenschaften sind die Modellvorstellungen in der Sprache der Mathematik formuliert. Nur mit diesen Modellvorstellungen kann man die einzelnen Beobachtungen verbinden und die in ihnen enthaltenen Parameter näherungsweise bestimmen. Da man endlich viele Beobachtungen immer durch unendlich viele Modelle beschreiben kann, ist mit der Bestimmung der Parameter eines Modells nur ein erster Schritt getan. Jetzt muß sich das gefundene Modell bewähren, d. h. es müssen die „Vorhersagen“ des Modells empirisch überprüft werden. Erst wenn diese sich im Rahmen der Meßgenauigkeiten bewahrheiten, kann man von der „Gültigkeit des Modells“ sprechen, aber immer nur im Rahmen der Meßgenauigkeit und der Fälle, die man überprüft hat. Je größer das Anwendungsgebiet des Modells und je vielfältiger die überprüften Vorhersagen sind, desto größer ist das „Vertrauen“ in das Modell. Aus dem Versagen eines Modells in einigen Fällen kann man Hinweise zu seiner Verbesserung bekommen, so daß der Gültigkeitsbereich (Anwendungsbereich) des verbesserten Modells größer ist als der des alten.


Das Aufstellen von Modellen ist ein schöpferischer Akt des menschlichen Geistes, d. h. man kann die sog. „Naturgesetze“ nicht in der Natur finden. Sie sind immer nur eine Annäherung an die „Wirklichkeit“. Prinzipiell kann ein Naturgesetz nie streng logisch bewiesen werden, aber es kann durch Beobachtungen falsifiziert werden. In sofern sind die „entdeckten“ Naturgesetze immer nur Annäherungen an die „Wahrheit“ und können bei Bedarf jederzeit durch bessere und umfassendere ersetzt werden. Da die Naturgesetze Produkte des menschlichen Geistes sind, unterliegen sie auch unseren Vorstellungen von Zweckmäßigkeit und Schönheit. Je einfacher ein Gesetz ist und je größer sein Anwendungsbereich, als desto besser empfinden wir es, wobei verschiedene Menschen sehr wohl unterschiedliche Vorstellungen von Zweckmäßigkeit und Schönheit haben. Die heliozentrische Vorstellung zusammen mit den Kepler’schen Gesetzen beschreibt die Bahnen der Planeten sehr viel besser als das Ptolemäische Weltbild mit seinen Deferenten und Epizykeln. Aber erst die Newton’schen Gesetze der Mechanik und das Gravitationsgesetz beschreiben die Vorgänge im Sonnensystem im Rahmen unserer heutigen Meßgenauigkeiten sehr gut, solange die Geschwindigkeiten klein gegen die Lichtgeschwindigkeit sind. Aber man muß sich stets vor Augen führen, daß auch die Newton’sche Mechanik und die Einstein’sche Relativitätstheorie nur Modellvorstellungen sind und keine „Wahrheiten“ im absoluten Sinne. Es sei noch auf eine wichtige Voraussetzung aller Naturwissenschaften hingewiesen: Dies ist die grundlegende Überzeugung, daß Naturvorgänge unter gleichen Rahmenbedingungen heute so ablaufen wie morgen und hier wie anderswo. In dieser Aussage drückt sich unsere Vorstellung der Homogenität und Isotropie von Raum und Zeit aus, die sich bisher immer bewährt hat. Aber auch diese Grundannahme ist prinzipiell nicht beweisbar. Soweit meine etwas ausführlicheren Erläuterungen Erläuterungen zum Wahrheitsbegriff der Naturwissenschaften – dies sei mir als Naturwissenschafter bitte nachgesehen. Zum Abschluß meiner Zeichnung möchte ich noch einmal auf die eingangs zitierten Sprichwörter zurückkommen. Warum tun wir uns im täglichen Leben so schwer, stets die Wahrheit zu sagen ? Ich möchte hier nur einige Stichworte anführen: Die Eitelkeit und die Geltungssucht des Sprechenden; die Rücksicht auf die Empfindlichkeit des Gegenüber; Höflichkeit; Angst vor Unannehmlichkeiten und Bestrafung; Berechnung, um sich Vorteile zu verschaffen u.s.w. Aber es gibt auch lautere Gründe, nicht immer die Wahrheit zu sagen, wie z. B. der Arzt, der seinen Patienten nicht in Angst und Schrecken versetzen will; aber auch auf Grund eines gesetzlichen oder moralischen Schweigegebots müssen müssen wir manchmal die Wahrheit verschweigen.