Traktat: "Am Anfang war das Bild" von Br Jens Rusch
Gruppenbild: Zeichnung aufgelegt während der Roland-Feldloge 2024 in der Galerie Rusch. Foto: Susanne Rusch. Veröffentlichung mit der Einwilligung aller abgebildeten Brüder.
Inhaltsverzeichnis
Am Anfang war das Bild
Anrede
Wir nennen unsere geliebte Freimaurerei auch gern die „Königliche Kunst“. Daran mag es wohl liegen, dass ich mich als Künstler von Anfang an gerade von diesem Teilaspekt unseres imaginären Lehrgebäudes besonders angesprochen fühlte.
Die universellen, ja kosmopolitischen Inhalte unserer Arbeiten werden uns ja klugerweise primär durch eine ausgesprochene Bildhaftigkeit vermittelt. Eben weil das die universellste Sprache ist.
Jede Arbeitstafel ist ein Beleg dafür, dass ein Bild tatsächlich mehr vermittelt, als tausend Worte.
So ist es auch kein Wunder, dass eine Vielvölker-Arbeitsstätte wie beispielsweise der Bau der Pyramiden die wohl bildhaftesten aller Sprachen, die der Hieroglyphen, ganz entscheidend mit entwickeln half.
Und weil das so schön universell ist und von allen Völkern der Erde verstanden werden kann, entstanden in unserem Computer-Zeitalter daraus die sogenannten Pictogramme und für weniger Sprachbegabte dann auch noch die sogenannten „Emojis“. Bei genauerer Betrachtung darf man hierin gern eine Rückentwicklung sehen.
Unsere heutige Feldloge findet in einer Galerie voller Bilder statt, liebe Brüder.
Das gibt mir die Gelegenheit, Euch einen Blick auf die Ursprünge der sogenannten „Kunst“ zu vermitteln. Bereits in meiner Pubertät las ich ein Buch mit dem Titel „Der Neandertaler in der Metro“. Den Autor habe ich vergessen, aber meine Blickrichtung auf das, was uns genetisch zutiefst prägte und kaum versteckt heute noch steuert, hat mich seitdem nachhaltig beschäftigt.
Lasst mich mit der Sinnsuche unseres Bruders Johann Wolfgang von Goethe beginnen, der in seinem FAUST sehr viel freimaurerisches Gedankengut versteckte:
Ihr kennt die Szene, meine lieben Brüder.
Faustens Sinnsuche
Gustav Gründgens und Will Quadflieg haben sie in unser kollektives Gedächtnis gemeißelt wie in einen rauhen Stein:
Wir lernen das Überirdische schätzen,
Wir sehnen uns nach Offenbarung,
Die nirgends würd'ger und schöner brennt
Als in dem Neuen Testament.
Mich drängt's, den Grundtext aufzuschlagen,
Mit redlichem Gefühl einmal
Das heilige Original
In mein geliebtes Deutsch zu übertragen.
Er schlägt ein Volum auf und schickt sich an.
Geschrieben steht: ›Im Anfang war das Wort!‹
Hier stock' ich schon! Wer hilft mir weiter fort?
Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen,
Ich muß es anders übersetzen,
Wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin.
Geschrieben steht: Im Anfang war der Sinn.
Bedenke wohl die erste Zeile,
Daß deine Feder sich nicht übereile!
Ist es der Sinn, der alles wirkt und schafft?
Es sollte stehn: Im Anfang war die Kraft!
Doch, auch indem ich dieses niederschreibe,
Schon warnt mich was, daß ich dabei nicht bleibe.
Mir hilft der Geist! Auf einmal seh' ich Rat
Und schreibe getrost: Im Anfang war die Tat!
Soweit also die beginnende Sinnsuche des Sinnbildes aller gelehrten Herren, die sich bereitwillig aufmachen, alle Untiefen unserer menschlichen Existenz auszuloten.
Zu gerne hätte ich an seiner Seite gestanden. Zu gerne hätte ich ihm ins gelehrte Ohr geflüstert:
Am Anfang der kreatürlichen Menschwerdung stand meiner unmaßgeblichen Meinung nach ein ganz anderes Sinnbild Pate: Am Anfang war das Bild !
Stellt Euch bitte folgende Szene möglichst bildhaft vor:
Der allererste Künstler
Pelzbehangene, frierende Urmenschen, die noch kaum eine Sprache beherrschen, die über knurrende Abwehrlaute und angreifendes Fauchen hinausgeht, haben in einer Berghöhle um ein kleines Feuer herum Zuflucht vor eisigen Stürmen gesucht.
Noch sind sie weder Jäger, noch Sammler. Jedes Tier mit Fangzähnen und Krallen ist ihnen weit überlegen. Sie haben auch bislang nicht deshalb überlebt, weil sie jenen Raubgreifern geistig überlegen wären, sondern aus purem Zufall. Vielleicht auch, weil der Fortpflanzungstrieb ein wenig ausgeprägter entwickelt war, als alle anderen ihrer Fähigkeiten.
Sie ernährten sich von Aas und Herbstfrüchten und errangen die erste Stufe menschlicher Zivilisation, weil sie gelernt hatte, mit Steinen Knochen zu zertrümmern. Eiweisshaltiges Knochenmark sollte später die Entwicklung ihres Hirns forcieren. Doch noch war es nicht so weit. Für die taktische Jagd waren sie noch zu dumm.
Der eisige Winter dauerte länger und länger und die Nahrungsmittel waren bald erschöpft.
Immer häufiger streifte der hungrige Blick jene, die missgebildet und verstümmelt Unfälle, auch auf der Flucht vor überlegenen Raubgreifern, gerade noch überlebt hatten. Es gibt hinreichend Knochenfunde mit Schnittspuren aus dieser Epoche der Menschwerdung, die auf einen ausgeprägten Kannibalismus hinweisen.
Stellt Euch nun einen dieser verkrüppelten Rudelmitglieder vor, der das bereits oft genug erlebt hat, um sich vorstellen zu können, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis ihm ein hungriges Familienmitglied im Schlaf den Schädel einschlägt. Auch aus einem Familienvater wird in einer solchen Situation irgendwann ein Notvorrat.
Eher zufällig nimmt dieser Todgeweihte ein Stückchen Holzhohle aus dem kümmerlich glimmenden Feuer und beginnt, an eine Steinwand zu kritzeln.
Das erweckt die Aufmerksamkeit einiger der Kinder im Rudel und sie schauen ihm neugierig zu.
Schnell gehen ihm die Ideen aus. Er muss sich aber etwas einfallen lassen, denn nun haben auch die Erwachsenen bemerkt, dass sich die Kinder um den Holzkohle-Künstler scharren.
Erst jetzt bemerkt er, dass darin seine einzige Überlebens-Chance liegt.
In den folgenden Tagen zeichnet er zunächst die Tiere aus der Erinnerung, die man auf jeden Fall meiden sollte. Er zeichnet sie und streicht sie dann wieder durch. Den Säbelzahntiger zum Beispiel und anders Raubzeugs mit überlangen Zähnen.
Inzwischen fraß die Familie bereit einen anderes, ebenfalls verletztes Familienmitglied. Roh, ohne Gewürzzutaten aber nahrhaft. Veganer waren damals noch äußerst selten. Diese Beobachtung trieb ihn zu neuen künstlerischen Leistungen an, um die Aufmerksamkeit der Artgenossen zu erregen. Irgendwie war er unvermittelt „nützlich“ geworden.
Nun zeichnete er einen Bison und dann ein Wisent. Er zeichnete Speere, die auf das Herz dieser Tiere zielten. Die Kinder erhielten ihren allerersten Unterricht.
Das edukative Spektrum dieser ersten steinzeitlichen Kita wurde durch Experten-Einwände ergänzt. Rudelmitglieder konnten nun mit eigenen Erlebnissen prahlen und grunzten Kommentare in die Zeichnungen hinein, die vermutlich von ihren Heldentaten künden sollten.
Nun endlich war unser Steinzeitkünstler vollends unentbehrlich für das Rudel geworden. Irgendwie sogar für uns, denn er war der allererste Chronist und ohne ihn wüssten wir auch bedeutend weniger über diese nachweisliche Entwicklungsstufe in der Geschichte der Menschwerdung.
Ich flüstere also meinem Doktor Faustus mit vollem Recht ins Ohr:
„Am Anfang war das Bild“
denn dieses kam definitiv noch vor dem geschriebenen Wort in unsere ureigene Entwicklungsgeschichte.
Weshalb erzähle ich Euch das ?
Weil wir wissen, dass in uns heute noch eine Unmenge an rudimentären Erinnerungen latent vorhanden sind und unsere Reaktionen mitbestimmen. Ängste gehören dazu und Fluchtimpulse, Phobien und Ursachen für Depressionen. Wir haben noch eine Galle, die wir längst nicht mehr benötigen seit wir es verstehen, rohes Fleisch zu braten und zu kochen. Ehen geraten immer noch in Konflikte, wenn der Ehemann den uralten Fortpflanzungsdrang nicht im Griff hat. Arterhaltende Fortpflanzungsaufgaben und Kinderwünsche sind rational kaum beherrschbar.
Wir könnten uns vieles, was wir unbewusst geschehen lassen, recht plausibel erklären, wenn wir uns in die Szenerie der uralten Steinzeithöhle zurückversetzen würden.
Zumindest kann ich mir selbst die Rolle meines Berufsstandes innerhalb unserer Gesellschaft durch diese Vorstellung recht schlüssig erklären. Weshalb erachtet uns ein Teil der Menschen als überflüssig oder sogar als Nassauer oder Sozialschmarotzer – und der andere Teil eben nicht?
Glaubt mir, ich weiss genau, wovon ich rede.
Wie der Steinzeitkünstler versuche ich, mir mein Weltbild zu erklären und genau wie er versuche ich, andere daran teilhaben zu lassen.
Damit sie vielleicht im günstigsten Fall auch mein Überleben ermöglichen, mich vielleicht sogar mit ernähren.
Genau wie er kann ich aber nicht alle erreichen.
Allerdings ist die Gefahr, auf dem Speiseplan meines Rudels zu landen heute deutlich geringer.
Immerhin.