Traktat: „Vorurteil und Dogma“ von Arthur Bill Beardmore
Vorurteil und Dogma
von Arthur Bill Beardmore
Zeichnung Loge Roland
Hamburg 23.06.2019
„Denken ist schwer, darum urteilen die meisten.“ so Carl Gustav Jung, benannt nach
seinem Großvater, dem Großmeister der Schweizerischen Großloge Alpina.
In manchen Augen war Jung das „enfant terrible“ der Psychologie, besonders nach seinem ideologischen Bruch mit Freud. Er selbst war kein Freimaurer, beschäftigte sich allerdings mit der Freimaurerei nahliegenden Themen wie Esoterik, Alchemie und als Schwerpunkt dem menschlichen Verhalten. Eines seiner Leitbegriffe ist uns auch bekannt und stammt aus dem Eingang zum Tempel des Apoll, in Delphi „Erkenne Dich selbst“, bei uns auch unter dem lateinischen Begriff „Temet Nosce“ bekannt.
Vorurteile sind heute so stark ausgeprägt und so verbreitet wie noch nie. Häufig wird, vorwiegend von selbst-ernannten Intellektuellen behauptet, dass nur „dumme“ Leute – wie immer man versuchen will „dumm“ zu definieren – Vorurteile hätten. Diese Behauptung selbst ist ein Vorurteil, basiert auf systemischen Fehlern, man kann schon sagen Manipulationen, bei früheren Befragungen und entspricht keinesfalls den Tatsachen.
Eine fundierte Untersuchung von Brandt und Crawford 2016 in den USA mit einer Testgruppe von 5914 Personen – und in der Zeitschrift „Social Psychology and Personality Science“ veröffentlicht – hat gezeigt, dass kognitive Fähigkeiten keinerlei Einfluss auf die Bildung von Vorurteilen haben, sondern nur auf deren Zielpersonen oder Gruppen, wie zum Beispiel „die da oben“ oder „die da unten“.
Wenn wir an Vorurteile denken, denken wir oft an etwas Negatives. Es gibt aber Unternehmen, die Millionenbeträge ausgeben, damit wir positive Vorurteile gegenüber ihren Produkten empfinden. Daimler Benz suggeriert Qualität, Sicherheit und Komfort. BMW Fahrspaß „The ultimate driving machine“, wie es in Großbritannien heißt.
Audi – auf Deutsch Horch – „Vorsprung durch Technik“ ...der Manipulationssoftware? Daran, dass wir dazu neigen, sehr schnell zu urteilen, bevor wir uns bemüht haben mehr oder alle Informationen zusammenzutragen – also Vorurteile zu fällen – besteht kein Zweifel. Aber warum tun wir dies? Anthropologen würden es wohl damit erklären, dass es überlebenswichtig war, schnell entscheiden zu können, ob das plötzlich aus der Dunkelheit erscheinende Lebewesen ein Beutetier ist, oder ob vielleicht ich die Beute bin? Wer meint, dass im 21. Jahrhundert solche Überlegungen überflüssig sind und daran zweifelt, dass er als Mensch heute noch Beutetier ist, war wohl noch nie nachts alleine in einem Hotelzimmer mit einer surrenden Mücke! Die kann nämlich ganz schnell die Amygdala in Overdrive versetzen.
Schauen wir uns mal ein Beispiel für eine schnelle Urteilsbildung an. Die Tür zu einem Raum, in dem wir alle sitzen, öffnet sich – hoffentlich nicht gerade die Tür zum Tempel! – und ein Mensch schreitet herein. Alle Köpfe drehen sich zu ihm hin. Wie lange dauert es, bis wir unser Urteil gebildet haben? (Pause: Einundzwanzig, Zweiundzwanzig) In weniger als die zwei Sekunden Pause, die ich gerade machte, haben wir diesen Menschen, dieses Fleisch und Blut und Seele, eingeordnet oder anders gesagt „vor-ge-urteilt“ und er kommt in sein Kästchen, Deckel drauf und schnell zugenagelt. Von nun an brauche ich mich nicht mehr mit dem Menschen, sondern nur mit seinem Kästchen zu beschäftigen. Ich habe mein Leben vereinfacht! Wie viel Mühe braucht es, den Deckel wieder aufzuhebeln, den Menschen herauszunehmen und ihn mir etwas genauer anzuschauen, damit ich mein Vorurteil gegebenenfalls revidieren kann? Machen wir das überhaupt bewusst?
Gordon Allport erläutert dies folgendermaßen in seiner bahnbrechenden Publikation zum Thema Vorurteil „The Nature of Prejudice“, herausgegeben 1954: In dem Kapitel über Kognitive Prozesse wird deutlich, dass der „Sehende“ (the light within – das innere licht wie er es nennt) das, was wahrgenommen wird, genau soviel beeinflusst wie der oder das „Gesehene“ (the light without – das äußere licht). Kategorien und Kategorisierung sind Werkzeuge, die nicht nur helfen mit den Komplexitäten der Umgebung einfacher klar zu kommen, sondern beeinflussen das eigene Denken und Handeln zugunsten des Eigeninteresses.
Das Stereotypisieren basiert auf einen grundlegenden, unausweichlichen Kategorisierungsprozess. Menschen sind unfähig zu denken, wenn Konzepte fehlen. Neue Erlebnisse bleiben bedeutungslos, wenn diese nicht in bereits existierende Kategorien eingeordnet werden können. Erst die Kategorisierung ermöglicht es den Menschen schnell auf ihre Umgebung zu reagieren. Allport meinte Aufgeschlossenheit wird zwar als Tugend angesehen, kann aber faktisch nicht vorkommen.
Im Mai 2005 kam dann das Buch „On the Nature of Prejudice: Fifty Years After Allport” in dem 44 anerkannte Wissenschaftler(innen) das ursprüngliche Buch analysiert, rezensiert und mit dem Wissensstand von heute verglichen und ergänzt haben. Es spricht für Allport und seine Arbeit, dass nach fünfzig Jahren keine fundamentalen Diskrepanzen zum heutigen Stand der Wissenschaft sichtbar wurden. Mein persönliches Fazit aus diesen Ausführungen? Es ist nicht nur unvermeidlich Vorurteile zu haben, es ist auch erstmal O.K.
Was auf keinen Fall O.K. ist ist, dass wir uns an vor-Urteilen festhalten und diese zum Dogma hoch stilisieren, denn Wo das Dogma beginnt, hört die Freimaurerei auf!
Ganz besonders als Freimaurer sind wir gehalten unsere Vorurteile mit Winkelmaß, Zirkel und Augenmaß zu prüfen – und wenn er nicht mehr in unser Bauwerk passt, diesen verhauenen Stein auf den Schotterhaufen zu werfen!
Bei dieser Gelegenheit ein vielleicht angebrachter Ausflug in die Semantik. In Deutschland kommt der Begriff „Vorurteil“ viel häufiger vor als in Großbritannien. Das liegt aber nicht an der Einstellung der Menschen, sondern erstens daran, dass es ein deutsches oder zumindest vollständig eingedeutschtes Wort ist und zweitens an der fehlenden Verfügbarkeit alternativer Begriffe! Wegen der dadurch bedingten, häufigen Verwendung verliert das Wort – gefühlt – an Biss.
Das englische Wort für Vorurteil kommt unverändert vom Lateinischen PRE IUDICE, wird nur auf Englisch als „prejudice“ ausgesprochen. Es ist ein sehr hartes Wort und wird für sehr ernste Themen wie zum Beispiel Rassismus verwendet. Für weniger kontroverse Inhalte kommen Worte wie: preconception; predeliction; prejudgement; bias; parochialism; antipathy etc., etc. in Frage.
Ich habe mir einen Duden gekauft! Bitte keine Angst, es kommt kein alter Manta „Witz“. Ich habe mir aber wirklich einen gekauft, mit ganzen 800 Seiten in knapp unter A5 Format. Schon lange besitze ich den Shorter Oxford English Dictionary – zwei Bände in A4 Format mit insgesamt 3767 Seiten. Die Vollversion mit 20 Bänden und fast 22.000 Seiten hätte mein dyslexisches Hirn – und meine Kasse – endgültig gesprengt!
Die deutsche Sprache ist kompakt – dafür und deswegen sind deutsche Bücher lang, was unseren deutschen Dichtern und Denkern, allen voran Bruder Goethe, kein Hindernis war. Man sagt „Die Sprache spiegelt die Kultur!“ Als Beispiel diente mir früher dafür der englische Begriff „To agree to differ“, sich einig darüber zu sein, unterschiedlicher Meinung zu sein, also frei nach Eric Berne’s Transaktionsanalyse „Meine Meinung ist O.K., Deine Meinung ist auch O.K.“. Dieses Konstrukt fehlt in der Deutschen Sprache, woraus man schließen könnte, es muss bei einer Verhandlung immer einer obsiegen. Oder wäre das etwa schon wieder ein Vorurteil?
Heute muss ich mir leider die Frage stellen, ob die Engländer nicht einen Teil ihrer Kultur verloren haben!
Das Antonym zu Vorurteil lautet Toleranz. Das würde bedeuten, dass die Freimaurer – die sich bekanntlich der Toleranz verschrieben haben – keine Vorurteile haben dürften! Man reiche mir also bitte meinen noch allzu rauen Stein, dass ich ihn beherzt weiter behaue und meine Vorurteile wegklopfe! „To knock off all superfluous knobs and excrescences“, wie es im englischen Ritual heist.
Ein uns allen bekannter Bruder weiß sehr wohl, dass ich ein Verfechter des Disputs als Werkzeug zum Fortschritt bin. Dass er mich trotzdem eingeladen hat, diese Zeichnung aufzulegen, betrachte ich als „carte blanche“ so fortzufahren.
Die Freimaurerei ist „riddled with institutionalised prejudice“ (Beardmore) und ich benutze hier ganz bewusst den härteren, Englischen Ausdruck – also die Freimaurerei ist gespickt mit institutionalisierten Vorurteilen.
International
- haben wir reguläre und irreguläre Freimaurerei, schon ein Dogma,
- anerkannte und nicht anerkannte Großlogen, auch schon ein Dogma
- und Großlogen mit und ohne Austausch von Repräsentanten.
In Deutschland erleben wir oder hören von Vorurteilen
- gegenüber einer Öffnung zur profanen Welt,
- gegenüber anderen Großlogen innerhalb der VGLvD,
- gegenüber weiterführenden Orden,
- gegenüber anderen, unterschiedlichen Ritualinhalten
- und gegenüber Glaubensbekenntnis in der Freimaurerei.
Wo bleibt da die Toleranz meine Brüder?
Bitte seht es mir nach, wenn ich heute bei Eurer Johannissfeier, der Geburtstagsfeier Johannis des Täufers, dem Wegbereiter Jesu Christi, sechs Monate vor Ihm gezeugt und sechs Monate vor ihm geboren, eines der vier höchsten Feiertage des Christentums, ein Tag an dem alle deutschen Logen, Christlich geprägte und Humanistische, gemeinsam in Brüderlichkeit feiern – seht mir nach, dass ich an diesem Tag einen Disput vom Zaun breche.
Was ich anspreche ist für mich kein Dogma. Im Gegenteil möchte ich erreichen, dass wir über alte, zum Dogma gewordenen Vorurteile, zumindest nachdenken. Die Begriffe „Reguläre“ und „Irreguläre“ Freimaurerei triefen vor Vorurteil und Dogma. Ich stehe dazu regulärer Freimaurer zu sein und, dass ich das bleiben will. In dem unwahrscheinlichen Fall, dass die VGLvD mal wegen Irregularitäten wie gemischte Logen, Weiß Bücher oder sonstigem Grund die Anerkennung verliert, bin ich unter den Ersten der Abertausenden die die VGL verlassen, um eine neue, reguläre und anerkannte Großloge zu gründen.
Großes ABER!
Ich habe nichts gegen Freimaurer und Freimaurerinnen, die anders als unter den Alten Pflichten arbeiten wollen, solange sie das in einer eigenen Organisation tun.
Als Analogie: Wenn Menschen Mitglied in einem Skat Klub sind, wollen aber Bridge spielen, sollen sie einen Bridge Klub gründen und nicht versuchen die Skatspieler zu ihrer Meinung zu bekehren.
Zu behaupten, dass irgendjemand die allein-heilbringende Version des Freimaurertums besitzt, wäre wieder Dogma. Wir können dabei doch trotz unterschiedlicher Auffassung Freunde bleiben!
Mir ist es wichtiger, dass Brüder und Schwestern, egal mit welchem Ritual, Freimaurer sind, an einem besseren ich und einer besseren Welt arbeiten, sowie Wohltätigkeit und andere Maurische Tugenden üben, als dass sie gar nicht erst Freimaurer werden. Hierzu wäre es förderlich, statt „Regulär“ und „Irregulär“ andere, weniger diskriminierende Bezeichnungen zu finden.
Vor über 300 Jahren gab es schon die Antients und die Moderns. Vielleicht wäre so etwas schon ein erster Ansatz? Probieren wir es doch!
Meine Brüder, der erste Satz dieser Zeichnung lautete „Denken ist schwer, darum urteilen die meisten.“ Um diesen Kreis des Denkens, oder vielleicht sogar Nach-Denkens – meine Mutter pflegte zu sagen „Denken ist Glücksache – nachdenken!“ – also, um diesen Kreis und damit auch meine Zeichnung zu schließen, ein Zitat von dem großen Denker Socrates, das lautet „Ich kann niemanden etwas lehren, ich kann sie nur zum Denken bringen.“
Es geschehe also.
Arthur Bill Beardmore
23.06.2019